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Zur Selbstbesinnung in den wirtschaftlichen Staatswissenschaften: Erkenntniskritische Bemerkungen

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Zur Selbstbesinnung in den wirtschaftlichen Staatswissenschaften: Erkenntniskritische Bemerkungen Author(s): Hans Peter Source: FinanzArchiv / Public Finance Analysis, New Series, Bd. 3, H. 2 (1935), pp. 267-321 Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KG Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40908036 . Accessed: 18/06/2014 20:44 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Mohr Siebeck GmbH & Co. KG is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to FinanzArchiv / Public Finance Analysis. http://www.jstor.org This content downloaded from 195.34.79.79 on Wed, 18 Jun 2014 20:44:17 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions
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Zur Selbstbesinnung in den wirtschaftlichen Staatswissenschaften: ErkenntniskritischeBemerkungenAuthor(s): Hans PeterSource: FinanzArchiv / Public Finance Analysis, New Series, Bd. 3, H. 2 (1935), pp. 267-321Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KGStable URL: http://www.jstor.org/stable/40908036 .

Accessed: 18/06/2014 20:44

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Zur Selbstbesinnung in den wirtschaftlichen Staatswissenschaften

Erkefcntniskritische Bemerkungen von

Hans Peter

I. Die Reformbedürftigkeit der überlieferten Nationalökonomie. - II. Raths Reformversuch. Verkennung der herrschenden Auffassung. - IIUDas von Bath angeschnittene Erkenntnisproblem. 1. Die „Ordnung in der Wirklichkeit". 2. Die Objektivität der Erkenntnis. 3. Anschauliche Theorie und ihr Verhältnis zur Kant- schen Vernunftkritik. 4. Verstehende Nationalökonomie. 5. Der praktische Cha- rakter der strittigen Erkenntnis. 6. Sein und Sollen. - IV. Die Notwendigkeit einer Synthese von exakter und verstehender Nationalökonomie.

Prüft man die Erörterungen über die Umbildung der Staatswirt- schaftslehre, die in der jüngsten Vergangenheit gepflogen und zum größten Teil in diesen Blättern veröffentlicht worden sind, genauer nach, so bemerkt man, daß der Kernpunkt der Meinungsverschieden- heiten im Grunde gar nicht in der eigentlichen Staatswirtschaftslehre zu finden ist. Was strittig geworden ist, sind vielmehr die Wirtschafts- wissenschaften und weiterhin die Gesellschaftswissenschaften als Gan- zes. Es geht trotz des Horrors, den man heutzutage davor hat, um die Grundfragen der Methodenlehre; und zwar wird hier nicht um For- malien gestritten, sondern um die Grundlagen unserer Wissenschaften überhaupt.

Es mag manchmal so aussehen, als werde nur auf der einen Seite mit methodologischen Argumenten gekämpft, während die andere sich auf die sachlichen Ergebnisse der materialen Wissenschaft selber be- ruft. Aber das scheint nur so. Anlaß zur Unzufriedenheit und zu dem Wunsche naoh tiefgreifender Eeform haben natürlich die Mängel der materialen Ergebnisse unserer Wissenschaft gegeben. Wir haben den

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Zusammenbruch einer Wirtschaft erlebt und sind nicht im Besitze wissenschaftlich gesicherter Erkenntnisse, die allgemein einleuchten; und so hat ein außerwissenschaftlicher Streit um die zweckmäßigsten Beformmaßnahmen eingesetzt.

Mit diesem Zustand kann sich kein Wissenschafter, welchem La- ger er auch angehören mag, zufrieden geben. Entweder sind die außer- wissenschaftlichen Versuche Charlatanerie, dann müssen sie sich über kurz oder lang als solche erweisen; oder sie erweisen sich als wirklich taugliche Mittel der Eeform, dann ist eben die Wissenschaft auf ihrer Seite zu suchen.

Gerade diese Gegenüberstellung zeigt aufs neue, daß nicht ma- teriale Einsichten, sondern die Art zu solchen za gelangen, den eigent- lichen Gegensatz in den Auffassungen bilden.

Wenn trotzdem nur von den einen die methodologische Seite her- vorgekehrt wird, während die andern sich durch den Vortrag materi- aler Ergebnisse ins rechte Licht zu setzen versuchen, so hat auch das einen zureichenden Grund. Die Gewinnung materialer Einsichten er- fordert Zeit. Nur die Vertreter der alten Methode verfügen daher über ein Material, das nach ihren Methoden verarbeitet worden ist. Diese Ergebnisse, deren Vorhandensein man ja nicht wegleugnen kann, stel- len zum mindesten scheinbar ein Aktivum der bisherigen Art, die Wis- senschaft zu betreiben, dar. Und so versucht man sich hinter diesem Bollwerk zu verschanzen, indem man argumentiert : das haben wir ans Tageslicht gefördert, also war unsere Methode brauchbar, und es ist ganz überflüssig, sich in abstracto über diese Methode zu unterhalten.

Dem können die Eeformer das nur in abstracto erweisliche Ar-

gument entgegenhalten: eure Methode war falsch, und deshalb sind auch eure Ergebnisse gerade in den entscheidenden Punkten unbrauch- bar. Dieses Argument hat aber eine sehr zweifelhafte Durchschlags- kraft. Zunächst blendet es; denn das Debakel der Wirtschaft ist da; auch das Chaos der wirtschaftswissenschaftlichen Meinungen ist offen-

kundig. Aber wenn man genauer zusieht, dann kann man zwar nicht

leugnen, daß etwas in Unordnung sein muß. Weniger evident ist aber was denn eigentlich falsch ist. Unstreitig sind die Tatsachenbeschrei- bungen, die statistischen Feststellungen, die uns aus der Vergangen- heit überkommen sind, einmal vorhanden; Wahrnehmungsurteile sind evident. Aber auch die Versuche, die wirtschaftlichen Erscheinungen zu erklären, sind ja nicht alle falsch. Zum mindesten läßt sich stets die

argumentatio ad hominem durchführen, daß von den Neuerern so man-

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ches unbestritten hingenommen wird. Es ist denn auch nicht der Zwei- fel an den Tatsachenberichten und ebensowenig der Zweifel an der Bichtigkeit gewisser einfacher Zusammenhänge, der heute in erster Linie geltend gemacht wird. Die Grundauffassung wird für reform- bedürftig angesehen. Das einzelne unter neuen Gesichtspunkten in ein neues Ganzes einzugliedern, wird für notwendig gehalten. Und diese Forderung kann, wenngleich sie von einem lebensvollen Idealismus getragen wird, nur in sehr abstrakter Form dargestellt und verfochten werden. Dagegen hilft die Vermeidung des Wortes abstfakt und selbst die leidenschaftliche Bekämpfung dieses Wortes nicht das geringste. Der Gegenstand ist abstrakt.

Von den reformbedürftigen Wirtschaftswissenschaften ein Bild zu gewinnen, ist für den Außenstehenden sehr schwer. Man ist leicht geneigt zu urteilen, es gebe überhaupt nicht die Wirtschaftswissen- schaft, es gebe nur eine Menge von Versuchen, zu einer Wirtschafts- wissenschaft zu gelangen. Den Eindruck eines Chaos muß der Laie in der Tat bekommen, wenn er sich einmal in den Papiersumpf des wirt- schaftlichen Tagesschrifttums verirrt. Studenten, die Wirtschafts- wissenschaften studieren wollten, haben denn auch ihrer Ent- rüstung über einen Zustand Ausdruck gegeben, den sie - vorzufinden glaubten. Das Urteil des Laien und des Anfängers ist aber in diesem Falle ebensowenig zuverlässig wie anderswo. Wollte der Student der Physik seinem Unmut darüber freien Lauf lassen, daß sich die Phy- siker auch heute noch über gewisse letzte Probleme streiten, so würde er kaum mehr als ein Lächeln ernten.

Über das Chaos, das in der Nationalökonomie in der Tat herrscht, abfällig zu urteilen, hat nur derjenige ein Becht, dei: wenigstens für sich Ordnung in den Gegenstand gebracht hat, nicht aber schon der- jenige, der erst Ordnung hineinbringen möchte. Denn der noch so inten- sive Wunsch genügt nicht, jahrzehntelange Arbeit zu ersetzen.

Der Zustand der nationalökonomischen Wissenschaft ist wirklich beängstigend. Es ist aussichtslos, die Nationalökonomie, wie sie uns als Erbe des kapitalistischen Zeitalters überkommen ist, zu recht- fertigen. Das ist ein vernichtendes Werturteil, aber noch lange kein Beformvorschlag. Tabula rasa zu machen ist zwar ein sehr starker* aber auch ein sehr inhaltarmer Wunsch. Ehe man an den planvollen Umbau oder Neuaufbau der Wissenschaft geht, muß man sich fragen, welches denn die Fehler sind, welche die Wissenschaft reformbedürftig gemacht haben. Es mag das Ganze falsch gewesen sein; darum war

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aber doch nicht alles falsch. Wir haben es doch nicht mit einer form- losen Masse von Wahrnehmungen zu tun, die wir nun in beliebiger Weise kneten können. Wir haben auch nicht Bausteine vor uns, die sich zu einem beliebigen Gebäude zusammensetzen lassen. Wenn wir in diesem Gleichnis bleiben wollen, müssen wir etwa sagen: Es sind uns die Bausteine zu einem ganz bestimmten Gebäude gegeben; aber der Plan ist uns unbekannt. Wir müssen aus den Bausteinen den Plan rekonstruieren. Zwei Gründe lassen sich denken, auf welche ein Ver- fehlen des richtigen Planes zurückzuführen ist. Entweder kann man ihn nicht erkennen - aus intellektueller Unzulänglichkeit; oder man will ihn nicht erkennen - aus charakterlicher Unzulänglichkeit. In der kapitalistischen Vergangenheit lag beides vor; für das bedenkliche Versagen der Wirtschaftswissenschaften ist aber vor allem der zweite Grund heranzuziehen. Nur so ist es auch zu erklären, daß der Vorwurf gegenüber dieser Wissenschaft so stark mit Entrüstung gepaart ist. Über Irrtum und intellektuelle Unzulänglichkeit kann man nicht ent- rüstet sein, muß man doch auch für sich selbst mit der Möglichkeit des Irrens rechnen. - Auch ist es nur eine Selbstverständlichkeit, daß unsere Wissenschaft noch unvollendet ist. Es ist uns noch nicht ge- lungen, den Plan in voller Klarheit herauszuarbeiten; das ist in keiner empirischen Wissenschaft anders.

Worin zeigt sich aber das Nicht- Wollen ? Das liegt nicht immer auf der Hand. Wollen kann man zwar nur bewußt, und deshalb läßt sich ein vorliegender Wille meist erkennen. Nicht ohne weiteres klar ist dagegen, ob irgendwo ein Nicht- Wollen vorliegt, für welches der Unterlassende die volle moralische Verantwortung als ein Handelnder trägt, oder nur ein Wollen fehlt, weil der Unterlassende nicht weiß, daß ein Wollen gefordert ist, also ein Sollen vorliegt und er allenfalls als Fahrlässiger verantwortlich gemacht werden kann.

Das bloße Unterlassen mag seinen Grund in der Unzulänglichkeit des Intellekts haben, indem die Aufgabe in ihrem Wesen nicht erkannt wird. Der Vorwurf eines Nicht- Wollens ist stärker. „Wollen" oder „Wollen, daß nicht* ' erfordert ein Motiv; das bloße Unterlassen eines Wollens erfordert, wenn es für eine Zeit typisch ist, eine soziologische Erklärung. An beidem fehlt es nicht. Wir hoffen, den unseligen Kampf der Klassen, der die kapitalistische Gesellschaft zerrissen hat, über- wunden zu haben. Der Zustand, der sich in unserer Wissenschaft in der Vergangenheit entwickelt hat, ist auf eben diesen Klassenkampf zurückzuführen. Die Wurzel des Übels zu erkennen, ist die erste Vor-

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aussetzung, um es wirksam bekämpfen zu können. Die Gefahr leuchtet in unserer Wissenschaft sofort ein. Über den Gegensatz zu schweigen, war ein Hauptkampfmittel derer, die den Zustand der kapitalistischen Wirtschaft unter allen Umständen erhalten sehen wollten. Infolge- dessen galt es der Beaktion in jener überwundenen Epoche schon als unfair, diesen Gegensatz auch nur zu erwähnen.

Den apologetisch gerichteten Schulen standen nicht minder be- denkliche, destruktiv arbeitende Gegner gegenüber. Hielten die ersten sich für konservativ, so die zweiten sich für revolutionär. Aber die zu- erst genannten Merkmale sind nur Zerrbilder der letzten. Die apolo- getischen Schriftsteller haben den Kapitalismus ganz weiß gemalt, die destruktiven ganz schwarz. Er ist aber weder das Werk von Engeln noch von Teufeln, sondern er ist von Menschen gemacht, die manch- mal das Gute wollen und das Böse schaffen.

Apologetik (in diesem Sinne) wie Destruktion ist Mißbrauch der Wissenschaft, ihre Degradation zur Magd einseitiger Klasseninteressen. Erste Bedingung, wenn sie gesunden will, ist, daß sie sich von diesen Abhängigkeiten frei macht. Die Wissenschaft ist weder apologetisch noch destruktiv, aber sie ist sowohl konservativ wie revolutionär, er- haltend, was gut, und umgestaltend, was schlecht ist. Der mißversteht ihren konservativen Charakter, der meint, es müsse das zufällig Ge- wordene erhalten werden, oder auch nur glaubt, es könne überhaupt irgendwo ein Zustand unverändert erbalten bleiben. Das Volk befindet sich, sofern es gesund ist, in einer ständigen Entwicklung. Wird an dieser nicht mehr gearbeitet, so verfällt die Entwicklung, und es geht rückwärts. Stillstand gibt es nur in einem flüchtigen Augenblick. Eben- so mißversteht man den revolutionären Charakter, wenn man glaubt, sein Wesen liege im Zerstören. Die Neigung, tabula rasa zu machen, um dann ganz neu aufzubauen, ist ein Vorrecht der Jugend ; andern- falls ist sie zum mindesten in der Wirkung destruktiv. Das Bevolutio- näre aller auf das Ideal der Wahrheit ausgerichteten Wissenschaft besteht in der ständigen Bereitschaft, Irrtümer - auch liebgewonnene Irrtümer - einer besseren Einsicht zu opfern. Das Bessere ist des Guten Feind.

Eine solche Ansicht muß im liberalistisch-kapitalistischen Klassen- staat unerwünscht sein; denn das Wahrheitsideal duldet keine Kom- promisse zugunsten der Bevorrechtung eiiier Klasse gegenüber der breiten Masse der Volksgenossen. Wo es dagegen gilt, die beste Wirt- schaftsordnung der Volksgemeinschaft zu finden, da ist der Staat sei-

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ber daran interessiert, daß die Wahrheit nicht verfälscht wird and der Forscher ohne Nebenrücksichten nach ihr strebt. Dann ist weder Baum für eine apologetische, noch für eine destruktive Wirtschaftslehre. Apologetik als Verteidigung unberechtigter Interessen mit Schein- gründen - an die freilich im individuellen Falle sehr wohl ehrlich ge- glaubt werden kann - ist im Grunde ja selbst destruktiv. Apologetik als Verteidigung der Wahrheit ist natürlich etwas ganz anderes, braucht aber hier nicht besonders behandelt zu werden, da sie aus dem Streben nach Wahrheit und Verbreitung der Wahrheit erwächst. Die wahrhaft revolutionäre und zugleich positiv aufbauende und darum auch konser- vative Wissenschaft hat - vor allem im Klassenstaate - selten auf einen großen Anhängerkreis zu rechnen gehabt. Suchte sie das Ohr breiterer Kreise, so konnte sie nur bei der einen oder der anderen der „beiden" Nationalökonomien Unterschlupf suchen.

Das Bild der Nationalökonomie muß also im Klassenstaate mehr als verworren sein. Bei genauerer Untersuchung, wie sie kürzlich von Horst Wagenführ1) durchgeführt worden ist, wird nur deut- lich, wie groß die Verworrenheit ist. Dieser Zerrissenheit gegenüber will der Name Wissenschaft nicht mehr recht passen. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, wenn der Laie oder der Anfänger über dieses Chaos den Kopf schüttelt. Aber nur der Dilettant rechnet der Wissen- schaft zu, was ihrem Mißbrauch zuzuschreiben ist.

Der Mißbrauch muß aufhören, und Wahrheitsideal muß wieder in seine Bechte eingesetzt werden. Aber: Was ist Mißbrauch, was ist Wahrheit ? Zunächst haben wir nur ein Gefühl, daß hier etwas nicht stimmt. Wir empfinden auch lebhaft, in welcher Bichtung die Wahr- heit zu suchen ist. Wir wollen jedoch klar sehen. Allzu gern möchte mancher den gordischen Knoten zerhauen und einfach neu anfangen, am sich nicht in den Schlingen, die am Boden liegen, zu verfangen. Wie aber fängt man hier neu an? Wollen wir verzichten, aus den Feh- lern der Vergangenheit zu lernen? Müssen wir nicht damit rechnen, daß wir uns sehr schnell in dem alten Irrgarten verlaufen ? Ist es nicht doch zweckmäßiger, erst einmal den bereits gebahnten Weg zu durch- schreiten und die Sackgassen, die andere schon angemerkt haben, sowie die Wege, die in Abgründe führen, zu meiden? Nur wer die ungeheure Arbeit nicht ermessen kann, welche die vorangegangenen Generatio- nen geleistet haben, kann glauben, allein und in absehbarer Zeit das Alles noch einmal und - besser zu machen.

*) Der Systemgedanke in der Nationalökonomie, 1933.

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Freilich dürfen wir uns ebensowenig ohne Kompaß in das Gewirr der bereits gebahnten Straßen begeben. Denn wir gehen in der Tat durch ein Labyrinth. Oft sind die Bezeichnungen irreführend ; manch- mal ist der Irrweg nur allzu gut gepflastert, während der rechte Weg schmal und vielleicht gar verwachsen ist.

Als solcher Kompaß dient uns die Überlegung, daß wir die Wirt- schaftswissenschaften zum Mittel der Gestaltung der Volkswirtschaft nach dem Ideale der Volksgemeinschaft brauchen. Daß diese Gestal- tung noch Aufgabe und nicht schon erfüllt ist, setzt voraus, daß in der Volkswirtschaft der kapitalistischen Vergangenheit, wenn sie über- haupt diesen Namen verdient, Kräfte wirksam waren, die der Ver- wirklichung dieses Ideales entgegenstanden. Diese Kräfte gilt es zu erkennen. Das ist die Frage nach der Ursache dessen, was wir über- winden wollen, nach der Ursache des Kapitalismus.

In doppelter Weise hat die apologetische Wirtschaftslehre die Beantwortung dieser Frage zu verhindern gesucht - wobei sie übrigens keineswegs das Bewußtsein haben mußte, eine schlechte Sache zu stüt- zen. Einmal hat sie das Problem der Getaltung der Wirtschaft nach einem Ideal nicht nur nicht aufgeworfen, sondern sich auch noch be- müht, es als unwissenschaftlich hinzustellen, diese Frage aufzuwerfen. Ließ sich aber die Stellung der Frage nicht mehr verhindern, so hat man entweder versucht, ihre Beantwortung für unmöglich zu erklären oder sie so zu wenden, daß die Aufgabe der Verwirklichung dieses Ideals als unsinnige Utopie erschien.

Darstellung und Kritik dieser apologetischen Lehren zu geben, ist gar nicht so einfach, wie man es wünschen möchte. Es kommt kaum in einer Wissenschaft vor, daß der falsche Satz in vollendeter Klarheit ausgesprochen und der Kritiker nur eingeladen wird, ihn abzulehnen. Die Apologeten sind groß in der Advokatenkunst, Wahrheit und Irr- tum zu einem berauschendem Trank zu mischen. Halb stimmt's, halb aber stimmt's nicht.

Auf zwei im Vordergrunde des gegenwärtigen Interesses stehende Probleme möchte ich besonders hinweisen: auf das Problem der Wert- freiheit und auf das Problem des spezifischen Charakters der theore- tischen Sozialwissenschaften. Das letzte habe ich ausführlich in meinem soeben erschienenen Buche „Statistik und Theorie in den Wirtschafts- wissenschaften" 1) behandelt. - Beides sind Probleme, die anscheinend

*) Stuttgart, Kohlhammer, 1935. Finanzarchiv. N. F. 3. Heft 2. 18

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nicht zur Buhe kommen können. In solchen Fällen wird der Kenner der Dogmengeschichte irgendeiner Wissenschaft - es ist ganz gleich, ob das Physik oder Ethik, Philosophie oder Soziologie oder irgend etwas anderes ist - sofort den Verdacht haben, daß in Wirklichkeit nicht um die Lösung einzelner Fragen gestritten wird, sondern daß je- weils mehrere Fragen miteinander vermengt und verwechselt werden.

Das scheint in der Tat bei der Wertfreiheitsfrage der Fall zu sein. Wenn einerseits die Wirtschaftswissenschaften als politische Wissen- schaft angesehen werden, die also Werturteile umschließen, und wenn andererseits der Theoretiker auch der Volkswirtschaft die Wertfreiheit der Theorie behauptet, so beziehen sich die beiden scheinbar einander widersprechenden Urteile auf ganz verschiedene Gegenstände. Das erste Urteil bezieht sich auf die Nationalökonomie als Ganzes, das zweite auf eine Teildisziplin, die reine Theorie.

Beins Theorie ist dabei das System der „Gesetze", der allgemein- gültigen Verknüpfungen der Erscheinungen einer Gesellschaftswirt- schaft. Wenn man natürlich wie Lampe1) definiert: „Beine", d. h. ausschließlich ökonomische Daten berücksichtigende Theorie der Markt- wirtschaft", so wird man das Problem stets verfehlen. Beine Theorie steht entweder gegenüber der angewandten Theorie, in der die reine Theorie zur, Erklärung einer bestimmten Situation verwendet wird oder das zweckmäßigste Mittel zu einem gegebenen Ziele erörtert wird. Oder es ist das System der reinen Theorie dem System der praktischen Nationalökonomie gegenübergestellt ; dann ist das wesentliche Merk- mal des ersten Systems die kausale oder funktionale Verknüpfung der

Erscheinungen und das des zweiten die verbindliche praktische Norm, unter welche die wirtschaftspolitischen Maßnahmen subsumiert werden. Die Lampe ö*c he Definition läßt aber wegen ihres Hinweises auf die „ausschließlich ökonomischen Daten" vermuten, daß ihm etwas

ganz anderes vorschwebt, nämlich der Oppenheimersche Unterschied zwischen der Theorie einer reinen und einer politischen Ökonomie, wo das „rein" allerdings eine ganz andere Bedeutung hat. Zu diesem Begriffspaar paßt aber wieder das Thema des ersten Kapi- tels „Beine Theorie und Wirklichkeit" nicht. Das hierdurch gekenn- zeichnete Problem besteht nämlich für die „politische Ökonomie" in

genau derselben Weise. Die beiden Disjunktionen „Beine Theorie und Wirklichkeit" und „Theorie der reinen und politischen Ökonomie"

*) Verteidigung der Einkommensteuer, Finanzarchiv Bd. II, S. 619.

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liegen auf ganz verschiedenen Ebenen. Wohl kommt auch heute noch der Fehler vor, daß jemand Sätze der Theorie der reinen Ökonomie (oder der autergen Wirtschaft) unmittelbar auf die kapitalistische Wirklichkeit anwenden möchte. Aber damit begeht er einen groben Anfängerfehler. Das tiefere Problem beginnt erst da, wo man er- kennt, daß die Mittel der rationalen Erkenntnis zwar ein Modell der Wirklichkeit verstehen lehren, aber noch nicht die volle Wirklich- keit. -

Daß Lampe aber doch den Oppenheimerschen Ge- gensatz im Auge hat, beweist der erste Satz seines zweiten Kapitels: „Beine Theorie geht von der Annahme aus, daß „freie Konkurrenz* '

besteht. - Mit Verlaub: Die „Theorie der reinen Ökonomie'* geht von dieser Annahme aus, nicht aber die „Keine Theorie**. Überdies sei an- gemerkt, daß die dann folgende Definition der freien Konkurrenz etwas ungewöhnlich ist. „Das heißt nichts anderes, als daß eine Mehrheit von Subjekten gleichen Wirtschaftszielen derart zugewandt ist, daß die Erreichung des gesetzten Zieles, bzw. die Annäherung an dieses nicht nur von der eigenen, sondern auch von der Leistung der anderen Wirtschafter auf Angebot- und Nachfrageseite abhängig ist."

Diese Definition ist bestenfalls halb ; sie enthält nur die Merkmale der arbeitsteiligen Wirtschaft ; eine solche ist allerdings Voraussetzung für das Auftreten von Konkurrenz und damit auch von freier Kon- kurrenz, aber für eine Definition der freien Konkurrenz sind diese An- gaben etwas dürftig. -

Die Wirtschaftswissenschaften sind vielleicht früher und bewußter als irgendeine andere Wissenschaft um eines praktischen Zweckes willen betrieben worden. Sie sind nicht nur durch den Namen „poli- tische Ökonomie*' als politische Wissenschaften ausgezeichnet. Nur war es freilich nicht gerade das Ideal der Volksgemeinschaft, in dessen Dienst sie gestellt wurden. Man hat immer gefragt, durch welches Mit- tel man den Wirtschaftsprozeß so beeinflussen kann, daß er so abläuft, wie man es gerade, bisher meist aus egoistischen Gründen, haben möch- te. Die Wirtschaft ist immer ausgerichtet auf die Sicherstellung der Erfüllung anderweitig gesetzter Ziele. Der einzelne ist bestrebt, die Bedürfnisse, die er empfindet, zu befriedigen. Überläßt man jeden sich selbst, so geht er dabei so weit, wie es seine moralischen Maximen zu- lassen. Ist er skrupellos, so nimmt er, was er kriegen kann. Der liberali- stische Kapitalismus zeigt, wohin das führt. Fühlt sich der einzelne an ein moralisches Gesetz, an einen kategorischen Imperativ gebunden,

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so erhebt er nur Anspruch auf das, was er für das Seine, für das hält, was ihm gebührt, und tastet nicht an, was anderen zukommt.

Diesen kategorischen Imperativ - sowohl als formales wie als materiales Gebot - setzen wir voraus, wenn wir mit einer Forderung an den einzelnen herantreten und von ihm verlangen, daß er auch auf die Belange seiner Volksgenossen, die diesen als Gliedern der Volksge- meinschaft zuzubilligen sind, Bücksicht nimmt. Da sich der Führer der Volksgemeinschaft nicht darauf verlassen kann, daß jeder einzelne von sich aus in jedem Falle dem moralischen Gesetze folgt, muß er Vorkehrungen treffen, die den Volksgenossen vor irgendwelchen Über- griffen anderer sichern.

Will man Maßnahmen, welche die äußere Ordnung eines Volkes einem Ideale gemäß gestalten sollen, wissenschaftlich begründen, so hat man in zweifacher Weise vorzugehen. Einmal ist nach der Gültig- keit des Ideales zu fragen, sodann ist nach den Mitteln zu fragen, durch welche dieses Ideal im Volke verwirklicht werden kann. Kürzer: 1. Soll das Ideal gelten? 2. Wie kann es verwirklicht werden? Das erste ist die Frage nach der praktischen Notwendigkeit (eines Sollens), das zweite die Ff age nach der Durchführung des Ideals in einer unter na- türlicher Notwendigkeit (eines Müssens) stehenden Wirklichkeit. Ob- wohl diese beiden Fragen gedanklich scharf zu unterscheiden sind, lassen sich politische Maßnahmen begrifflich nicht denken, ohne daß über beide - wenn vielleicht nicht bewußt, so doch immer faktisch -

etwas festgelegt würde. Das Ideal mag noch so wunderlich sein und die Auffassung über die geeigneten Mittel zu seiner Verwirklichung mag noch so phantastisch sein, die beiden Seiten der Sache sind immer da, man kann sie in der Wirklichkeit nicht trennen. Die politische Maß- nahme hat immer zugleich ein Ziel und stellt ein Mittel zu dessen Ver- wirklichung dar.

Ein Anhänger der Harmonielehre - sofern er den Idealtypus re-

präsentiert - hält keinerlei Maßnahmen für nötig, um das Ideal zu verwirklichen; aber auch seine Auffassung können wir nicht verstehen, ohne daß wir ihm eine Entscheidung über die zweite Frage unterlegen müßten. Er hält eine besondere Maßnahme nicht für notwendig, weil er an eine prästabilierte Harmonie - daher sein Name - zwischen der wirklichen und der seinem Ideal entsprechenden Ordnung glaubt. Gerade das machen wir ihm aber zum Vorwurf. Selbst wenn sein sittliches Ideal ganz einwandfrei wäre : seine Auffassung von der Wirk- lichkeit ist sicher irrig.

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Verdient nun eine Maßnahme in gleicher Weise den Vorwurf un- zulänglicher Begründung, wenn sich der Handelnde der Gültigkeit ihres Zieles oder der Zweckmäßigkeit der Durchführung nicht vergewissert, so sind beides doch streng zu trennende Seiten der Sache. Wenn mich jemand fragt, ob er auf richtigem Wege ist, so kann ich seine Frage nur beantworten, wenn ich weiß, wohin èr will, und wenn ioh die Gegend, in der er wandert, kenne. Keines genügt ohne das andere; aber beides ist offenbar auch nicht dasselbe. Ich will noch ein zweites Gleichnis geben, bei dem die Parallele zu manchen ökonomischen Fra- gen vielleicht für größer gehalten werden mag. Es fragt mich jemand nach dem nächsten Weg zum schönsten Aussichtspunkt der Nachbar- schaft. Hier beruht die Auskunft über Ziel und Weg auf meiner Kennt- nis der Landschaft. Und trotzdem beruhen die beiden Teile der Ant- wort auf streng unterscheidbaren Überlegungen. Ich kenne die ver- schiedenen Aussichtspunkte und entscheide mich somit auf Grund dieser Kenntnis der Gegend, zugleich aber auch auf Grund meiner ästhetischen Anforderungen für einen bestimmten als den schönsten Punkt; damit lege ich das Ziel fest. Dann zeige ich den nächsten Weg zu diesem nunmehr bestimmten Ziele wiederum auf Grund meiner Kenntnis der Gegend, diesmal aber auf Grund meines Wissens um die Topographie. Das ist etwas ganz anderes, und die zweite Frage kann vor der ersten überhaupt nicht beantwortet, ja nicht einmal gestellt werden. Welchen Sinn hätte die Frage: „Welches ist der kürzeste Weg?" - Und was fange ich andererseits mit der Kenntnis des schön- sten Aussichtspunktes an, wenn ich den Weg nicht kenne, auf dem ich zu ihm gelangen kann ?

Die Apologeten des Kapitalismus haben - um im Gleichnis zu bleiben - entweder versucht, den augenblicklichen Standpunkt für den schönsten zu erklären, oder den Weg, zu einem möglicherweise vorhandenen schöneren zu gelangen, für ungangbar erklärt. Man hat den Kapitalismus als die beste Ordnung verherrlicht oder ihn als un- vermeidbares Schicksal entschuldigt. Der Sicherheit halber hat man manchmal auch beides zugleich getan. Oder aber man hat sich auf die Durchschlagskraft dieser Argumente gar nicht erst verlassen, sondern das wenigstens eine Zeitlang ebenso wirksame Mittel gewählt, die Frage gar nicht anzuschneiden. Deshalb hat E a t h l) sehr recht, wenn er

l) Die Aufgabe einer Selbstbesinnung der Finanzwissenschaft, dieser Band S. 23.

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sich entrüstet, daß für gewisse Fragen der Nationalökonomie sich „überhaupt keine zuständige Wissenschaft findet".

Mit den nationalökonomischen Lehren, die den Kapitalismus ge- radezu verherrlichen, brauchen wir uns hier nicht aufzuhalten. Sie entstammen meist der Frühzeit der Entwicklung, als die Entwicklungs- linie - freilich auch nur dem oberflächlichen - Beobachter noch nicht deutlich zu sein brauchte. Heute ist das Urteil in dieser Hinsicht ziem- lich einhellig intra muros et extra. Bei den andern Lehren ist für uns hier der Gedankengang das Wichtige. Was sie wollen oder wenigstens wünschen, ist, daß der Kapitalismus nicht durch Verwirklichung eines sittlichen Ideals beseitigt werde. Läßt sich seine sittliche Vorzugs- würdigkeit diesem andern Ideal gegenüber nicht dartun, so kann man versuchen, die Unsinnigkeit des Strebens nach diesem andern Ideal nachzuweisen, daß man seine Verwirklichung als unmöglich und somit den Kapitalismus indirekt als unvermeidlich aufzeigt. In der Tat wäre es sinnlos, von der sittlichen Aufgabe, ein Ideal zu verwirklichen, zu sprechen, wenn die Verhältnisse in der Wirklichkeit ihre Erfüllung ausschließen.

Außer den reinen Typen der apologetischen Theorien finden sich in der Literatur die unzähligen eklektischen Elaborate, in denen die Argumente aus verschiedenen Gedankengängen zusammengestellt worden sind, die dem Autor unter den jeweiligen Umständen als die

zugkräftigsten erschienen. Es kann nicht wundernehmen, wenn der

heutige Kritiker einem solchen System gegenüber verzweifelt, weil er darin schlechterdings keine Einheit zu entdecken vermag.

Angesichts des chaotischen Zustandes in den Sozial- und Wirt- schaftswissenschaften, den ja keine Nachsicht mehr verschleiern kann, läßt sich die Frage nach den Gründen nicht mehr umgehen. Und wenn auch die Menschen wie gewisse Schwerhörige im allgemeinen nur hören, was sie hören wollen, und deshalb die bereits angeführte soziologische Begründung nicht leicht genommen werden kann, so will es einem doch oft kaum glaubhaft erscheinen, daß manche ganz schwach fundierte Machwerke auch nur von ihrem eigenen Verfasser ernst genommen werden. Aber das hat natürlich seine zureichenden Gründe. In der

gleichen Epoche, von deren Nationalökonomie wir hier gesprochen haben, verfällt auch die Philosophie. Nicht als ob nun alles, was an

Philosophie geschrieben worden wäre, in dieser Zeit nichts taugt. Es

gibt ebenso einzelne bedeutende Philosophen wie es auch einzelne be- deutende Nationalökonomen gegeben hat, die vom Geist der Zeit nicht

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angekränkelt worden sind. Aber die Philosophie verfällt als wesent- licher Bestandteil des Bildungsgutes der breiten Masse der Akademiker. Das hat sich weniger auswirken können auf die Naturwissenschafter und auf die Vertreter derjenigen Zweige der Geisteswissenschaften, in denen eine straffe Schulung zur Ausbildung des heranwachsenden Akademikers gehörte, also besonders auf die Juristen und die katho- lischen Theologen, die noch das Bildungsgut der scholastischen Logik pflegten. Es gab natürlich auch in andern Zweigen der Geisteswissen- schaften Schulen, die eine strenge Denkzucht vermittelten, aber sie traten im ganzen weniger hervor.

Den Verfall der Philosophie an Hand der Dogmengeschichte zu zeigen, würde hier zu weit führen; das möchte ich berufeneren Federn überlassen. Mir kommt es vor allem auf die Bemerkung an, daß die Logik ganz und gar verfiel. Es war eine sehr verderbliche Folge, die das ablehnende Urteil Kants über die „falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren'* 1762 zeitigte. Fries, der sich energisch gegen diese Ablehnung wandte, vermochte sich nicht durchzusetzen. Und der Zeitgeist war von vornehmer Ablehnung gegenüber der Be- schäftigung mit solchen akademischen Belanglosigkeiten.

Nun bietet gewiß die Beschäftigung mit der formalen Logik noch keine hinreichende Gewähr dafür, daß jemand auf dem Gebiete irgend- einer Wissenschaft etwas leistet. Die Ergebnisse ihrer Vernachlässigung sind aber alles andere eher als ermutigend. Daß sie sich in unserer Wissenschaft so besonders bedenklich auswirken konnte, hat seinen Grund in erster Linie darin, daß die Anforderungen, die an die Ab- straktionskraft gestellt werden, hier besonders hoch sind, und daß selten die Möglichkeit besteht, das Abstrahieren durch Veranschau- lichen zu erleichtern. So sind wir bei jedem Schritte, den wir tun, fast ausschließlich auf die Kontrolle unserer Schlüsse durch die bloße Logik gezwungen. Fehlt nun die Kenntnis der Handhabung dieses Werk- zeuges, so verliert man sich allzu leicht in ganz unergiebige Weitläufig- keiten. Man könnte in etwas freier Variation sagen: Da uns ein Trivium der Logik und Methodenlehre fehlt, so sind wir immer in Gefahr, uns um Trivialitäten zu streiten, die längst klargestellt sein sollten, ehe man an das eigentliche Fachstudium herangeht.

Dieser - absichtlich etwas hart gezeichnete - Zustand in unserer Fachwissenschaft wie in ihrer Methodologie und in der Logik bringt es naturgemäß mit sich, daß die Reform auf erhebliche Schwierigkeiten stößt. Ist uns doch allen die Wissenschaft in dem Zustande, den ich

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soeben geschildert und getadelt habe, übermittelt worden. Und wenn wir im einzelnen Falle das Glück gehabt haben, durch unsere persön- lichen Lehrer schon auf die Schäden aufmerksam gemacht worden zu sein, so hat der Großteil der Literatur eben doch die aufgewiesenen Mängel, und ihrem Einfluß wird sich kaum einer gänzlich entzogen ha- ben. Was Wunder also, wenn man im allgemeinen mit einem sehr schwachen Küstzeug an die Eefonn herangeht. Nun kann man zwar, was die Gesinnung betrifft, den Willen für die Tat nehmen, aber die Eeform erfordert eben eine Leistung. Es wäre sehr merkwürdig, wenn diese Leistung sich in kurzer Zeit vollziehen ließe; dazu ist die Aufgabe viel zu umfangreich und viel zu schwer. Was in Generationen des Nie- derganges zerstört oder doch zum mindesten nicht aufgebaut worden ist, das läßt sich vermutlich auch erst in Generationen schaffen. Es kommt aber sehr darauf an, daß wir uns den Weg nicht erst wieder verbauen. Wir müssen versuchen, Irrwege zu meiden.

Daß ich eine radikale Beform der Nationalökonomie für erforder- lich halte, kann nach der gegebenen Schilderung der gegenwärtigen Mängel nicht in Zweifel gezogen werden. Aber was ist radikal ? Tabula rasa zu machen ist zwar angesichts der vorliegenden Verwirrung ein begreiflicher Wunsch; aber dieser bloße Wunsch legitimiert zu gar nichts. Wollten wir ihm nachgeben, so würden wir nur auf bereits ge- wonnene Erfahrungen verzichten, und wir liefen nur Gefahr, erneut das Lehrgeld zu bezahlen, das die Generationen vor uns bereits auf-

gebracht haben. Bei allem Badikalismus dürfen wir die Besonnenheit nicht verlieren. Wir müssen behutsam vorgehen.

II.

Der Kampf um die radikale Beform der nationalökonomischen Wissenschaft ist taktisch nicht ganz leicht zu führen. Noch sind wir

ja nicht so weit, nur um die Anerkennung einer in jeder Beziehung vollständigen Theorie zu kämpfen, die sich des consensus prudentium erfreut; wir ringen noch um die Vollendung der ökonomischen Theorie. Deshalb ist es auch so schwer, von einer „herrschenden" Lehre zu

sprechen. Wohl herrscht gerade unter denen, die gleichsam vor Ort arbeiten, ziemliche Einigkeit über die Leistungsfähigkeit der Methoden. Aber abgesehen davon daß es auch in diesem Kreise Außenseiter gibt, wird diese Einigkeit für den Nichtfachmann meist verdeckt durch das

Meinungsgewirr im zweitrangigen Schrifttum. Hier wird der Begriff

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der herrschenden44 Lehre ganz verschwommen. Was „herrscht", ist ein Eklektizismus, variierend nach dem, was dem einzelnen an Natio- nalökonomie zufällig zuerst in die Hände gefallen ist. (Am besten ist's, wenn ihr nur einen hört und auf des Meisters Woite schwört.) Die herrschende Meinung dieser Vielzuvielen kann man nur refor- mieren, indem man dafüf sorgt, daß sie das Eichtige rezipieren. Den

Apologeten trifft man nicht, indem man lediglich die von ihm zufällig mißbrauchte theoretische Lehre zerpflückt, sondern indem man seine

politischen Wertungen zum Gegenstand der Kritik macht; denn die materialen Theorien wechselt er bedenkenlos nach Opportunitäts- gesichtspunkten.

Die Eeform der Wissenschaft muß an der Stelle einsetzen, wo

gleichsam an der Front um den Vormarsch der Wissenschaft gekämpft wird. Nur hier sind wissenschaftliche Argumente von Bedeutung, und hier sind nur sie erlaubte wie geeignete Waffen. Wie der Kritiker nach altgeübtem und wohlberechtigtem Brauch nur dann Anspruch auf Gehör hat, wenn er den Gegner an der am stärksten bewehrten Stelle

angreift, so kann sich auch der Verteidiger der Theorie nur darauf einlassen, das zu verfechten, was nach bestem Gewissen und Wissen haltbar ist. Der Kodex der wissenschaftlichen Diskussion erlegt mit

Fug und Eecht demjenigen die Beweislast auf, der etwas Neues be-

hauptet. Methoden werden erprobt; und über diese Erprobung kann man sich auch dann nicht hinwegsetzen, wenn man die neuen Me- thoden an die Stelle solcher setzen will, von denen man glaubt, sie hätten versagt.

Wenn ich mit Eath, der im ersten Aufsatz dieses Archivbandes zur Besinnung in der Finanzwissenschaft aufruft, in der Grundabsicht, mit den überkommenen Irrtümern zu brechen, übereinstimme, und auch mit ihm die Ansicht teile, daß die Eeform keinesfalls in einer

Schwächung der Arbeit an der Theorie bestehen kann, sondern in einer Synthese zu suchen ist, in welche die exakte Theorie als ein sehr wesentlicher Bestandteil einzugehen hat, so bin ich über den

Weg, der zu diesem Zwecke zu beschreiten ist, mit ihm nicht einer

Meinung. Bei der Wichtigkeit der angeschnittenen Fragen halte ich es für

unumgänglich, daß wir uns in kameradschaftlicher Weise über die z. T. wohl recht tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten auseinander- setzen. Dabei darf trotz aller notwendigen gedanklichen Schärfe in der Formulierung der Antithesen das Bewußtsein nicht verlorengehen,

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daß eine solche sachliche Auseinandersetzung gemeinsame Arbeit an einer einheitlichen Aufgabe bedeutet. Nur allzusehr tut eine Sammlung der aufbauenden Kräfte not, als daß wir uns in überflüssigen Pole- miken zersplittern dürften.

Was ich an E a t h s Darlegungen für bedenklich halte, ist weder ihre Grundtendenz noch die Schärfe seiner Kritik, sondern der an- scheinend taktisch bedingte Ansatzpunkt. E a t h verwirft wie ich den apologetischen wie den destruktiven Mißbrauch der Theorie. Während ich aber mit meinem Angriff in den Punkten einsetze, wo es sich um Meinungsverschiedenheiten in materialen Problemen han- delt, glaubt E a t h wirksamer in der Methodenlehre angreifen zu können. Nach seiner Auffassung versagen die bisherigen Methoden für alle Wissenschaften von dem Punkte an, „an dem sie hermeneutisch werden, d. h. auf die Notwendigkeit einer Deutung geistiger Tat- bestände stoßen" (84). Und zwar richtet sich sein Angriff nicht gegen einzelne Lehrstücke, sondern ganz allgemein gegen die bisherige Art, Theorie zu treiben. Er sagt z B.: „Es ist in diesem Sinne der ge- schichtlich politische Charakter auch der Finanzwissenschaft, der die bisherigen Bemühungen reiner Theorie unfruchtbar macht und eine Ablösung von der mit ihr gesetzten Wissenschaftslehre fordert"

(84). Ich glaube, daß E a t h die Gefährlichkeit dieser Wendung unter-

schätzt. Wenn man den Mißbrauch der Theorie durch Beseitigung der mißbrauchten Theorie bekämpft, dann fehlt die Theorie nachher auch zum Gebrauch für den guten Zweck. E a t h übernimmt selbst, auch für die Finanzwissenschaft, Lehrstücke der Theorie, die unter Anwen-

dung der abgelehnten Methode entstanden sind. Lehrstücke wie die Über-

wälzungslehre sind unentbehrlich; sie werden auch von Eath weder

abgelehnt, noch können sie von ihm mit neuen Methoden behandelt wer- den; fehlerhaft wäre zudem nur, die Finanzwissenschaft sich in diesen Lehrstücken erschöpfen zu lassen. Das fordert aber die moderne Auf-

fassung der Theorie keineswegs. Die exakte Theorie bedarf gewiß einer Ergänzung, und zwar nicht nur in unwesentlichen Details; sie kann aber nicht durch etwas anderes ersetzt werden. Wohl haben exakte Theoretiker häufig die Neigung, die hermeneutischen oder ver- stehenden Partien der Nationalökonomie zu bagatellisieren oder gar als eine Abart des Empirismus beiseitezuschieben. Das ist eine ab- zulehnende Veikennung der Bedeutung dieser Auffassungsweise. Aber ein Kampf gegen die „Theorie" oder der Anschein eines solchen stärkt

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naturgemäß eher die verflachende Lehre des Empirismus als die um ihre Existenz noch ringende und sich erst entfalten wollende ver- stehende Nationalökonomie und Soziologie.

Baths Gedankengang brauche ich hier nur ganz kurz zu skiz- zieren, da der Leser in diesem Bande zurückblättern kann, um den Text zu vergleichen.

Bath betrachtet es als die herrschende Meinung, daß die Wissen- schaft die „Natur" bzw. die Wirklichkeit als „unregelmäßige Fülle der Erscheinungen44, als „extensive und intensive Mannigfaltigkeit, „als „Chaos der Bewegungen", als „Gewühle" (48) auffaßt, in dem sie nun „erst einmal Ordnung stiften* * muß. „Eine Beihe von Axiomen, Prä- missen übernimmt im Verein mit den Verfahren des Schließens, Fol-

geins die Funktion: „Die unübersehbare Fülle von Tatsachen kurz zum Ausdruck zu bringen und jedes Zurechtfinden in denselben, das wir als Verständnis bezeichnen, in so kurzer und so vollständiger Weise wie möglich zu erreichen" (Schumpeter) (17). Weiterhin stellt Bath dieses Verfahren als gegründet auf die Kantsche Vernunftkritik dar. Kant „begreift - nach Bath - Wissenschaft als axiomatische Wissenschaft* *

(88). Die gesuchte Ordnung wird ge- funden „mit Hilfe der regulativen Idee** (21). Und da setzt Baths erster Zweifel ein. „Es handelt sich eben nicht mehr um die Konsequenz richtiger Schlußfolgerungen, sondern um den primären Ansatz der Axiomatik selber, das vorausgesetzte regulative Prinzip** (25). In dieser Ebene ist dann mit den Kriterien der Logik nichts mehr anzufangen; denn es stehen die Voraussetzungen selber zur Diskussion; hier wird „ein brauchbares Prinzip gesucht*4 (26). Nicht die Widerspruchslosig- keit, sondern die Brauchbarkeit der Axiomatik steht zur Diskussion. Es wird daran gezweifelt, ob die Vernunft die „letzte Instanz44 ist (28), welche über die Theorie zu entscheiden hat. „Nur ein Bationalismus ungeschichtlicheï Prägung vermag letzten Endes anzunehmen, daß die begrifflichen Konstruktionen reiner Vernunft, das rational ein- deutig aufgebaute System dem wirklichen Leben entspräche, daß der Kosmos ein - individualistisch oder universalistisch, atomistisch oder ganzheitlich - geordnetes harmonisches Ganzes ausmacht44 (71).

Gegen die Axiomatik, die er „logizistisch" nennt (80) und von der er behauptet, daß „jede neue Definition des Wortes Wirtschaft" ein „neues System** entstehen läßt (41), kämpft Bath an. Wenn man „die Natur nach diesen Ideen befragt (Kant), dann ist das Chaos der Problemstellungen, d. h. der Systeme die Folge4*. Es „folgt

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sogar zwangsläufig aas der Axiomatik" (31). Die „Ideen", die hier als Auswahlprinzip angesehen werden, sind „willkürlich" (87, 41).

Diesem „Naturalismus4 ' gegenüber ruft Bath zur Besinnung

auf die „Sache selbst" (2, 82, 85, 87, 88, $9, 41, 48). Es sei die Ordnung nicht in der Vernunft willkürlich zu gestalten, sondern „in der Wirk- lichkeit selbst" zu suchen (86, 43). Die „neue Einstellung" besteht in der Auffassung, daß die Wirtschaft (unser Gegenstand) - „vor allem . . • die öffentliche Wirtschaft, die Staatswirtschaft - uns nicht erst über den Umweg über ein wirtschaftliches Prinzip verstehbar wird", sondern daß wir sie „in ihrem Wesen unmittelbar als sinnvolles Ganzes verstehen können" (87).

Es ist der formale Ausgangspunkt aufzugeben und Entscheidungen „jenseits einer bloßen Tatsächlichkeit" zu suchen (42). Aber: „Ist die bisher die Einheit verhindernde Axiomatik (die jene ja vorgeblich schaffen sollte) gefallen, so scheint sich doch die Einheit in der Sache anzubieten. Sachliche Erfassung der Wirtschaft erscheint als Erfas-

sung eines und desselben in einer und derselben Weise. Nun aber läßt sich zeigen, daß es diese Einheit nicht gibt: bei Durchbrechen der bloß axiomatischen Setzungen stoßen wir nämlich - wohl von ihnen zu unterscheiden - auf verschiedene Fundierungen des Erkennens selbst" (48). Hier muß in einer „dritten Schicht" der Methoden-

probleme de* „Erkenntnisansatz" (44) zur Debatte gestellt werden. Erst da kann dann gegen den aller bisherigen verderblichen Theorie

zugrunde liegenden Naturalismus entschieden werden. „So steht das Verhältnis der Vernunft zur Wirklichkeit in Frage" (71).

Da ich mich in der Ablehnung der bisher als ausreichend an-

gesehenen Volkswirtschaftslehre mit Bath einig sehe, aber den

Ausweg, den er yorschlägt, ebenso radikal anders sehe, kann ich eine vielleicht etwas pedantisch anmutende Auseinandersetzung nicht ver- meiden. Ich will noch einmal betonen, daß ich mit Bath ins- besondere einig bin in der Ablehnung einer kapitalistisch-apologeti- schen Theorie, daß ich eine radikale Besinnung auf die methodo- logischen Grundlagen, insbesondere der praktischen Nationalökonomie für notwendig halte, und daß ich es für unerläßlich halte, die Ein-

seitigkeiten einer rationalistischen Auffassung zu überwinden. A m o n n s Methodenlehre kann man unmöglich als die heute

herrschende Lehre hinstellen, weder in dem Sinne, daß sie von den führenden Theoretikern vertreten würde, noch auch, daß sie sich einer allgemeinen Popularität erfreut; dazu ist sie viel zu abstrakt.

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Die Termini „Erkenntnisobjekt" und „Erfahrungsobjekt" sind aller- dings sehr beliebt, haben aber in der Vulgärökonomik gewöhnlich einen unscharfen Sinn, für den man dann A m o n n auch nicht mehr verantwortlich machen kann. Der Fehler, durch willkürliche Wahl des „Erkenntnisobjektes" beliebig gestaltete „reine Theorien" zu schaffen, würde in der Tat zu einem „Chaos von Systemen*

* führen müssen. Wer macht aber diesen Fehler ? Bath sieht in dieser Lehre sogar eine Folge, wenn nicht ein Lehrstück der Kantschen Philo- sophie.

In der Ablehnung der Amonnschen Methode geht E a t h soweit, zu behaupten, der Gegenstand der Staatswirtschaft sei „sehr weit von einer extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit" entfernt (6). Als Gegenbeweis heißt es bei ihm: „Vielmehr ist die Staatswirtschaft schon vor dem Eingreifen der Wissenschaft ein durchaus durchdachtes und schon geordnetes Gebilde, zweckvoll und systematisch zumindest seinem gemeinten Sinn nach abgestimmter Maßnahmen und Einrich- tungen, ein echtes Gebilde, eine Gestalt" (7). - Diese Ablehnung schießt weit über das Ziel hinaus. Die extensive und intensive Mannig- faltigkeit von Gebilden der Erscheinungswelt wird sich nicht gut leugnen lassen. Es steht aber auch nur zur Diskussion, ob die Ordnung dieser Mannigfaltigkeit willkürlich von dem erkennenden Subjekt ge- schaffen wird oder ob sie „objektiv" in der „Wirklichkeit" liegt. Um die Lehre von der Willkürlichkeit zu bekämpfen, braucht man aber die Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt gar nicht zu bestreiten.

Bath behauptet sogar, es sei übliche Auffassung in der National- ökonomie (6), daß der Praktiker nur ein oberflächliches Wissen von dieser ungeordneten Mannigfaltigkeit habe, und daß erst der Theo- retiker in das Chaos der Vorstellungen des Praktikers eine vernünftige Ordnung bringe; das ist aber eine Auffassung, die sich nicht einmal Ainonn vorwerfen lassen kann. Bath übersieht hier ganz, daß sowohl bei A m o n n wie bei Kant keineswegs der Unterschied von ungeordneter, gelegentlicher „Erfahrung" und systematischer Wissenschaft zur Erörterung steht, sondern das erkenntniskritische Problem, wie der Mensch überhaupt zu Erfahrung komme. Bei A m o n n mögen sich dabei erhebliche Mängel eingeschlichen haben, aber bei Kant liegt der Fall ganz klar. Er fragt, wie Erfahrung möglich sei und unterscheidet Sinnlichkeit als das Vermögen, unserer Erkenntnis Inhalt, und Verstand als das Vermögen, ihr Form zu geben. In der Einleitung in die transzendentale Logik heißt es :

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286 Hans Peter

„Wollen wir die Reoeptivit&t unseres Gemüths, Vorstellungen zu empfangen, sofern es auf irgendeine Weise äff iciert wird, Sinnlichkeit nen- nen, so ist dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität des Erkenntnisses der Verstand. Unsere Natur bringt es so mit sich, daß die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, d. i. nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen afficiert werden. Da- gegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand. Keine dieser Eigenschaften ist den andern vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner ge- dacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind/' (Kritik der reinen Vernunft, II. Aufl. S. 75.)

Um noch zu zeigen, daß Kant nicht daran gedacht hat, die Erfahrungen als ungeordnet anzusehen, sei die bekannte Stelle an- geführt, die von der Ehapsodie der Wahrnehmungen spricht. Im System der Grundsätze des reinen Verstandes heißt es:

„Nun beruht Erfahrung auf der synthetischen Einheit der Erscheinungen, d. i. auf einer Synthesis nach Begriffen vom Gegenstand der Erscheinungen über- haupt, ohne welche sie nicht einmal Erkenntnisse, sondern eine Rhapsodie von Wahrnehmungen sein würde, die sich in keinem Context nach Regeln eines durch- gängig verknüpften (möglichen) Bewußtseins, mithin auch nicht zur transzenden- talen und notwendigen Einheit der Apperzeption zusammen schicken würde" (S. 195).

Infolgedessen muß Kant als angeblicher Bundesgenosse A m o n n s ausscheiden. Zugleich erledigt sich auch die Gegenüber- stellung von Theorie und Praxis, wie sie Bath vorträgt. Wir brau- chen auf das Niveau einer „schulmeisternden Wissenstheorie", die allem „Vorwissen", d. h. allem von NichtWissenschaftlern gepflegten Wissen „Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit" vorwirft, nicht hinab- zusteigen; aber wir müssen Verwahrung dagegen einlegen daß diese Auffassung als die „herrschende Wissenschaftslehre" bezeichnet wird (6j. An eine derartige Gegenüberstellung haben aber weder A m o n n noch E i c k e r t gedacht, von Kant gar nicht zu reden ! Immer- hin ist E a t h s Folgerung aus der Amonnschen Methoden- lehre eine Art reduetio ad absurdum und als solche nicht ohne Inter- esse.

Ganz in derselben Eichtung liegt ein weiteres Mißverständnis, das E a t h wiederum in K a n t einen Bundesgenossen der Amonn- schen Methodenlehre erblicken läßt. Nach A m o n n ist die Wahl des Erkenntnisobjektes „willkürlich". Ebenso soll nach E a t h aber bei Kant das Axiomensystem oder die regulative Idee, nach welcher ein solches gebildet wird, willkürlich sein. Es ist nicht ganz leicht,

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Zur Selbstbesinnung in den wirtschaftlichen Staatswissenschaften. 287

hier den Eathschen Gedankengang kurz wiederzugeben. Er spart nicht mit Vorwürfen; aber diese Vorwürfe die sich im Wesent- lichen wieder gegen Kant richten, passen nicht so recht zusammen- Ich greife nur zwei Punkte heraus: Die These vom regulativen Ge- brauch der Vernunft, die hier mit der Willkür in der Wahl des Er- kenntnisobjektes in Verbindung gebracht wird, und die Lehre von einer Axiomatik, die einmal „logizistisch", dann als „formal4* (80) be- zeichnet wird, von der einmal für möglich gehalten wird, daß sich nur ein axiomatisches Prinzip als logisch (!) l) haltbar erweisen lasse (27),

*) Damit wir nicht aneinander vorbeireden, scheint mir hier ein Hinweis auf die Verschiedenheit im Gebrauch des Wortes Logik erforderlich. Wenn Kant oder Descartes, deren Äußerungen Rath zitiert (19 - 21), von Logik sprechen, so haben sie nach Kantscher Definition die Logik als System der analytischen Urteile a priori im Auge. Nur in diesem Sinne ist es ein Vorwurf, wenn man eine Theorie als logizistisch bezeichnet, und die zitierten Angriffe der beiden Philosophen richten sich denn auch gegen die Versuche, die Metaphysik auf bloße Logik zu gründen. Neben der Logik, der Empirie und Mathematik steht aber bei Kant noch das System der synthetischen Urteile a priori aus bloßen Begriffen, die Metaphysik (dieses Wort im Sinne der Prolegomena genommen). Vielfach hat man nun nach Kant diese Unterscheidung wieder aufgegeben und ist - keineswegs nur im Lager der Neukantianer und ganz gewiß nicht in der jüngeren Fries schule ! - zu dem Versuch einer Erweiterung des Gesichtskreises der Logik (wie die Grenzüberschreitung euphemistisch bezeichnet wird) geschritten. Um eine Stelle aus Dilthey (Einleitung in die Geisteswissenschaften, Ges. Sehr. I, S. 118) herauszugreifen: „Den logischen Anforderungen an ein Urteil ist erst dann entsprochen, wenn das Bewußtsein seines logischen Grundes in dem Zusam- menhang der Erkenntnis, in welchem es auftritt, die erkenntnistheoretische Klar- heit über Gültigkeit und Tragweite des ganzen Zusammenhanges psychischer Akte einschließt, welche diesen Grund ausmachen. Daher führen die Anforderungen der Logik an Begriffe und Sätze bis in das Hauptproblem aller Erkenntnistheorie zu- rück: Natur des unmittelbaren Wissens um die Tatsachen des Bewußtseins und Verhältnis desselben zu dem nach dem Satz vom Grunde fortschreitenden Erken- nen.41 - Hier ist m. E. über die Logik im alten aristotelisch-kantischen Sinne hin- ausgegangen. Ich halte das für verwirrend und bin gegen die Preisgabe der Schei- dung von Logik und Metaphysik. Mag man sich aber dazu stellen wie man will, jedenfalls ist für die Diskussion festzuhalten: Entweder macht man die Unter- scheidung; dann ist „logizistisch" ein Vorwurf, weil die Logik als Grund der in der Theorie verwandten Prinzipien ausscheidet. Gegen die Unterstellung, als hielten wir nur ein einziges axiomatisches Prinzip für logisch haltbar, muß ich mich unter dieser Voraussetzung mit Bernardelli, Preiser und Weddigen wehren; eine solche Auffassung wäre wegen der im Texte angeführten Beziehungen zwischen Logik und Axiomensystem ganz sinnlos. - Oder man nimmt Logik in dem erwei- terten Sinne, den ich durch das Dilthey zitat angedeutet habe; dann müßte zunächst festgestellt werden, ob wir eine solche These vertreten und wie sie genau

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während nachher das „Chaos der Systeme" „sogar zwangsläufig aus ihr folgen" (81) soll. Beide Punkte gehören eng zusammen und be- rühren sich mit der Vorstellung, die sich Bath von dem Verhältnis von Philosophie und Fachwissenschaften macht (13), wenn er in ihm das Problem Praxis und Theorie in seiner prinzipiellsten Form erblickt.

Es dürfte zweckmäßig sein, zuerst den Begriff der Axiomatik zu erörtern. Ursprünglich hat man nur im Bereiche der Mathematik von Axiomen gesprochen. Axiome sind dann evidente Grundurteile, die eines Beweises weder fähig noch bedürftig sind und ihre Begründung in der reinen Anschauung finden. Schon daraus läßt sich einsdien, in welchem Verhältnis Axiomatik und logische Konsequenz stehen. Die Gesamtheit der Lehrsätze läßt sich mit Hilfe bloßer Logik aus den Axiomen ableiten. Axiome sind voneinander unabhängige Grund- eikenntnisse. Ihre logische Vereinbarkeit steht überhaupt nicht zur Diskussion. Wenn untersucht wird, ob ein Axiom etwa mit einem andern Axiom in logischem Widerspruch steht, so ist das Ziel einer solchen Untersuchung nur: festzustellen, ob es sich wirklich um ein Axiom handeln kann.

Wird die zunächst bei der Untersuchung der Grundlagen der Mathematik angewendete axiomatische Methode auf empirische Wis- senschaften übertragen, so kann das nur in der Weise geschehen, daß neben die Grundsätze der reinen Vernunftwissenschaften, also der Mathematik und Metaphysik (im Sinne der Kantschen Prole-

gomena) allgemeine, aus der Erfahrung gewonnene Sätze gestellt wer- den und dann auf diese Gesamtheit von Axiomen im weiteren Sinne eine „reine Theorie" gegründet wird. Eine solche Theorie gilt, wie das in neueren methodologischen Untersuchungen immer deutlicher ge- worden ist, streng deterministisch nur für ein „Weltbild4*, für ein Schema, zwischen dem und der Wirklichkeit noch ein Riß klafft, der in allen empirischen Wissenschaften nicht überbrückt werden kann. Ich vermute, daß Rath letzten Endes auch auf diese Problematik,

lautet; und weiterhin wäre besonders zu zeigen, daß sie falsch ist. Faßt man näm* lieh die Lehre von der Objektivität der synthetischen Einheit unserer Erkenntnisse «Is Bestandteil dieser erweiterten, die Metaphysik im Kantiso h en Sinne mit umfassenden „Logik" auf, so könnte sie nur von denen bestritten werden, welche die Willkürlichkeit des Erkenntnisobjektes lehren. Man sieht: wenn die begriffliche Schärfe verlorengeht, wie das ein Hauptmangel der modernen Philosophie ist, dann verliert man sich auf Schritt und Tritt ins Uferlose. Es fehlt aber hier der Raum, immer wieder auf die Dogmengeschichte der Nationalökonomie und die Geschichte der Philosophie zurückzugreifen.

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die heute vornehmlich die Physiker beschäftigt, hinaus will, und ich sehe gerade darin den fruchtbaren Gedanken seiner Kritik der bis- herigen Art, Nationalökonomie zu treiben. Nur scheint es oft so, als ob ei in der Ablehnung zu weit geht und Lehrstücke verwirft, die durchaus hieb- und stichfest sind und mit dem erstrebten Wissen- schaftsideal sehr wohl vereinbar sind.

Kaum haltbar ist z. B. die Behauptung: „Das heute vorgefundene Chaos der Systeme ist wesensnotwendiger Ausdruck der in der reinen Theorie angesetzten logizistischen Axiomatik" (30), und zwar deshalb, weil gar keine Bede davon sein kann, daß die Axiomatik im Sinne der aristotelisch-kantischen Logikbegriffe logizistisch ist, d. h. aus bloßen Begriffen folgert. Wie die Theoretiker im allgemeinen wissen, daß aus bloßer Theorie nicht auf das Dasein der Wirtschaft geschlos- sen werden kann (37), so wissen sie auch, daß aus bloßen Begriffsdefi- nitionen sich keine Theorie ableiten läßt (41). Wenn Bath den Vor- wurf des Logizismus immer wiederholt und gegen die ganze Theorie geltend macht, obwohl er nur gegen die ontologisch eingestellten Theoretiker wie Spann - und anscheinend auch ihn selber - durch- schlagen kann, so kommt das daher, weil er sich über den Charakter jener empirischen Axiome, die zu den reinen Vernunftserkenntnissen hinzutreten, keine hinreichend deutliche Vorstellung macht.

Wieder ist es ein Mißverständnis der Kantschen Vernunft- kritik, das ihn hier irreleitet. Bath spricht von den regulativen Ideen oder Prinzipien (25, 32) wie von einem willkürlichen Ausgangspunkt, von dessen Wahl die Axiomatik abhängt. Er glaubt sich dazu berech- tigt, weil Kant in dem Anhang zur transzendentalen Dialektik über den regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft einmal sagt, diese Idee sei nicht „ein Begriff vom Objekte", sondern „von der durch- gängigen Einheit dieser Begriffe44 und dann zweifelt, daß man beim „hypothetischen Gebrauch der Vernunft" die „Allgemeinheit" eines angenommenen Grundsatzes beweisen könne. Hier scheint Bath zu übersehen, daß zwischen seinen beiden Kant zitaten (Kritik der reinen Vernunft, S. 678 und 675, Bath, S. 18-19) die Unterscheidung zwischen dem „apodiktischen" und „hypothetischen" Vernunftge-> brauch gemacht wifd. Lediglich über den letzten wird gesagt, daß der Vernunftgebrauch „nur regulativ" ist. Beim apodiktischen Vernunft- gebrauch wird von „an sich gewissen" allgemeinen Gesetzen durch Subsumtion auf das Besondere geschlossen; hier ist der Vernunftge«« brauch „konstitutiv". Systeme der hierauf gegründeten Art sind die

Finanzarchiv. N. F. 3. Heft 2. 19

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Systeme der reinen (d. i. nicht-empirischen) Vernunftswi'ssenschaften Metaphysik und Mathematik, wobei man sich nicht dadurch verwirren lassen darf, daß das erstere kategorisch, das letztere hypothetisch ist ! Beim hypothetischen Vernunftgebrauch wird das Allgemeine zunächst nur problematisch gedacht, das Besondere aber ist gewiß, ,,aber die Allgemeinheit der Eegel zu dieser Folge ist noch ein Problem'*.

Man sieht, daß hier den Deduktionen aus gegebenen allgemeinen Prinzipien die Induktionen aus den besonderen Urteilen gegenüber- gestellt werden. Man darf also diesen Streit um „Induktion" und , , De- duktion* * doch wohl nicht kurzerhand als „Scheinproblem" erledigen (17).

Für die Frage des Logizismus ergibt sich hier ein Dilemma : Ent- weder kann man in der Tat wenigstens formal eine Definition an die Spitze stellen; dann ergeben sich logizistisch fundierte, also zum min- desten unbegründete Systeme, wie wir das aus der Philosophie mehr- fach kennen. Der Vernunftgebrauch ist in diesem Falle aber apodik- tisch, konstitutiv. Oder der Vernunftgebrauch ist regulativ ; dann kann es sich nur um die induktive Begründung allgemeiner Sätze handeln. Hier ist der Fehler des Logizismus gar nicht möglich. Bekanntlich tritt denn auch der logizistische Fehler gerade m ontologischen Systemen au*, die aus bloßen Begriffen auf die Existenz schließen möchten, wie z.B. bei Spann und bei Hegel. Jedenfalls ist es aber zu viel des Guten, wenn man der angeblich herrschenden ökonomischen Theo- rie der Sicherheit halber zugleich vorwirft, ihre Willkürlichkeit beruhe einerseits auf ihrem Logizismus, andererseits auf dem bloß regulativen Vernunftgebrauch.

Das wirklich logizistische Verfahren, wie es in den angeführten Beispielen aus L i n d a h 1 auftritt, besteht nicht darin, daß innerhalb der Theorie aus bloßen Begriffen theoretische Gesetze abgeleitet wer- den, sondern, wie E a t h ganz richtig sagt (24), darin, daß aus theo- retischen Sätzen (deren Eichtigkeit ich hier dahingestellt sein lasse) „einfach eine ganz konkrete politische Folgerung*

* gezogen wird. Ge- gen diese Art der Begründung wirtschaftspolitischer Sätze, die beson- ders in der Steuerwertlehre versucht wird, habe ich in meinem Aufsatz „Über das Problem der Gerechtigkeit und die Theorie der Steuerver- teilung" in dieser Zeitschrift Stellung genommen. E a t h hat gegen diesen Fehler allerdings einen besonders schweren Stand, weil e* Sein und Sollen begrifflich nicht auseinanderhalten will. Darüber weiter unten.

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Zur Selbstbesinnung in den wirtschaftlichen Staatswissenschaften. 291

Logizistische Gedankengänge finden sich in der Nationalökonomie sehr häufig, jedoch weniger in der Theorie als in der praktischen Na- tionalökonomie. Hier treten sie meist in der Form des sog. Ökonomis- mus auf, bei dem aus dem bloßen Begriff der Wirtschaft wirtschafts- politische Maximen abgeleitet werden. Das wirtschaftspolitische Vor- urteil verschanzt sich in diesen Fällen zu Unrecht hinter die Theorie und versucht den Anschein einer wissenschaftlichen Fundierung zu erwecken, während nur eine logische Erschleichung vorliegt. Aber das ist dann nicht Schuld der mißbrauchten Theorie.

Ich habe bereits angedeutet, daß die Auffassung, als ha.be man zum Zwecke der Aufstellung einer Theorie nach einer regulativen Theo- rie Umschau zu halten und als böten sich dann Ideen zur Auswahl dar, in der Kantschen Kritik keinen Eückhalt findet. Auch wo vom regulativen Vernunftgebrauch bei der Induktion die Eede ist, kann von einer Willkür der formalen Vernunfterkenntnisse keine Kede sein. Der formale Charakter rechtfertigt keineswegs jede beliebige Ordnung der Erkenntnisse, wenn durch sie nun irgendwie eine Einheit geschaffen wird; sondern im Wesen der Vernunft liegt eine bestimmte ursprüng- liche Einheit der Erkenntnis zugrunde, die es zu finden gilt. Daß sie nicht evident ist, läßt überhaupt erst das Problem der Vernunftkritik entstehen. Der Willkür in der Wahl des Erkenntnisobjektes steht ge- rade die Kantsche Lehre von der Objektivität und Notwendig- keit der reinen Vernunft erkenntni s entgegen.

Damit wird ein ganz neues Problem angeschnitten. Es sind auch nicht mehr Mißverständnisse oder logische Unstimmigkeiten, über welche die Meinungen geteilt sind. E a t h rührt hier in der Tat an die grundlegende Auffassung der Erkenntniskritik. Gegenüber der Kant- schen Lehre, daß die Ordnung der Erscheinungswelt in der erken- nenden Vernunft liege, bekennt er sich zu der Meinung, daß diese Ord- nung in der Wirklichkeit, in der Sache selbst gesucht werden müsse (86). Allerdings bestreitet er, daß es in der Sache selbst eine Einheit gibt (43). Hier müsse in einer „dritten Schicht4 * der Methodenprobleme eine Ent- scheidung getroffen werden: im Erkenntnisansatz selbst (44). „So steht das Verhältnis der Vernunft zur Wirklichkeit in Frage4* (71).

III.

1. Indem wir nach der „Ordnung in der Wirklichkeit*4 (86) oder - was genau dasselbe ist - nach der „natürlichen Ordnung*4 suchen,

19«

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292 Hans Peter

schneiden wir die uralte Frage an, die von jeher die Philosophen be- schäftigt hat,

• . . zu erkennen, was die Welt Im Innersten zusammenhält.

Kein Mittel ist unversucht geblieben, den Schleier der Wahrheit zu lüften. - Ich kann hier natürlich nicht die ganze Axiomatik der Philo- sophie durchexerzieren und muß mich auf knappe Andeutungen be- schränken.

Die Ordnung, die wir suchen, liegt entweder in den Dingen an sich als absolute, d. h. von unserer Erkenntnis unabhängige Ordnung, oder wir tragen sie in unserer Erkenntnis an die Dinge heran, und dann ist sie entweder von unserer Willkür abhängig, subjektiv, individuell be- stimmt, oder sie liegt unabhängig von unserer Willkür im Wesen un- seres Erkenntnisvermögens, unserer Vernunft als objektive Ordnung. Es war Kants Lösung des Problems, sie in unserer objektiven, von der Willkür unabhängigen Erkenntnis zu suchen.

Über die subjektivistischen Lösungen kann ich hier hinweggehen; denn in ihrer Ablehnung bin ich mit Bath einig. Nur daß die sub-

jektivistischen Lösungen sämtlich auch logizistisch sein sollen, scheint mir etwas zu weit zu gehen.

Die objektivistische Auffassung geht von der Vorstellung aus, daß in der Natur eine Ordnung liegt, die von unserer Willkür unabhängig ist; aber die Welt erscheint uns kraft unserer Vernunft in dieser Ord-

nung. Hier ist im Augenblick zweierlei von Wichtigkeit : die Tatsache, daß diese Ordnung von uns nicht in evidenter Erkenntnis, nicht in einer anschaulichen Weise erfaßt wird; und daß das Verhältnis der

Erscheinung als dem Gegenstand unserer Erkenntnis und dem Ding an sich noch ein besonderes Problem ist.

Alle empirische Theorie beruht auf unvollständigen Induktionen. Wir kennen einzelne Fälle und wir wissen, daß sie in einer bestimmten

Ordnung stehen. Diese Ordnung suchen wir zu erraten. Erklären heißt darum niemals etwas anderes, als den einzelnen Fall als dieser Ord-

nung unterliegend erkennen. Es besteht deshalb gar kein Grund, den Satz von Eulenburg (84) kurzweg abzutun, daß wir uns erst

„verstehen", wenn wir uns als „Fall" allgemeiner Gesetze begreifen. Hier liegt ein Mißverständnis übe* den Gesetzesbegriff vor. Auf den

Begriff des Naturgesetzes will ich hier nicht eingehen; ich habe das schon oft genug getan und möchte hier nur auf einen Satz von Bein-

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hold Bethke1) verweisen, der überhaupt in erfreulicher Deut- lichkeit heute übliche Mißverständnisse der Methodologie und ihrer Grundlagen klarstellt. „Nur wer annimmt, daß die Naturgesetze Aus- sagen über wirkliches Geschehen enthalten, kann mit einigem Becht die Möglichkeit wirtschaftlicher Gesetze in Abrede stellen. Diese An- nahme ist aber ein Mißverständnis/*

Bath selber macht in seiner Schrift „Macht und ökonomisches Gesetz" die ziemlich gleichlautende Bemerkung, daß „Wirtschafts- gesetze" usw. „reine Denkmöglichkeiten bleiben" und „nie eine Aus- sage über wirkliches Geschehen bedeuten oder gar Forderungen an uns stellen" (8). Das letzte scheidet gewiß aus, denn aus Seinsgesetzen können Sollsätze nun einmal nicht folgen. Zu beachten ist aber, daß die Behauptung bei Bath an die Bedingung geknüpft ist, daß das „Grundphänomen als Fiktion angesetzt ist", und damit ändert sich der ganze Sinn. Die Modelle, mit denen die Theorie arbeitet, sind gewiß Abstraktionen; es kommt auf den Sprachgebrauch an, ob man sie all- gemein Fiktionen nennen will. Sofern sie zur Demonstration von Ge- setzen dienen, sind sie der Erfahrung entnommen, wenn es sich auch nicht um Beschreibungen historischer Vorgänge handelt. Ich habe mich in der kürzlich erschienenen Arbeit „Statistik und Theorie in den Wirtschaftswissenschaften" 2) über diesen Gegenstand verbreitet. In dem Zitat aus Bethke ist nur gesagt, daß Gesetze keine Beschrei- bung über hier und heute vorgefallene Ereignisse sind. Trotzdem kön- nen sie auf Erfahrung beruhen. Bei Bath dagegen wird ihre Be- deutung in den Bereich des Problematischen gerückt, sie „bleiben dann reine Denkmöglichkeiten, Denkmodelle, die bei der Ordnung eines Durcheinander behilflich sein könnten, ohne seine Deutung vorweg- zunehmen" (8). Das letzte kann auch nicht gut von ihnen verlangt werden. Ich möchte, um diese Fragen, die ich in einer Zwischenbemer- kung unmöglich erschöpfend erledigen kann, kurz abzubrechen, an das Motto aus Helmholtz erinnern, das Dilthey seine* „Ein- leitung in die Geisteswissenschaften" voranschickt:

„Übrigens hat sich bisher die Wirklichkeit der treu ihren Gesetzen nachfor- schenden Wissenschaft immer noch viel erhabener und reichhaltiger enthüllt, als die äußersten Anstrengungen mythischer Phantasie und metaphysischer Speku- lation sie auszumalen wußten." (Metaphysik im vorkantischen Sinne verstanden.)

*) Gesetz und Gestaltung, S. 109. ') Verlag Kohlhammer, Stuttgart 1935.

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294 Hans Peter

Da die Ordnung der Natur nicht unmittelbar klar ist, gibt es nur den einen und einzigen Weg, der Natur in ihren einzelnen Erscheinun- gen diese Ordnung abzusehen und abzulauschen. Dazu ist in der Tat eine Intuition erforderlich; freilich nicht als Quelle einer an sich ge- wissen Erkenntnis, sondern als Quelle der Vorstellung einer möglichen Ordnung, die zunächst noch durchaus problematisch ist. Aufgabe alles induktiven Forschens ist es dann, diese gedachte Ordnung zu verifi- zieren, d. h. zu zeigen, daß mit ihr alle Erfahrungen in Einklang sind.

Hier muß ich einige, teilweise terminologische Bemerkungen zu dem Begriff der „natürlichen" Ordnung einfügen, die ich soeben mit dem identifiziert habe, was E a t h die „Ordnung in der Wirklichkeit selber* ' nennt. Aus dem weiteren Verlauf der Untersuchung wird die Berechtigung dieser Identifizierung noch deutlich werden. Vorerst sehe ich mich aber zu einer antikritischen Sicherung veranlaßt, weil E a t h in einer polemischen Bemerkung gegen meine Auffassung die „natür- liche" Ordnung in eine bedenkliche Nähe zu dem bringt, was er als „Naturalismus" ablehnt. Wieder ist es hier so, daß ich mit E a t h in der Ablehnung einer ethischen Auffassung einig bin, während ich die Unterschiebung einer Gesinnung unter die seinswissenschaftliche Auf- fassung nicht mitmachen kann.

Naturalismus ist bei E a t h offenbar nicht in dem üblichen Sinne als Gegensatz zu einer supranaturalistischen Welt auf fassung gemeint. Vielmehr wird er mit einer materialistischen Auffassung identifiziert, wenn es heißt, der Naturalismus leite das Bewußtsein aus der Materie ab (67). An andere? Stelle sieht E a t h den Naturalismus der Sozial- wissenschaften darin, daß „die Menschheitserscheinungen auf die Äußerungen und Triebe der Menschennatur" (46, vgl. M e n g e r) zu- rückgeführt werden sollen. Nun sollte man auch hier nicht am Worte kleben. Zu eng ist M e n g e r s Auffassung nur, wenn man unter Trie- ben lediglich die sinnlichen Triebe versteht. Es ist doch die Unter- legung eines besonderen Sinnes, wenn nachher gesagt wird: „Bis zu welcher Verfeinerung die naturalistische Wertung des Trieblebens und die formale Struktur vereinigt werden können, zeigt uns das bereits erwähnte Beispiel der Funktionalisierung, bei der jenseits jeder mora- lischen Wertung es nur noch darauf ankommt, „die notwendige gesetz- mäßige Verknüpfung der Stärke irgendwelcher Antriebe mit der Eich- tung des Entschlusses zum Ausdruck" zu bringen x). Man muß jeden-

1) Bernardelli, Die Grundlagen der ökonomischen Theorie, S. 18.

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Zur Selbstbesinnung in den wirtschaftlichen Staatswissenschaften. 295

falls beachten, daß der Satz bei Bernardelli weitergeführt wird : „und das [sc. das wirtschaftliche Prinzip] die Frage ganz offen läßt, ob die Antriebe [NB : es heißt hier also auch nicht Triebe!], unter denen das betreffende Individuum handelt, egoistischer oder altruistischer, ethischer, religiöser, patriotischer, humanitärer oder anderer Natur sind." Welche Berechtigung hat also die Wendung „jenseits jeder mo- ralischen Wertung ?" - E a t h meint: „Eecht verstanden zeigt sich aber gerade in dieser letzten kaum mehr zu überbietenden abstrakten Formalisierung der weltanschauliche Horizont am klarsten: eine Theo- rie, die nur noch die Verknüpfung von Antriebsstärke und Entschluß- richtung kennt, bewegt sich von vornherein nur noch in der Sphäre reiner Triebrelationen, die ihr also als „letzte Tatsachen", „Elemente", „Antriebskräfte" oder wie immei erscheinen, und hat die „Unterord- nung des Willens unter das animalische den Körper durchwaltende Triebleben", das Dilthey als Kennzeichen des Verhaltens des Naturalismus zur Welt hervorhebt, gefunden" (47). Wirklich? - Hier wird nicht bloß „ausgelegt", hier wird „untergelegt"! - Da ausdrück- lich bei Bernardelli die Frage der ethischen Bestimmung des Willens - um nur eines zu nennen - offen gelassen wird, so läßt sich doch in seinen Text keine materialistische Auffassung hineininterpre- tieren und eine „Unterordnung des Willens unter das animalische Triebleben'* behaupten. Besonders eigentümlich ist es aber, daß die

fragliche Stelle in einem anderen Zusammenhang dazu verwendet wird, den ganz anderen Vorwurf zu begründen, daß Bernardelli durch die „reine Funktionalisierung" zu einer „Wirtschaft ohne Mensch" komme (35). Auf Grund derselben angezogenen Stelle wird dem Autor einmal vorgeworfen, daß er sich allzusehr in die dünne Luft der Ab- straktionen verliere und dabei den lebendigen Menschen vergesse, zu-

gleich aber wird er des Fehlers geziehen, die animalischen Triebe, die von allzu großer Erdenschwere sind, zum Fundament seiner Wirt- schaftstheorie zu machen.

Noch an einer dritten Stelle scheint mir Eath Bernar- delli bei der Interpretation mißzuverstehen. Er schreibt :

„Sehr deutlich weist auch dieser jüngste Versuch der konsequenten Funktio- nalisierung auf die von uns bereits hervorgehobene Seinsfrage: Denn das »Natur- gesetz des menschlichen Entschlusses' wird gebraucht, um einerseits ,die Realität zu erfassen; andererseits aber den geschlossenen Aufbau einer streng deterministi- schen Theorie (zu) ermöglichen, die uns das einzige Mittel ist, um uns in der un- endlichen Mannigfaltigkeit der wirtschaftlichen Erscheinungen zurechtzufinden* (Bernardelli, Grundlagen, S. 94). Also Interpolation von (sehr künstlich

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296 Hans Peter

konstruiertem!) Geschehen, um Sein zu ordnen. - Das ist die von Grund aus naturalistische Verkennung der uns aufgegebenen Wirtschaft" (35/36).

Was hier nach dem „Also" im vorletzten Satze kommt, ist Inter- pretation. Das Naturgesetz, mit Hilfe dessen man sich in der Mannig- faltigkeit „zurechtfinden" muß, ist die dieser Mannigfaltigkeit zu- grunde liegende Ordnung. Bath interpretiert aber, als solle diese Mannigfaltigkeit durch das Gesetz erst geordnet werden. Auch wenn man die Kant-Friessche Auffassung, zu der sich Bernar- delli bekennt, nicht anderweitig kennt, so wäre das Wort „zurecht- finden" deutlich genug. Lernen sich zurechtzufinden kann man nur da, wo eine Ordnung bereits besteht ; im Chaos findet man sich eben nicht zurecht. Man kann Bernardelli nicht A m o n n s Auffasöung von der Willkürlichkeit des Erkenntnisobjektes imputieren; ebenso-

wenig wird natürlich A m o n n durch die Rechtfertigung B e r n a r -

d e 1 1 i s gerettet. Die Ordnung in der Wirklichkeit selbst (86) zu suchen, ist also

eine in der Theorie durchaus übliche Auffassung. In diesem Zusammen-

hang sehe ich mich genötigt, auch auf eine Polemik E a t h s einzu-

gehen, die sich mit meiner eigenen Darstellung beschäftigt. Rath nimmt daran Anstoß, daß ich „die Wirtschaft von vornherein erst einmal als einen natürlichen Prozeß* begreife (44), d, h. den Prozeß, wie er ohne menschliches Zutun ablaufen würde" (Ganzheitsgedanke, S. 27). Es bedarf kaum des Hinweises, daß hier von dem sich selber überlassenen Prozeß einer „freien" Marktwirtschaft im Gegensatz zu einer bewußt nach einem Plane gestalteten, „geführten" Wirtschaft die Rede ist. Was an der von Rath zitierten Stelle und an vielen anderen zum Ausdruck gebracht werden soll, ist der Gedanke, daß

man, bevor man einen gestaltenden Eingriff in die Wirtschaft vor-

nimmt, wissen muß, wie ein solcher wirkt. Dazu ist eben die Kenntnis der Gesetze des natürlichen Ablaufes erforderlich. Rath aber inter-

pretiert: „Wenn wir, um überhaupt erst den wirtschaftlichen Prozeß gestalten zu

können, ,ihn zuvor als natürlichen Prozeß begreifen lernen* müssen (Peter), so bedeutet das, daß hier mitten im historisch-politischen Geschehen eine Gesetzlich- keit angenommen ist, die v o r aller menschlichen Entscheidung liegt. Die grund- satzlich undiskutierte [NB.: soll das nun heißen: grundsätzlich nicht diskutierte oder nicht grundsätzlich diskutierte Î], aber im letzten zugrunde liegende Haltung ist offensichtlich die einer Bestimmtheit durch die ,Natur' (45)."

Offen gestanden finde ich hier nicht durch. In welchem Sinne wird hier von „Natur" gesprochen? „Offensichtlich*

' wird sie doch dem

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Zur Selbstbesinnung in den wirtschaftlichen Siaatswissenschaften. 297

„historisch-politischen Geschehen* * gegenübergestellt; dann wäre von

der außermenschlichen Natur im Sinne eines Gegensatzes von „mensch- lich-gesellschaftlichen und „natürlichen" Bestimmungsstücken des Wirtschaftsprozesses die Eede. - Ich brauche hoffentlich nicht zu be- weisen, daß diese Auffassung wenigstens in meinen bisherigen Arbei- ten keinen Anhaltspunkt findet. Ich verstehe aber ferner nicht, was die Wendung „vor aller menschlichen Entscheidung" für einen Sinn haben soll. Vor einer selbstverständlich „menschlichen" Entscheidung über die Gestaltung des Prozesses besteht die „natürliche Oidnung" allerdings; das habe ich deutlich genug gesagt. Aber was heißt „vor aller menschlichen Entscheidung*

* ? Soll damit etwa gemeint sein, daß auch die die Wirtschaftsgesellschaft bildenden Menschen im Wirt- schaftsprozeß keine Entscheidungen treffen ? - Es handelt sich doch gerade um einen Prozeß sich bewußt aneinander anpassende? Personen und um die „natürliche" Ordnung, die sich dabei „von selber", d>. h. ohne Zutun einer zentralen Leitung des Prozesses ergibt. Und zwar ist das eine Ordnung des historisch-politischen Geschehens. Ich ver- stehe nicht, wie jemand auf die absurde Auffassung kommen kann, als gebe es außer dieser noch eine andere - ich weiß nicht in welchem Sinne - „natürliche" Ordnung. Es wundert mich aber auch, daß Bath, der doch selber die Ordnung in der Wirklichkeit als von menschlicher Willkür unabhängig gegeben ansieht, Anstoß an der Vorstellung einer vor aller menschlichen Entscheidung liegenden, d. h. von Menschen nicht willkürlich geschaffenen Gesetzmäßigkeit nimmt.

Nunmehr wenden wir uns wieder der Hauptfrage zu, auf welche Weise wir die Ordnung in der Wirklichkeit zu erkennen vermögen.

2. Das Verhältnis von objektiven und absoluten Wahrheiten wird häufig verkannt. Wir sind uns der objektiven, von subjektiver Willkür unabhängigen „Ordnung der Erscheinungswelt" nicht unmittelbar be- wußt. Nur durch Beflexion vermögen wir uns die Form dieser Ord- nung zum Bewußtsein zu bringen. Das geschieht in einer „Aufweisung" der unserer Erfahrung zugrunde liegenden reinen Vernunfterkennt- nisse. Ihre Existenz muß dann in einer anthropologischen Deduktion (Fries) bewiesen werden. Die materiale Ordnung erfassen wir in Induktionen, die stets unvollständig bleiben. Die Erkenntnis der Natur ist grundsätzlich unvollendbar. Dabei denke ich immer" nur an unsere empirischen und reinen Erkenntnisse „innerhalb der Schranken un- serer Vernunft", nicht schon an die Schranken unserer Vernunft selber. Die Erscheinungswelt ist es, deren Erkenntnis für uns unvollendbar

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ist. Etwas ganz anderes ist noch, daß wir über die Schranken unserer Vernunft nicht hinaustreten können; von den „Dingen an sich** haben wir keine positive diskursive Erkenntnis. Nur dieses letzte ist gemeint, wenn wir sagen, wir haben keine „absolute** Erkenntnis der Welt. Bis zu diesem Punkte müssen wir uns vorarbeiten, weil E a t h schließ- lich zu dem Problem des Verhältnisses von Vernunft und Wirklichkeit vordringen möchte (71).

Der Kantschen Lehre vom Ding an sich setzt der Positivist heute gern ein nachsichtiges Lächeln entgegen. Das pflegt daher zu kommen, daß er - nicht Kant - in der Welt der Dinge an sich eine zweite Welt hinter der Welt der Erscheinungen sieht. Wie verhält es sich aber in Wirklichkeit mit dieser Lehre ? Wir haben es als die objektivistische Auffassung bezeichnet, daß die Welt uns in einer bestimmten, durch unsere Vernunft, unser Erkenntnisvermögen bestimmten Ordnung erscheint. Die Vorstellung, daß den Dingen un-

abhängig von unserer Erkenntnis die Ordnung zukommt, welche die Erfahrungswelt hat, führt zu gewissen unlösbaren Widersprüchen, den Antinomien der reinen Vernunft. Um diese Widersprüche aufzuheben

(wobei ich weder auf die Weiterbildung der Antinomienlehre noch auf die Kritik am transzendentalen Idealismus durch die Logistiker ein-

gehe), hat Kant die Lehre des transzendentalen Idealismus ge- schaffen, in der zwischen der Welt der Erscheinungen als dem Gegen- stande unserer Erkenntnis und der Welt an sich, d. h. ohne diese Be-

schränkung, unterschieden wird. Hier von einem ontologischen Dualis- mus zu sprechen, hieße Kant gründlich mißverstehen. Die Lehre läßt sich vielleicht am kürzesten so aussprechen: Wir erkennen die Welt nicht an sich, sondern nur innerhalb der Schranken unserer Ver- nunft.

Wenn ich E a t h recht verstehe, so dringt seine Analyse bis zu dieser Schicht der Erkenntniskritik vor, wenn er sagt, es „steht das Verhältnis der Veinunft zur Wiiklichkeit in Frage** (71). Allerdings läßt diese Stelle zwei Deutungen zu, die beide durchgesprochen werden müssen, da an den einschlägigen Stellen oft beide anklingen. Ich inter-

pretiere zunächst „steht zur Erörterung**. Allerdings ist dann Wirk* lichkeit hier in einem anderen Sinne gebraucht als da, wo von der

Ordnung in der Wirklichkeit die Eede war. Mir scheint aber, als wolle E a t h diesen Unterschied ohnehin nicht besonders hervorheben. Hier jedenfalls dürfte das Problem der transzendentalen Wahrheit an-

geschnitten sein, denn es heißt weiter: „Die immanent gleichgesetzte

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Struktur unseres logischen Denkens mit der Logik der Naturgesetze und d. h. der Dinge ist dann aufgehoben, wenn die ,Denkgesetze* sich selbst auf ihre Leistung hin überprüfen lassen müssen." - Wenn ich - man verzeihe die Pedanterie! - über die Gleichsetzung von Naturgesetzen und Dingen und über den Zweifel, ob Denkgesetze hier Gesetze des Denkens oder im Denken erfaßte Gesetze sind, hinweg- sehe, so bleibt das Problem bestehen, ob die Ordnung, wie sie uns kraft unserer Vernuntterkenntnis erscheint, mit der Ordnung zu- sammenstimmt, die unabhängig von unserer Erkenntnis in den Dingen selbst oder an sich liegt. Der Wahrheitsgehalt der Erkenntnis soll hier auf Grund gewisser Vorstellungen von den Beziehungen zwischen Ver- nunft und Ding an sich überprüft werden. Eine andere Deutung würde „aus der bloßen Logik" - um diese Formulierung zu gebrauchen - nicht hinausführen.

Das Problem der transzendentalen Wahrheit ist aber das Problem der sog. Erkenntnis théorie (!). Gelöst könnte es nur durch Auf- weisung eines Kriteriums der transzendentalen Wahrheit, d. h. der Gültigkeit der Erkenntnisse für die Dinge an sich werden - wenn es eben gelöst werden könnte. Da mir hier der Baum zu einer Geschichte der Philosophie nicht zur Verfügung steht, muß ich mich wieder mit knappen Andeutungen begnügen. Es dürfte immerhin einiges Gewicht haben, daß sich in der Überzeugung von der Unlösbarkeit dieses Problems sogar die Antipoden der nach-kant ischen (nicht : n e u k a n t ianischen) Philosophie, Fries und Hegel einig sind. Hegel sagt: „Die Untersuchung des Erkennens kann nicht anders als erkennend geschehen; bei diesem sog. Werkzeug (dem Erkennen) heißt dasselbe untersuchen nichts anderes als es erkennen. Erkennen wollen aber, ehe man erkennt, ist ebenso ungereimt als der weise Vor- satz jenes Scholastikers, schwimmen zu lernen, ehe er sich ins Wasser wage." Fries aber hat hier seine Lehfe vom Selbstvertrauen der Vernunft, nach welcher ein Zweifel an der unmittelbaren Erkenntnis überhaupt nicht möglich sei, weil er sich doch auch wieder auf eine solche unmittelbare Erkenntnis stützen müsse. Nelson hat in sei- nen Untersuchungen über das sog. Erkenntnisproblem (Abhandlungen der Friesschen Schule, N. F. II) diesem Dilemma seine scharfe Formu- lierung gegeben. Es blieb den Neukantianern - zu denen man Nel- son deswegen nicht rechnen kann, - vorbehalten, dieses Problem der Erkenntnistheorie wieder in den Mittelpunkt der philosophischen Er- örterung zu stellen.

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Der Bathsche Satz (71), von dem wir ausgegangen sind, läßt aber noch die andere Deutung zu, daß das Verhältnis von Ver- nunft und Wirklichkeit nicht nur „zur Erörterung", sondern wirklich „in Frage*' gestellt wird. Wörtlich genommen liegt in dem unmittelbar folgenden Satze der Ton auf dem „überprüfen", und das führt zu der bisher behandelten Auffassung. Soll aber die Gleichsetzung der „Struk- tur unseres logischen Denkens" mit der „Logik der Naturgesetze" „aufgehoben" werden, so liegen die Dinge anders. Die Vorstellung von dieser „Gleichsetzung" wird freilich der Kantschen Vernunft- kritik keineswegs gerecht, aber gemeint muß wohl die Tatsache sein, daß uns die Welt in der Beschränkung erscheint, die unserer endlichen Vernunft anhaftet. Gegen diese Schranken pflegen die Menschen von Zeit zu Zeit zu rebellieren, ohne sie jedoch - wenigstens bisher -

sprengen gekonnt zu haben. Aufheben kann man das Verhältnis von Vernunft und Wirklich-

keit - um Baths Ausdrucksweise beizubehalten - schon deshalb nicht, weil wir von der Vernunft ja keine unmittelbare evidente Er- kenntnis besitzen. Wir erschließen sie doch nur aus der Art und Weise, wie wir die Wirklichkeit erkennen. Erst beim Beflektieren über unsere Erkenntnisweise, bei der Analyse unserer täglichen Erfahrungen er- kennen wir, daß hier nicht alles auf bloßer passiver Wahrnehmung, auf bloßem Aftiziertsein beruhen kann, sondern daß unserer Erkennt- nis eine Spontaneität zugrunde liegen muß. Der geben wir zunächst einmal den Namen „reine Vernunft". Damit ist alles andere als ein Dogma konstituiert als vielmehr eine Hypothese aufgestellt, die nun in einer Theorie des Erkenntnisvermögens erhärtet werden muß. Diese Theorie ist der wesentliche Teil der Kritik der reinen Vernunft. (In dieser Auffassung halte ich mich an F r i e s , der gewisse Unstimmig- keiten in der Kantschen Beweisführung meidet.) Die Kritik enthält zunächst eine Exposition, in der die Hypothese aufgestellt wird, und dann eine Deduktion, in der sie - eben in einer Theorie der Vernunft - erwiesen wird. Wenn also das Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit aufgehoben werden soll, so kann das nur bedeuten, daß die Kritik der reinen Vernunft, wie sie Kant gegeben hat, widerlegt werden soll. Es ist auch deutlich, in welchei Weise das bei Bath geschehen soll. Es soll nämlich an die Stelle der ursprüng- lichen dunklen Vernunfterkenntnis eine evidente Erkenntnis treten, eine „anschauliche Theorie". Eine solche Erkenntnisweise pflegt man intellektuelle Anschauung zu nennen. Das bedeutet allerdings im

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Grunde gar keine Aufhebung des Verhältnisses von Vernunft und Wirklichkeit, sondern lediglich eme Veränderung in der Auffassung von der Struktur unserer Vernunft.

8. Zweifellos wäre es, wie Bath sagt, „ein plumpes Mißver- ständnis, als ob mit der anschaulichen Theorie irgendwelches un- kontrollierbares Schauen verbunden sei" (54). Die intellektuelle An- schauung, um die es hier geht, ist als reine Vernunfterkenntnis defi- niert, und es hieße sich des efkenntnistheoretischen Skeptizismus, der Preisgabe des Selbstvertrauens der Vernunft schuldig machen, wollte man an der transzendentalen Wahrheit einer solchen Erkenntnis zwei- feln. Nur ist nach Ablehnung der Kantschen Vernunftkritik die These von einer solchen Anschauung zunächst einmal eine Hypothese. Noch fehlt es an einer Theorie dieser Erkenntnis. Ich zweifle also keineswegs an der Evidenz der hier zur Erörterung gestellten An- schauung, vorerst aber an ihrer Existenz

Was gegenüber der Lehre von einer solchen Anschauung skeptisch macht, ist die doch immerhin erstaunliche Tatsache, daß sie uns so lange verborgen geblieben ist Das entscheidende Merkmal, durch welches sich eine Anschauung vor anderen Erkenntnissen auszeichnet, ist ihre unmittelbare Bewußtheit, ihre Evidenz. Eine Kritik der Ver- nunft, die eine solche Anschauung als wirklich vorhanden nachweisen wollte, hätte zugleich auch die Aufgabe, zu erklären, wodurch dieser Erkenntnisquell bisher verschüttet war. Dazu genügen wissenschafts- soziologische Erklärungen nicht. Eine Klassenideologie mag verhin- dern, daß wir zur Klärung ursprünglich dunkler Erkenntnisse kommen; aber auch die verbogenste Klassenideologie wird nicht so unvorsichtig sein, sonnenklare Wahrheiten, wie sie anschauliche Erkenntnisse doch nun einmal sind, abzustreiten. Eine solche Klassenideologie könnte nicht einmal aufkommen.

Wollte man dieser Argumentation entgegenhalten, daß eine be- sondere Aufgeschlossenheit erforderlich sei, um sich des Besitzes dieser Anschauung zu erfreuen, so muß man die Menschen in berufene und unberufene teilen und der breiten Masse, welcher nur die exoteriscíie Lehre zugänglich ist, den Kreis der Auserwählten gegenüberstellen, der allein der esoterischen Lehre fähig und würdig ist. Oder aber man kommt auf die Lehre von den ursprünglich dunklen Erkenntnissen der Kant-Friesschen Vernunftkritik zurück, die erst durch Beflexion zum Bewußtsein gebracht werden müssen.

Einen Existenzbeweis für die zur Diskussion gestellte Anschauung

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führt Rath nicht. Daß er in der Tat von einer Erkenntnisart spricht, die unter den Kantschen Begriff der Anschauung fällt, geht auch noch aus der Wendung hervor, „daß wir die Wirtschaft in ihrem Wesen unmittelbar als sinnvolles Ganzes verstehen* *

(87). Man mag die Bemerkung „Diese gar nicht abzuleugnende Tatsache bedingt aber nun eine völlig neue Situation der Theorie", welche dem soeben zitierten Satze folgt, dahin deuten, daß Rath einen Beweis seiner Behauptung für gänzlich überflüssig hält; trotzdem stellt sie keinen Ersatz für einen solchen dar. In dem Zusammenhang, in dem diese Ausführungen stehen, wird man allerdings die Forderung einer radi- kalen Reform der Methodenlehre kaum einei weiteren Begründung für bedürftig erachten; aber, was hier bekämpft wird, ist wieder nur die Amonnsche Auffassung. Von ihr habe ich mich schon ge- nügend distanziert. Da diese Lehre nicht für typisch angesehen werden kann; so hängt von ihrer Widerlfgung nicht viel ab. Zudem ist diese gerade vom Standpunkte der Kantschen Vernunft- kritik ohne weiteres möglich, bedarf es zu diesem Zwecke doch nur des Hinweises auf die Objektivität der rationalen Vernunfterkenntnis. Will man aber über Kant hinaus, und behauptet man die Existenz einer von ihm übersehenen besonderen Anschauung, so kommt man um den geforderten Beweis nicht herum. Einen solchen enthält weder der zuletzt zitierte Satz noch auch der bereits früher angeführte Hin- weis darauf, daß das „plumpe Mißverständnis, als ob mit der anschau- liohen Theorie irgendwelches unkontrollierte Schauen verbunden sei, sich selbst richte*' (54). Dieser letzte Satz folgt sogar aus dem bloßen Begriff einer Anschauung und unterläge als Begründung deshalb dem Einwand des Logizismus.

Der Nachweis der Existenz einer solchen Anschauung setzt zu- nächst einmal voraus, daß sich die besonderen Einsichten aufzeigen lassen, deren Quelle diese Anschauung ist. Es müßte dann gezeigt werden, daß diese Erkenntnisse den bisher bekannten Quellen nicht entstammen können. Schwach wäre das Fundament der neuen Lehre, wenn sich nur zeigen ließe, daß die Erfahrungen, die durch die klassi- sche Methode erarbeitet worden sind, uns in Wirklichkeit unmittelbar gegeben sind ; denn das ließe sich allzu schwer nachprüfen.

Dann aber wäre noch weiter zu fragen: Gibt es von dem, was Rath im Gegensatz, wie er meint, zu aller bisherigen Auffassung fordert, überhaupt eine diskursive Erkenntnis ? Wir lesen z. B. bei ihm: „Weltanschauung meint also nicht bestimmte Anschauung von

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Zur Selbstbesinnung in den wirtschaftlichen Staatswissenschaften. 303

Wert, sondern das, was vor aller konkreten Entscheidung liegt als Weltauslegung in ihrer Ganzheit" (59). Wenn sich E a t h hier so sehr gegen Wagenführ wendet, der formuliert hat : „Unter Welt- anschauung soll die Bezogenheit auf rational-diskursiv nicht hervor- tretende, vielmehr im Intuitiven oder Emotionalen ruhende Setzung letzter Werte verstanden werden* * *), so scheint mir hier ganz zu Un- recht ein nur im Wort liegender Unterschied übertrieben zu werden. Der Ton liegt doch auf dem „Intuitiven und Emotionalen*', und das deutet auf die gleiche Idee hin, die E a t h vorschweben muß, wenn er von einer „vor aller konkreten Entscheidung liegenden Weltanschau- ung in ihrer Ganzheit*' spricht. Jedenfalls ist in beiden Fällen von etwas die Eede, was nicht diskursiv ist, was sich nicht auf Begriffe bringen läßt. W'ollte man E a t h s Ausführungen in diesem Punkte wörtlich nehmen, so ließen sie sich leicht ad absurdum führen. Nur indem wir sie als Gleichnis nehmen, sind sie zu halten. Das scheint mir auch den weiteren Ausführungen zu entsprechen, in denen es z. B. heißt: „Es wird sichtbar, daß nicht mit den Urteilen und Be- griffen erst das Denken einsetzt, sondern schon vorher im Verhalten zu den Dingen selbst gründet'* (61).

Wie ist nun die von E a t h postulierte Erkenntnis zu der Kantschen Erkenntniskritik in Beziehung zu setzen ? Handelt es sich um eine neue Art oder ist sie eine unter der in der Kant- Priesschen Philosophie bereits angezeigten Arten? - Wir wis- sen, Urteile sind mittelbare Erkenntnisse. (Begriffe sind nur proble- matische Vorstellungen und als solche bloße Hilfsmittel des Denkens und selber noch keine Erkenntnisse.) Was die Urteile vermitteln, sind die unmittelbaren Erkenntnisse, diejenigen, in welchen wir den Gegen- stand unserer Erkenntnis in synthetischer Einheit erfassen (apper- zipieren). Eine Begründung der transzendentalen Wahrheit einer sol- chen Erkenntnis zu fordern, ist sinnlos, weil es zu einem unendlichen Begreß führen müßte.

Wer die Existenz der unmittelbaren Erkenntnisse überhaupt leugnet, sieht sich zu der von E a t h mit Eecht abgelehnten Auf- fassung gezwungen, daß die Ordnung der Wirklichkeit von den er- kennenden Subjekten willkürlich festgelegt wird. Leugnet man sie nicht, so ist man einer Theorie der Vernunft verhaftet, wie sie Kant unternommen hat. Dabei mag die Kantsche Theorie immerhin

1) Wagenführ, Der Systemgedanke in der Nationalökonomie, S. 287.

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korrekturbedürftig sein, aber als Ersatz gibt es dann nicht etwas spezifisch anderes, sondern nur auch wieder eine Theorie der Vernunft, eine bessere.

Entweder sind die unmittelbaren Erkenntnisse nicht unmittelbar bewußt und dann wieder entweder begrifflich aufhellbar (nur ur- sprünglich dunkel) oder nicht auf Begriffe zu bringen (schlechthin dunkel); oder sie sind unmittelbar bewußt, dann sind es (evidente) Anschauungen. (Evidenz ist also nicht wie bei Descartes das einzige Kriterium der Wahrheit.) Entweder muß die von E a t h postulierte Erkenntnis in einer dieser drei Gruppen untergebracht werden oder es muß gezeigt werden, daß die angegebenen Disjunk- tionen nicht zwingend sind. Das letztere dürfte jedoch kaum möglich sein, da es sich um logische Alternativen bandelt. Gehen wir die Mög- lichkeiten durch! Um Anschauungen kann es sich nicht handeln; denn es dürfte feststehen, daß der Mensch hinsichtlich der zur Debatte stehenden Erkenntnis irren kann. Mit Becht leitet daraus z. B. jüngst Beinhold Bethke gegenüber Gotti den mittelbaren (und das dürfte wohl genauer heißen müssen, mittelbar bewußten) Charak- ter dieser angeblichen Anschauungen ab. Somit bleibt zunächst die

Feststellung übrig, daß die untersuchten Erkenntnisse zum mindesten

ursprünglich dunkel sind, und es bleibt nur die Alternative, daß sie entweder schlechthin dunkel bleiben oder aufhellbar sind. Mit der zweiten kamen wir zu den metaphysischen Grundlagen unserer ratio- nalen Erkenntnisse; also scheint sich als wahrscheinlichste Antwort zu ergeben, daß es sich um schlechthin dunkle, nicht auf Begriffe zu

bringende und somit nur in Gefühlen zum Bewußtsein kommende Erkenntnisse handelt.

Mit dieser Vermutung ist nicht etwa der Verdacht ausgesprochen, als seien es nur untergeordnete oder gar „unwissenschaftliche" Fragen, für welche diese Erkenntnisse von Belang sein könnten. Offen ist

übrigens auch noch die Frage, ob es sich im vorliegenden Falle um „theoretische" (Seins-) oder „praktische" (Weit-) Erkenntnisse han- delt.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Mensch in praxi sehr wohl handelt, ohne sich immer auch nur die aufhellbaren Erkenntnisse wirklich aufzuhellen. Er begnügt sich vielleicht sogar in der Überzahl der Fälle mit einer bloß gefühlsmäßigen Beurteilung der Situation. Dabei ist dann zunächst nicht einmal zu unterscheiden, ob die Be-

stimmungsgründe auf schlechthin oder nur ursprünglich dunkle Er-

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Zur Selbstbesinnung in den wirtschaftlichen Staatswissenschaften. 305

kenntnis zurückgehen, und es können sehr wohl die schlechthin dunk- len von ausschlaggebender Bedeutung werden. Obwohl man nur im ersten Falle bei der wissenschaftlichen Analyse, z.B. eines historischen Vorganges, die begriffliche Aufhellung vollziehen kann, ist damit doch nichts darüber gesagt, daß etwa die Beachtung der Bestimmungs- gründe der zweiten Art nicht mehr zur Wissenschaft gehöre. Das wäre ein rationalistisches Vorurteil.

4. Bezeichnet man, wie das jüngst Gerha'd Weißer1) über Max Weber hinausgehend getan hat, die Berücksichtigung auch schlechthin dunkler Erkenntnisse als das Wesen der „verstehen- den* * Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, so läßt sich das Problem als die Frage nach dem Verhältnis der rationalen zur verstehenden Wissenschaft formulieren.

Bei der Behandlung dieses Problems muß man die Geisteswissen- schaften von den übrigen Wissenschaften trennen. In diesen gibt es keinen verstehenden Teil. Hier „verstehen" wir - das Wort in dem ursprünglichen Sinne gebraucht! - nur, indem wir den Fall dem Gesetze unterordnen. Was nicht begrifflich erfaßbar und exakt be- gründbar ist, bleibt bestenfalls Vermutung und scheidet zunächst als ungewiß aus der Betrachtung aus.

Ganz anders liegen die Verhältnisse in den sog. Geisteswissen- schaften. Hier steht fest, daß es einen „verstehenden" Teil gibt. Vor allem haben sich die Sozialwissenschafter in den letzten Jahrzehnten zu dieser Erkenntnis durchgerungen, nachdem sich herausgestellt hatte, daß die rein rationalen Methoden hier nicht in dem gewünschten Maße zu einem Erfolg führen wie in den „exakten" Naturwissenschaf- ten, sondern einen Best lassen, den zu vernachlässigen nicht gut an- geht. Es hat zwar nicht an starren Doktrinären der rationalen Me- thoden gefehlt, die der verstehenden Methode kurzerhand jede Be- rechtigung absprechen wollten, zumal dann, wenn sie glaubten, es werde auf diese schwer kontrollierbare Weise eine ihnen nicht genehme politische These in die Erörterung eingeschmuggelt. Auch solche Ver- suche hat es natürlich gegeben; denn welches Mittel wäre in den Wirt- schaftswissenschaften noch nicht zu diesem Zwecke mißbraucht wor- den! Methodologisch läßt sich aber diese strikte Ablehnung der „ver- stehenden" Wissenschaft nicht halten.

*) Kommt es in den Wirtschaftswissenschaften zur Bildung einer neuen deut- schen Schule ? Stuttgart, Kohlhammer, 1935.

Finanzarchiv. N. F. 3. Heft 2. 20

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306 Hans Peter

Ebensowenig läßt sieb freilieh die entgegengesetzte Meinung ver- treten, daß die Sozialwissenschaften sich nur der „verstehenden" Methode zu bedienen hätten. Sie ist aus dem Laufe der Entwicklung verständlich, wenn man bedenkt, daß neue Einsichten im allgemeinen zuerst in überspitzter Form oder mit dem übertriebenen Anspruch auf Alleinherrschaft aufzutreten pflegen. Es ist auch für formalistische Systematiker (und gerade Empiriker sind oft verkappte Systematiker!) so bestechend, dem Gegensatzpaar der Natur- und Geisteswissenschaf- ten das Gegensatzpaar der rationalen und der verstehenden Methode zuzuordnen. Allerdings macht die Erfahrung skeptisch gegen solche allzu bestechenden Zuordnungen. Die Dogmengeschichte aller Wissen- schaften erweist die voreilige Zuordnung von Dichotomien als einen der beliebtesten Denkfehler, der die Entwicklung zu allen Zeiten schon so manches Mal erheblich gehemmt hat. Jedenfalls bedarf eine solche Zuordnung einer sorgfältigen Begründung.

In welcher Weise, wollen wir weiter fragen, teilen sich nun in Wirklichkeit die rationalen und die verstehenden Methoden in das Feld der Geisteswissenschaften ? Dabei bedarf es kaum des Hinweises, daß es sich nicht um eine Teilung des Sachgebietes handeln kann und etwa die theoretische Nationalökonomie als rein rationale und andere

Disziplinen als rein verstehende Wissenschaft angesehen werden dür- ten. - Um terminologischen Mißverständnissen vorzubeugen, sei ge- sagt: Es ist ein doppelter Sprachgebrauch denkbar; man kann eine Wissengchaft verstehend nennen, wenn sie nur die verstoßende Me- thode anwendet, oder wenn sie neben der rationalen auch die ver- stehende benutzt. Hier haben wir es wohl ausschließlich mit der zweiten Art zu tun.

Dem Verständnis kommt man am ehesten entgegen, wenn man von dem überwundenen oder zum mindesten zu überwindenden Zu- stande ausgeht. Die rationalen Wissenschaften können der verstehen- den Methode das Lebensrecht nur dann absprechen, wenn sie dem

Anspruch gerecht werden, selber die Natur, die Welt der Erschei-

nungen vollständig zu erfassen. Man muß hier sehr genau sein. Auch nach Laplacescher Auffassung wird das Naturgeschehen durch die Naturgesetze nicht vollständig bestimmt, sondern muß zur Be-

stimmung des Zustandes für alle Zeit außer der Erkenntnis der Natur-

gesetze (der Nomologie) noch der Zustand in einem bestimmten Zeit-

punkte, der Anfangszustand (die Ontologie) bekannt sein. Hier aber ist behauptet, daß diese rationale Bestimmung der Natur durch An-

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fangszustand und Nomologìe nur das erfaßt, was diskursiv formulier- bar ist, und es fragt sich eben, ob damit die Erscheinungswelt, wenig- stens soweit in ihr menschliches Handeln vorkommt, vollständig er- faßt werden kann.

Eationalistisch ist die Auffassung, daß die Erscheinungswelt auch in allem, was menschliches Handeln betrifft, diskursiv erschöpfend er- kannt wird, und daß es, wenn die Erkenntnis noch nicht vollständig ist, nur einen Mangel bedeutet, wobei gleichgültig ist, ob dieser Mangel etwa wegen der Unendlichkeit von Eaum und Zeit in einem end- lichen Verstande grundsätzlich nicht behoben werden kann. Die Aner- kennung einer lediglich quantitativenUnvollendbarkeit des an sich völlig diskursiven Erkennens der Natur des Menschlichen und Sozialen würde also den rational isti sehen Charakter dieser Anschauung nicht beheben.

Eationalismus, wenn auch in einer gemilderten oder versteckten Form ist*es auch, wenn man zwar die grundsätzliche Diskursivität-der Erkenntnisse behauptet, dabei aber zugibt, daß die nur ursprünglich dunklen Erkenntnisse schon Gegenstand der wissenschaftlichen Er- wägung werden könnten, ehe sie aufgehellt worden sind. Man hätte dann neben dem auch der Form nach rationalen Teil der Geistes- wissenschaften einen nur der Form nach verstehenden Teil, der aber nur als unzulänglich entwickelter, eigentlich aber ebenfalls rationaler Teil angesehen werden müßte.

Überwunden wäre der Kationalismus erst dann, wenn zugegeben wird, es gebe schlechthin dunkle Erkenntnisse, die ebenfalls Gegen- stand wissenschaftlicher Behandlung werden müssen. Sie stellen nicht einen zu beseitigenden Eest dar, in dem die diskursive Erkenntnis unzulänglich ausgebildet ist, sondern sie sind in ihrer spezifischen Eigenart vollwertiges Glied im Gebäude der Wissenschaften. Das geht über die Auffassung Max Webers hinaus.

Es wird nie ganz leicht sein, die Berechtigung und Selbständig- keit solcher Erkenntnisse im konkreten Falle zu erweisen. Wohl er- mangeln auch die rationalen Erkenntnisse, von denen hier die Eede ist, der Evidenz, wie sie den mathematischen Anschauungen eignet; aber sie sind doch wenigstens begrifflich faßbar. Demgegenüber bleiben die schlechthin dunklen Erkenntnisse stets auf jener Stufe der Deut- lichkeit, wie sie in Gefühlen vermittelt und nur in Symbolen an- gedeutet werden kann. Es mag sein, daß wegen dieser Schwierigkeit bei den Vertretern der verstehenden Nationalökonomie die Neigung so lebhaft ist, den rationalen Methoden als den gefährlichen Nachbarn

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gänzlich das Lebensrecht abzusprechen. Aber das ist ein Bestreben, welches der Wahrheit nicht gerecht wird.

Der Unterschied in der Deutlichkeit darf in keiner Weise als ein Unterschied in der Gewißheit angesehen werden. Was den Sozial- wissenschaften ihren besonderen Charakter verleiht, ist eben jener verstehende Teil. Hier wachsen sie über den Eahmen der bloßen Naturwissenschaften in der Tat hinaus.

Man darf die Dinge auch nicht so auffassen - was E a t h mit Eecht ablehnt - als umfassen die rationalen Disziplinen z. B. der Wirtschaftswissenschaften den eigentlichen Kern, und als könnten die Imponderabilien nur so schandenhalber, weil es sich einmal nicht vermeiden läßt, ergänzend nebenbei erwähnt werden. Sie machen vielmehr einen integrierenden Teil der Geisteswissenschaften aus. Ihr Verhältnis zu den rationalen Erkenntnissen wollen wir nooh positiv betrachten und dabei auch die Frage zu entscheiden suchen, ob es sich um theoretische oder praktische Erkenntnisse handelt.

5. Wir müssen deshalb feststellen, welchen Inhalt die zur Debatte stehenden nicht diskursiven Erkenntnisse mutmaßlich haben. Das läßt sich nicht a priori angeben. Wir müssen zunächst einmal ver- suchen, wenigstens eine Gruppe näher zu charakterisieren, die in erster Linie in Betracht zu kommen scheint. Dabei brauchen wit nur davon auszugehen, daß die Unzulänglichkeit der bisherigen Auffassung besonders in den Wissenschaften empfunden worden ist, die es mit menschlichem Handeln zu tun haben. Es liegt also nahe, Erkenntnisse von Bestimmungsgründen des Handelns in der fraglichen Gruppe zu suchen.

Bestimmt ist das Handeln einmal durch die Zielvorstellung, ferner durch die natürlichen, im Handelnden wie in seiner Umwelt gelegenen Bedingungen der Verwirklichung dieses Zieles. Das zweite betrifft die

Beurteilung der dem Handelnden zur Verfügung stehenden Gegen- stände (im weitesten Sinne) hinsichtlich ihrer Eignung, als Mittel zu dienen. Damit werden Zweckmäßigkeitsfragen angeschnitten, die zwar auch vielfach rein gefühlsmäßig beantwortet werden können, aber

jedenfalls dann, wenn es sich um reine naturaltechnische Fragen handelt, grundsätzlich in rationaler Weise beantwortet werden können. Wie es im Falle sozialtechnischer Aufgaben ist, läßt sich aus logischen Gründen hier noch nicht beantworten, da zu diesem Zwecke die Ent-

scheidung des Problems, an dem wir gerade arbeiten, vorausgesetzt werden müßte.

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Zur Selbatbeiinnuiig in den wirtschaftlichen Staatswissenschaften. 309

Bei den Zielvorstellungen kann es sich um solche handeln, die auf sinnliche Triebe zurückgehen. Solche Interessen sind unmittelbar be- wußt und bestehen nur, insofern man sich ihrer bewußt ist; sie bieten also kein Problem. Es bleiben diejenigen Zielvorstellungen, deren der Mensch als solcher allein fähig ist : die Ideale, objektive, positive Werte, deren Verwirklichung wir als aufgegeben ansehen.

Damit komme ich auf die Untersuchung zu sprechen, welche kürzlich Gerhard Weißer1) gegen die von Leonard Nel- son vertretene ethische Lehre durchgeführt hat. Und zwar steht das materiale Kriterium der Pflicht erneut zur Debatte, das sich nach Entkräftigung des in Nelsons Kritik der praktischen Vernunft angebotenen Beweises als mit rationalen Erkenntnissen allein nicht eindeutig bestimmbar erweist. Für uns ist in diesem Zusammenhang wichtig, daß diese Ideale, diese positiven Wertungen nichtdiskursive Interessen (schlechthin dunkle praktische Erkenntnisse) sind. Ob es auch noch andere schlechthin dunkle, d. h. nur in Gefühlen zum Be* wußtsein kommende Erkenntnisse gibt, kann zunächst dahingestellt bleiben.

Wir wollen sehen, wie weit wir mit der Annahme praktischer Er- kenntnisse dieser Art kommen. Träger eines Interesses ist stets das Individuum. Der einzelne läßt sich neben den - als bekannt voraus- zusetzenden - „sinnlichen Interessen", den „Bedürfnissen", „Trie- ben" oder wie man sie (in nicht immer ganz der gleichen Abgrenzung) nennen will, auch noch von anderen Werten bestimmen. Weißer stellt hier vor allem ein selbständiges, unmittelbares Interesse an der Gemeinschaft als solcher in den Vordergrund. Die Liste läßt sich leicht erweitern. Alles kommt in Betracht, was - sei es moralisch oder nicht - Begeisterung entfachen kann, sofern nur die Leidenschaft nicht sinnlich ist.

Solche praktischen Erkenntnisse des einzelnen sind soziologische Tatsachen. Sowohl der Handelnde wie der betrachtende Wissenschafter muß es als gegebene Tatsache hinnehmen und berücksichtigen, wenn in einer bestimmten Gemeinschaft bestimmte Wertungen dieser Art den Willen der Menschen bestimmen. Die Wirtschaft eines Volkes er- hält gerade durch solche Wertungen, welche jeder einzelne gegenüber den Verhältnissen, die ihn umgeben, erlebt, sehr wesentliche Züge. Was wir den spezifischen Geist eines Volkes, seinen Volkscharakter

*) Wirtschaftspolitik als Wissenschaft, Stuttgart, Kohlhammer, 1934.

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im engsten Sinne, nennen, oder was wir als Geist der Zeit bezeichnen, das hängt mit diesen Wertungen, die jeder einzelne in sich trägt, zusammen. Ein materialistisches Zeitalter trägt ein anderes Gepräge als ein dem Ideal der Volksgemeinschaft zugewandtes, ein zynischer Mensch empfindet anders als ein religiöser.

Je nach diesen Wertungen erhält das Ganze des Volkslebens und damit auch die zu ihm gehörige Wirtschaft einen verschiedenen Charak- ter. Es ist eben in dem einen Falle „alles" anders als in dem andern. Nur der „verstehende" Soziologe, der künstlerisch gestaltende Histo- riker vermögen dieses Individuelle des Volkslebens und des Zeit- geistes darzustellen. Ausdrucksmittel sind hier nicht rationale Begriffe, sondern anschauliche Symbole.

Mehrfach habe ich schon gesagt, daß diese Auffassung mit den Einsichten einer rationalen Theorie nicht in Widerspruch steht, ja nicht einmal stehen kann. Denn Gegenstand der Theorie ist nur das Weltbild, soweit es rational werden kann. Nur wenn man von der rationalistischen Einstellung nicht loskommen kann, muß man an- nehmen, das rationale Weltbild erschöpfe das Ganze. Sehen wir uns einmal die in so besonderem Maße des Eationalismus verdächtige Lausanner Schule der Nationalökonomie an. Da gibt es zuerst das ganz gewiß rationaler Erkenntnis zugängliche funktionale Be- ziehungssystem zwischen den ökonomisch relevanten Erscheinungen, den Daten und Variablen des Systems. Als variabel wird aufgefaßt: 1. die Quantitäten, die von den einzelnen Gütern produziert werden, 2. die Quantitäten, die von den einzelnen Gütern zum Konsum be- stimmt werden, 8. die Tauschrelationen, 4. die Produktionsweise, cha- rakterisiert durch technische Koeffizienten. Gegeben ist 1. die Besitz- verteilung, 2. die Produktivitätsfunktionen, d. h. die Abhängigkeit der Produktionskosten von Produktionsmenge und Produktionsweise, 8. die Eangordnung der Bedürfnisse. All das sind Quantitäten und Eelationen, wie sie in der Wirklichkeit gegeben sind; nichts ist, wie oft behauptet wird, künstlich quantifiziert. Ich wüßte nicht, wie man eine solche Quantifizierung des nicht Quantitativen vornehmen sollte. Anlaß zu dem Mißverständnis dürfte die Tatsache gegeben haben, daß man die Eangordnung zunächst nur darstellen zu können glaubte, wenn man die Intensität der Bedürfnisse für „meßbar" ansah. Es gibt eine ganze Literatur über das Problem, und wir dürfen es heute beruhigt als gelöst ansehen, ohne daß deshalb den Intensitäten irgend- welche widernatürliche Gewalt angetan würde.

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Zar Selbstbesinnung in den wirtschaftlichen Staatswissenschaften. 311

Daß der Wirtschaftsprozeß in jedem Falle so ablaufen muß, daß innerhalb einer Zeitspanne von jedem Gute eine bestimmte Menge her- gestellt und konsumiert wird, und daß zwischen der Menge, die je- mand dem Markte zuführt, und derjenigen, die er ihm entnimmt, eine bestimmte durchschnittliche Relation besteht, kann nicht gut ge- leugnet werden, wenn man auch sehr im Zweifel sein kann, ob durch die Kenntnis dieser Beziehungen die Wirtschaft, und besonders das (metaphysisch, aber diesmal nicht im Sinne Kants) Wesentliche an ihr verstehen läßt. Ohne die Kenntnis dieser Beziehungen läßt sich jedoch sicher nichts Von ihr verstehen.

In der vulgären Auffassung findet sich oft als Einwand gegen die Theorie ein Argument, das E a t h in die Worte kleidet : „Es handelt sich ja gar nicht um ein farbloses ,, Tauschen4' oder ein ab- straktes „Widmen von Mitteln für Ziele", sie [sc. die Hausfrau] trifft auch auf keinen allgemeinen Markt, den es ja nicht gibt, sondem sie trifft auf Dutzende von Einkaufsmöglichkeiten" (10). Ein National- ökonom, der auch nur einigermaßen mit seiner Wissenschaft vertraut ist, wird das kaum übersehen. Wer die Anfangsgründe wissenschaft- licher Denkweise erfaßt hat, pflegt zwischen den konkreten Erschei- nungen und ihrem abstrakten Begriff zu unterscheiden. Was vom Markt allgemein gilt, gilt von allen Märkten, so sehi sie sich unter- scheiden mögen. Der „allgemeine Markt" aber ist ein logisches Un- ding, ein Monstrum, das schon manche Diskussion ins Groteske ver- zerrt hat. Bath distanziert sich von dieser Auffassung, indem er es als Auffassung sog. Praktiker hinstellt, wenn sie dieses Umstandes halber die Theorie für wirklichkeitsfremd und deshalb überflüssig hal- ten, weil die Wirklichkeit ja „ganz anders" sei (11). Es scheint mir aber nicht ganz sicher, daß der weniger geschulte Leser diese Distan- zierung ohne weiteres erfaßt. Das Eeferat der vulgären Auffassung enthält Sätze, die möglicherweise als zustimmender Kommentar auf- gefaßt werden könnten, und das ist gerade in einem Falle nicht un- bedenklich, wo es sich um eine zwar leicht widerlegbare, aber viel- gehörte Auffassung handelt.

Das eigentlich aktive Element unter den Daten des ökonomischen Prozesses sind die „Bedürfnisse in ihrer Bangordnung". Es gibt nichts, was man nicht schon dazu verwendet hätte, an dieser Stelle eine Ab- grenzung der Wirtschaft von andern Lebenserscheinungen zu gewinnen. AJ>er es sollte ebenso deutlich sein, daß die Entwicklung der Theorie in ganz klarer Linie danach gestrebt hat, sich von der Festlegung auf

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ein bestimmtes Wertungspriozip oder der Einschränkung auf irgend- eine Klasse von Bedürfnissen freizumachen. Das geschieht nicht, weil die Theoretiker Eelativisten sind oder weil ihnen solche Wertungen ziemlich gleichgültig wären, sondern lediglich, um gedanklich scharf zu trennen zwischen Wertungen und Beziehungen von Wertungen untereinander und zu anderen Erscheinungen. Man mag hier den Ver- dacht haben, daß sich hinter der formalistischen Auffassung dieses Datums irgendwie doch eine besondere Wertung oder Weltauffassung verbirgt. Aber dieser Verdacht wäre zum mindesten zu beweisen, be- vor er ausgesprochen wird. Ihn aufs Geratewohl hin zu äußern, die reine Theorie kurzerhand als ,, naturalist i seh" in einem etwas anrüchigen Sinne zu bezeichnen, und dann noch Andeutungen über gewisse Ver* wandtschaften zu der ebenfalls anrüchigen „liberalistischen" Welt- auffassung zu machen, ohne auch nur den Versuch einer Begründung zu unternehmen, geht nicht an.

Wie steht es aber mit dem Verdacht? Zu der hier erarbeiteten und von E a t h angedeuteten Weltauffassung kann die formale Auf- fassung schon allein deshalb nicht in Widerstreit stehen, weil sie keine Weltauffassung ist, sondern nur die Darstellung eines bestimmten Ausschnittes aus dem Weltbild gibt. Hier kann wieder ein Hinweis auf die Geschichte der Nationalökonomie nützlich sein. Man hat früher versucht, die Wirtschaft dadurch zu definieren, daß man gewisse „wirt- schaftliche Bedürfnisse4' aus der Eeihe der übrigen heraushob. Daß und warum der Versuch scheitern mußte, ist besonders von Franz Oppenheimer immer wieder gezeigt worden, der gerade gegen die von Eath als Prototyp hingestellte Mengersche Auffassung polemisiert hat : nicht wirtschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen, sondern dieBedürf • nisse wirtschaftlich zu befriedigen, macht das Wesen des Wirtschaf tens aus. Damit ist das Wirtschaften in eine Ebene gerückt, auf der es mit den weltanschaulich bestimmten Zielen nicht mehr in Konflikt geraten kann.

Gerade aus diesem Grunde sind alle Versuche, auf Grund bloßer Theorie wirtschaftspolitische Maßnahmen zu rechtfertigen, also auch eine „reine Theorie der Finanzreform" aus bloß logischen Gründen a limine abzulehnen. Es ist das ein Versuch mit untauglichen Mitteln. Z. B. enthält Lampes Theorie versteckt das Argument, eine Steige- rung der Kapitalbildung sei unbedingt anzustreben. Eine solche For-

derung nimmt aber eine Wertung vorweg, die unter Umständen durch- aus gerechtfertigt sein mag, jedenfalls aber nicht aus bloßer Theorie begründet werden kann.

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Zur 8elb«tbetinnung in den wirtschaftlichen Staatswissenschaften. 31 S

Derartige Irrtümer lassen sich leicht vermeiden. Aber Argumente, mit denen sie abgetan werden können, besitzen gegen die Theorie selbst nicht die geringste Durchschlagskraft, sie treffen sie überhaupt nicht.

Wenn also die reine Theorie die Bangordnung der Bedürfnisse offen läßt, so kann aus logischen Gründen ein Widerstreit mit einer Weltauffassung, die eine bestimmte Bangordnung fordert, überhaupt nicht entstehen. Erst bei der Anwendung wird die „Leerstelle" der einen Theorie durch eine bestimmte Bangordnung ausgefüllt. Erst dann gehört die Bangordnung zum Axiomensystem, wenn man es noch so nennen darf; und deshalb muß man, und zwar erst hier und nur in diesem Punkte das Axiomensystem ändern, wenn man eine Weltan- schauung durch ein« andere ersetzt sehen will.

Hier scheint es sich mir in der Tat allein um praktische Erkenntnis, um Wertungen zu handeln; sie machen den entscheidenden Unter- schied zwischen den, Lebensauffassungen aus. Und ich glaube, daß auch Bath in dem, was er sucht, gerade dieses meint, selbst wenn er sich gegen die Definition des Weltanschaulichen als etwas Wertbe- zogenen bei Wagenführ wehrt. Das Argument, die „Wertbe- zogenheiten" haben in Nationalökonomie und Philosophie das eigent- liche Problem mehr verdunkelt als erhellt (59, Anm.), wiegt nicht eben schwer; denn was wäre in diesen beiden Wissenschaften nicht schon verkannt und verdreht worden! Wörtlich genommen stimmt abei ge- rade diese Bezeichnung nicht auf die zitierte Definition Wagen- f ü h r s. Nicht von Wertbeziehung, sondern von Wertsetzung ist da die Bede, und zwar von einer Setzung letzter Werte. Darunter dürften Wertungen zu verstehen sein, die zum Kriterium der Ordnung anderer Werte dienen. Das aber ist durchaus mit der Bathschen These in Einklang, es gehe ihm nicht „um Meinungsverschiedenheiten in Einzelfragen".

Wenn Bath aber sagt: „Es geht nicht erst um die Frage des praktischen Urteils, um irgendwelche Entscheidung des Handelns, sondern der Ansatz der hier gemeinten Probleme liegt schon weit früher im Ansatzpunkt der schlichten ersten Erkenntnis" (58/59), so scheint mir auch hier der Ton besonders auf dem Unterschied zwischen dem Urteil als einer mittelbaren Erkenntnis der ihm zugrunde liegenden „unmittelbaren" Erkenntnis - mag man sie nun so nennen wollen oder nicht - zu liegen. Daß eine solche unmittelbare Erkenntnis im Vordergrund der Bathschen Vorstellungen steht, scheint mir

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auch die öfter wiederholte Betonung zu beweisen, daß „dem Dasein der Dinge ihr pures Was" (41) abgefragt werden müsse. Da wir uns in der Wirtschaft stets im Bereiche des Handelns befinden, so sind die wesentlichen Umstände „Werte", Beziehungen zwischen dem Han- delnden und dem, was seinen Willen bestimmt. Wenn man nicht im Gestrüpp der Worte hängen bleibt, wird man das zugeben müssen.

E a t h s Polemik gegen die übliche Anschauung ist in diesem Punkte aber nicht ganz leicht zu überschauen. Die Erörterungen über den Wert gehören gewiß nicht zu den erfreulichen Partien unserer Wissenschaft. „Wert" im subjektiven Sinne gehört zu den Grundbe- griffen, ohne die trotz G a s s e 1 die Wirtschaftswissenschaften nun einmal nicht auskommen. Denn insofern Dinge zur Bedürfnisbefrie- digung tauglich sind, heißen sie Güter, und in dieser Definition ist „subjektiver Wert" die differentia specifica. Vergleicht der Wirtschaf- tende die Güter hinsichtlich ihres subjektiven Wertes, so gelangt er zu einer Ordnung, die, wie kürzlich wieder Ewald Schams ge- zeigt hat, keine wohlgeordnete Menge ist und deshalb bei der Mathe- matisierung der Theorie gewisse Schwierigkeiten macht. Jedenfalls ist sie aber - trotz aller Entrüstung über die alte österreichische Schule - eine Tatsache, ein Datum der Theorie des Wirtschaftsprozesses.

Macht man die Bangordnung der Bedürfnisse zum Gegenstand der Kritik, so kommt man zu einer ganz anderen Disziplin als zu theo- retischer Nationalökonomie, und zwar zur Lehre von den Prinzipien einer praktischen Nationalökonomie. Daß der Nationalökonomie diese Disziplin bisher meistens gefehlt hat, verdient mit Fug und Becht den Tadel, den ihr Bath gemacht hat.

6. Bisher haben wir stets streng zwischen theoretischen und prak- tischen Erkenntnissen geschieden. Wir müssen uns deshalb noch mit den Gründen auseinandersetzen, die Bath veranlaßt haben, die

Scheidung von Sein und Sollen zu bekämpfen. Die Identität von Sein und Sollen ist schon einmal in einem ganz anderen Lager grundsätz- lich behauptet worden, und zwar von einer destruktiven Gesellschafts- kritik. Der Materialismus lehrt, daß die Vorstellung von unbedingten Sittengesetzen bloßer Schein ist. Wünsche, Begehrungen oder Zweck- mäßigkeitserwägungen, gewöhnlich solche, die der herrschenden Klasse nützlich sind, erscheinen in der Verbrämung von Sittengesetzen, von

geschäftigen und gefälligen Philosophen entsprechend aufgemacht* Man brauchte diese Meinung nicht zu erwähnen, wenn sie nicht für die Zeit, in der sie auftrat, typisch wäre. Die Klasse, der man diesen Be-

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trug vorwarf, glaubte in der Tat selber nicht an Sittengesetze und sprach gelegentlich sogar aus, daß nur um der Buhe und Ordnung willen der Masse der Glaube an die Verbindlichkeit solcher Sätze er- halten werden müsse. Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß man andererseits wieder der Diskussion des Sittengesetzes aus dem Wege ging, sobald die Berechtigung der Wirtschaftsordnung in die Debatte gezogen wurde. In der apologetischen wie in der destruktiven Gesell- schaftslehre herrscht hier also eine auffällige Zwiespältigkeit.

Wenn Eath es Kant zum Vorwurf macht, daß er Sollen und Sein getrennt habe (73), so geschieht das keineswegs aus dem Grunde, um das Sollen für bloße Illusion zu erklären. Eher möchte ich sagen, im Gegenteil. Der Idealismus E a t h s , der Gedanke, daß die Wirklichkeit nach einem Ideal zu formen sei, begegnet bei ihm keines- wegs einem Zweifel. Fast könnte man sagen, er gehe so weit, daß Bath sich nicht einmal vorstellen möchte, das Ideal sei nicht eins mit dem Eealen, in den es sich verwirklichen soll. Eath hält es geradezu für eine des Menschen nicht würdigen Vorstellung, daß im Leben des Men- schen und der menschlichen Gemeinschaft Sein und Sollen getrennt sein könnten. In der Tat, wo der Mensch in Gemeinschaft lebt - und das tut er faktisch immer - da besteht auch der kategorische Impe- rativ, das unbedingt fordernde Sittengesetz. Das aber hat gewiß Kant nicht in Abrede stellen wollen. Die Frage, die ich hier durchsprechen möchte, ist die : Kann man denn das Sollen überhaupt denken, ohne es begrifflich vom Sein zu trennen?

Pflicht oder Sollen als unbedingte Forderung hat nur dann einen Sinn, wenn nicht ohnehin geschieht, was Pflicht ist. Wer Pflicht nicht für bloßen Schein erklären will, muß zugeben, daß sie etwas anderes fordert als „die Ordnung in der Wirklichkeit selbst", auf die Bath (36) hinweist. Die Ordnung in der Wirklichkeit braucht nicht gefordert zu werden, denn sie ist von selber. Eine deterministische Auffassung, die in Analogie zur Naturauffassung der klassischen Mechanik den wirklichen Zustand als durch Naturgesetze und Anfangszustand voll- ständig bestimmt ansieht, läßt die Vorstellung der Willensfreiheit und damit der Pflicht nicht zu. Die Lockerung des Kausalitätsbe- griffes, wie wir ihn in den modernen Naturwissenschaften kennenler- nen x), führt nur zu der Vorstellung, daß unser Weltbild zwar in sich

*) Vgl. meine „Statistik und Theorie in den Wirtschaftswissenschaften", Stuttgart, Kohlhammer, 1935. Daselbst weitere Literaturangaben.

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vollständig determiniert ist, aber nicht ausreicht, die Vorgänge in der Erscheinungswelt vollständig zu bestimmen. Das bedeutet für das Problem der Willensfreiheit im Grunde keine neue Position; denn hier wird die entscheidende Frage wegen der grundsätzlichen Unzuläng- lichkeit des Weltbildes unbeantwortbar. Nach wie vor bleibt die mit der Möglichkeit eines Sollens und damit der Ethik vereinbarte Auf- fassung die, daß die Naturgesetze nur die Abhängigkeit der ontolo- gischen Erscheinungen voneinander behaupten, über deren Existenz jedoch nichts aussagen. Naturgesetzlichkeit des Geschehens und Wil- lenfreiheit widersprechen sich also nicht. Ganz abgesehen davon, daß wir Sein und Sollen begrifflich unterscheiden müssen, wenn wir dieses Problem auch nur aufwerfen wollen, ist damit nur die Möglichkeit eines Sollens gezeigt, ist nur erst dargetan, daß es Sinn hat, von Pflicht zu sprechen. Was aber Pflicht ist, das erkennen wir nicht in der Natur. Kant sagt an der bekannten Stelle der Kritik der reinen Vernunft :

„Das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Grün- den aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt. Der Verstand kann von dieser nur erkennen, was da ist oder gewesen ist oder sein wird. Es ist un- möglich, daß etwas darin anders sein soll, als es in allen diesen Zeitverhält- nissen in der Tat ist; ja das Sollen, wenn man bloß den Lauf der Natur vor Augen hat, hat ganz und gar keine Bedeutung. Wir können gar nicht fragen, was in der Natur geschehen soll; ebensowenig als: was für Eigenschaften ein Zirkel haben soll, sondern, was darin geschieht, oder welche Eigenschaften der letztere hat.

Dieses Sollen nun drückt eine mögliche Handlung aus, davon der Grund nichts anderes als ein bloßer Begriff ist, da hingegen von einer bloßen Natur* handlung der Grund jederzeit eine Erscheinung sein muß" (Kritik der reinen Vernunft, S. 575).

Weitere Ausführungen würden zu einem Beferat der Kritik der

praktischen Vernunft führen. Was ich zeigen muß, ist nur, daß der Versuch, die begriffliche Trennung zwischen Sollen und Sein aufzu-

geben, zu einer Aufhebung des Pflichtbegriffs führt. Die Auseinandersetzung mit der Auffassung von E a t h kann

ich aber noch nicht abbrechen; denn nach seinen Ausführungen bin ich im Zweifel, ob es nicht vielleicht nur eine weniger übliche Terminologie ist, durch die er auf das Problem der Scheidung von Sein und Sollen

geführt wird. Jedenfalls ist der Ausgangspunkt, von dem er zu diesen

Fragen kommt, ein ganz anderer als die Erörterung des Pflichtgebotes. Es ist die Behandlung des Verhältnisses von Theorie und Praxis, die ihn beschäftigt und die er dadurch zu vertiefen sucht, daß er ihre philo- sophischen Hintergründe bloßlegt.

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Hier stellt sich E a t h ganz auf Seiten dessen, was er „Praxis" nennt. Er wettert gegen die „einseitige Wissenschaftstheorie, die sich in selbstherrlicher Besessenheit übe* das Leben hinwegzusetzen - meinte" (8) und möchte dem Theoretiker den „Freischein einer hem- mungslosen Schulmeisteret' (8) entziehen. Gewiß, es hat immer Schul- meister gegeben, die in jugendlichem Eifer geglaubt haben, die Erfah- rung entbehren zu können. Aber in der Nationalökonomie ist immer auch der andere Verdacht sehr stark, daß der Versuch einer Deduktion politischer Maximen aus reiner Theorie interessenpolitische Motive hat. E a t h verwahrt sich mit Eecht energisch gegen solche Versuche (4), und ich habe wohl jetzt und früher deutlich genug zu machen versucht, daß in dem Elassenstaat der Vergangenheit ein solches Ausweichen vor der Diskussion der praktisch-sittlichen Maximen zu den Haupt- mängeln der klassengebundenen Wissenschaft gehört hat. Man hat den egoistischen Forderungen ein vergrößertes Gewicht zu geben versucht, indem man sich ein wissenschaftliches Mäntelchen umhängte. Damit ist aber zugleich eine zureichende Erklärung für diese bedenkliche Er- scheinung gegeben wie auch für die Unmöglichkeit, bei einer methodo- logischen Untersuchung auf dieses Niveau hinabzusteigen.

E a t h sieht ganz richtig, daß das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis das Verhältnis zwischen reiner und angewandter Wissen- schaft ist. Nur verwechselt er diese Gegenüberstellung dann wieder mit der anderen zwischen dem, was der Professor vom Katheder lehrt und was der Finanzminister seinen Entschlüssen aus eigenem theoretischen Denken zugrunde legt. Er schreibt:

„daß das, was [die Wissenschaft] vorfindet, . . . nicht etwa din unbekanntes Chaos ist. Im Gegenteil findet die Wissenschaft Staatsmänner, ausgesprochene Praktiker am Werke, die seit jeher ihre Staaten und ihre Finanzen kennen und leiten, ohne im Besitz einer wissenschaftlich erarbeiteten Erkenntnis zu sein. Mag man ihre Erkenntnisse und Maßnahmen seitens der Wissenschaft noch so sehr kritisieren, zugegeben werden muß die Tatsache, daß ein umfassendes, der Wissen- schaft vorgängiges Wissen besteht una daß weiterhin aus diesem ausgesprochen vorwissenschaftlichen Wissen das Finanzwesen praktisch bestanden hat, ehe man daran dachte, die Grundsatze und Regeln einer zweckmäßigen Gestaltung wissen- schaftlich zu entwickeln und zu ordnen" (v. Jakob) (9).

Ich verstehe nun nicht, wieso dieses Wissen besagter Finanzmini- ster „vorwissenschaftlich" ist. Das liefe doch auf die etwas formalisti- sche Vorstellung hinaus, als triebe nur der habilitierte Hochschullehrer Wissenschaft. Diese exklusive Auffassung hat es natürlich auch ge- legentlich gegeben. - A m o n n , den Bath durch dieses Beispiel

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treffen will, und dessen Methodenlehre ich gewiß nicht verteidige, dürf- te sich allerdings in diesem Punkte kaum getroffen fühlen.

Auf die Parallele der Begriffspaare Theorie und Praxis und Sein und Sollen muß ich noch einmal zurückkommen. Bath schreibt : „Die Wissenschaft, so lautet das immer wieder vorgetragene Sprüch- lein, beschäftigt sich mit dem Sein, der praktische Politiker mit dem Sollen** (4). Und er stimmt diesem Satz sogar zu, „soweit damit un- kontrollierbare, jedoch zumeist handfeste, konkrete, interessenpoli- tische Verbiegungen der Wissenschaft beseitigt werden sollen4*. Wir sind uns also durchaus einig in der Bekämpfung aller unter dem Mantel der Wissenschaft auftretenden Interessenpolitik. Aber das „Sprüch- lein** kann ich in der Form, die Bath ihm gegeben hat, trotzdem nicht anerkennen. Wohl ist es richtig, daß man gerade in den Sozial- wissenschaften häufig bemüht gewesen ist, nur Seinsfragen als wissen- schaftlicher Forschung zugänglich zu erachten. Die Beschäftigung mit dem Sollen, mit der Ethik wies man aber keineswegs dem Praktiker zu, sondern verlegte sie gewissermaßen auf die entgegengesetzte Seite, in eine als nicht wissenschaftlich angesehene Philosophie. Das liegt auch ganz im Sinne der üblichen Apologetik. Der Praktiker lehnte schon die Theorie ab, wenn sie nicht in seine Interessenpolitik paßte; über die Zumutung, es auch noch mit der Philosophie zutun zubekommen rümpfte er vollends die Nase. Und somit waren ethische Forderungen auf die bequemste Weise unschädlich gemacht. Gelegentlich wird aller- dings die Fragestellung des Ethikers und des Praktikers verwirrt, und zwar vorwiegend von Materialisten. Nicht Fragen des Sollens, der Zweck Setzung, sondern Fragen der Zweck m ä ß i g k e i t , der besten Erreichung vorgegebener Zwecke sind es, die den Praktiker be- schäftigen. Diese allerdings stützen sich ausschließlich auf Seinszu- sammenhänge, also auf theoretische Überlegungen. Das Sollen, wenn ein solches überhaupt diskutiert wird oder auch nur zum Bewußtsein kommt, muß dann immer schon vorausgesetzt sein.

Trennt man die Erkenntnis von Seins- und Sollgesetzen begrifflich nicht, so verfällt man, sobald wirtschaftspolitiscbe Maßnahmen zu be- gründen sind, mit Notwendigkeit gerade in den Fehler, den Bath mit Becht bekämpft: aus reiner Theorie oder gar aus dem bloßen Be- griff der Wirtschaft Werturteile abzuleiten; das sind dann stets logische Erschleichungen. Es gibt keine Möglichkeit, sich unter diesen Voraus- setzungen dem in irgendeiner Form auftretenden Logizismus zu ent- ziehen.

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IV.

Häufig wird es, auch von E a t h , so hingestellt, als werde durch die begriffliche Trennung von Sein und Sollen etwas auseinanderge- rissen, was in Wirklichkeit zusammengehört. Es ist gewiß abwegig, das Volksleben nur als natürlichen Prozeß aufzufassen, und das Sollen, Pflicht und Ideale für bloßen Schein zu erklären, wie das in einer ma- terialistischen Ethik zu geschehen pflegt. Ebenso falsch ist es auch, von einer Phantasiewelt zu schwärmen, in der das Ideal von selber ver- wirklicht ist. Ethischer Bealismus rückt die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit in unser Blickfeld und läßt uns ihre Überwindung als Aufgabe begreifen. Diese Überwindung geschieht aber nicht in der Negation des Unterschiedes; denn dadurch geht die Möglichkeit, die Aufgabe auch nur zu denken, und sich der in ihr liegenden Verant- wortung bewußt zu werden, gänzlich verloren. H u b e r weist mit Eecht darauf hin 1).

„Zum wirklichen Einheitsdenken gehört die Fähigkeit, die wesenhaften Un- terschiede der Sache zu erkennen und gerade dadurch die echte Ganzheit des Gegenstandes zu erfassen. Die Gegensätze des Trennungsdenkens sind in der neuen Staatswissenschaft »aufgehoben*, und zwar in dem doppelten Sinne des Hegel- sehen Wortes: sie sind überwunden und zugleich bewahrt. Die Trennungen des 19. Jahrhunderts sind aus der reinen Antithetik herausgehoben und zu einer frucht- baren Gemeinsamkeit, nicht aber zu einer unterscheidungslosen Uniformität ver- bunden."

Derselbe Gedanke der Synthese liegt auch den Ausführungen B e n t e s zugrunde 2).

„Alle Gestaltung entspringt also zuoberst der Freiheit des Willens, dessen Zielsetzungen mit der Weltanschauung wechseln, und folgt zuunterst der Not* wendigkeit, die in der Sache begründet liegt."

Noch deutlicher kommt der Gedanke zum Ausdruck, wenn Hu- ber über die Einfügung der Lehre von der sog. Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft in die gesamte Staatswissenschaft sagt s) :

„Die ökonomische Eigengesetzlichkeit setzt der politischen Gestaltung keine Grenzen, soweit der Staat in der Lage ist, die Folgen seiner Wirtschaftsführung zu übersehen und die Mittel, die für die Gesamtleistung der Wirtschaft notwendig sind, zu beschaffen. Die Volkswirtschaftslehre aber hat eine wichtige Aufgabe ge- rade darin, die immanente Gesetzlichkeit in dieser Folgenverknüpfung zu erfor-

*) Die Deutsche Staatswissenschaft, Ztschr. f. d. ges. St. 95, 1934, S. 27. *) Gestaltung und Gestaltwandel der Volkswirtschaft, ebenda, S. 71. *) A. a. O. S. 55.

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sehen. Die ,exakte Theorie', die nach allgemeinen ökonomischen Gesetzen sucht, ist daher für den Aufbau der neuen Volkswirtschaftslehre nicht zu entbehren; aber sie ist kein Selbstzweck, sondern ein Hilfsmittel, das der Erforschung der Wirtschaft als einer Funktion des Volkes dient."

Weiter in die Einzelheiten der angeschnittenen Frage geht P r e - d ö h 1 x); er sagt im vollen Bewußtsein des Ernstes der Situation:

„Während der Verzicht auf diese Wirtschaftstheorie gegenüber der automa- tischen Wirtschaft des Liberalismus vielleicht nur den Verzicht auf Erkenntnis bedeuten würde, käme er gegenüber der politischen Wissenschaft darüber hinaus dem Verzicht auf das entscheidende Hilfsmittel der Gestaltung gleich." „Wissen- schaftliche Sauberkeit und die Gefahr, daß dilettantischer Unverstand über dem Ganzen die wirtschaftlichen Kegeln vergessen möchte", sprechen dafür, „die for- male Gleichgewichtstheorie weiterhin als Instrument in gesonderter Formulierung vorzuführen" *).

Ebenso einmütig, wie man heute in dem Urteil über die Notwen- digkeit der exakten Theorie ist, fordert man andererseits, sich der Schranken bewußt zu sein, die den rationalen Erkenntnissen gesetzt sind 3). Sie ist ein notwendiges und selbständiges Glied in dem größeren Ganzen der Wirtschaftswissenschaften; als Erkenntnis hat sie wie jede andere Wissenschaft ihren Selbstzweck; Hilfsmittel ist sie, wo es sich um die Erforschung der Geschichte und um die Gestaltung der Wirt- schaft eines Volkes handelt.

Im Bereiche der Seinserkenntnis ist den rationalen Methoden eine Grenze gesetzt. Das ist der Punkt, in dem E a t h mit Recht ein Hin-

ausgehen über die Methoden der exakten Theorie fordert. Nur ist hier nicht über die Alternative zu entscheiden, ob man sich der Methode der exakten oder der verstehenden Sozialwissenschaften zu bedienen habe, sondern es ist eine Synthese erforderlich; „mathematisch- ver- stehende" und „zusammenschauend-verstehende" Methoden, wie es Weißer4) bezeichnet, müssen sich ergänzen, um das Gesamtbild der Wirtschaft vollständig erstehen zu lassen. Auch hier ist die Ent-

wicklung nicht möglich in einem Neben- oder gar Gegeneinander, son- dern nur in einem Miteinander. Andernfalls sind die Aufgaben, die sich

*) Gesamte Staatswissenschaft und exakte Wirtschaftstheorie, ebenda, S. 112. ») A. a. O. S. 113. 8) Vgl. meinen Aufsatz „Aufgaben und Grenzen der mathematischen Natio-

nalökonomie", in „Archiv für mathematische Wirtschafts- und Sozialforschung" 1, 1, S. 1, 1935.

4) Kommt es in den Wirtschaftswissenschaften zur Bildung einer neuen deut- schen Schule? Stattgart, Kohlhammer, 1935.

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der Mensch in unserem aktivistischeren Zeitalter auch gegenüber dem Wirtschaftsleben stellt, nicht zu bewältigen. Die mathematische Öko- nomik lehrt gleichsam das Skelett und das Bändersystem des Gesamt- prozesses verstehen, und somit ist sie eine notwendige Vorbedingung, ohne welche ein Eindringen in die weiteren Zusammenhänge des Wirt- schaftslebens unmöglich ist. Auf ihr aufbauend, aber nicht weniger wichtig als sie, hat dann die verstehende Methode die Aufgabe, das Bild zu ergänzen und zu runden, um den Wirtschaftsprozeß in voller Lebendigkeit zu erfassen.

Daß bei der Eeform einer Wissenschaft mancherlei Grenzüber- schreitungen vorkommen, darf nicht wundernehmen. Die begrifflichen Grenzen zwischen den verschiedenen Aufgaben müssen zunächst ab- gesteckt werden. In allen Teilen muß man sich allmählich der Grenzen bewußt werden. Sachliche Auseinandersetzungen werden diese Grenz- ziehung beschleunigen. Bloß negative Kritik kann nur unfruchtbar sein.

Finanzarchiv. N. F. 3. Heft 2. 21

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