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Zur Hegelkritik des jungen Marx oder Das Problem einer ... · Verkehrung von Subjekt und Objekt 21...

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Aurora Verlag Sahra Wagenknecht Zur Hegelkritik des jungen Marx oder Das Problem einer dialektisch-materialistischen Wissenschaftsmethode Vom Kopf auf die Füße?
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Aurora Verlag

Sahra Wagenknecht

Zur Hegelkritik des jungen Marx oder Das Problem einer dialektisch-materialistischen Wissenschaftsmethode

Vom Kopf auf die Füße?

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Diese Leseprobe ist urheberrechtlich geschützt.Sie darf ohne vorherige schriftliche Genehmigung weder ganz

noch auszugsweise kopiert, verändert,vervielfältigt oder veröffentlicht werden.

ISBN 978-3-359-02532-0

Erstausgabe 1997, Pahl Rugenstein

1. Auflage dieser Ausgabe

© 2013 Aurora Verlag, Berlin

Umschlaggestaltung: toepferschumann.de

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

Eulenspiegel · Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

Neue Grünstraße 18, 10179 Berlin

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in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.aurora-verlag-berlin.de

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I. Vorwort In 9

II. Die Rezeption des Hegelschen Dialektik- und Spekulations-Konzepts in den »Ökonomisch- philosophischen Manuskripten« 15

Die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der Hegelschen Dialektik 16

Die Figur der Negation der Negation als abstrakt- logischer Ausdruck realgeschichtlicher Prozesse 17

Die Reduktion des menschlichen Wesen auf abstraktes Selbstbewusstsein 19

Die Reduktion der gegenständlichen Realitäten auf logische Kategorien 20

Geschichte als Denkprozess – Verkehrung von Subjekt und Objekt 21

Der unkritische Positivismus der Entfremdungskonzeption der »Phänomenologie« 21

Der unkritische Positivismus der spekulativen Methode im Allgemeinen 23

Der Marxsche Gegenentwurf 27

III. Die Grundkategorien der Hegelschen Philosophie – Eine Analyse ihrer originären Bestimmung 29

1. Die Spezifik der »Phänomenologie des Geistes« 30

2. Die Kategorie des »Selbstbewusstseins« im Hegelschen System 38

3. Das »Geheimnis« der spekulativen Methode 45

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INHAlt

Die Dialektik von Bewusstsein und Gegenstand und die Begründung der spekulativen Methode in der »Phänomenologie des Geistes« 48

Die Dialektik von setzender, äußerlicher und bestimmender Reflexion und der Rückgang in den Grund 69

Der Begriff als »gegenständliches Wesen« – Hegels Ontologie als Grundlage seines Methodenkonzepts 83

Negation und Negation der Negation – Die absolute Methode 94

Widersprüche in Hegels Methodenkonzept 127

IV. Die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« als Werk des Übergangs 133

1. Die theoretischen Positionen des jungen Marx 133

2. Exkurs über Feuerbach 140

3. Marx’ Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1843 145

4. Der Standpunkt der »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte«: Die »Entfremdungs«-theorie als universalhistorische Konstruktion 158

Die Begründung der politischen Forderungen in »Zur Judenfrage« und »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung« 158

Studien im Vorfeld der »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« 162

Die ökonomische Entfremdung als Kern aller gesellschaftlichen Entfremdungsverhältnisse 163

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INHAlt

Arbeitsbegriff und Methode der klassischen Nationalökonomie 165

Marx’ Einbau des nationalökonomischen Arbeitsbegriffs in die anthropologische Konzeption 167

Die Position als Negation der Negation – Rückgriff auf Hegel 169

Marx’ Konzept der »entfremdeten Arbeit« 170

Die »entfremdete Arbeit« als Grundlage der bürgerlich-kapitalistischen Produktionsweise 173

Der Grundfehler des Entfremdungskonzepts: Die Reduktion gesellschaftlicher Verhältnisse auf intersubjektive Beziehungen anstelle ihrer Bestimmung als objektiv-gegenständlicher Vermittlungsprozesse 175

Der Versuch einer rein logischen Deduktion realgeschichtlicher Prozesse – der methodische Rückfall der »Manuskripte« hinter das Hegelsche Spekulationskonzept 178

V. Die Rezeption des Hegelschen Dialektik- und Spekulations-Konzepts in den »Ökonomisch- philosophischen Manuskripten« – Analyse und Wertung 183

VI. Nachbemerkung. Methodologische Reflexionen des reifen Marx 201

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I. Vorwort

Explizite Äußerungen zu philosophischen Problemen sind rar in Marxens Spätwerk. Wohl dieser Umstand hat dazu geführt, dass die dialektisch-materialistische Philosophie, sofern sie ihre Positionen durch Marx-Zitate zu untersetzen oder zu illustrieren suchte, diese zumeist den Schriften des jüngeren Marx entnommen hat. Im besonderen war diese Orientierung an den Marxschen Jugendschriften prägend für die Haltung des Marxismus zu seinem großen Vorläufer, der Hegelschen Philosophie.

Nun finden wir eine ausdrückliche und eingehende Auseinandersetzung Marx’ mit den Hegelschen Vorgaben, speziell mit dem Hegelschen Dialek-tik- und Spekulationskonzept, tatsächlich nur in zwei früh entstandenen Arbeiten: in der »Kritik des Hegelschen Staatsrechts« von 1843 und in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« von 1844. Aber auch der Man-gel späterer Bezüge darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Schriften selbstverständlich nicht die Marxsche Position zur Hegelschen Philosophie, sondern lediglich die Position des jungen Marx, konkret des Marx der Jahre 1843 und 1844, dokumentieren. Und obgleich zumindest der östliche Marxis-mus stets davon ausging, dass die Marxsche Theorie in jenen Jahren noch kei-neswegs auf eigenen Füßen stand, man sich daher zu hüten hat, das Marxsche Spätwerk aus der Perspektive dieser Frühschriften zu interpretieren, galt die in ihnen formulierte Kritik der Hegelschen Dialektik und Spekulation doch unangefochten als Musterbeispiel marxistischer Hegelrezeption und wurde in diesem Sinne immer wieder herbeizitiert. Diese Unangefochtenheit in Frage zu stellen ist ein wesentliches Anliegen dieser Arbeit. Eine genauere Analyse wird zeigen, dass die in den genannten Werken formulierte Hegelkritik erstens gar nicht so materialistisch ist, wie sie auf den ersten Blick erscheint, und dass es sich zweitens bei ihr um ein ebenso vorübergehendes Stadium der Marxschen Hegelrezeption handelt, wie bei der ursprünglich weitgehenden Identifizierung mit der Hegelschen Begrifflichkeit, die etwa die Marxsche Dissertationsschrift prägt.

Für diese Annahme spricht schon, dass beide Arbeiten – die »Kritik des Hegelschen Staatsrechts« und die »Manuskripte« – Fragment geblieben sind

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I. VORWORt

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und von Marx nie veröffentlicht wurden. Er empfand die in ihnen entwickelten Positionen offenbar selbst als unbefriedigend. Ohnehin finden wir in beiden Schriften weit weniger eine abgeschlossene Haltung zur Hegelschen Philosophie, als vielmehr ein Ringen mit Hegels Dialektik- und Spekulations-Konzept, eine Auseinandersetzung, die sich noch ganz im Prozess befindet und deren Resul-tate wesentlich erst erarbeitet werden sollen. Zweitens muss bei einer Analyse dieser Schriften beachtet werden, dass Marx der Hegelschen Philosophie natürlich nicht unvermittelt gegenübertrat. Er rezipiert sie zwar durchaus eigenständig, aber doch nie losgelöst vom Kontext ihrer junghegelianischen Interpretation: zunächst in Anlehnung an diese, dann in ausdrücklicher Abgrenzung von ihr. Es wird sich zeigen, dass manche Marxsche Polemik, als deren unmittelbarer Adressat zunächst Hegel erscheint, genau besehen über-haupt nicht diesen, sondern ausschließlich seine junghegelianischen Schüler trifft. In der marxistischen Rezeptionsgeschichte nun wurden aus diesen im Fluss befindlichen Gedanken und zeitbedingten Polemiken feste und endgül-tige Stellungnahmen. So entstand ein Bild der Marxschen Hegelrezeption, das weder Marx noch Hegel gerecht wurde und vor allem dem Nachdenken über materialistische Dialektik und dialektische Wissenschaftsmethode äußerst abträglich war.

Wir leugnen nicht, dass gerade letzteres unser eigentliches Anliegen ist. »Die Herausarbeitung der Methode, die Marx’ Kritik der politischen Ökono-mie zugrunde liegt« – schrieb Engels seinerzeit –, »halten wir für ein Resultat, das an Bedeutung kaum der materialistischen Grundanschauung nachsteht.«1 Entscheidend ist, dass beide Seiten überhaupt nicht getrennt werden können. Mit der dialektisch-materialistischen Methode steht und fällt die dialektisch-materialistische Philosophie. Und was für die Philosophie im besonderen gilt, gilt für die Wissenschaft im allgemeinen. Sollen im wissenschaftlichen Den-ken wirkliche Zusammenhänge und Beziehungen reproduziert werden, müssen die wissenschaftsimmanenten Regeln und logischen Strukturen den zu erfas-senden ontischen Strukturen in irgendeiner – möglicherweise stark abstra-hierenden – Weise angemessen sein. So gibt es beispielsweise in der Realität keine mathematischen Strukturen als solche. Jede quantitative Bestimmung ist in ihrer Existenz an konkrete Qualitäten gebunden; das rein quantitative Eins bzw. die reine Raumgröße sind daher unter allen Umständen eine Abstraktion. Aber sie sind insofern vernünftige Abstraktionen, als die Realität ja tatsächlich

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I. VORWORt

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dieses quantitative Moment – wenn auch nie isoliert für sich – aufweist. Die Isolierung dieses Moments im Denken schafft ein homogenes Medium, in dem so dann auf Grundlage immanenter Regeln mit strenger Notwendigkeit operiert und abgeleitet werden kann. Der Abstraktionsschritt, der der Konsti-tuierung dieses Mediums zugrunde liegt, impliziert also ebenso den Realgehalt der innerhalb dieses Mediums darstellbaren und erschließbaren Beziehungen wie dessen Grenzen. Eine von den qualitativen Bestimmungen des Seins ab-strahierende Analyse vermag ganz sicher reale – eben quantitative – Zusam-menhänge zu reproduzieren, wohl kaum jedoch wesentliche Zusammenhänge, denn letztere sind in allen Seinsbereichen an konkrete Qualitäten gebunden. (Wobei die Relevanz der rein quantitativen Beziehungen in den verschiedenen Seinsbereichen unterschiedlich ist; die Strukturen im anorganischen Sein sind offenbar in erheblich höherem Grade quantifizierbar, und die vermittels mathematischer Methoden gewonnenen Ergebnisse sagen daher Wesentlicheres über den jeweils untersuchten Gegenstand aus, als dies etwa im organischen oder gar gesellschaftlichen Sein der Fall ist.)

Marxistische Analyse indessen erhebt den Anspruch, wesentliche Realzusam-menhänge aufzudecken, und zwar im besonderen wesentliche gesellschaftliche Zusammenhänge. Hinsichtlich der begrifflichen Erfassung grundlegender Strukturen des kapitalistischen Reproduktionsprozesses hat zumindest Marx diesen Anspruch erfüllt. Es gibt kein Werk der bürgerlichen Ökonomie, das neben dem »Kapital« bestehen könnte; ohne Marxsche Kategorien bleibt der kapitalistische Funktionsmechanismus auch heute unverständlich und unverstehbar; (was nicht heißen soll, dass die Funktionsweise des heutigen Kapitalismus allein mit den im »Kapital« entwickelten Kategorien verstan-den werden kann; das ist aber eine andere Frage, die uns hier nichts angeht). Vergleicht man nun die Marxsche Darstellung mit der der klassischen Natio-nalökonomen, die ja zum Teil bereits die gleichen Kategorien benutzten, wird deutlich, dass Marxens Leistung mit Marxens Methode in allerengstem Zusammenhang steht.

Marxistische Theorie ist insofern – recht verstanden – nicht ein Aggregat von Begriffen, unter die die Phänomene der Realität zu subsumieren wären. Sie ist vor allem eine spezifische Methode der Entwicklung von und des Umgangs mit Begriffen, durch die diese Begriffe die Fähigkeit erhalten, reale Zusammenhänge tiefer und ganzheitlicher zu erfassen, als die auf formaler

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Logik begründeten wissenschaftlichen Methoden es je vermögen. Insoweit sind marxistische Theorie und dialektische Methode untrennbar. Die Methode wird nicht im Umgang mit den marxistischen Kategorien angewandt; sie kon-stituiert sie.

Ein das Verständnis dieser spezifischen Methode enorm erschwerender Umstand liegt nun darin, dass Marx sie zwar im »Kapital« exzellent praktiziert, sich jedoch – von verstreuten Bemerkungen abgesehen – jeder ausdrücklichen theoretischen Reflexion über ihr Wesen und ihre konkrete Struktur enthal-ten hat. Unstrittig dürfte indessen sein, dass die Marxsche Methode ihren Ursprung einer – kritischen – Rezeption der Hegelschen Dialektik verdankt und in letzterer ihren unmittelbaren Vorläufer besitzt. Im Unterschied zu Marx enthält nun aber die Hegelsche Philosopie nicht nur die Praxis, sondern auch eine explizite Theorie der »absoluten Methode«. Ohne eine genaue Analyse der Hegelschen Bestimmungen muss daher auch die Marxsche Methode unverständlich bleiben. Lenin hatte also ganz recht, als er feststellte: »Man kann das ›Kapital‹ von Marx und besonders das I. Kapitel nicht vollständig begreifen, ohne die ganze Logik von Hegel durchstudiert und begriffen zu haben. Folglich hat nach einem halben Jahrhundert nicht ein Marxist Marx begriffen.«2

Bedenklich ist allerdings, dass sich daran auch in den seither vergangenen knapp 80 Jahren (wenn wir von Lenins eigener Hegel-Rezeption absehen) nur sehr wenig geändert hat. Zwar wurde im offiziellen nachleninschen Marxis-mus ununterbrochen über Dialektik und dialektische Methode gesprochen und geschrieben. Aber die Charakterisierung der letzteren ging im allgemei-nen kaum über die Bestimmung hinaus, »… die Dinge und Erscheinungen der materiellen Welt, aber auch die Begriffe als Abbilder der wirklichen Dinge, in ihrer Bewegung und Veränderung zu betrachten, die allseitige Analyse der Erscheinungen, die ihre mannigfaltigen gegenseitigen Zusammenhänge beachtet, die Erkenntnis des Einheitlichen in seinen gegensätzlichen Bestand-teilen usw.«3 All das ist natürlich richtig, nur reicht es bei weitem nicht aus. Gerade die eigentlich interessanten und entscheidenden Fragen bleiben unbe-antwortet: Welcher Rationalitätsform, welcher logischen Strukturen bedarf es denn, um die Realität in ihrer Bewegtheit und Entwicklung, in der je relativen Ganzheitlichkeit ihrer Teilbereiche, in ihren Widersprüchen und Gegensät-zen gedanklich zu reproduzieren und ihre wesentlichen Zusammenhänge

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begrifflich zu erfassen? Wodurch unterscheidet sich diese Rationalitätsform von den auf formaler Logik beruhenden Methoden? Wie entstehen die gefor-derten Übergänge der Begriffe? Wie verhalten sich Apriorisches und Apos-teriorisches, Analyse und Synthese im Rahmen dieser Methode? Inwieweit variieren die spezifischen Formen dieser Methode je nach dem analysierten Seinsbereich? Usw. usf. All diese Fragen sind grundlegend für ein adäquates Verständnis der marxistischen Theorie. Und sie sind viel zu wichtig, als dass man sich weiterhin mit oberflächlichen Bestimmungen begnügen könnte.

Denn letztlich geht es um weit mehr als darum, Marx zu verstehen. Es geht darum, zum Verständnis einer Methode durchzudringen, die erwiesenerma-ßen die Realität – und insbesondere die gesellschaftliche Realität – in ihrer Bewegung und Entwicklung besser und adäquater zu erfassen vermag als jede bisher entwickelte andere. Soll die marxistische Theorie je wieder wirkliche und breite Überzeugungskraft gewinnen, steht sie in der Pflicht, das, was sich seit Lenins Tod auf diesem Planeten zugetragen hat, wissenschaftlich zu ana-lysieren und begrifflich zu fassen. Das betrifft sowohl die Gesamtgeschichte des ersten sozialistischen Weltsystems – seinen Aufstieg, Niedergang und letztlichen Zusammenbruch – als auch die Entwicklungen, Veränderungen und Anpassungen im Kapitalismus der zweiten Jahrhunderhälfte. Erst auf dieser Grundlage wird die gegenwärtige Situation in ihrer Spezifik begreifbar und können die notwendigen, dem Hier und Heute angemessenen Strategien entwickelt werden.

Diese immense Aufgabe lässt sich aber nur mit einer wissenschaftlichen Methode lösen, die ihrem Gegenstand gewachsen ist, keinesfalls mit methodi-schen Ansätzen, die hinter dem bereits erreichten Niveau der Wissenschafts-methodologie (das durch Hegel und Marx bestimmt wird) zurückbleiben. In diesem Kontext erweisen sich eine materialistische Hegelinterpretation und ein materialistisch-dialektisches Methodenkonzept als zwei Seiten einer Medaille. Gerade deshalb ist ein richtiges Verständnis der Marxschen Haltung zur Hegelschen Philosophie kein bloß wissenschaftshistorisch interessantes Problem, sondern eines von unmittelbar aktueller und grundlegender Wich-tigkeit. Zur Aufhellung dieser Problematik einen Beitrag zu leisten, ist der Zweck und das Ziel dieser Arbeit.

In dem uns gesetzten Rahmen kann es natürlich nicht darum gehen, die Hegelbezüge und methodischen Anknüpfungspunkte im Marxschen Gesamt-

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werk zu analysieren, um daraus ein adäquates Bild seiner Stellung zur Hegel-schen Dialektik zu entwickeln. Selbst die Untersuchung der Veränderungen im Hegelverständnis der frühen Werke – von der »Dissertation« über die »Kritik des Hegelschen Staatsrechts« bis zu den »Manuskripten« – wird nur im kursorischen Überblick möglich sein. Wir beschränken uns im wesentlichen auf eine Analyse und Kritik der Hegelrezeption in den »Ökonomisch-philo-sophischen Manuskripten«. Dabei werden wir andere Marxsche Äußerungen und Stellungnahmen insoweit einbeziehen, als sie zum Verständnis des the-oretischen Standpunkts der »Manuskripte« und ihrer Hegel-Interpretation wesentlich sind.

Es sei auch betont, dass der Gegenstand dieser Arbeit keineswegs die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« in ihrer Gesamtheit sind. Auf die anderen Abschnitte dieses Werks, die Auseinandersetzung mit der bür-gerlichen Nationalökonomie und die in diesem Kontext von Marx entwickelte Geschichtsphilosophie – die Entfremdungskonzeption – werden wir allerdings insoweit Bezug nehmen, als diese Marxschen Positionen die Grundlage seiner Spekulations- und Methodenkritik bilden, diese in Absehung von jenen also unverständlich bleibt. Eigentlicher Gegenstand unserer Analyse ist jedoch das in den Marx-Engels-Werken ca. 20 Seiten füllende, am Schluss der »Ökonomisch-philosophisehen Manuskripte« angeordnete Kapitel »Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt«.

Um die Hegel-Rezeption der »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« überhaupt bewerten zu können, ist es zudem unerlässlich, die spekulative Konzeption in ihrer originären Hegelschen Gestalt anhand ausgewählter Kategorien zu untersuchen. Schließlich wird in einem gesonderten Kapitel auf Feuerbach Bezug genommen, unter dessen Einfluss – speziell unter dem Einfluss seiner Hegel-Kritik – Marx in der Entstehungsperiode der »Ökono-misch-philosophischen Manuskripte« stand.

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II. Die Rezeption des Hegelschen Dialektik- und Spekulations-Konzepts in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« Die Hegel-Rezeption in den »Ök.-phil. Manuskripten«

Während die Rezeption Hegelscher Kategorien (»Entäußerung«, »Negation der Negation« usw.) faktisch die gesamten »Manuskripte« durchzieht, kon-zentriert sich die explizite Auseinandersetzung mit der Hegelschen Dialektik und Philosophie in ihrem letzten Kapitel. Allerdings entspricht diese Anord-nung nicht derjenigen des originären Marxschen Textes. Dort existieren die Hegelpassagen vielmehr als drei verschiedene, für sich separierte Teile. Da diese Passagen jedoch einen einheitlichen Gegenstand und in sich zusammen-hängende Gedankengänge aufweisen, halten wir es für legitim, sie als Gesamt-text zu rezipieren und die ursprüngliche Dreiteilung bei der Interpretation nicht näher zu berücksichtigen. Dieses Vorgehen wird unseres Erachtens auch dadurch gerechtfertigt, dass Marx selbst in der Vorrede zu den Manuskripten die »Auseinandersetzung mit der Hegelschen Dialektik und Philosophie über-haupt« als »Schlusskapitel der vorliegenden Schrift«4 bezeichnete.

Der vorliegende Text hat einen in hohem Maße fragmentarischen Charak-ter. Statt einer systematischen Gliederung und logischen Durchführung des Gedankens finden wir eine Vielzahl immer neuer Anläufe, ein Nebeneinan-der von z.T. unkommentiert aufgenommenen Hegel-Exzerpten und eigenen Reflexionen, ein Ringen um Bestimmungen in immer neuer Beleuchtung, abrupte Sprünge, ein Abbrechen und später ebenso unvermitteltes Wieder-aufnehmen von Gedankengängen etc. Im folgenden geht es uns zunächst ausschließlich um die Darstellung der Marxschen Positionen, noch nicht um ihre Analyse und Wertung. Wir werden die Marxsche Hegelkritik bzw. seine positiven Bezüge jedoch nicht in der Reihenfolge des Textes referieren, da dies auf Grund des genannten fragmentarischen Charakters zu unzähligen Wie-derholungen führen würde. Um diese zu vermeiden, werden wir versuchen, die Marxschen Grundargumente thematisch gebündelt vorzutragen.

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II. DIE HEGEl-REZEPtION IN DEN »ÖK.-PHIl. MANuSKRIPtEN«

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Die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der Hegelschen Dialektik

Ehe Marx zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Hegelschen Dialektik und spekulativen Methode übergeht, begründet er zunächst die Notwen-digkeit und Dringlichkeit einer solchen Auseinandersetzung. Gerade diese sei nämlich von der bisherigen junghegelianische Hegelrezeption umgangen worden: »Die Beschäftigung mit dem Inhalt der alten Welt, die von dem Stoff befangene Entwicklung der modernen deutschen Kritik war so gewaltsam, dass ein völlig kritikloses Verhalten zur Methode des Kritisierens und eine völlige Bewusstlosigkeit über die scheinbar formelle, aber wirklich wesentli-che Frage stattfand, wie halten wir es nun mit der Hegelschen Dialektik?«5 Feuerbach sei der einzige, »der ein ernsthaftes, ein kritisches Verhältnis zur Hegelschen Dialektik hat und wahrhafte Entdeckungen auf diesem Gebiet gemacht hat …«6 Dabei bestehe Feuerbachs »große Tat« in drei Punkten: 1. in dem Beweis, dass Philosophie nichts anderes sei als denkend ausgeführte Religion, d.h. »eine andere Form und Daseinsweise der Entfremdung des menschlichen Wesens«7; 2. in der Gründung des »wahren Materialismus« bzw. der »reellen Wissenschaft«, in der das »gesellschaftliche Verhältnis vom Menschen zum Menschen« zum Grundprinzip der Theorie wird; 3. darin, dass er der Negation der Negation »das auf sich selbst ruhende und positiv auf sich selbst begründete Positive« entgegengestellt habe. Feuerbachs Haltung zur Hegelschen Dialektik bleibe dabei jedoch eine rein negative. Marx führt die Feuerbachsche Interpretation der Hegelschen Negation der Negation als Auf-hebung und Wiederherstellung von Religion und Theologie an und bemerkt dazu: »Feuerbach fasst also die Negation der Negation nur als Widerspruch der Philosophie mit sich selbst auf, als die Philosophie, welche die Theologie (Transzendenz etc.) bejaht, nachdem sie dieselbe verneint hat, also im Gegen-satz zu sich selbst bejaht.« In der Hegelschen Negation der Negation steckte jedoch in Marx’ Augen weit mehr. Denn »… indem Hegel die Negation der Negation … aufgefasst hat, hat er nur den abstrakten, logischen, spekulativen Ausdruck für die Bewegung der Geschichte gefunden, die noch nicht wirk-liche Geschichte des Menschen als eines vorausgesetzten Subjekts, sondern erst Erzeugungsakt, Entstehungsgeschichte des Menschen ist.« Im Ignorieren dieses geschichtlichen Moments – und der Dialektik als gedanklichem Aus-

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II. DIE HEGEl-REZEPtION IN DEN »ÖK.-PHIl. MANuSKRIPtEN«

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druck desselben – lag für Marx der Mangel der Feuerbachschen Position im all-gemeinen sowie seiner Hegelkritik im besonderen; bei letzterer konnte daher ebenso wenig stehengeblieben werden, wie bei dem unkritisch-bewusstlosen Verhältnis, das die übrigen Junghegelianer gegenüber der Hegelschen Dialek-tik an den Tag legten.

Damit ist die Marxsche Position zur Hegelschen Dialektik bereits umris-sen: Hegels Negation der Negation ist 1. nicht eine schlechthin zu negierende Scheinbewegung, sondern abstrakter Ausdruck der realen geschichtlichen Bewegung; sie ist aber 2. eben nur der abstrakte, spekulative – und d.h. für Marx zugleich: verzerrende, entstellende – Ausdruck dieser Bewegung.

Beide Seiten werden im weiteren Text ausführlich erläutert. Gegenstand der Marxschen Interpretation ist dabei speziell die Hegelsche »Phänomenologie« als »wahre Geburtsstätte und … Geheimnis der Hegelschen Philosophie«. Des weiteren finden sich Bezüge auf die »Logik« und die »Enzyklopädie«.

Die Figur der Negation der Negation als abstrakt-logischer Ausdruck realgeschichtlicher Prozesse

Beginnen wir mit dem ersten großen Komplex, dem Realgehalt, den Marx – im Gegensatz zu Feuerbach – in der logischen Figur der Negation der Negation ausmacht und an den seines Erachtens eine über Hegel hinausgehende Phi-losophie anzuknüpfen hat. Marx schreibt: »Das Große an der Hegelschen ›Phänomenologie‹ und ihrem Endresultate – der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip – ist also einmal, dass Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozess fasst, die Vergegenständli-chung als Entgegenständlichung, als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäußerung, dass er also das Wesen der Arbeit fasst und den gegenständli-chen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit begreift. Das wirkliche, tätige Verhalten des Menschen zu sich als Gat-tungswesen, oder die Betätigung seiner als eines wirklichen Gattungswesens, d.h. als menschlichen Wesens, ist nur möglich dadurch, dass er wirklich alle seine Gattungskräfte – was wieder nur durch das Gesamtwirken der Menschen möglich ist, als Resultat der Geschichte – herausschafft, sich zu ihnen als Gegenständen verhält, was zunächst wieder nur in der Form der Entfremdung

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II. DIE HEGEl-REZEPtION IN DEN »ÖK.-PHIl. MANuSKRIPtEN«

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möglich ist.« Die große – über Feuerbach hinausweisende – Bedeutung der Hegelschen Philosophie und Dialektik sieht Marx also darin, dass sie erstens den Menschen als praktisch-tätiges, erst vermittels dieser Tätigkeit sich schaf-fendes Wesen begreift, und dass sie zweitens – folgerichtig – das menschliche Wesen in seinem wahren Gattungscharakter nicht als unmittelbar-naturhaft gegebenes, sondern als geschichtlich gewordenes und werdendes Wesen fasst. Beide Seiten – die Zentralstelle der Kategorie der Arbeit und der historische Charakter des menschlichen Wesens – bilden dabei naturgemäß eine Einheit; und die Bedeutung der Hegelschen Philosophie liegt für Marx darin, sie in dieser ihrer Einheit entwickelt und kategorial gefasst zu haben. Hier knüpft Marx unmittelbar an und grenzt sich damit zugleich von Feuerbach ab: »… der Mensch ist nicht nur Naturwesen, sondern er ist menschliches Naturwesen;

… Weder sind also die menschlichen Gegenstände die Naturgegenstände, wie sie sich unmittelbar bieten, noch ist der menschliche Sinn, wie er unmittelbar ist, gegenständlich ist, menschliche Sinnlichkeit, menschliche Gegenständ-lichkeit … Und wie alles Natürliche entstehen muss, so hat auch der Mensch seinen Entstehungsakt, die Geschichte, die aber für ihn eine gewusste und darum als Entstehungsakt mit Bewusstsein sich aufhebender Entstehungsakt ist. Die Geschichte ist die wahre Naturgeschichte des Menschen.«

Die logische Figur der Negation der Negation wird nun von Marx als abs-trakter Widerschein der Struktur dieses geschichtlichen Prozesses interpre-tiert: als Ausdruck der Vergegenständlichung des menschlichen Wesens im Prozess seiner Arbeit, die zunächst als Entfremdung des Menschen vom Men-schen und von der Natur erscheint (Negation) sowie der Rücknahme dieser Entfremdung als Resultat des geschichtlichen Gattungsprozesses (Negation der Negation). »Hegel fasst also, indem er den positiven Sinn der auf sich selbst bezogenen Negation – wenn auch wieder in entfremdeter Weise – fasst, die Selbstentfremdung, Wesensentäußerung, Entgegenständlichung und Entwirklichung des Menschen als Selbstgewinnung, Wesensäußerung, Verge-genständlichung, Verwirklichung. Kurz, er fasst – innerhalb der Abstraktion – die Arbeit als den Selbsterzeugungsakt des Menschen, das Verhalten zu sich als fremdem Wesen und Betätigen seiner als eines fremden Wesens als das werdende Gattungsbewusstsein und Gattungsleben.«

In der logischen Figur der Negation der Negation steckt folglich implizit die Forderung einer Rücknahme der Entäußerung, einer Aufhebung der entfrem-

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II. DIE HEGEl-REZEPtION IN DEN »ÖK.-PHIl. MANuSKRIPtEN«

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deten Zustände der Gesellschaft; und eben darin liegt für Marx der kritische Gehalt der Hegelschen Dialektik: »Die Phänomenologie ist daher die verbor-gene, sich selbst noch unklare und mystifizierende Kritik; aber insofern sie die Entfremdung des Menschen – wenn auch der Mensch nur in der Gestalt des Geistes erscheint – festhält, liegen in ihr alle Elemente der Kritik verborgen und oft schon in einer weit den Hegelschen Standpunkt überragenden Weise vorbereitet und ausgearbeitet.«8 Und an anderer Stelle heißt es über das »Aufheben, als gegenständliche, die Entäußerung in sich zurücknehmende Bewegung«: »Es ist dies die innerhalb der Entfremdung ausgedrückte Einsicht von der Aneignung des gegenständlichen Wesens durch Aufhebung seiner Entfremdung, die entfremdete Einsicht in die wirkliche Vergegenständlichung des Menschen, in die wirkliche Aneignung seines gegenständlichen Wesens durch die Vernichtung der entfremdeten Bestimmung der gegenständlichen Welt …«9 Allerdings: die Hegelsche Dialektik ist für Marx ausdrücklich die noch »innerhalb der Entfremdung« verbleibende Einsicht in diese Zusam-menhänge, nicht ihre wirklich adäquate Fassung. An anderer Stelle heißt es über den Hegelschen Arbeitsbegriff: »Hegel steht auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomen. Er fasst die Arbeit als das Wesen, als das sich bewährende Wesen des Menschen; er sieht nur die positive Seite der Arbeit, nicht ihre negative. Die Arbeit ist das Fürsichwerden des Menschen innerhalb der Entäußerung oder als entäußerter Mensch. Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige.«10

Die Reduktion des menschlichen Wesen auf abstraktes Selbstbewusstsein

Damit ist die negative – d.h. die zu negierende – Seite der Hegelschen Ent-fremdungskonzeption benannt: bei der in ihr konzipierten Entäußerung sowie der Aufhebung dieser Entäußerung handelt es sich nämlich – in Marx’ Inter-pretation – um rein gedankliche Vorgänge. Dadurch jedoch würden die durch sie erfassten realgeschichtlichen Zusammenhänge zugleich massiv entstellt.

Den Ausgangspunkt dieser Entstellung sieht Marx darin, dass Hegel den Menschen nicht als wirklichen, sinnlich-gegenständlichen fasse, sondern als reines Gedankenwesen: als Selbstbewusstsein. »Das menschliche Wesen, der

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Mensch, gilt für Hegel = Selbstbewusstsein.«11 Und an anderer Stelle: »Der Mensch wird = Selbst gesetzt. Das Selbst ist aber nur der abstrakt gefasste und durch Abstraktion erzeugte Mensch.«12 Das heißt: in der Hegelschen Philosophie gilt der Mensch nur als ein »nicht-gegenständliches, spiritualisti-sches Wesen.«13 Das aber habe fatale Folgen für den Charakter des gesamten Entfremdungsprozesses.

Die Reduktion der gegenständlichen Realitäten auf logische Kategorien

Zunächst folgt aus der Identifizierung von Mensch und Selbstbewusstsein, dass 1. die menschlichen Handlungen wesentlich als bloße Denkhandlungen, als Gedankenbewegungen aufgefasst werden und 2. die vom Menschen geschaffenen Dinge somit ebenfalls nur als Gedankendinge erscheinen: »Die Entäußerung des Selbstbewusstseins setzt die Dingheit. Weil der Mensch = Selbstbewusstsein, so ist sein entäußertes gegenständliches Wesen oder die Dingheit … = dem entäußerten Selbstbewusstsein, und die Dingheit ist durch diese Entäußerung gesetzt. Dass ein lebendiges, mit gegenständlichen, i.e. materiellen Wesens-kräften ausgerüstetes und begabtes Wesen sowohl wirkliche natürliche Gegenstände seines Wesens hat, als dass seine Selbstentäußerung die Setzung einer wirklichen … gegenständlichen Welt ist, ist ganz natürlich. Aber dass ein Selbstbewusstsein durch seine Entäußerung nur die Dingheit, d.h. selbst nur ein abstraktes Ding, ein Ding der Abstraktion und kein wirkliches Ding setzen kann, ist ebenso klar.«14 Die Vergegenständlichung des menschlichen Wesens wird so zu einem rein gedanklichen Prozess. Folgerichtig erscheinen die den Menschen umgebenden und von ihm geschaffenen gesellschaftli-chen Realitäten – Staatsmacht, Reichtum usw. – bei Hegel ebenfalls als bloße Gedankenwesen, als abstrakt-logische Kategorien: »Wie also das Wesen, der Gegenstand als Gedankenwesen, so ist das Subjekt immer Bewusstsein oder Selbstbewusstsein …, die unterschiedlichen Gestalten der Entfremdung, die auftreten, sind daher nur verschiedene Gestalten des Bewusstseins und Selbstbewusstseins.«15

Wie die Vergegenständlichung des menschlichen Wesens im allgemeinen, wird folglich auch dessen Entfremdung als ein rein gedanklicher Vorgang

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II. DIE HEGEl-REZEPtION IN DEN »ÖK.-PHIl. MANuSKRIPtEN«

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gefasst: als Setzung einer dem abstrakten Denken abstrakt entgegengesetzten Gegenständlichkeit. D.h.: »Nicht, dass das menschliche Wesen sich unmensch-lich, im Gegensatz zu sich vergegenständlicht, sondern dass es im Unterschied vom und im Gegensatz zum abstrakten Denken sich vergegenständlicht, gilt als das gesetzte und als das aufzuhebende Wesen der Entfremdung.«16 Die Aufhe-bung dieser rein gedanklich gesetzten Entfremdung wird damit zwangsläufig zu einem ebenfalls rein gedanklich zu vollziehenden Akt: zur gedanklichen Aufhebung des gedanklich gesetzten Gegensatzes von Selbstbewusstsein und Gegenständlichkeit.

Geschichte als Denkprozess – Verkehrung von Subjekt und Objekt

Insofern werde statt des wirklichen Menschen in der Hegelschen Konzeption das reine Denken zum eigentlichen, geschichtlich handelnden Subjekt; die wirklichen Menschen und realen Sachverhalte erscheinen dagegen als bloße Prädikate dieser reinen Denkbewegungen: »Dieser Prozess [der historische] muss einen Träger haben, ein Subjekt; aber das Subjekt wird erst als Resultat; dies Resultat, das sich als absolutes Selbstbewusstsein wissende Subjekt, ist daher der Gott, absoluter Geist, die sich wissende und betätigende Idee. Der wirkliche Mensch und die wirkliche Natur werden bloß zu Prädikaten, zu Symbolen dieses verborgenen unwirklichen Menschen und dieser unwirkli-chen Natur. Subjekt und Prädikat haben daher das Verhältnis einer absoluten Verkehrung zueinander, mystisches Subjekt-Objekt …«17

Der unkritische Positivismus der Enfremdungskonzeption der »Phänomenologie«

Das heißt, wie wir bereits sahen: die entfremdete Welt wird bei Hegel nicht gefasst als Entfremdung des wirklichen Menschen – als eine dem wirklichen menschlichen Wesen entgegengesetzte, ergo: unmenschliche Welt – sondern als bloße Entfremdung des reinen Denkens: nicht eine historisch-konkrete, sondern die Gegenständlichkeit als solche erscheint als der aufzuhebende

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Gegensatz des abstrakten Denkens. »Die Gegenständlichkeit als solche gilt für ein entfremdetes, dem menschlichen Wesen, dem Selbstbewusstsein nicht entsprechendes Verhältnis des Menschen. Die Wiederaneignung des als fremd, unter der Bestimmung der Entfremdung erzeugten gegenständlichen Wesens des Menschen hat also nicht nur die Bedeutung, die Entfremdung, sondern die Gegenständlichkeit aufzuheben…«18 Darin liegt nun zweierlei: Erstens verliert die in der Entfremdungskonzeption steckende Kritik damit jede konkret-historische Bestimmung, hört also auf, Kritik konkreter gesellschaft-licher Zustände zu sein: es ist ausdrücklich »… nicht der bestimmte Charakter des Gegenstandes, sondern sein gegenständlicher Charakter für das Selbstbe-wusstsein das Anstößige und die Entfremdung … Der Gegenstand ist daher ein Negatives, ein sich selbst Aufhebendes, eine Nichtigkeit.«19 Zweitens wird die in der Figur der Negation der Negation geforderte Aufhebung der Entfremdung auf einen rein gedanklichen Akt reduziert, d.h. gefordert wird gar nicht eine Veränderung der gesellschaftlichen Realität, sondern lediglich eine Veränderung des Denkens über diese Realität, nicht die Aufhebung der entfremdeten Zustände der Gesellschaft, sondern die Aufhebung ihrer gedank-lichen Bestimmung als entfremdeter. In der so konzipierten Aufhebung bleibt die gesellschaftliche Realität also nicht allein so, wie sie ist, bestehen; sie erhält überdies die Weihe des spekulativen Denkens: »Bei Hegel ist die Negation der Negation daher nicht die Bestätigung des wahren Wesens, eben durch Nega-tion des Scheinwesens, sondern die Bestätigung des Scheinwesens oder des sich entfremdeten Wesens in seiner Verneinung oder die Verneinung dieses Scheinwesens als eines gegenständlichen, außer dem Menschen hausenden und von ihm unabhängigen Wesens und seine Verwandlung in das Subjekt.«20

Dadurch wiederum wird die in der Negation der Negation implizierte Kritik zur bloßen Schein-Kritik und schlägt in eine Affirmation der realen Entfremdung um: »Die Aneignung der zu Gegenständen und zu fremden Gegenständen gewordenen Wesenskräfte des Menschen ist also erstens nur eine Aneignung, die im Bewusstsein, im reinen Denken, i.e. in der Abstraktion vor sich geht, die Aneignung dieser Gegenstände als Gedanken und Gedan-kenbewegungen, weshalb schon in der Phänomenologie … der unkritische Positivismus und ebenso unkritische Idealismus der späteren Hegelschen Werke – diese philosophische Auflösung und Wiederherstellung der vorhan-denen Empirie – latent liegt, als Keim, als Potenz, als ein Geheimnis vorhanden

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ist.«21 Das Selbstbewusstsein hebt die Entfremdung nicht durch Veränderung der Realität auf, sondern dadurch, dass es den Gegensatz zwischen sich und der Realität zum bloß scheinbaren, zur bloßen Setzung erklärt: »Für das Bewusstsein selbst hat die Nichtigkeit des Gegenstands darum eine positive Bedeutung, dass es diese Nichtigkeit, das gegenständliche Wesen, als seine Selbstentäußerung weiß; dass es weiß, dass sie nur ist durch seine Selbstent-äußerung. Die Art, wie das Bewusstsein ist, und wie etwas für es ist, ist das Wissen. … Wissen ist sein einziges gegenständliches Verhalten.«22 Darin liegt aber, »… dass der selbstbewusste Mensch, insofern er die geistige Welt … als Selbstentäußerung erkannt und aufgehoben hat, er dieselbe dennoch wieder in dieser entäußerten Gestalt bestätigt und als sein wahres Dasein ausgibt, sie wiederherstellt, in seinem Anderssein als solchem bei sich zu sein vorgibt … Hier ist die Wurzel des falschen Positivismus Hegels oder seines nur scheinbaren Kriti-zismus … Also die Vernunft ist bei sich in der Unvernunft als Unvernunft. … Die Selbstbejahung, Selbstbestätigung im Widerspruch mit sich selbst, sowohl mit dem Wissen als mit dem Wesen des Gegenstandes, ist also das wahre Wis-sen und Leben.«23 Die Marxsche Kritik richtet sich also in ihrem Kern gegen einen Begriff von Aufhebung, der diese, statt als Veränderung der Realität, als bloße Veränderung der Gedanken über die Realität fasst; denn dieser Begriff impliziert logisch, dass der Mensch »in seinem Anderssein als solchem bei sich«24 ist, d.h. die entfremdeten Zustände der Gesellschaft nicht mehr als zu überwindende, sondern lediglich als gedanklich zu verarbeitende und durch dieses Verarbeiten nicht mehr entfremdete – erscheinen.

Der unkritische Positivismus der spekulativen Methode im Allgemeinen

Dieser apologetische Begriff von Aufhebung ist indessen für Marx notwendige Folge der Hegelschen Bestimmungen. Denn eben weil Hegels Ausgangspunkt die Reduktion des menschlichen Wesens auf ein reines Gedankenwesen sei, verwandele er die gesamte Menschheitsgeschichte in einen wesentlich gedanklichen Prozess: in die abstrakt-logische Setzung und anschließend ebenso abstrakt-logische Aufhebung einer diesem abstrakten Gedanken-wesen entgegengesetzten Gegenständlichkeit; und eben deshalb können im


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