Viele namhafte Bibliotheken verdanken ihre Gründungder Sammellust bücherliebender Fürsten und Privatge-lehrter. Von berühmten Sammlungen nahmen sie ihrenAusgang. Die Internationale Jugendbibliothek verdanktihre Gründung der Kinderliebe einer Angehörigen deramerikanischen Besatzungsmacht. Keine Sammlung, son-dern eine Ausstellung steht am Anfang ihrer Geschichte.Diese ist in jeder Hinsicht so ungewöhnlich, dass man sichanlässlich des 70. Geburtstages noch einmal die Anfängedieser Einrichtung in Erin-nerung rufen sollte.
Ende Oktober 1945 lan-dete eine amerikanischeMilitärmaschine in Frank-furt am Main. An Bord wareine deutsch-jüdische Exi-lantin, die nach neun Jah-ren wieder deutschen Bo-den betrat. Jella Lepman,1891 in Stuttgart geboren,stammte aus einer groß-bürgerlichen Fabrikanten-familie und war 1936 vorden Nationalsozialisten nach London geflohen, wo sie alsJournalistin arbeitete. Der Bitte der amerikanischen Mili-tärbehörde in Bad Homburg, sich als Special Adviser forWomen’s and Youth Affairs am Wiederaufbau Deutsch-lands zu beteiligen, folgte sie nur widerwillig. Schließlichwar es der Gedanke an das Leid der Kinder, der den Aus-schlag zur Rückkehr gab.
Nach einer Reise durch das zerstörte Land kam sie zu derÜberzeugung, dass man Kinderbücher aus allen Ländernsammeln und diese zu „Boten des Friedens“ in einer vonKrieg erschöpften Welt machen müsse.1 Mit Kinderbü-chern sollten Brücken zwischen den Nationen und Kultu-ren gebaut und Völkerverständigung und Friedenserzie-hung – zentrale Anliegen der amerikanischen Re-Educati-on- Politik – vorangetrieben werden.
Jella Lepman überredete ihre Vorgesetzten, einer Aus-stellung von Kinderbüchern aus aller Welt in der amerika-nischen Besatzungszone zuzustimmen. „Lassen Sie uns beiden Kindern anfangen, um diese gänzlich verwirrte Welt
langsam wieder ins Lot zu bringen. Die Kinder werden denErwachsenen den Weg zeigen.“2 Mit großer Zielstrebigkeitmachte sie sich daran, ihre Vision von einer „Kinderbuch-brücke“3 in die Wirklichkeit umzusetzen.
Sie schrieb an ausländische Verleger und bat um Kinder-buchspenden für die Ausstellung. Nach anfänglichem Zö-gern trafen die ersten Bücherkisten aus dem Ausland ein.Sie reiste nach München und überzeugte amerikanische
Offiziere, ihre Kantine imHaus der Kunst für dieAusstellung zu räumen.Den Sammler Arthur Rü-mann und die Buchhand-lung Kitzinger brachte siedazu, historische Kinder-bücher in deutscher Spra-che, darunter kostbareErstausgaben, zur Verfü-gung zu stellen.
Am 3. Juli 1946 wurdedie erste internationaleAusstellung der deutschen
Nachkriegszeit mit 4.000 Büchern aus 15 Ländern eröff-net. Die Ausstellung wurde eines der wichtigsten Ereignis-se der damaligen Zeit und übertraf alle Erwartungen.40.000 Kinder und Erwachsene drängten ins Haus derKunst, am Wochenende bildeten sich lange Schlangen. DieKinder drückten ihre Gesichter an die Schreiben der Vitri-nen, in denen Kinderbuchklassiker und Neuerscheinungenaus Deutschland, Österreich, der Schweiz, den skandinavi-schen Ländern, Bulgarien, Rumänien, Frankreich, Italien,Portugal, England, Kanada, den USA und Brasilien lagen.Nur Kinderbücher aus der Sowjetunion und Osteuropafehlten.4
Leseexemplare lagen aus, an den Wänden hingen Kin-derbilder, die Kinderkunstschulen aus vielen Ländern ge-schickt hatten. Ein Besucher schrieb ins Gästebuch: „DieseAusstellung ist eine Insel des Friedens und Glücks inmittendes untergehenden Europas.“5 Von München reisten dieBücher und Bilder weiter nach Stuttgart, wo sie in provi-sorisch hergerichteten Räumen der WürttembergischenLandesbibliothek gezeigt wurden. Weitere Stationen wa-
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„Lasst uns bei den Kindern anfangen …“Zur Gründung der Internationale Jugendbibliothek vor 70 Jahren
Von Christiane Raabe
FORUMBIBLIOTHEKSGESCHICHTE
Lesende Kinder in der
Internationalen
Jugendbibliothek, 50er-Jahre
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ren u. a. das Frankfurter Städel Museum und das US Infor-mation Center in Berlin. Immer mehr Besucher sahen diese„Leistungsübersicht des außerdeutschen internationalenBuchschaffens“6. Man wird die kolportierte Zahl von 1 Mil-lion Besuchern wohl nie überprüfen können.
In Berlin besuchten auch zwei Mitarbeiter der Rockefel-ler Foundation die Ausstellung. Sie waren so beeindruckt,dass sie die Initiatorin kennenlernen wollten. Diese hattemittlerweile schon neue Pläne. Die Internationale Jugend-buchausstellung sollte in eine ständige Internationale Ju-gendbibliothek überführt werden. Sie trug ihre Pläne denamerikanischen Besuchern vor, die sie um eine schriftlicheAusarbeitung baten.
Im Mai 1947 legte Jella Lepman ein Memorandum vorund skizzierte darin ihre Pläne für die Internationale Ju-gendbibliothek: Die Bücher der Ausstellung sollten denGrundbestand der Bibliothek bilden, die sie sich als inter-nationale Lesestube mit Zweigstellen vorstellte, in denennicht nur Bücher, sondern auch Kinderbilder gesammelt
würden. Sie wollte an denBücherspenden festhalten.Dabei schwebte ihr ein in-ternationales Komitee vonunabhängigen Jugendor-ganisationen vor, das dieBibliothek mit den bestenBüchern aus ihren Ländernversorgen sollte. Sie wün-schte sich einen Bestands-aufbau „durch die Jugendfür die Jugend“. In Zusam-menarbeit mit der Univer-sität sollte außerdem diepädagogische und psy-chologische Kindheitsfor-schung verstärkt werden.7
Die Rockefeller Founda-tion zeigte sich interessiertund lud Jella Lepman zueiner Vortragsreise in dieUSA ein. In zahlreichenGesprächen bekam sie für
ihr Bibliotheksprojekt Unterstützung zugesagt. Die Ameri-can Library Association versprach fachliche Hilfestellung(und sollte später regelmäßig Bibliothekarinnen nachMünchen schicken) und die Rockefeller Foundation wollteeine Anschubfinanzierung prüfen (und sagte sie 1948 zu).Ein Glücksfall war, dass Eleanor Roosevelt das Engage-ment Jella Lepmans öffentlich lobte und die Amerikaner inder New York Herald Tribune mit den Worten „we have togive them food for thoughts” aufrief, das Projekt mitBuchspenden zu unterstützen.
Zurück in Deutschland machte sich Jella Lepman auf dieSuche nach einem Quartier und entdeckte auf ihren Fahr-ten durch das zerbombte München eine heruntergekom-mene Stadtvilla in einem verwilderten Garten in der Kaul-bachstraße unmittelbar neben der Bayerischen Staatsbi-bliothek. Das Haus gehörte dem Bayerischen Kultusminis-terium, das nach Monaten intensiver Korrespondenz vorJella Lepmans Hartnäckigkeit kapitulierte und das Hauszur Renovierung freigab. Zudem hatte Lepman mittlerwei-le mehrere Stadtpolitiker, Ministerialbeamte und promi-
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nente Intellektuelle für ihre Idee gewonnen. Darunter wa-ren Erich Kästner, seine Lebensgefährtin Luiselotte Ender-le, Hildegard (Hamm-) Brücher und Franz Stadelmayer. ImDezember 1948 gründeten sie mit weiteren Weggefährtendie „Vereinigung der Freunde der Internationalen Jugend-bibliothek“, die zum Träger der Bibliothek wurde.
Die Vereinigung gab sich eine Satzung, in der die Zieleder Internationalen Jugendbibliothek festgeschriebenwurden. Diese wichen von dem Memorandum, das JellaLepman 1947 entworfen hatte, in wichtigen Punkten ab.Von einem internationalen Jugendkomitee, dem man denBestandsaufbau in die Hände legen wollte, war keine Redemehr. Auch die universitäre Zusammenarbeit auf dem Ge-biet der pädagogischen und psychologischen Kindheits-forschung wurde nicht erwähnt. Die Bibliothek sollte „dieinternationale Verständigung der Jugend durch das Ju-gendbuch“ fördern, durch Bücher „Fremdsprachen undandere Lebensformen“ vermitteln, bei Eltern und ErziehernVerständnis für die Jugendliteratur wecken und Autoren,Illustratoren, Verleger, Bibliothekare und Buchhändler aufdem Feld der Kinderliteratur beraten.8
Jella Lepman bedauerte später in ihrem Lebensbericht„Die Kinderbuchbrücke“, dass ihre internationale Vision,die sie in dem ersten Planungspapier niedergelegt hatte,nicht vollständig realisiert werden konnte.9 Gleichwohlmuss es eine der glücklichsten Stunden ihres Lebens ge-wesen sein, als die Internationale Jugendbibliothek am 14.September 1949 endlich ihre Tore öffnete. Die Sorge umden Weltfrieden und die Liebe zu den Kindern waren dasFundament, auf dem sie entstanden war.
Erich Kästner
bei einer Lesung
in der Internationalen
Jugendbibliothek,
ca. 1952
Villa in der
Kaulbachstraße 11a
um 1950
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Die Internationale Jugendbibliothek wurde ein offenesHaus für die Nachkriegskinder Münchens und zum Zen-trum für eine international vernetzte Kinder- und Jugend-buchkultur. Die lesehungrigen Kinder und Jugendlichenkamen in Scharen und belagerten die Regale, in denen dieBücher frei zugänglich im Länderalphabet standen. DieFreihandaufstellung der Public Libraries, die Jella Lepmanin Amerika gesehen hatte, diente als Vorbild. An den Wän-den und im Treppenbaus hingen dicht gedrängt 600 Kin-derzeichnungen aus 22 Ländern, im Dachgeschoss konn-ten Kinder in einem Malstudio an Staffeleien arbeiten.
In Buchbesprechungsclubs redeten die 11- bis 14-jähri-gen Teilnehmer über „Pippi Langstrumpf“ und die „Schatz-insel“, während die 14- bis 17-Jährigen über Klassiker derWeltliteratur von Dostojewski, Steinbeck und Camus dis-kutierten.10 Die „Vereinten Nationen der Kinder“ wähltenChefdelegierte und Sekretäre und debattierten über Kin-derrechte und das autoritäre Schulsystem. Erich Kästnerleitete eine Theatergruppe, der Bayerische Rundfunk be-richtete von Autorenlesungen. Mehrmals wöchentlich gabes Vorträge zu kinderpsychologischen und pädagogischenThemen.
Konservative Pädagogen fanden den freien Geist desHauses zwar unverantwortlich, aber die begeistertenStimmen überwogen. Die Bibliothek sei eine „Pflanzstättedes Friedens“, eine „Schule der Menschlichkeit“11,schwärmte der Schriftsteller Hellmut von Cube, und seineKollegin Berta Landré bezeichnete das Haus eine „Insel desFriedens“12. Was abenteuerlich begann und mit Leiden-schaft und innerer Überzeugung durchgesetzt wordenwar, fand in den 50er-Jahren endlich auch eine institutio-nelle Verankerung. Heute ist die Internationale Jugendbi-bliothek die größte Bibliothek für internationale Kinder-und Jugendliteratur der Welt und hat ihren Sitz im spät-mittelalterlichen Schloss Blutenburg.
Anmerkung
Jella Lepman, Die Kinderbuchbrücke. (Erstausgabe bei1.S. Fischer 1964) Sonderauflage. München, Verein In-ternationale Jugendbibliothek 1999, S. 51.Ebd., S. 47.2.So der Titel ihres autobiographischen Lebensberichts.3.Johann Schlemminger beschrieb die Ausstellung aus-4.führlich im Börsenblatt für den Deutschen Buchhan-del Nr. 5; 15. März 1947. Er bedauerte, dass sich Russ-land nicht beteiligt hatte.Jella Lepman, Die Kinderbuchbrücke, S. 83.5.Vgl. Schlemminger.6.Lepman, Die Kinderbuchbrücke, S.118ff. 7.Vgl. Korrespondenz im Hausarchiv, HA 1.1.8.Jella Lepman, Die Kinderbuchbrücke, S. 122.9.UNESCO Bulletin for Libraries, Vol. VI, No. 7, July 1952.10.Hellmut von Cube, Erfolge der internationalen Ju-11.gendbibliothek. Eine überzeugende Einrichtung derNachkriegszeit wartet auf Unterstützung durch dasGastland. In HA 60.2).Berta Landré, Eine Insel des Friedens. Yella Lepman12.und die Internationale Jugendbibliothek in München.In: Frankfurter Rundschau, 25.9.1950.
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DIE AUTORIN:
Dr. Christiane Raabe ist Direktorin der Internationalen Jugendbibliothek.
Buchbesprechungsgruppe
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