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Zur Frage der „esoterischen“ Philosophie Platons

Date post: 14-Dec-2016
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Zur Frage der „esoterischen" Philosophie Platons von KURT VON FRITZ (München) Seit mein in Band IX, S. 117—153 der Zeitschrift Phronesis (1966) veröffentlichter Aufsatz über den siebten platonischen Brief und die „esoterische'' Philosophie Platons niedergeschrieben wurde, sind eine Reihe von wertvollen Beiträgen zu dieser Frage erschie- nen, die zu ihrer weiteren Klärung beigetragen haben und zu denen Stellung zu nehmen sich daher lohnt: vornehmlich eine Abhandlung von H. G. Gadamer, ,,Dialektik und Sophistik im siebten platoni- schen Brief", die, ohne sich mit den neuesten Angriffen auf die Echtheit der philosophischen Stelle des siebten Briefes eingehender auseinanderzusetzen, zum Teil von ganz ähnlichen Betrachtungen ausgeht wie mein Beitrag und am Ende zu sehr wertvollen Über- legungen kommt, sowie ein Aufsatz von Klaus Oehler, „Der ent- mythologisierte Platon" in der Zeitschrift für philosophische For- schung XIX (1965), S. 393—420. Während Gadamer ebenso wie ich die Bedeutung einer sorgfältigen Untersuchung der indirekten Überlieferung über Platons Alterslehre anerkennt, aber davor warnt, die Dialoge und diese Zeugnisse auseinanderzureißen, feiert Oehler die Wiederentdeckung der „esoterischen" Lehren Platons als das große Ereignis der modernen Platonforschung und schreibt den Dialogen Platons wesentlich nur den Charakter von „Mitteln der Öffentlichkeitsarbeit der Akademie" bzw. „Werbeschriften mit gleichzeitig propaedeutisch-protreptischer und . . . politischer Funktion" zu (S. 417). Da Oehler sehr viel weiter geht als Gadamer, ist es vielleicht zweckmäßig, zunächst an ihn anzuknüpfen. Er gibt zunächst einen sehr guten Überblick über die Geschichte der modernen Platon- interpretation seit Schleiermacher, wobei er jeweils sowohl das Einseitige der Interpretationsversuche der verschiedenen Epochen und Schulen als auch den positiven Beitrag, den sie zum Verständ- nis der Philosophie Platons geleistet haben, herauszustellen ver- sucht. Das sollte eigentlich davor warnen, den neuesten Interpre- tationsversuch, statt ihn als eine begrüßenswerte Ergänzung zu den bisherigen Versuchen, die Philosophie Platons zu erfassen, zu be- trachten, was er zweifellos ist, als die erlösende Entdeckung des eigentlichen Kerns der platonischen Philosophie zu feiern, obwohl Brought to you by | University Library Technische Universitaet Muenchen Authenticated | 129.187.254.46 Download Date | 10/4/13 3:50 PM
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Zur Frage der „esoterischen" Philosophie Platonsvon KURT VON FRITZ (München)

Seit mein in Band IX, S. 117—153 der Zeitschrift Phronesis(1966) veröffentlichter Aufsatz über den siebten platonischen Briefund die „esoterische'' Philosophie Platons niedergeschrieben wurde,sind eine Reihe von wertvollen Beiträgen zu dieser Frage erschie-nen, die zu ihrer weiteren Klärung beigetragen haben und zu denenStellung zu nehmen sich daher lohnt: vornehmlich eine Abhandlungvon H. G. Gadamer, ,,Dialektik und Sophistik im siebten platoni-schen Brief", die, ohne sich mit den neuesten Angriffen auf dieEchtheit der philosophischen Stelle des siebten Briefes eingehenderauseinanderzusetzen, zum Teil von ganz ähnlichen Betrachtungenausgeht wie mein Beitrag und am Ende zu sehr wertvollen Über-legungen kommt, sowie ein Aufsatz von Klaus Oehler, „Der ent-mythologisierte Platon" in der Zeitschrift für philosophische For-schung XIX (1965), S. 393—420. Während Gadamer ebenso wieich die Bedeutung einer sorgfältigen Untersuchung der indirektenÜberlieferung über Platons Alterslehre anerkennt, aber davorwarnt, die Dialoge und diese Zeugnisse auseinanderzureißen, feiertOehler die Wiederentdeckung der „esoterischen" Lehren Platonsals das große Ereignis der modernen Platonforschung und schreibtden Dialogen Platons wesentlich nur den Charakter von „Mittelnder Öffentlichkeitsarbeit der Akademie" bzw. „Werbeschriftenmit gleichzeitig propaedeutisch-protreptischer und . . . politischerFunktion" zu (S. 417).

Da Oehler sehr viel weiter geht als Gadamer, ist es vielleichtzweckmäßig, zunächst an ihn anzuknüpfen. Er gibt zunächst einensehr guten Überblick über die Geschichte der modernen Platon-interpretation seit Schleiermacher, wobei er jeweils sowohl dasEinseitige der Interpretationsversuche der verschiedenen Epochenund Schulen als auch den positiven Beitrag, den sie zum Verständ-nis der Philosophie Platons geleistet haben, herauszustellen ver-sucht. Das sollte eigentlich davor warnen, den neuesten Interpre-tationsversuch, statt ihn als eine begrüßenswerte Ergänzung zu denbisherigen Versuchen, die Philosophie Platons zu erfassen, zu be-trachten, was er zweifellos ist, als die erlösende Entdeckung deseigentlichen Kerns der platonischen Philosophie zu feiern, obwohl

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CM- doch in der Tendenz, gerade das am wenigsten zuverlässig Über-lieferte als das Wertvollste, das wir haben, zu betrachten, schon reinäußerlich die deutlichsten Anzeichen der Einseitigkeit an sich trägt.Freilich ist es in einer Zeit, in welcher selbst in der Wissenschaft derReiz des Neuen alle ändern Aspekte einer Sache zu überstrahlenl)flogt, ein fast hoffnungsloses Unternehmen, eine neue Theorie vonAnfang an auf ihr richtiges Maß zurückführen zu wollen, stattdreißig Jahre zu warten, bis diese Zurückführung wieder als ganzneue Theorie aller Welt verkündet werden kann, so wie die sehrberechtigte Einschränkung der Gültigkeit ebenso wie die ganz undgar imberechtigte völlige Ablehnung oder Nichtberücksichtigungauch der gesicherten Ergebnisse der vor zwei bis drei Generationenals das damals sensationell Neue im Vordergrund der Beachtungstehenden Entwicklungstheorie jetzt als der eigentliche Schlüsselzum Verständnis Platons gegenüber den „traditionellen", d. h.völlig veralteten, früheren Erklärungsversuchen angepriesen wird.Aber im Interesse derer, denen mehr an Einsicht als an der Sensationdes Neuen gelegen ist, ist es, wenn auch nicht klug, so doch vielleichteine Pflicht, schon jetzt den Versuch zu machen, zwischen dem zuunterscheiden, was an den neuen Theorien gut und fruchtbar ist,und dem, worin sie über das Ziel hinausschießen und das Richtigeverfehlen. Es ist daher wohl um so mehr gerechtfertigt, auf die Fragenoch einmal zurückzukommen als die Ausführungen Oehlers undGadamers sich in mancher Hinsicht ergänzen und zusammen aufganz prinzipielle Fragen hinführen, die in meinem ersten Aufsatzgegenüber den spezielleren Problemen etwas vernachlässigt wordensind.

K. Oehler hat in seiner Abhandlung nicht nur einen sehr gutenÜberblick über die bisherigen Hauptströmungen der Platoninter-pretation gegeben, sondern auch das, was an der neuen TheorieKrämers richtig und fruchtbar ist, wie mir scheint, sehr vielkonziser und sozusagen von verunreinigenden Zutaten freier dar-gestellt als dies dem ersten Urheber der Theorie selbst gelungen ist.Vor allem spielt die unglückselige Vorstellung von einer absichtlichenGeheimhaltung seiner tiefsten Gedanken durch Platon hier nur nocheine untergeordnete Rolle und wird unter dem „Esoterischen" imwesentlichen einfach das verstanden, was Platon in seinen Dialogennicht behandelt hat, sei es, weil er nicht mehr dazu gekommen ist,sei es, weil es sich überhaupt schwer in schriftlicher Form mitteilenließ, und von dem wir daher nur indirekt aus Nachrichten über seinemündlich geführten Diskussionen Kenntnis haben. Um das Verhält-

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nis zwischen diesen und den Dialogen zu bezeichnen, benützt Oehler(S. 415) einen, wenn man von der gerade hier leider auftauchendenAnlehnung an die Vorstellung von der absichtlichen Geheimhaltungabsieht, sehr glücklichen Vergleich, indem er sagt, man habe bei derLektüre der platonischen Dialoge „oft das Gefühl, daß man es miteinem Eisberg zu tun habe, dessen sehr viel größerer Teil unsichtbarist, mit ändern Worten, daß hinter den Dialogen eine große Kon-zeption steht, die alles in den Dialogen Gesagte umklammert undumgreifend zusammenhält". Im Anschluß daran spricht Oehler voneinem System der platonischen Philosophie, das sozusagen hinterden Dialogen stehe und nur in Platons mündlichen Diskussionenvoll zur Entfaltung gekommen sei.

Auch darin liegt etwas durchaus Richtiges. Es kann kein Zweifeldaran bestehen, daß alle die verschiedenen logischen, metaphysisch-ontologischen, kosmologischen, ethischen und sogar politischen Pro-bleme, die Platon in seinen späteren Dialogen behandelt, mitein-ander in dem Zusammenhang einer großen umfassenden Konzeptionstehen, die in keinem einzelnen Dialog als solche diskutiert wird.Es ist auch nicht ganz unberechtigt, wenn Oehler die Annahme einessolchen Zusammenhangs in der Philosophie Platons gegen den Ein-wand, Platon habe kein System gehabt und die Vorstellung vonphilosophischen Systemen habe es zur Zeit des Platon und Aristo-teles überhaupt noch nicht gegeben, mit der Bemerkung verteidigt,man dürfe den Begriff des Systems nicht zu eng fassen und jedes nichtzufällige fragmentarische Denken sei in gewisser Weise ein System.

Aber genau an dieser Stelle beginnt erst das wirkliche Problem.Denn nun erhebt sich die Frage, ob eine Philosophie solcher Art ist,daß dieser innere Zusammenhang direkt dargestellt werden kannoder vielmehr so beschaffen, daß er sich nur durch die Behandlungder vielen Einzelaspekte hindurch sichtbar machen läßt. Auf dieseSchwierigkeit weist auch eine Bemerkung Gadamers hin (S. 31), dieOehler (S. 405) sich zu eigen gemacht hat und die er dazu benutzt,den Grund dafür anzugeben, warum Platon sich bei der Behandlungder Frage des letzten Zusammenhangs auf mündliche Diskussionbeschränkt und eine schriftliche Fixierung seiner Lehre vermiedenhabe. Bei dem Versuch der Fixierung nämlich könne leicht der An-schein eines dürren Schematismus entstehen, welcher „bei derMasse der Unbegabten zu der bloß technischen Fertigkeit desSchematisierens führt und gerade das Höchste, um dcssentwillcndie Struktur der Ideen überhaupt aufgezeigt wurde, nämlich dienoetische Erkenntnis des Ursprungs, hätte vergessen lassen".17 Arch. Gesch. Philosophie Bd. 49

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Das ist wiederum im wesentlichen eine recht gute und zutreffendeBeobachtung, wenn man sich nur klar macht, daß es sich dabei umeine in der Sache liegende Schwierigkeit handelt, für welche dieFragr der absichtlichen Geheimhaltung ganz unwesentlich ist, unddaß — was grundlegend wichtig ist — bei einer doch erfolgten schrift-lichen Fixierung der mündlichen Diskussionen naturgemäß vorallem die Schematismen übrig bleiben mußten, was ja auch ganzoffenbar der Fall ist. Nun ist es gewiß für uns von Wert, auch nurdiese Schematismen zu besitzen und es ist das wirkliche sehr be-trächtliche Verdienst H. J. Krämers, auf den Wert dieses Besitzesmit aller Energie hingewiesen zu haben. Aber man darf darüberdoch auch die Konsequenz der Tatsache nicht vergessen, daß wireben von der mündlichen Alterslehre Platons im wesentlichen nurdie Schematismen und nicht ,,die noetische Erkenntnis des Ur-sprungs" haben und dies aus sehr triftigen Gründen.

Die Vorstellung von der Masse der Unbegabten, welche mit denSchematismen nichts Rechtes anzufangen wissen, gibt, wenn wiruns selbst zu den ,,Begabten" rechnen, gewissermaßen die Möglich-keit, uns in die Akademie aufnehmen zu lassen, und — freilich ohnedie persönliche Führung Platons — den Versuch zu machen, vonden bloßen Schematismen aus, wie die Adepten der Zeit Platonsselbst, zu der ,,noetischen Erkenntnis des Höchsten" zu gelangen.Aber auch hier kommt es auf die Bedingungen an. Bei der heuteüblichen Teilung der Gebiete gilt es im allgemeinen als die Aufgabedes Philologen, einen philosophischen Text so zu interpretieren,daß das, was in ihm gemeint ist, so klar wie möglich gemacht wird,aber unter keinen Umständen irgend etwas Eigenes in ihn hinein-zulegen, während der Philosoph das Recht und als selbständigerDenker auch die Pflicht hat, an die Gedanken eines Vorgängersanknüpfend darüber hinaus zu denken. Nun hat es freilich mit derscharfen Abgrenzung dieser beiden möglichen Haltungen einemüberlieferten Text gegenüber seine Schwierigkeit. Die Begrenzungder philologischen Tätigkeit kommt vielleicht besonders scharf zumAusdruck in einer Antwort, die der Aristoteleskommentator DavidROSS einmal in meiner Gegenwart einer Studentin gab, die ihn fragte,ob er eine aristotelische Theorie, die er in einem Vortrag ausführlichzu interpretiren gesucht hatte, auch für richtig halte: „My dearchild, you must not ask me such questions. I merely try to find outwhat was in Aristotle's mind. To decide whether it is true or falseis not my business but that of the philosophers". Es dürfte jedochschwierig sein, was ein philosophischer Autor gemeint hat, mit

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einiger Sicherheit zu beantworten, ohne die Frage der Richtigkeit,wenigstens in dem Sinne, ob das Gesagte zu der auch uns zugäng-lichen Erkenntniswelt eine einigermaßen verständliche Beziehunghat, überhaupt zu stellen. Die Grenze zwischen philologischer undphilosophischer Interpretation läßt sich daher kaum mit vollerSchärfe ziehen.

Trotzdem hat das dem philologischen Interpreten auferlegteTabu, unter keinen Umständen etwas Eigenes in den zu interpre-tierenden Text hineinzutragen, einen guten Sinn. Denn wenn derInterpret allzu schnell bereit ist, einen ihm sachlich einleuchtendenZusammenhang in dem zu interpretierenden Text wiederzufinden,begibt er sich in Gefahr, gerade die besondere, nicht so leicht zuerfassende, unter Umständen tiefere Einsicht des Verfassers derSchrift zu verfehlen. Wo nun, wie in dem Falle der indirekt über-lieferten Fragmente von Platons Alterslehre nicht nur die persön-liche Führung des Autors, die den Mitgliedern der Akademie zuteilwurde, fehlt, sondern auch die ursprünglich mitgegebenen näherenTeilerklärungen mit Notwendigkeit fehlen, erscheint es mithin inbesonderem Maße geboten, alles, was aus direkten anderweitigenZeugnissen des Autors selbst — und das sind in diesem Falle dieDialoge — entnommen werden kann, auf das Sorgfältigste heran-zuziehen, was denn auch z. B. von K. Gaiser dankenswerterweisein beträchtlichem Umfang getan worden ist1. Dagegen darf man

1 Im Gnomon XXXVII (1965), S. 131—144 hat K.-H. ILTING das Buch vonK. Gaiser einer sehr scharfen Kritik unterzogen, die, wie mir scheint, \vesentlichüber das Ziel hinausgeht, und zwar vor allem dadurch, daß Ilting die Übertrei-bungen Krämers sowohl hinsichtlich des geheimen Charakters der „esoterischen"Philosophie Platons als auch hinsichtlich der unmittelbaren philosophischenBedeutung der darüber erhaltenen indirekten Zeugnisse dem allerdings an Krä-mer anknüpfenden Gaiser voll zur Anrechnung bringt, während mir das VerdienstGaisers gerade darin zu bestehen scheint, daß er diese Übertreibungen, wennnicht ganz, so doch weitgehend vermieden hat und weder von einer Geheimlehrespricht noch die Dialoge vernachlässigt oder abzuwerten versucht.

Doch hat Ilting wohl insofern bis zu einem gewissen Grade recht als auchGaiser der Gefahr, in den Schematismen den Hauptwert der ,,esoterischen"Philosophie Platons zu sehen und deshalb vor allem nach neuen Schematismenund von Verbindungen von solchen Ausschau zu halten, nicht ganz enlgangenist. Da hier, wie mir scheint, aus vielfachen Gründen sehr viel darauf ankommt,die Trennungsstriche scharf zu ziehen, ist es vielleicht erlaubt, wenigstens an-merkungsweise noch etwas darauf einzugehen. Eine besonders heftige Kritikrichtet Ilting gegen die Ausführungen Gaisers über die Rolle der sogenanntenDimensionenfolge in der Form, Zahl, Linie, Fläche, Körper in der „esoterischen"Philosophie Platons. Auch hier scheint mir Ilting über das Ziel hinauszu-schießen, wenn er die Beweiskraft einer Stelle wie Aristoteles de anima l, 2,

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vielleicht bezweifeln, ob es eine besonders gute Voraussetzung fürdas Bestehen der Aufnahmeprüfung in den Kreis der Adepten ist,wenn man eine zentrale Stelle in einem platonischen Dialog, die inhervorragendem Maße zur Ausfüllung eines bloßen Schematismusgeeignet ist, als ,,philosophischen Halbunsinn" bezeichnet2.

404b, IG—27 mit ihrem Hinweis auf eine genauere Diskussion der platonischenLehre in Aristoteles* eigener Schrift wegen der Verwechslungder aristotelischen Schrift mit Platons Vorlesung durch dieantiken Aristoteleskommentatoren einfach leugnet, während allerdings weitereVersuche Gaisers, das Überlieferte durch eigne Konstruktionen weiterer Zu-sammenhänge zu ergänzen, von weniger sicherer Gültigkeit sind. Immerhinkann kaum ein Zweifel sein, daß die Dimensionenfolge in der ,,esoterischen''Philosophie Platons eine nicht unbeträchtliche Rolle gespielt hat, und die Ver-suche, mehr darüber in Erfahrung zu bringen, sind daher, auch wenn sie nichtsogleich in jeder Hinsicht zum Ziele führen, durchaus legitim.

Eine wirkliche Gefahr dagegen scheint mir in etwas anderem zu liegen. Soviel ich sehen kann, ist es bisher weder Gaiser noch einem anderen Vertreter derneuen Forschungen gelungen zu zeigen, inwiefern die nur in vagen Andeutungenerhaltenen ontologischen Spekulationen Platons im Anschluß an die Dimensio-nenfolge auch für uns einsichtig zu machende philosophische Erkenntnisseenthält. Wenn dies gelingt, wird es eine sehr bedeutsame Leistung sein. Aber eskann nicht ersetzt werden durch die bloße Behauptung, daß diese Schematismenund die Spekulationen über ihre Beziehungen untereinander außerordentlichtiefsinnig seien, ohne daß dies wirklich überzeugend aufgewiesen wird. SolcheBehauptungen, die bei Gaiser kaum zu finden sind, aber bei Krämer und leiderauch bei Oehler eine beträchtliche Rolle spielen, mögen zwar die eifrige Zustim-mung der Bewunderer von des Kaisers neuen Kleidern bewirken, die es zu allenZeiten in großer Zahl gegeben hat. Aber sie sind auch geeignet, bei anderen ebenjene „ganz unberechtigte Verachtung" der Gegenstände von Platons Denkenhervorzurufen, von der dieser selbst im siebten Briefe spricht. Es kann ja kaumein Zweifel daran bestehen, daß der seit einigen Jahren weit verbreitete Anti-platonismus zu einem beträchtlichen Teil auf das gerade in den vorangehendenJahrzehnten verbreitete überschwengliche Lobpreisen Platons bei gleichzeitigmangelnder lebendiger philosophischer Interpretation zurückzuführen ist. Vondiesem Gesichtspunkt aus bedeutet auch die ebenfalls von Oehler bis zu einemgewissen Grade verteidigte Rückkehr zu der wirklich veralteten Vorstellungvon einem seit früher Jugend in Platons Kopfe fertigen System, das Platon dannnur noch in seinen Dialogen in pädagogischer Reihenfolge ausgearbeitet und vor-gelegt habe, eine Gefahr. Dies bedeutet in Wirklichkeit eine Rückkehr zu derVorstellung von einem Schopenhauer ähnlichen platonischen System, die vonOehler selbst abgelehnt wird, und vernachlässigt gerade das, was das Wichtigstean Platons Philosophieren ist, den unaufhörlichen Willen zum erneuten Durch-denken und damit auch zur Selbstkorrektur, der auch in Platons politischenSchriften so deutlich hervortritt. Damit wird weder dem Verständnis noch derGeltung Platons ein Dienst getan.

2 H. J. KRÄMER, Avete bei Platon und Aristoteles, Heidelberg, 1959, S. 473 unddazu Phronesis V (1966), S. 148 ff.

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Auf der ndern Seite stehen dann die Schematismen selbst, dieReden von der Einheit und der unbestimmten Zweiheit oder demGro en und Kleinen, die verschiedenen Versuche, die Ideen aufZahlen zur ckzuf hren oder zu Zahlen in Beziehung zu setzen, diedoch keine Z hlzahlen sind, die Versuche, eine Beziehung herzu-stellen zwischen den Dimensionen und den Erkenntnistypen sowieden Seinsbereichen, die Spekulationen ber den Seinsvorrang derGattung gegen ber der Spezies, da mit der Gattung auch die Speziesaufgehoben wird, aber nicht umgekehrt, und dergleichen mehr, wasalles in den neuen Untersuchungen ausf hrlich behandelt wird.Auch dar ber steht bei Oehler etwas sehr Richtiges und Wichtiges,wenn er (S. 411) sagt: „Die Zweiheit ist Prinzip der Vielheit. DieZwei ist der erste Fall einer Menge. Mit ihr nehmen alle anderenVielheiten ihren Anfang. Sie selbst aber, als Zahl zwei, ist bereitsfestgelegt, ist begrenzt. Sie selbst schreitet nicht fort zu unbestimm-ter Vervielf ltigung. Deshalb macht Platon nicht sie, die Zahl zwei,zum Prinzip der Vielheit, sondern die unbestimmte Zweiheit. W h-rend die Eins als absolut Einfaches unteilbar ist, ist die UnbestimmteZweiheit grunds tzlich unbegrenzt teilbar. Damit glaubt Platondie Prinzipien der Zahl gefunden zu haben und mit ihnen die Prin-zipien alles Seienden". Dies ist wirklich ein ganz zentraler Punktund hier l t sich auch eine einleuchtende Beziehung zu dem berdie Idee des Guten Gesagten herstellen. Das Gute ist immer eineHarmonie, also eine Ordnung und damit eine Einheit in der Mannig-faltigkeit. Nach dieser Ordnung hat Platon sein ganzes Leben langgesucht. Die Schwierigkeit bei diesem Unternehmen liegt jedochin jener Tatsache, die Heraklit mit so unvergleichlicher Pr gnanzin dem Wort ausgesprochen hat: αρμονία αφανής φανερας κρείττων.Darin liegt auch die Warnung vor der Gefahr, bei den Schematismenstehen zu bleiben und diese als der Weisheit letzten Schlu anzu-staunen.

Daraus ergibt sich ferner, welche verschiedenen Haltungen manden neuen Entdeckungen gegen ber einnehmen kann, wenn mansie nicht ungerechtfertigterweise einfach v llig beiseite schiebenwill, und was von diesen verschiedenen Haltungen zu halten ist.Die erste M glichkeit ist die, eben das zu tun, was Platon bef rchtethaben mag, wenn die Ergebnisse seiner Diskussionen in die H nde„der Masse der Unbegabten" fielen, n mlich die Schematismen f rdas Eigentliche und Wesentliche zu halten, zu meinen, Wunderwas f r tiefe Einsichten man damit gewonnen habe, und sich daranzu berauschen, was nur zu jener Art des Ahnens f hren kann, die

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Nietzsche mit Recht als ,,äncn" bezeichnet hat. Mir scheint, daßdie neueren Beiträge bei allen unbezweifelbaren Verdiensten um dieRekonstruktion der „esoterischen" Philosophie Platons aus denerhaltenen Fragmenten dieser Gefahr nicht immer ganz entgangensind, was vielleicht auch in den unaufhörlichen Versicherungen/um Ausdruck kommt, wie ungeheuer neu und wichtig das alles seiund wie erst diese neuesten Entdeckungen das tiefste Geheimnisder Philosophie Platons enthüllten, was alles ja gar nicht nötigwäre, wenn diese tiefe Erkenntnis in präziser Form unmittelbar inErscheinung träte.

Die zweite Möglichkeit ist die, den Versuch zu machen, von denaus den Altersdiskussionen Platons vornehmlich erhaltenen Sche-matismen ausgehend mit Hilfe der Dialoge die Schematismen so-weit als möglich auszufüllen und sich jener auch von Oehler be-rufenen noetischen Einsicht, die bei Platon immer das eigentlicheZiel seines Philosophierens ist, wenigstens zu nähern. Diesen Ver-such hat vor allem Gaiser gemacht, wobei er sich freilich vornehm-lich auf denjenigen der platonischen Dialoge gestützt hat, denTimaios, in welchem selbst Schematismen eine außergewöhnlichgroße Rolle spielen. Doch ist dies als Anfang des Weges durchaus inder Ordnung, sofern dieser Anfang nicht sogleich als Ende des We-ges betrachtet wird, wogegen sich auch Gaiser selbst ausdrücklichverwahrt hat.

Die dritte Möglichkeit endlich ist die, den Sprung von der reinphilologischen zur eigentlich philosophischen Interpretation, dieals solche notwendigerweise auch immer zugleich eine Auseinander-setzung mit dem Gegebenen ist, zu wagen und die Frage zu stellen,was die zuvor mit aller Vorsicht und Sorgfalt soweit als möglichrekonstruierte Philosophie uns in bezug auf die uns in unsererSituation beschäftigenden und bedrängenden Probleme zu sagenhat. Darauf soll hier zum Schluß im Anschluß an einige Ausfüh-rungen Gadamers in der zu Anfang erwähnten Abhandlung nochkurz eingegangen werden.

Bei der Erörterung derjenigen Stelle des philosophischen Passusim siebten Brief, an der vom oder der Definition die Redeist, kommt Gadamer darauf zu sprechen3, daß im Gegensatz zu derUnbestimmtheit der Wortbedeutung doch gerade die Definition denZweck zu haben scheint, die Bedeutung genau zu fixieren, so daßhier die Schwierigkeit nicht auftreten zu können scheint. Aber in

3 a. a. 0., S. 20ff.

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der weiteren Fortführung der Untersuchung kommt er zu dem Re-sultat, daß doch auch hier in bezug auf den eigentlichen Gegenstandder Erkenntnis eine vollständige Eindeutigkeit nicht zu erreichenist. Auch hier ist es vielleicht der Mühe wert, ein paar Sätze imWortlaut anzuführen (S. 22): „Was das Aufbauprinzip einer solchenOrdnung (d. h. eines klassifikatorischen Aufbaus des Systems allerIdeen) wäre, die Abhängigkeit des einen vom ändern, läßt sich zwaran dem platonischen Paradefall systematischer Ordnung, dem Ver-hältnis von Zahl, Punkt, Linie, Fläche und Körper, sehr schönzeigen, aber ob der über diese Wissenschaft führende Aufstieg zurhöchsten Einsicht in das Gute und der Abstieg von diesem mehrsind als ein ideales Programm ? . . . Am Ende soll vielleicht die Un-bestimmtheit der Zwei gerade auch das mit aussagen, daß es dieEindeutigkeit des Seinsaufbaus für uns nicht gibt", und weiterS. 23: ,,Eindeutige Zuordnung zwischen der Zeichenwelt, die wirbeherrschen und der Sachwelt, die ihr zugeordnet ist, um sie zubeherrschen, ist keine Sprache. Die ganze Möglichkeit der Spracheund des Sprechens beruht auf Vieldeutigkeit, und auf dem, was diespätere Grammatik und Rhetorik Metaphorik nennt".

Hier wird also von dem von Oehler als Kronzeuge für die Bedeut-samkeit der hauptsächlich in Schematismen bestehenden Überresteder esoterischen Philosophie Platons außerhalb der Dialoge ange-rufenen Gadamer der sehr begrenzte Wert dieser Schematismenfür diejenige Erkenntnis, auf die es eigentlich ankommt, hervor-gehoben und im Zusammenhang damit betont, daß die platonischeDialektik einen ganz anderen Gegenstand hat. Der Gegensatz wirdvon Platon in einem Dialog sehr scharf herausgestellt an jener mitRecht berühmten Stelle am Ende des sechsten Buches des Staates4,wo er das Verfahren der Mathematiker einerseits, der Dialektikerund Philosophen andererseits einander gegenüberstellt, und vonden ersteren sagt, daß sie gewisse Dinge, ohne sie weiter zu unter-suchen, als Grundlage nehmen, um von da zu dem zu kommen, aufdas sie von Anfang an ausgegangen sind, womit ihre Beweise unddie durch sie bewiesenen Lehrsätze gemeint sind, während für diePhilosophen das, was für die Mathematiker Grundlagen sind, nurAusgangspunkte sind, um von dort zu der eigentlichen aufzu-steigen.

Der Gegensatz, der hier statuiert wird, kann auch auf nichtspeziell platonische Weise bezeichnet werden. Aber es ist nicht ein

4 Platon, Staat, VI, 510c if.

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Gegensatz, der in irgendeiner Weise überwunden werden kann. Erist in unserer Zeit durch den Versuch, die Mathematik auf reineLogik zurückzuführen, nur noch radikaler geworden. Um die mitder Sprache unvermeidlich gegebene Mehrdeutigkeit zu vermeiden,bedeutet dies eine Reduktion auf reine Zeichen. Mit Hilfe der sogeschaffenen Symbolsprache ist es möglich, einen Mechanismus zuschaffen, der, solange man strikte innerhalb der Symbolsprachebleibt, zu allgemein verbindlichen Resultaten führt, die sich, alsvöllig objektiv fixiert, auch ohne Verlust von Mensch zu Menschmitteilen und übertragen lassen, so daß für sie das zentrale Problemdes siebten Briefes, das Problem der Übertragbarkeit und Mitteil-barkeit der Erkenntnis, nicht existiert oder nicht zu existierenscheint: nicht existiert, solange die Symbole leer bleiben, d. h. nurbedeuten, daß A immer A, B immer B bleibt, und zwischen ihnendie durch die logischen Operationssymbole bezeichneten Beziehun-gen bestehen; nur nicht zu existieren scheint, wenn A und B darüberhinaus einen Inhalt bekommen. Denn aufgrund der logischen Me-chanismen folgt nur, daß, wenn eine durch die Operationszeichenbezeichnete bestimmte Beziehung zwischen A und B und eine be-stimmte Beziehung zwischen B und C besteht, auch notwendigeine bestimmte Beziehung zwischen A und C bestehen muß. Aberwie Aristoteles im ersten Buch seiner Analytica Posteriora für alleZeiten gültig festgestellt hat, kann für die ersten Praemissen, ohnewelche der Mechanismus sozusagen nicht zu laufen beginnen kann,niemals durch den Mechanismus selbst bestimmt werden, ob einesolche Beziehung zwischen A und B besteht. Der Mechanismus kanndaher auch nicht davor schützen, daß im ersten Ansatz eine unzu-treffende oder ungenau oder nur teilweise zutreffende Beziehungzugrunde gelegt wird, was dann alle folgenden Ableitungen affi-ziert. Das zeigt sich auch in der Mathematik, wenn z. B. von G.Cantor in den ersten Ansätzen seiner Mengenlehre unscharfe An-nahmen über Wesen und Existenz aktual unendlicher Mengen ge-macht worden sind, die dann in der weiteren Ausarbeitung derLehre einerseits in Widersprüchen und Paradoxien, andererseitsin der Unlösbarkeit gewisser von ihm zunächst als leicht lösbarbetrachteter Probleme wie etwa der Identifizierung der Cardinal-zahl c mit einem bestimmten Alef der Alefreihe zum Vorscheingekommen sind. Die Formalisten unter den Mathematikern habendiese Schwierigkeit zwar durch die Einführung neuer Operations-regeln bzw. Beschränkungen der vorher angenommenen Opera-tionsregeln zu beseitigen versucht, durch welche die Widersprüche

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ausgeschaltet werden. Aber das so gewonnene widerspruchsfreieSystem bleibt, wie von den sogenannten Intuitionisten unter denMathematikern mit Recht betont worden ist, zu einem beträcht-lichen Teile leer: ein bloßes Spiel5. Diese bestehen darauf, nur mitsolchen „Mengen" zu arbeiten, die „konstruierbar" sind, d. h. beidenen das Ordnungsprinzip ihrer Erzeugung sich eindeutig fixierenläßt.

Aber auch die Intuitionisten unter den Mathematikern sindMathematiker im Sinne Platons: auch ihnen kommt es primär dar-auf an, von den zugrunde gelegten Prinzipien aus so schnell alsmöglich zu einem konstruktiven System zu gelangen. Auch sie sindgeneigt, die Art von Untersuchung, die Platon den Philosophenund Dialektikern zuweist, eine Untersuchung, die darauf ausgeht,das Wesen der Gegenstände zu erfassen, auf welche sich das kon-struktive System der Mathematiker bezieht, als „bloß semantisch"zu betrachten und ihr einen ziemlich geringen Wert zuzumessen6.

Nun war Platon gewiß alles andere als ein Gegner der Mathe-matik. Im Gegenteil. Nach der bekannten Überlieferung soll erniemand in die Akademie zugelassen haben, der sich nicht mit

5 Vgl. dazu P. LORENZEN, Differenzial und Integral. Eine konstruktive Einführungin die klassische Analysis. Frankfurt a. M., 1965, S. 36f.

6 Höchst instruktiv für die Sachlage ist ein ausgezeichneter und sehr interessanterAufsatz von P. LORENZEN, ,,Methodisches Denken", Logique et Analyse, NouvelleSerie VI (1963), S. 219 ff. Hier findet sich auf der ersten Seite die folgende Be-merkung: ,,Platon hatte allerdings noch über die Anerkennung von Axiomen ge-spottet und in seiner Dialektik nach dem — wenn auch vergeblich —gesucht'1. Aber Platon ist weit davon entfernt, über die Axiomatik der Mathe-matiker zu spotten. Er betrachtet sie vielmehr als die notwendige Grundlagedieser von ihm außerordentlich hoch geschätzten Wissenschaft. Auch daß er inseiner Dialektik vergeblich nach dem gesucht habe, ist nur insofernrichtig, als diese ihrem Wesen nach nicht zu einer unmißverständlich übertrag-baren Erkenntnis, wie sie die axiomatische Mathematik, so weit sie formalistischbleibt, erreicht, führen kann. Er wollte vielmehr zwei verschiedene Erkenntnis-arten, die dialektisch-philosophische und die mathematisch-wissenschaftlichevoneinander unterscheiden, von denen er die erste allerdings als für den Men-schen als Menschen noch wesentlicher betrachtete.

Das Mißverständnis hinsichtlich Platons ist aber um so interessanter, alsLorenzen selbst auf eine ganz analoge Unterscheidung zweier Erkenntnisarienzielt. Dies ist im Schlußsatz seines Aufsatzes (S. 231) in sehr prägnanter Weiseauf folgende Weise ausgedrückt: „Trotz aller neuzeitlichen Logik und Wissen-schaft muß es für die Philosophie statt ,calculemus' immer noch und immerwieder heißen ,distinguamus'." Das ist genau, was Platon mit seiner Dialektikim Sinne hatte. Aber im Gegensatz zum calculare, das zu ein für allemal fest-gelegten Resultaten führt, muß das distinguere immer wieder von neuem vor-genommen werden.

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Mathematik beschäftigt hatte. Aber ebensowenig kann irgendeinZweifel daran bestehen, daü er die durch die dialektische Methode/u gewinnende Gegenstandserkenntnis noch höher eingeschätzt undals für den Menschen noch wichtiger betrachtet hat als die Ergeb-nisse* der Mathematik. Es ist ferner seine Entdeckung — bzw. dieseines Lehrers Sokrates, von dem er sie übernommen hat, um siedann auf neue Gegenstände auszudehnen — daß die logischenMechanismen auch dazu benützt werden können, um unklare(regenstandserkenntnisse zu klären, was durch die unaufhörlichePrüfung der von dem Gegenstand zu ändern Gegenständen herge-stellten Beziehungen daraufhin, ob sie auf Widersprüche führen,geschieht. Es liegt jedoch im Wesen dieser Art des Gebrauchs deslogischen Mechanismus im Gegensatz zu seiner Verwendung zurdeduktiven Ableitung von relationsbezeichnenden Sätzen aus än-dern Sätzen, daß sich hier nie mehr als ein approximatives Ver-ständnis erreichen läßt und die Möglichkeit des Mißverständnisses,von dem im siebten Brief und in den verwandten Diskussionen inden Dialogen so viel die Rede ist, immer offenbleibt. Aus eben die-sem Grund ist diese Art der Erkenntnis, die für den Menschen nichtminder wichtig ist als die eindeutig fixierbare, nicht ohne Verlustvon einem Menschen auf den ändern übertragbar.

Aber die konstruktiven mathematischen und die modernenmathematisierenden physikalischen Systeme sind durchaus nichtdie einzige Art vornehmlich auf der systematischen Feststellungvon Relationen beruhender Bemühung um Erkenntnis. Auch dieabstrahierend beschreibende Erkenntnis- und Mitteilungsmethodedes Aristoteles ist, obwohl ganz anders, doch in dieser Hinsichtderselben Art. Sie nimmt zwischen der exakt konstruierenden undbeweisenden und der sich den Gegenständen in einem Prozeß derApproximation nähernden Erkenntnis eine Art Mittelstellung ein.Das von Aristoteles in der Nikomachischen Ethik ausgesprochene7

Prinzip, daß man in der Ethik nicht zu genau sein wollen dürfe,scheint in direktem Widerspruch zu der Meinung Platons zu stehen,

7 Aristoteles, Eth. Nie. II, 2, 1104a, Iff. Was hier im folgenden gesagt wird, gilt,obwohl Aristoteles im ersten Buch der Nikomachischen Ethik an Platons Ideen-lehre Kritik geübt hat. Sein Bezugssystem ist ein etwas anderes (worüber vgl.K. v. FRITZ, Philosophie und sprachlicher Ausdruck bei Demokrit, Platon und Ari-stoteles, Neudruck, Wissensch. Buchgesellschaft, Darmstadt, 1961). Aber das vonPlaton über die Idee des Guten als exaktestes Maß Gesagte hat sein genaues Äqui-valent bei Aristoteles in dem Satz im 6. Buch der NE, 1141 a, lOff., daß die Weisheitdie exakteste aller Erkenntnisweisen sei.

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daß die Idee des Guten das exakteste Maß oder Kriterium ist. InWirklichkeit ist es die genaueste Ergänzung dazu. Es gibt in derEthik keine Kompromisse, so daß man ein wenig mehr oder wenigerrecht handeln könnte, ohne mit dem Prinzip des Guten und Rechtenin Konflikt zu geraten, und in einer gegebenen Situation gibt esnur eines, was letzterdings recht ist zu tun. Das ist es, woraufSokrates hinzuführen suchte und woran er sich in seinem Lebengehalten hat. Aber theoretisch und durch ein System Relationenfeststellender Sätze, d. h. durch das, was man in der Ethik einSystem der Kasuistik nennt, wird es niemals möglich sein, was injeder möglichen Situation zu tun recht ist, exakt zu fassen. Daherstammt auch auf einem nicht identischen, aber nahe verwandtenGebiet der in alle Ewigkeit für Menschen nie völlig lösbare Konfliktzwischen „richtigem" und geltendem Recht. Wie mit der dialek-tischen Methode des Sokrates und Platons so läßt sich auch mit derabstrahierend beschreibenden Methode des Aristoteles der eigent-liche Gegenstand nur einkreisen, oder wie Aristoteles sagt

, aber nicht exakt fixieren, womit weder gegen die Not-wendigkeit noch gegen den Nutzen dieser einkreisenden Bestim-mung ein Einwand erhoben ist.

Überall liegt hier ein fundamentales Problem menschlicher Er-kenntnis und ihrer Mitteilbarkeit zugrunde, das sehr der Beachtungwert, aber von dem modernen Szientismus im philosophischenBewußtsein weitgehend verdunkelt worden ist. Dieser Szientismusmöchte nur das absolut objektiv Festlegbare, ohne Verlust vonMensch zu Mensch Übertragbare, als Erkenntnis gelten lassen, was,wenn es sich durchführen ließe, nicht nur zu einer unerträglichenEinschränkung der menschlichen Erkenntnis, sondern auch zurZerstörung des eigentlich Menschlichen in der menschlichenExistenz führen würde8. Zu den damit zusammenhängenden Pro-blemen kann auch die Untersuchung der Überreste der ,,esoteri-schen' ', d. h. nicht auf dem Marktplatz mit jedermann, sondern ineinem engen Kreis von Philosophierenden veranstalteten Diskussio-nen Platons, einen Zugang bieten, und wenn dieser auf die rechteWeise benützt wird, nicht nur philosophiegeschichtlich, sondern imeigentlichen Sinne philosophisch fruchtbar werden. Aber die Voraus-bedingung dafür ist, daß die Schematismen, die von jenen Diskussio-nen in der indirekten Überlieferung fast allein übrig geblieben sind,

8 Vgl. dazu auch die ausgezeichneten Ausführungen von ERIC WEIL, ProbttmcsKantiens, Paris, 1963, S. 18 ff.

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268 K. v. Fritz

als nicht mehr genommen werden als was sie sind: Ausgangspunkte( ) nach der einen Seite für mögliche wissenschaftlicheSysteme, nach der ändern für dialektische Bemühungen, und daß sienicht selbst unmittelbar als tiefe Weisheiten betrachtet werden, diees anzustaunen gilt. Die Grenze zwischen der möglichen Fruchtbar-keit solcher Untersuchungen und ihrer unvermeidlichen völligenSterilität scheint mir genau da zu liegen, wo an die Stelle der Unter-suchung von Spuren der ,,esoterischen" (im eben genauer bestimm-ten einschränkenden Sinne) Diskussionen Platons der Glaube aneine Geheimlehre Platons tritt, die seine Adepten und wir nachihnen getrost nach Hause tragen konnten oder können und die vordem profanum Vulgus strikte geheim gehalten wurde.

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