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ZFA 07-08 2015 · Verrucae vulgares oder vulgäre Warzen sind benigne epitheliale Akanthome der...

Date post: 27-Oct-2020
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Z FA Zeitschrift für Allgemeinmedizin German Journal of Family Medicine Juli/August 2015 – Seite 289-336 – 91. Jahrgang www.online-zfa.de 7/8 / 2015 Im Fokus Hautkrebs-Screening: Hohe Ausgaben ohne Nutzennachweis Leitlinien: Kritik der DEGAM ist nicht gefragt Onkologie: Zu wenig Hausarzt in den Leitlinien Probiotika: Und sie helfen doch? Vulgäre Warzen: Wie behandeln? Organ der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), der Gesellschaft der Hochschullehrer für Allgemeinmedizin (GHA), der Salzburger Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SAGAM), der Südtiroler Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SüGAM), der Tiroler Gesellschaft für Allgemeinmedizin (TGAM) und der Vorarlberger Gesellschaft für Allgemeinmedizin (VGAM) Official Journal of the German College of General Practitioners and Family Physicians, the Society of Professors of Family Medicine, the Salzburg Society of Family Medicine, the Southtyrolean College of General Practitioners, the Tyrolean College of General Practitioners and the Vorarlberg Society of Family Medicine This journal is regularly listed in EMBASE/Excerpta Medica, Scopus and CCMED/MEDPILOT DP AG Postvertriebsstück – Entgelt bezahlt – 4402 – Heft 7/8 / 2015 Deutscher Ärzte-Verlag GmbH – Postfach 40 02 65 – 50832 Köln
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Z FAZeitschrift für Allgemeinmedizin

German Journal of Family Medicine

Juli/August 2015 – Seite 289-336 – 91. Jahrgang www.online-zfa.de

7/8 / 2015

Im Fokus

Hautkrebs-Screening: Hohe Ausgaben ohne Nutzennachweis

Leitlinien: Kritik der DEGAM ist nicht gefragt

Onkologie: Zu wenig Hausarzt in den Leitlinien

Probiotika: Und sie helfen doch?

Vulgäre Warzen: Wie behandeln?

Organ der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM),der Gesellschaft der Hochschullehrer für Allgemeinmedizin (GHA), der Salzburger Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SAGAM), der Südtiroler Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SüGAM), der Tiroler Gesellschaft für Allgemeinmedizin (TGAM) und der Vorarlberger Gesellschaft für Allgemeinmedizin (VGAM)

Official Journal of the German College of General Practitioners and Family Physicians, the Society of Professors of Family Medicine, the Salzburg Society of Family Medicine, the Southtyrolean College of General Practitioners, the Tyrolean College of General Practitioners and the Vorarlberg Society of Family Medicine

This journal is regularly listed in EMBASE/Excerpta Medica, Scopus and CCMED/MEDPILOT

DP AG Postvertriebsstück – Entgelt bezahlt – 4402 – Heft 7/8 / 2015 Deutscher Ärzte-Verlag GmbH – Postfach 40 02 65 – 50832 Köln

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© Deutscher Ärzte-Verlag | ZFA | Z Allg Med | 2015; 91 (7/8) ■

289EDITORIAL / EDITORIAL

Empfehlungen und Leitlinien

In dieser Ausgabe der ZFA geht es einmal mehr um die Uneinheitlichkeit von Emp-fehlungen in der Medizin. Ganz entgegen den Bemü-hungen der Arbeitsgemein-schaft der wissenschaft -lichen Fachgesellschaften (AWMF) ist der Versuch, ei-ne einheitliche und ver-bindliche S3-Leitlinie zur Sekundärprophylaxe des ischämischen Schlaganfalls zu schaffen, gescheitert. Es konnte bei der Aktualisie-rung der bestehenden Leit-

linien zum Thema kein Konsens zwischen der Deutschen Ge-sellschaft für Neurologie (DGN) und der DEGAM hergestellt werden, sodass die DGN sich entschied, die Leitlinie ohne DE-GAM-Beteiligung fertigzustellen. G. Egidi folgert daraus in sei-nem Artikel in diesem Heft, dass die Leitlinie der DGN damit für den hausärztlichen Bereich keine Gültigkeit hat. Doch das ist leichter gesagt als getan. Die DGN-Leitlinie existiert nun einmal, ob wir wollen oder nicht. Nicht viel anders ergeht es uns Hausärzten mit der Nationalen Versorgungsleitlinie zum Diabetes mellitus Typ 2, obgleich es hier gelungen ist, die DE-GAM-Position als gleichwertige Behandlungsoption mit auf-zunehmen. Dennoch steht die von der DEGAM abgelehnte Po-sition der Diabetologen und Internisten als leitliniengerecht im Text. Auch die gynäkologische Leitlinie zum Gestationsdia-betes, und natürlich auch die S3-Leitlinie zur Prävention von Hautkrebs empfehlen Vorgehensweisen, für die es keine ausrei-chende Evidenz gibt. Letzteres Thema hat uns in den vergange-nen Jahren immer wieder beschäftigt, und es macht vielleicht am auffälligste deutlich, wie schwierig das Ringen um evidenz-basiertes Handeln ist. Die Artikel von N. Enthaler1 (ZFA 2013), J.F. Chenot2 (ZFA 2015), J. Tacke (in diesem Heft), und als Zu-sammenfassung die Stellungnahme des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (DNEbM, in diesem Heft) lassen kei-nen Zweifel daran, dass kein Nutzennachweis für das Haut-krebsscreening vorliegt und dass wir mit großer Wahrschein-lichkeit durch das Screening Schaden anrichten, zum einen durch Stigmatisierung vieler Patienten als „krebskrank“, zum anderen durch invasive Überdiagnostik und letztendlich auch

durch unnötige, belastende und im Hinblick auf mögliche Fol-gen unkalkulierbare Übertherapie. Und dennoch nimmt die große Mehrheit deutscher Hausärzte aktiv an dieser Screening-maßnahme teil, und Patienten berichten im Fernsehen darü-ber, dass ihr Hautkrebs dank der Früherkennung rechtzeitig er-kannt und entfernt werden konnte und sie nun dank dieser Maßnahme geheilt wurden.

Das Problem ist also deutlich vielschichtiger und kompli-zierter, als dass es sich einfach nur auf Interessenkonflikte von Leitlinienautoren, korrupte Dermatologen, geschäftstüchtige Hausärzte und marketingorientierte Krankenkassen reduzieren ließe. Zur Durchführung einer ärztlichen Handlung gehören immer zwei: ein Arzt, der die Handlung durchführt und ein Pa-tient, der die Handlung durchführen lässt oder dezidiert wünscht. Die Schaffung von Leitlinien für Ärzte ist also nur ei-ne Seite der Medaille. Auf der anderen Seite stehen (fehl)infor-mierte Patienten, die ihre Informationen nicht nur von Ärzten erhalten, sondern auch aus den Medien, aus ihrer Familie und aus ihrem Bekanntenkreis.

Und noch ein prinzipielles Problem existiert in unserem Gesundheitssystem: Wer eine ärztliche Maßnahme durch-führt, bekommt nicht nur das Honorar, sondern hat auch Aus-sicht auf Lob: Denn er heilt ja den (vermeintlich) Kranken. Mögliche schädliche Auswirkungen der Behandlung gelten als unvermeidliche Risiken und Nebenwirkungen. Wer dagegen eine Maßnahme unterlässt, verzichtet nicht nur auf das Hono-rar, sondern läuft Gefahr, dass man mit dem Finger auf ihn zeigt: Wie konnte er nur das Melanom übersehen!

Was bleibt – vielleicht als einzige Möglichkeit – ist das ehrliche Aufklärungsgespräch des Arztes über Für und Wider medizi-nischer Maßnahmen, das dann zu einer informierten Entschei-dung seitens des Patienten führt. Doch ist das überhaupt möglich angesichts von Klientel-Politik und Lobbyismus, die mehr und mehr den Ton in unserem Gesundheitssystem angeben?

Im vertrauensvollen Gespräch haben wir Hausärzte viel-leicht noch die größte Chance, unsere Patienten zu informie-ren und ihnen eine evidenzbasierte Entscheidung zu ermögli-chen, aber nicht alle Patienten werden diese Entscheidung dann auch evidenzbasiert treffen.

Ich wünsche Ihnen eine spannende und interessante Lek-türe dieser Ausgabe der ZFA!

HerzlichstAndreas Sönnichsen

1 Enthaler N, Sönnichsen A. Die Effektivität der Melanom-Früherkennungsuntersuchung. Z Allg Med 2013; 89: 215–2202 Chenot, J-F, Egidi G. Empfehlungen zum Hautkrebsscreening in der S3-Leitlinie „Prävention von Hautkrebs“ – Kritik der DEGAM Teil 2. Z Allg Med 2015; 91: 121–125

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290 INHALTSVERZEICHNIS / TABLE OF CONTENTS

EDITORIAL / EDITORIAL 289...........................................................

EBM-SERVICE / EBM SERVICE Wie soll man vulgäre Warzen behandeln?How to Treat Common Cutaneous Warts?Andreas Sönnichsen 291..............................................................................

Probiotika bei akuter Diarrhö?Probiotics for Acute DiarrheaNikolaus Koneczny, Andreas Sönnichsen 294......................................................

KOMMENTAR/MEINUNG / COMMENTARY/OPINIONStellungnahme des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (DNEbM) zum Hautkrebsscreening 2015 297.......................................................

DER BESONDERE ARTIKEL / SPECIAL ARTICLEDas deutsche Hautkrebsscreening: Vom Ende einer IllusionGerman Skin Cancer Screening: the End of an IllusionJürgen Tacke 299.......................................................................................

Konflikte um Leitlinien – am Beispiel der S3-Leitlinie „Sekundärprophylaxe ischämischer Schlaganfall und transitorische ischämische Attacke“Controversies Over Guidelines – Exemplified in the S3 Guideline „Secondary Prevention of Ischemic Stroke and Transient Ischemic Attack“Günther Egidi 304......................................................................................

Pflegende Angehörige und ihre Belastungen in Hausarztpraxen identifizieren – Hindernisse und EmpfehlungenIdentifying Informal Carers and Their Burden in Family Practices – Barriers and RecommendationsClaudia Höppner, Marianne Schneemilch, Thomas Lichte 310.................................

ORIGINALARBEIT / ORIGINAL PAPERWie fit fühlen sich Dresdner Medizinstudierende, alkoholbezogene Störungen behandeln zu können?How Fit are Medical Students from Dresden to Treat Alcohol-Related Disorders?Thomas Hoffmann, Karen Voigt, Lydia Schlißke, Henna Riemenschneider, Antje Bergmann, Joachim Kugler 315...............................................................

ÜBERSICHT / REVIEW Onkologische Biomarker in der Hausarztpraxis – Worum geht es?Oncology Biomarkers in Family Practice – What is at Issue? Insa Koné, Jasper Plath, Anne Dahlhaus, Petra Schnell-Inderst, Andrea Siebenhofer-Kroitzsch 321...................................................................

LESERBRIEFE / LETTERS TO THE EDITOR 327...............................

DEGAM-NACHRICHTEN / DEGAM NEWS 331..................................

DEUTSCHER HAUSÄRZTEVERBAND / GERMAN ASSOCIATION OF FAMILY PHYSICIANS 335....................

IMPRESSUM / IMPRINT 336..............................................................

Titelfoto: © André Müller

ZFAZeitschrift für Allgemeinmedizin

Organ der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familien-medizin (DEGAM), der Gesellschaft der Hochschullehrer für Allgemeinmedizin (GHA), der Salzburger Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SAGAM), der Südtiroler Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SüGAM),der Tiroler Gesellschaft für Allgemein-medizin (TGAM),der Vorarlberger Gesellschaft für Allgemeinmedizin (VGAM)

Official Journal of the German College of General Practitioners and Family Physicians,the Society of Professors of Family Medicine, the Salzburg Society of Family Medicine,the Southtyrolean College of General Practitioners,the Tyrolean College of General Practitioners,the Vorarlberg Society of Family Medicine

Herausgeber/Editors M. M. Kochen, Freiburg (federführend) H.-H. Abholz, Düsseldorf S. Rabady, Windigsteig W. Niebling, Freiburg im Breisgau A. Sönnichsen, Witten

Internationaler Beirat/International Advisory Board J. Beasley, Madison/Wisconsin, USA; F. Buntinx, Leuven/Belgien; G.-J. Dinant, Maastricht/NL; M. Egger, Bern/CH; E. Garrett, Columbia/Missouri, USA; P. Glasziou, Robina/Australien; T. Greenhalgh, London/UK; P. Hjort-dahl, Oslo/Norwegen; E. Kahana, Cleve-land/Ohio, USA; A. Knottnerus, Maas-tricht/NL; J. Lexchin, Toronto/Ontario, Kanada; C. del Mar, Robina/Australien; J. de Maeseneer, Gent/Belgien; P. van Royen, Antwerpen/ Belgien; F. Sullivan, Dundee/Schottland, UK; C. van Weel, Nijmegen/NL; Y. Yaphe, Porto/Portugal

Koordination/Coordination J. Bluhme-Rasmussen

This journal is regularly listed in EMBASE/Excerpta Medica, Scopus and CCMED/MEDPILOT

Dieselstraße 2, 50859 KölnPostfach/P.O. Box 40 02 54,50832 KölnTelefon/Phone: (0 22 34) 70 11–0www.aerzteverlag.dewww.online-zfa.de

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291EBM-SERVICE / EBM SERVICE

Wie soll man vulgäre Warzen behandeln?How to Treat Common Cutaneous Warts?Andreas Sönnichsen

FrageVulgäre Warzen (Verrucae vulgares) stellen in der haus-ärztlichen Praxis einen häufigen Behandlungsanlass dar, da sie trotz ihrer Harmlosigkeit als störend und vor allem kosmetisch unerwünscht empfunden werden. Es werden zahlreiche Therapiemöglichkeiten angeboten, teilweise verschreibungspflichtig, teilweise auch frei verkäuflich. Gibt es belastbare Studienevidenz zu den angebotenen Therapiemöglichkeiten? Welche Therapie sollte primär empfohlen werden? Welche Behandlung kommt am ehesten als Reservetherapie bei Versagen einer „Standard-therapie“ in Betracht?

AntwortFür die Anwendung von Salicylsäurepräparaten als Pflaster oder Lösung liegt Studienevidenz aus Metaanalysen ran-domisiert kontrollierter Studien vor (Evidenzlevel Ia, Emp-fehlungsgrad A, Number needed to treat [NNT] 5). Diese Behandlung empfiehlt sich daher als First-Line-Therapie. Auch für die Kombination von Salicylsäure und 5-Fluorou-racil gibt es belastbare Evidenz aus mehreren randomisiert kontrollierten Studien. Der Evidenzlevel muss jedoch auf-grund von Studiengröße und -qualität abgewertet wer-den (IIa, Empfehlungsgrad B, NNT 2,5). Diese Kombinati-on sollte beim Versagen einer alleinigen Salicylsäurebe-handlung eingesetzt werden. Die Studienlage hinsichtlich der Effektivität der Kryotherapie ist eingeschränkt bzw. wi-dersprüchlich. Ein sicherer Wirknachweis wurde bisher nicht erbracht. Die Evidenz für andere Chemo-/Immun-therapeutika ist auf unkontrollierte Fallserien begrenzt und für eine generelle Empfehlung unzureichend.

Hintergrund

Verrucae vulgares oder vulgäre Warzen sind benigne epitheliale Akanthome der Haut und gehören zu den häufigsten Hauterkrankungen schlechthin. Je nach Literaturquelle wird eine Prävalenz von 10–20 % in der Bevölkerung angegeben. Kinder sind deutlich häufiger betroffen als Erwachsene. Eine besondere Disposi-tion besteht bei zellulären Immundefek-ten oder unter immunsuppressiver The-rapie (z.B. nach Organtransplantation)

[1, 2]. Verrucae vulgares werden durch Humane Papilloma Viren (ds-DNA-Vi-ren aus der Gruppe der Papillomaviri-dae) hervorgerufen und sind infektiös. Die Übertragung erfolgt durch Schmier-infektion oder direkten Kontakt. Ein-trittspforte für die Erreger können kleinste Hautverletzungen sein. In den meisten Fällen ist der Ansteckungsweg nicht mehr nachvollziehbar, da die In-kubationszeit Wochen bis Monate be-trägt. Mittlerweile sind über 150 gene-tisch distinkte HPV-Typen bekannt, die

verschiedenste Haut und Schleimhaut-erkrankungen auslösen können (neben vulgären Warzen z.B. Dornwarzen, pla-ne Warzen, spitze Kondylome [anogeni-tale Feigwarzen]), sowie das Cervix-, Anal- und Peniskarzinom. Für die Ent-stehung von vulgären Warzen sind die HPV-Typen 1, 2, 4, 5, 29 und wahr-scheinlich weitere verantwortlich [1, 2].

Bei der Behandlung ist aufgrund ei-ner hohen Spontanheilungsrate (für Kinder 67 % innerhalb von zwei Jahren [3]) eine abwartende Haltung gerecht-

QuestionCommon cutaneous warts (verrucae vulgares) are a fre-quent cause of consultation in family practice. Though harmless in most cases, many patients perceive them as annoying and as a cosmetic problem. Various therapeutic measures are available, either per prescription or over the counter. Is there reliable evidence from clinical studies supporting any of these treatment methods? Which type of therapy should be recommended as first line treat-ment? Which alternative therapy should be recom-mended if first line treatment fails?

AnswerThe effectiveness of salicylic acid patches and solutions has been shown in meta-analyses of randomized con-trolled trials (evidence level Ia, grade of recommendation A, NNT 5). Salicylic acid is therefore recommended as first line therapy. There also exists evidence from several randomized controlled trials regarding the beneficial ef-fect of a combination of salicylic acid and 5-fluorouracil, but evidence level must be downgraded because of study size and quality (evidence level IIa, grade of recommen-dation B, NNT 2,5). It is recommended to use this com-bination if salicylic acid alone fails. Studies on the effec-tiveness of cryotherapy are limited and inconsistent, and secure proof remains lacking. Evidence for all other chemo- or immunotherapeutic agents is limited to un-controlled case series and therefore insufficient for a gen-eral recommendation.

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292 EBM-SERVICE / EBM SERVICE

fertigt. Auch alternative und esoterische Methoden haben hier möglicherweise einen Platz. Für Fälle, in denen die Spon-tanremission ausbleibt oder eine schnel-lere Heilung erwünscht ist, bei aus-gedehntem Befall und bei Ausbreitungs-tendenz werden eine Vielzahl von Mit-teln und Methoden angeboten. Die wichtigsten therapeutischen Verfahren sind in Tabelle 1 aufgeführt. Neben den Einzelverfahren werden zahlreiche Kombinationen angewandt. Es stellt sich nun die Frage, welche dieser Verfah-ren oder Kombinationsverfahren durch belastbare Studienevidenz abgesichert sind und zur Anwendung empfohlen werden können.

Literaturrecherche

In einer unsystematischen Literatur-suche recherchierten wir in der Cochra-ne Database of Systematic Reviews, in Medline/Pubmed und in Google sowie auf den Herstellerseiten nach Reviews und randomisiert kontrollierten Einzel-studien.

Ergebnisse

In einen Cochrane Review aus dem Jahr 2012 wurden 85 randomisiert kontrol-lierte Studien eingeschlossen, die sich mit diversen Verfahren zur Behandlung von Hautwarzen verschiedenster Art be-fassen [4]. Es wurden sowohl placebo-kontrollierte Studien als auch Ver-gleichsstudien zweier oder mehrerer Verfahren untersucht.

In sechs Studien wurde die Heilungs-rate von lokal applizierter Salicylsäure ge-gen Placebo oder keine Therapie getestet.

Diese lag für Salicylsäure um den Faktor 1,56 (95%-Konfidenzintervall [KI] 1,20–2,03) über Placebo. Allerdings lag die Heilungsrate mit Placebo auch bereits bei fast 40 %, und knapp über 40 % der mit Verum Behandelten waren Therapie-versager. Die Number Needed to Treat (NNT) lag somit bei etwa 5.

In drei Studien wurde die Kryothe-rapie mit Placebo bzw. keiner Behand-lung verglichen. Auch hier fand sich eine um 1,45 höhere Heilungsrate un-ter Kryotherapie. Das Ergebnis war je-doch bei einem 95%-KI von 0,65–3,23 statistisch nicht signifikant, mögli-cherweise aufgrund zu niedriger Fall-zahlen in den Studien. Die Behand-lungsintervalle spielten für den Erfolg der Kryotherapie keine Rolle. Die „Ag-gressivität“ der Kryotherapie ist je-doch möglicherweise bedeutsam: In vier Studien zeigt sich beim Vergleich von „aggressiver“ versus „zurückhal-tender“ Kryotherapie ein Vorteil für die aggressive Therapie (Heilungsrate um den Faktor 1,90, 95%-KI 1,15–3,15, signifikant höher in der zurückhaltend behandelten Gruppe).

Vier randomisiert kontrollierte Studi-en verglichen lokal applizierte Salicylsäu-re mit Kryotherapie und fanden keinen signifikanten Unterschied zwischen den beiden Verfahren (Heilungsrate Kryothe-rapie 43,6 %, Salizylsäure 35,4 %, relativ 1,26, 95%-KI von 0,88–1,71). Allerdings zeichneten sich auch diese Studien durch niedrige Fallzahlen aus (insgesamt 351 Patienten mit Kryotherapie, 356 Patien-ten mit Salicylsäure).

In zwei Studien war die Kombinati-onsbehandlung aus Kryotherapie und Salicylsäure einer alleinigen Behand-lung mit Salicylsäure leicht, aber signifi-kant überlegen (Heilungsrate um den

Faktor 1,24, 95%-KI 1,07–1,43, höher). Dagegen verfehlte die Kombinations-therapie gegenüber alleiniger Kryothe-rapie knapp das Signifikanzniveau (Hei-lungsrate um den Faktor 1,20, 95%-KI 0,99–1,45, höher).

In zwei Studien wurde lokal appli-ziertes Dinitrochlorobenzol (DNCB) un-tersucht. Diese Substanz soll als lokaler Kontaktsensibilisator zu einer Immun-reaktion führen, die den Heilungspro-zess einleitet. Es scheint zwar durchaus eine gewisse Effektivität vorzuliegen, die Studienlage ist aber begrenzt, die hoch-giftige Substanz ist als Arzneimittel in Deutschland nicht verfügbar, und die Risiko/Nutzen-Relation rechtfertigt den Einsatz bei einer Behandlung harmloser Warzen nicht.

5-Fluorouracil erwies sich in Kom-bination mit Salicylsäure sowohl gegen-über Placebo (Heilungsrate um 1,75 hö-her) als auch gegenüber Curettage (Hei-lungsrate um 1,29 höher) als wirkungs-voll. Eine Metaanalyse wurde jedoch im Cochrane-Review nicht durchgeführt und die 95%-KI wurden nicht berichtet.

Die im Cochrane-Review ebenfalls untersuchte Okklusionstherapie mit Klebeband, die photodynamische The-rapie und die Farbstofflaserbehandlung erwiesen sich in den eingeschlossenen, randomisiert kontrollierten Studien als wirkungslos.

Eine systematische Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2004 befasste sich explizit mit der Kombinationsbehandlung aus 5-Fluorouracil (5-FU) und Salicylsäure [5]. In dieser Arbeit führten die Autoren im Gegensatz zu den Autoren des Coch-rane-Reviews eine Metaanalyse durch. Die Kombinationsbehandlung erwies sich in dieser Metaanalyse aus acht ran-domisiert kontrollierten Studien sowohl gegenüber Placebo als auch gegenüber Salicylsäure alleine als signifikant über-legen. Das relative Risiko für Therapie-versagen lag unter der Kombinations-therapie bei 0,42 (95%-KI 0,34–0,50). Die Erfolgsrate unter der Kombinations-therapie betrug 63,4 % versus 23,1 % oh-ne 5-FU (NNT etwa 2,5).

Über die anderen in Tabelle 1 ge-nannten Chemotherapeutika existiert wie schon am Cochrane Review abzule-sen so gut wie keine Studienliteratur. Dithranol ist in Kombination mit Sali-cylsäure als Antipsoriatikum verfügbar und wird off label gegen Warzen einge-setzt. Randomisiert kontrollierte Studi-

Tabelle 1 Therapieverfahren zur Behandlung vulgärer Warzen

Keratolytische Verfahren

Chirurgische Verfahren

Chemo- und Immuntherapeutika

Sonstige Verfahren

SalicylsäureTrichloressigsäureAmeisensäure

ExzisionCurettageKryotherapie (Vereisung)Farbstofflaserbehandlung

5-FluorouracilImiquimodBleomycinDithranol (Anthralin, Cignolin)

DinitrochlorobenzolOkklusionsbehandlung mit Klebeband

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293EBM-SERVICE / EBM SERVICE

en über die Substanz in der Behandlung von Warzen konnten nicht gefunden werden.

Über die Effektivität chirurgischer Verfahren wie Exzision, Curettage oder Entfernung mit der Diathermieschlin-ge existieren nur Fallberichte oder Fall-serien, keine randomisiert kontrollier-ten Studien [1]. Eine generelle Empfeh-lung lässt sich daher nicht ableiten und diese Therapieformen bleiben Einzel-fällen vorbehalten, die auf die empfoh-lene Therapie nicht ansprechen. Glei-ches gilt für CO2-Laser, Erbium-Laser, und Farbstofflaser. Bei all diesen Thera-pieformen ist zu bedenken, dass es zu Wundheilungsstörungen, Narbenbil-dung und Hyperpigmentierung kom-men kann [1].

Fazit

Die breiteste Studienevidenz (Ia) liegt für Salicylsäurepräparate (entweder als Lösung, z.B. Verrocid, oder als Pflaster, z.B. Guttaplast) vor. Die NNT für diese Behandlung liegt bei etwa 5, Empfeh-lungsgrad A. Ebenfalls akzeptable Evi-

denz (IIa) kann für die Kombination aus Salicylsäure und 5-Fluorouracil (z.B. Ver-rumal) festgestellt werden (NNT etwa 2,5), Empfehlungsgrad B.

Die Evidenz für die Einzeltherapie mit anderen Chemo-/Immuntherapeu-tika (Dithranol, Bleomycin, DNCB, Po-dophyllotoxin, Imiquimod) oder Kom-binationen dieser Substanzen mit Sali-cylsäure ist begrenzt. Teilweise liegen Studienergebnisse aus unkontrollierten Fallserien vor. Eine generelle Empfeh-lung ist nicht möglich. Die Behandlung erfolgt teilweise off label, da die Präpara-te nur zur Behandlung von spitzen Kon-dylomen zugelassen sind.

Die Studienlage hinsichtlich der Ef-fektivität der Kryotherapie ist einge-schränkt bzw. widersprüchlich. Ein si-cherer Wirknachweis wurde bisher nicht erbracht. Einzelne randomisiert kontrol-lierte Studien weisen darauf hin, dass Kryotherapie ähnlich effektiv sein könn-te wie eine Behandlung mit Salicylsäure. Hier sind qualitative Studien mit ausrei-chend hohen Fallzahlen für einen belast-baren Wirksamkeitsnachweis zu fordern.

Alle anderen Therapieoptionen wurden bisher nur an Einzelfällen und Fallserien erprobt und stellen allenfalls Reservemaßnahmen bei Therapieresis-tenz dar.

1. Ploetz SG, Ring J. Verrucae vulgares – clinical overview. MMW Fortschr Med. 2011 Mar 24; 153: 38–41

2. Moll I. Dermatologie – Duale Reihe. 7. Aufl. Stuttgart: Thieme, 2010, S. 229–230

3. Massing AM, Epstein WL. Natural his-tory of warts. Arch Dermatol 1963; 87: 74–78

4. Kwok CS, Gibbs S, Bennett C, Holland R, Abbott R. Topical treatments for cu-

taneous warts. Cochrane Database of Systematic Reviews 2012, Issue 9. Art. No.: CD001781.

5. Zschocke I, Hartmann A, Schlobe A, et al. Efficacy and benefit of a 5-FU/sali-cylic acid preparation in the therapy of common and plantar warts-systematic literature review and meta-analysis. JDDG 2004; 2: 187–93

Literatur

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294 EBM-SERVICE / EBM SERVICE

Probiotika bei akuter Diarrhö?Probiotics for Acute DiarrheaNikolaus Koneczny, Andreas Sönnichsen

FrageHäufig werden akut durchfallerkrankten Menschen Pro-biotika empfohlen. Sie sollen laut Herstellerangaben und verbreiteter „Expertenmeinung“ bei Kindern wie bei Er-wachsenen die Dauer und Schwere einer akuten Diarrhö vermindern. Liegen für diese Annahme mittlerweile be-lastbare Daten vor?

AntwortDie Studien zu dieser Fragestellung sind wenig homogen. Leitlinien stufen die Evidenz als schwach ein. Dennoch mag in der Praxis ein Behandlungsversuch mit Probiotika gerechtfertigt sein, weil relevante negative Effekte bislang ausblieben. Wichtig erscheint dann die Wahl eines Prä-parates mit ausreichender Wirkstoffmenge und funktio-nierender Galenik.

Hintergrund

In der täglichen hausärztlichen Praxis werden Probiotika nicht selten von Patienten mit akuter Diarrhö nach-gefragt oder von Ärzten empfohlen und auf grünem Rezept verordnet. Ei-ne Verordnung auf Kassenrezept ist nicht möglich, weil KV und Kassen die Grundsätze der Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit in Anbetracht der selbstlimitierenden akuten Gastroen-teritis als nicht gegeben betrachten. Dennoch ist die Meinung weitverbrei-tet, dass Probiotika helfen können, die Dauer oder Schwere einer akuten in-fektiösen Durchfallerkrankung zu ver-mindern. Wir gingen in einer unsyste-matischen Evidenzrecherche der Frage nach, ob diese Hoffnungen berechtigt sind.

Definition und postuliertes Wirkprinzip von Probiotika

Bei Probiotika handelt es sich um Milchsäurebakterien und Hefen, die

in Pulver- oder Kapselform eingenom-men oder als Milchprodukte angebo-ten werden. Typische Bakterienstäm-me sind Lactobacillus casei, Lactoba-cillus acidophilus und Saccharomyces boulardii. Definitionsgemäß müssen 30 % der Kulturen den menschlichen Darm lebend erreichen. Anders als et-wa Milchsäurebakterien in herkömm-lichen Joghurts müssen sie also die ag-gressiven Einflüsse der Magensäure und der Gallenflüssigkeit überstehen. Im Darm sollen sie krankheitsverursa-chende Bakterien verdrängen.

Herstellung und Marketing

In der Vergangenheit konnten nicht alle angebotenen Präparate die ange-gebene Menge an lebenden Mikro-organismen bereitstellen. Abhängig vom Herstellungsverfahren und der Lagerung wurden Präparate abge-geben, die keinerlei lebendige Bakte-rien (mehr) enthielten [1].

Die Lebensmittelindustrie hat pro-biotische Milchprodukte gerne mit

weitreichenden Gesundheitsverspre-chungen angeboten. 2009 wurden diese „Health-Claims“ dann EU-weit eingeschränkt. Heute dürfen nur noch belegbare gesundheitsbezogene Aus-sagen über Nahrungsmittel getroffen werden. Lange Zeit gehörte beispiels-weise der Trinkjoghurt „Actimel“ von Danone zu den drei meistverkauften Lebensmitteln im Handel überhaupt [2, 3]. Durch Werbebotschaften wie „hilft der Darmflora“ wird vermieden, Begriffe wie „Durchfall“ oder „Blä-hungen“ auf das Joghurt-Etikett zu drucken.

Nutzen von Probiotika bei akuter infektiöser Diarrhö

Im Folgenden wurden Belege für den Nutzen von Probiotika bei akuter Diarrhö untersucht. Andere Erkran-kungen wie Reizdarmsyndrom, anti-biotikaassoziierte Diarrhö oder chro-nisch entzündliche Darmerkrankun-gen wurden bewusst außer Acht ge -lassen.

QuestionProbiotics are often recommended to people with acute diarrhea. According to the manufacturers and widespread “expert opinion” they are supposed to reduce duration and severity of dysentery in children and adults. Is there any evidence for this assumption?

AnswerStudies show a wide range of different interventions, set-tings and results. Recommendations and evidence are mostly judged as weak by available guidelines. Neverthe-less a therapeutic attempt may be justified as no relevant adverse events could be attributed to probiotics.

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295EBM-SERVICE / EBM SERVICE

Cochrane-Reviews

Es wurden zwei Cochrane-Reviews ge-funden. In dem ersten Review [4] wur-den 63 randomisiert kontrollierte oder quasi-randomisierte Studien mit ins-gesamt 8014 Teilnehmern (Erwachsene und Kinder) analysiert. Obwohl die In-terventionen sehr unterschiedlich wa-ren (eingesetzte Präparate, Dosierungen etc.) konnte insgesamt ein Nutzen der Probiotika festgestellt werden: Die Er-krankungsdauer wurde verkürzt und die Stuhlfrequenz vermindert. Bei akutem Durchfall (< 2 Wochen) verkürzte sich die Erkrankungsdauer im Schnitt um ei-nen Tag (durchschnittlicher Unter-schied 24,76 Stunden; 95%-Konfidenz-intervall 15,9–33,6 Stunden; n = 4555, Studien = 35). Die Stuhlfrequenz an Tag 2 war um etwa ein Ereignis vermindert (durchschnittlicher Unterschied 0,80; 95%-KI 0,45–1,14; n = 2751, Studi-en = 20). Das Risiko, an Tag 4 noch unter Durchfall zu leiden wurde um knapp 60 % gesenkt (relatives Risiko unter Be-handlung mit Probiotika 0,41; 95%-KI 0,32–0,53; n = 2853, Studien = 29). Es wurden keine relevanten unerwünsch-ten Arzneimittelwirkungen genannt. Die Autoren sprechen von einem „clear beneficial effect“. Nach den metaanaly-tischen Berechnungen hing die Effekt-größe weder von dem in dem Probioti-kum verwendeten Bakterienstamm noch von der Dosierung der Mikro-

organismen ab. Insgesamt liegt eine ho-he Studienheterogenität vor (Heteroge-nitätstest hochsignifikant).

Im Gegensatz hierzu fand eine wei-tere systematische Übersichtsarbeit eine klare Abhängigkeit der Effektivität vom verwendeten Bakterienstamm und der Dosierung [5], allerdings nur bei Kin-dern. Am effektivsten erwiesen sich Zu-bereitungen von Lactobacillus GG und Saccharomyces boulardii.

Der zweite Cochrane-Review befass-te sich mit länger dauernden Durchfall-erkrankungen bei Kindern [6]. Ein-schlusskriterien waren ein akuter Be-ginn des Durchfalls und eine Dauer ≥ 14 Tage. Es wurden vier Studien mit ins-gesamt 464 Teilnehmern in den Review aufgenommen. Hier verkürzten die un-tersuchten Präparate die Krankheitsdau-er um etwa vier Tage (durchschnittlicher Unterschied 4,02 Tage, 95%-KI 4,61–3,43 Tage, n = 324, zwei Studien). Ein Rückgang der Stuhlfrequenz wurde in zwei Studien nachgewiesen. Die Au-toren beurteilen allerdings die Studien-qualität als gering bis mäßig und inter-pretieren auch wegen der niedrigen Fall-zahlen in den einzelnen Studien zurück-haltender: Sie sprechen von nur „be-grenzter“ Evidenz für den Nutzen von Probiotika bei länger andauernder Durchfallerkrankung bei Kindern und fordern weitere qualitativ hochwertige Studien mit größerer Fallzahl. Auch in den Studien, die in diesen Review einge-

schlossen wurden, wurden keine rele-vanten unerwünschten Ereignisse be-richtet.

Leitlinien

DEGAM S1-Handlungsempfehlung Akuter Durchfall [7]

Bezug nehmend auf den oben dar-gestellten Cochrane-Review und den Re-view von Guandalini wird in der ein-zigen deutschsprachigen Handlungs-empfehlung zum Thema eine schwache Empfehlung für den Einsatz von Probio-tika ausgesprochen („kann in Erwägung gezogen werden“). Die Empfehlung wird vor allem durch die hohe Diversität der verschiedenen eingesetzten Bakte-rien-Stämme und die Inhomogenität der Studien abgeschwächt.

NICE 2009: Diarrhoea and vomiting in children (NICE guideline CG84) [8]

Die untersuchten Studien und Bakte-rienstämme werden in der NICE-Leit-linie ausführlich dargestellt und bewer-tet. NICE weist darauf hin, dass häufig positive Effekte berichtet werden. Ange-sichts der methodologischen Begren-zungen der Studien und der Vielzahl der eingesetzten Präparate wird jedoch kei-ne Empfehlung ausgesprochen.

DEGAM-NEWSLETTERImmer gut informiert

Seit zwei Jahren verschickt die DEGAM-Bundesgeschäftsstelle exklusiv an die Mitglieder den

E-Mail-Newsletter DEGAM aktuell. Dieser Informationsdienst beinhaltet sowohl Neuigkeiten aus

dem Präsidium, den Sektionen und Arbeitsgemeinschaften sowie der Leitlinien-Geschäftsstelle

als auch aktuelle Mitteilungen zu den Rubriken Personalia, Veranstaltungen und Stellen -

ausschreibungen. Die bisher versandten Ausgaben können im passwortgeschützten internen

Bereich unter

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„DEGAM aktuell“ an:

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296 EBM-SERVICE / EBM SERVICE

EbM-Guidelines: Probiotika beim Reisenden und beim Kind (2014) [9, 10]

In Anlehnung an den Review von Guan-dalini werden in diesen Leitlinien bei-spielhaft Lactobacillus GG und Saccha-romyces boulardii zur Behandlung der Reisediarrhö und zur Behandlung aku-ter Durchfallerkrankungen bei Kindern aufgeführt. Die Evidenz für eine Wirk-samkeit in diesen beiden Indikationen wird als schwach eingestuft.

In den anderen von uns untersuch-ten Leitlinien und Leitlinienportalen (National Guideline Clearinghouse, SIGN, NHG, AWMF) wurden Probiotika bei akuter infektiöser Diarrhö nicht er-wähnt oder nicht bewertet.

Fazit

Die Studienlage zur Frage des Nutzens von probiotischen Präparaten oder Milchprodukten bei akuter, infektiöser Enteritis ergibt ein inhomogenes Bild: Die untersuchten Präparate, Bakterien-stämme, Studiendesigns und Charakte-ristika der Probanden erschweren eine eindeutige Interpretation. Die erwähn-ten Cochrane-Reviews tendieren zu ei-

ner vorsichtig positiven Bewertung. Die-se ist dann auch in jüngere Leitlinien-Empfehlungen eingeflossen.

In der ärztlichen Praxis kann ein Be-handlungsversuch mit Probiotika durchaus gerechtfertigt werden, ins-besondere weil keine negativen Effekte berichtet wurden.

Wichtig erscheint dann die Wahl ei-nes Präparates mit ausreichender Wirk-

stoffmenge und funktionierender Gale-nik. Nicht alle angebotenen Präparate konnten in der Vergangenheit die Frei-setzung einer ausreichenden Menge le-bensfähiger Mikroorganismen im Darm gewährleisten.

Die Autoren jedenfalls werden in Zukunft ihren hausärztlichen Patienten mit Durchfall häufiger Probiotika emp-fehlen als bisher.

1. www.apotheke-adhoc.de: Hexal: Comeback für Perocur (letzter Zugriff am 23.06.2015)

2. www.welt.de/finanzen/article3754413/ Warum-Stiftung-Warentest-ihre-Auto-ritaet-verliert.html (letzter Zugriff am 23.06.2015)

3. www.sueddeutsche.de/gesundheit/ tipps-fuer-den-einkauf-von-joghurt-grosses-geschaeft-mit-kleinstlebewe-sen-1.1589340–2 (letzter Zugriff am 23.06.2015)

4. Allen SJ, Martinez EG, Gregorio GV, Dans LF. Probiotics for treating acute infectious diarrhea. Cochrane Databa-se of Systematic Reviews 2010, Issue 11. Art. No.: CD003048

5. Guandalini S. Probiotics for preventi-on and treatment of diarrhoea. J Clin Gastroenterol. 2011; 45 Suppl: S149–53

6. Bernaola Aponte G, Bada Mancilla CA, Carreazo NY, Rojas Galarza RA. Probio-tics for treating persistent diarrhea in children. Cochrane Database of Syste-matic Reviews 2013, Issue 8. Art. No.: CD007401

7. www.degam.de/files/Inhalte/Leitlinien- Inhalte/Dokumente/S1-Handlungsem pfehlung/S1-HE_Akuter%20Durchfall_ Langfassung.pdf (letzter Zugriff am 23.06.2015)

8. www.nice.org.uk/guidance/cg84/evidence (letzter Zugriff am 23.06.2015)

9. www.ebm-guidelines.com/ebmga/ltk. avaa?p_artikkeli=ebd00026&p_haku= gastroenteritis (letzter Zugriff am 23.06.2015)

10. www.ebm-guidelines.com/ebmga/ltk. avaa?p_artikkeli=ebd00585&p_haku= probiotika (letzter Zugriff am 23.06.2015)

Literatur

Im Rahmen der „Akademie für Globale Gesundheit und Ent-wicklung“ (AGGE) findet am 28. und 29. September 2015 in Tübingen die Fortbildung „Basiswissen Ebola: Fallerkennung und Verhalten im Verdachtsfall“ statt. Dabei werden die Über-tragungswege des Virus und seine rasche Ausbreitung reflek-tiert und die Teilnehmenden lernen die Pathophysiologie, Symptome, mögliche Diagnostik und Therapie sowie Mög-

lichkeiten des Eigenschutzes kennen. Sie sind herzlich zum Se-minar eingeladen, das gemeinsam vom Deutschen Institut für Ärztliche Mission e.V. (Difäm) und dem Missionsärztlichen In-stitut Würzburg umgesetzt wird.

Das vorläufige Programm sowie die Möglichkeit zur Anmel-dung finden Sie unter: www.agge-akademie.de

Kurs „Basiswissen Ebola“Fallerkennung und Verhalten im Verdachtsfall

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297KOMMENTAR/MEINUNG / COMMENTARY/OPINION

Stellungnahme des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (DNEbM) zum Hautkrebsscreening 2015

Das DNEbM hat bereits in einer frühe-ren Pressemitteilung [1] sowie auf seiner Jahrestagung 2014 [2] zum Hautkrebs-screening in Deutschland kritisch Stel-lung bezogen. Jetzt liegt der Evaluati-onsbericht des Gemeinsamen Bundes-ausschusses (G-BA) vor [3]. Auf einer Veranstaltung des DNEbM am 1. Juni 2015 in Berlin wurden die Ergebnisse be-wertet und diskutiert, welche Bedeu-tung sie für die Zukunft des Screening-programms haben könnten [4].

Das Hautkrebsscreening wurde im Jahr 2008 in Deutschland eingeführt – ohne wissenschaftlichen Nachweis ei-nes Nutzens durch randomisierte kon-trollierte Studien (Verringerung der Hautkrebssterblichkeit und/oder der Krankheitslast). Die Entscheidung des G-BA für das Screening ist seinerzeit un-ter der Auflage gefallen, dass es eine Eva-luation geben müsse. Der nun vorlie-gende Evaluationsbericht ist jedoch un-zureichend; entscheidende Fragen kön-nen weiterhin nicht beantwortet wer-den. An der Unsicherheit zu Nutzen und Schaden hat sich nichts geändert. Es wurde die Chance vertan, zumindest Prozessparameter und die Güte der Un-tersuchungen zu erfassen.

Das Nutzen-Schaden-Verhältnis des Hautkrebsscreenings in Deutschland lässt sich weiterhin nicht quantifizieren. Bisher gibt es keinen Beleg für einen Nutzen des Screenings. Nach den deut-schen Krebsregisterdaten gibt es weder eine Abnahme der Mortalität noch der fortgeschrittenen Stadien des Mela-noms.

Unbestritten ist es mit der Einfüh-rung des Screenings zeitgleich zu einer erheblichen Zunahme an Hautkrebs-diagnosen und operativen diagnosti-schen und therapeutischen Eingriffen gekommen [3, 5–7]. Da eine andere Ur-sache als das Screening für den plötzli-chen und anhaltenden Anstieg der Di-agnosen nicht plausibel erscheint, deu-

ten diese Daten auf eine erhebliche Rate an Überdiagnosen und Übertherapien hin. Konkret bedeutet dies, dass viele Hautveränderungen als Krebs diagnosti-ziert und behandelt werden, obwohl diese den Betroffenen zu Lebzeiten nie-mals Symptome verursacht hätten. Das Statistische Bundesamt hat auf eine seit Einführung des Screenings deutliche Zu-nahme von Krankenhausbehandlungen aufgrund von Hautkrebs hingewiesen [5].

Keine Aussagen sind derzeit auch zur Rate an Intervallkarzinomen bzw. falsch negativen Befunden möglich.

Besonders irritierend ist die Tatsa-che, dass die Qualität der histopatholo-gischen Befunde nicht beurteilt werden kann. Die wissenschaftliche Literatur weist seit Jahren auf die Probleme der histopathologischen Befundung und deren Limitation als Goldstandard hin [8–11]. Dies betrifft insbesondere die möglichen Vorstufen bzw. frühen Mela-nom-Stadien. Fragen zur Intra- und In-terrater-Reliabilität bzw. Konkordanz/Diskordanz zwischen Zentren bleiben unbeantwortet. Eine Doppelbefundung wie beim Mammographie-Screening ist bisher nicht vorgesehen.

Das DNEbM ist besorgt über die Ak-tionen verschiedener Kranken kassen, das Screening immer jüngeren Men-schen anzubieten. Hautkrebs ist bei jun-gen Menschen noch seltener als bei älte-ren, daher wäre das Nutzen-Schaden- Verhältnis bei dieser Bevölkerungsgrup-pe noch ungünstiger.

Eine Nutzen-Kosten-Abschätzung des Screenings ist ebenfalls nicht mög-lich. Jedoch ist bei fehlendem Nutzen-nachweis des Hautkrebsscreenings eine möglicherweise erhebliche Fehlallokati-on von Ressourcen zu befürchten.

Nach international gültigen Krite-rien zur Beurteilung von Screeningpro-grammen erfüllt das Hautkrebssceening in Deutschland entscheidende Voraus-setzungen nicht [12, 13]. Der Nutzen muss den möglichen Schaden des Scree-nings nachweisbar überwiegen. Dieser Nachweis steht für das Hautkrebsscree-ning aus. Damit fehlt nach wie vor eine

entscheidende Grundlage, das Haut-krebsscreening fortzusetzen.

Sollte der G-BA das Programm trotzdem fortführen, empfehlen wir dringend, eine nach Kriterien der evi-denzbasierten Medizin prospektiv ge-plante kontrollierte Evaluation zu Nut-zen und Schaden des Hautkrebsscree-nings durchzuführen. Insbesondere müssten offene Fragen zum Krankheits-wert von Krebsvorstufen und zur Rate an Intervallkarzinomen geklärt wer-den.

Deutsches Netzwerk

Evidenzbasierte Medizin e. V. (DNEbM)

Kuno-Fischer-Straße 8

14057 Berlin

Tel.: 030 308 336 60

[email protected]

Korrespondenzadresse

… wurde gegründet, um Konzepte und Methoden der EbM in Praxis, Lehre und

Forschung zu verbreiten und weiter zu entwickeln. Das Netzwerk ist das deutsch-

sprachige Kompetenz- und Referenzzentrum für alle Aspekte der Evidenzbasierten

Medizin.

Das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (DNEbM) e.V. …

DOI 10.3238/zfa.2015.0297–0298

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298 KOMMENTAR/MEINUNG / COMMENTARY/OPINION

1. DNEbM Pressemitteilung vom 18. 02. 2014 „Hautkrebsfrüherkennung nach wie vor ohne Nachweis eines Nutzens“. www.ebm-netzwerk.de/pdf/stellungnahmen/pm-praevention-20140218.pdf (letzter Zugriff am 24.6.2015)

2. DNEbM Jahrestagung 2014: Prävention zwischen Evidenz und Eminenz. www.ebm-netzwerk.de/was-wir-tun/jahres tagungen/2014 (letzter Zugriff am 24.6.2015)

3. Veit C, Lüken F, Melsheimer O. Eva -luation der Screeninguntersuchungen auf Hautkrebs gemäß Krebsfrüh -erkennungs-Richtlinie des Gemeinsa-men Bundesausschusses Abschluss-bericht 2009–2010 im Auftrag des Ge-meinsamen Bundesausschusses, 2015. www.g-ba.de/downloads/17–98–3907/ 2015–03–11_BQS_HKS-Abschlussbericht- 2009–2010.pdf (letzter Zugriff am 24.6.2015)

4. DNEbM Veranstaltung am 01. 06. 2015 „Hautkrebs-Früherkennung in Deutsch-land – Nutzen? Schaden?“. www.ebm-netzwerk.de/ebm-events/kalender/po

diumsdiskussion-hautkrebsscreening (letzter Zugriff am 24.6.2015)

5. Statistisches Bundesamt Pressemittei-lung vom 29. Juli 2014 – 265/14 „23 % mehr stationäre Hautkrebs-behandlun-gen innerhalb von 5 Jahren“

6. Barmer GEK Arztreport 2014 „Haut-krebsrepublik Deutschland“. https:// presse.barmer-gek.de/barmer/web/Por-tale/Presseportal/Subportal/Presseinfor mationen/Archiv/2014/140204-Arztre port/Arztreport-2014.html (letzter Zu-griff am 24.6.2015)

7. Informationen des Zentrums für Krebsregisterdaten (ZfKD). Malignes Melanom der Haut. www.krebsdaten.de/Krebs/DE/Content/Krebsarten/Mela nom/melanom_node.html;jsessionid= ADAA5E104A2CD6CB283315C7E9F30898.2_cid390 (letzter Zugriff am 24.6.2015)

8. Farmer ER, Gonin R, Hanna MP. Discor-dance in the histopathologic diagnosis of melanoma and melanocytic nevi between expert pathologists. Hum Pa-thol1996; 27: 528–531

9. Shoo BA, Sagebiel RW, Kashani-Sabet M. Discordance in the histopathologic diagnosis of melanoma at a melanoma referral center. J Am Acad Dermatol 2010; 62: 751–756

10. Hawryluk EB, Sober AJ, Piris A, et al. Histologically challenging melanocytic tumors referred to a tertiary care pig-mented lesion clinic. J Am Acad Der-matol 2012; 67: 727–735

11. Malvehy J, Hauschild A, Curiel-Lewan-drowski C, et al. Clinical performance of the Nevisense system in cutaneous melanoma detection: an international, multicentre, prospective and blinded clinical trial on efficacy and safety. Br J Dermatol 2014; 171: 1099–1107

12. Wilson JMG, Jungner G. Principles and practice of screening for disease. Public Health Paper Number 34. Geneva: WHO, 1968

13. UK National Screening Committee. Cri-teria for appraising the viability, effecti-veness and appropriateness of a scree-ning programme. www.screening.nhs.uk/criteria (letzter Zugriff am 24.6.2015)

Literatur

Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren,

wir möchten Sie ganz herzlich zur jährlichen Mitgliederversammlung der DEGAM einladen (entspr. § 6, Abs. 1 der DEGAM-Satzung). Diese findet statt am Donnerstag, 17. September 2015 um 18 Uhr (Ende ca. 19.30 Uhr) im großen Hörsaal der Freien Universität Bozen, Universitätsplatz 1 in 39100 Bozen (Südtirol/Italien).Die Mitgliederversammlung ist wie jedes Jahr in unseren wissenschaftlichen Kongress eingebunden.

Bitte beachten Sie:Da die Dauer der Versammlung durch das Kongressprogramm begrenzt ist, werden die Berichte sehr kurz gefasst, liegen aber in schriftlicher Form und ebenfalls auf der DEGAM-Website (interner Bereich) vor.

Tagesordnung (Stand 20. April 2015)

1. Begrüßung, Feststellung der Beschlussfähigkeit, Genehmigung des Protokolls der letzten Mitgliederversammlung, Genehmigung der Tagesordnung

2. Gedenken an die verstorbenen Mitglieder 3. Bericht des Präsidenten und des Geschäftsführers 4. Bericht des Schatzmeisters und der Kassenprüfer 5. Entlastung des Schatzmeisters und des Präsidiums 6. Wahlen zum Stiftungsvorstand „Stiftung Deutsches Institut für Allgemeinmedizin“ 7. Berichte aus den Sektionen und Arbeitsgruppen 8. Bericht der Jungen Allgemeinmedizin Deutschland (JADE) 9. Anträge10. Sonstiges

Lt. § 4 der Satzung können Mitglieder Anträge an die Mitgliederversammlung stellen, aktuelle Informationen hierzu finden Sie im internen Bereich der Website unter „Kongresse & Veranstaltungen“.

Prof. Dr. Ferdinand M. Gerlach, MPH, Präsident

Prof. Dr. Norbert Donner-Banzhoff, Schriftführer

Einladung zur Mitgliederversammlung der DEGAM

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299DER BESONDERE ARTIKEL / SPECIAL ARTICLE

Das deutsche Hautkrebsscreening: Vom Ende einer IllusionGerman Skin Cancer Screening: the End of an IllusionJürgen Tacke

Im Jahr 2008 wurde bei der Einführung des gesetzlichen Hautkrebsscreenings (HKS) mit Superlativen nicht gegeizt [1]. Da war die Rede von einem „Meilen-stein“ für die Gesundheitsförderung der deutschen Bevölkerung [2]. Deutsch-land sah sich als weltweiten Vorreiter bei der Hautkrebsprävention [3]. Die Ein-führung des HKS war begleitet von mas-siver Kritik, da weltweit weder randomi-sierte Studien zum Nutzen und Schaden eines Hautkrebsscreenings vorlagen noch die deutsche Vorstudie aus Schles-wig-Holstein überzeugende Argumente lieferte [4–10].

Weltweit ist kein einziges Land dem deutschen Beispiel eines Massenscree-nings auf Hautkrebs gefolgt. In Aus tra -lien wurde die Einführung eines Haut-krebsscreenings im Jahr 2008 nach aus-führlicher wissenschaftlicher Bewer-tung abgelehnt [11], obwohl die Neu-erkrankungsrate beim Melanom deut-lich höher als in Deutschland ist. Da bei einem Screening primär gesunde Per-sonen untersucht werden, hat sich das

ethische Prinzip durchgesetzt, dass der Nutzen deutlich höher liegen muss als der Schaden [12].

Die Analysen der ersten Evaluation des deutschen HKS sind aufgrund einer unzureichenden Datengrundlage von äußerst bescheidener Qualität [13]. Im Ergebnis ist in Deutschland die Mortali-tät beim Melanom trotz Screening wei-ter gestiegen [14]. Das Scheitern des HKS kommt nicht überraschend, da der Nut-zen im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) fehlerhaft eingestuft wurde. Um die Vorgänge bei der Einführung des HKS verstehen zu können, ist es not-wendig, zunächst die Vorstudie des HKS, den „Modellversuch in Schleswig-Hol-stein“, zu betrachten.

Modellversuch in Schleswig-Holstein

Im Modellversuch konnten sich über ein Jahr alle gesetzlich Versicherten ab dem 20. Lebensjahr auf Hautkrebs un-

tersuchen lassen. Als Screening-Test fun-gierte eine Sichtuntersuchung der Haut, die als „visuelle Ganzkörperinspektion“ bezeichnet wird. Aufseiten der Ärzte nahmen Dermatologen sowie die als „Nicht-Dermatologen“ bezeichneten Arztgruppen Hausärzte, Chirurgen, Uro-logen und Gynäkologen teil. Der Mo-dellversuch begann in Schleswig-Hol-stein am 1. Juli 2003 und endete am 30. Juni 2004.

Die Auswertung weist einige Beson-derheiten auf. Der Abschlussbericht des Modellversuches aus dem Jahr 2004 wurde erst im Jahr 2011 vom G-BA ver-öffentlicht [15]. Von den 1,9 Millionen berechtigten Personen nahmen etwa 360.000 teil (~19 %). Entsprechend der Ein- und Ausschlusskriterien konnten auch Personen teilnehmen, die sich auf-grund eines bestehenden Hauttumors beim Arzt vorstellten. Damit ist der Mo-dellversuch keine Screening-Studie im eigentlichen Sinne, da in einem Scree-ning nur symptomlose Personen unter-sucht werden sollen. Von den Teilneh-

Niedergelassener Hautarzt in KölnDOI 10.3238/zfa.2015.0299–0303

Zusammenfassung: Vor sieben Jahren wurde in Deutschland ein Hautkrebsscreening für gesetzlich Ver-sicherte ab dem 35. Lebensjahr etabliert. Die Einführung erfolgte ohne ausreichende Evidenz. Die erste Evaluation des Programmes zeigt desaströse Ergebnisse auf der Grundlage lückenhafter und nicht plausibler Daten. Aus den Zahlen des Statistischen Bundesamtes geht hervor, dass fünf Jahre nach Einführung des Screenings ein Effekt auf die entscheidende Zielgröße, die Melanom-Mortalität, nicht nachgewiesen werden kann. Damit ist das weltweit größte Experiment zum Hautkrebsscreening gescheitert.

Schlüsselwörter: Hautkrebs; Melanom; Screening; Gesundheitssystem; Deutschland

Summary: Seven years ago, Germany introduced a skin cancer screening for citizens above the age of 35. The program was established without sufficient evidence. The first evaluation shows disastrous results based on incom-plete and implausible data. Five years after introduction of the skin cancer screening, data from the information system of the Federal Health Monitoring show no effect on melanoma mortality as the primary aim. Hence, the largest experiment worldwide on skin cancer screening has failed.

Keywords: Skin Cancer; Melanoma; Health Care System; Germany

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mern waren 73 % Frauen und über die Hälfte der Teilnehmer war jünger als 50 Jahre. Risikogruppen wie männliches Geschlecht und Personen über 50 Jahre waren unterrepräsentiert.

Zur Qualität des Screening-Tests wurde vom G-BA festgestellt, es gebe bei den Dermatologen aufgrund schlechter Studienqualität keine validen Angaben zur Testgenauigkeit [16]. Für die Nicht-Dermatologen wurden überhaupt keine Angaben in der Literatur zur Zuverläs-sigkeit der visuellen Ganzkörperinspek-tion gefunden. Der Screening-Test war im Rahmen einer Begleitstudie des Mo-dellversuches an 17 Personen (sic!) vali-diert worden. Die Validierung bezog sich jedoch nicht auf das Entdecken von Hautkrebs, sondern lediglich auf das Auffinden von Risikomerkmalen, also z.B. das Erkennen von lichtgeschädigter Haut. Der G-BA folgerte streng wissen-schaftlich: Die Ergebnisse aus Schleswig-Holstein „deuten auf eine vermutlich rela-

tiv hohe Zuverlässigkeit der visuellen Ganz-

körperinspektion bei der Entdeckung von Ri-

sikomerkmalen hin“ [16]. Im Rahmen des Modellversuches wurden 36.000 Per-sonen zunächst von Nicht-Dermatolo-gen und anschließend von Dermatolo-gen untersucht. Die Analyse dieser Folge von Untersuchungen zeigte, dass Nicht-dermatologen und Dermatologen bei identischen Personen zu sehr unter-schiedlichen Beurteilungen kamen, ob ein Verdacht auf Hautkrebs vorliegt [17].

Da keine Daten zur Mortalität beim Melanom vorlagen, wurde der Nutzen des Modellversuches in Bezug auf die Me-lanom-Mortalität mittels eines Surrogat-Parameters untersucht und bewertet. Der G-BA stellte anhand des Abschluss-berichtes fest, dass im Jahr des Modellver-suches mehr In-situ-Melanome in Schles-wig-Holstein gefunden wurden als in den Jahren zuvor. Daraus wurde vom G-BA die Schlussfolgerung gezogen, der Mo-dellversuch habe zu einer Vorverlegung des Diagnosezeitpunktes beim Melanom geführt (ein Phänomen, das bei vielen Krebs-Screenings beobachtet werden kann, das aber in keiner Weise den Nut-zen eines Screenings belegt). Es ist be-kannt, dass viele In-situ-Karzinome nicht weiter wachsen oder sich sogar wieder zu-rückbilden können.

An der Schlussfolgerung des G-BA gibt es darüber hinaus jedoch erhebliche methodische Zweifel, da in den Jahren 1999 bis 2002 bei etwa 60 % der Mela-

nome in Schleswig-Holstein das Stadi-um nicht bekannt war. Im Zeitraum des Modellversuches war dagegen das Stadi-um nur in 15 % der Melanome nicht be-kannt [18]. Allein aufgrund der unter-schiedlichen Datengrundlage der Refe-renzjahre zum Jahr des Modellversuches könnte sich ein relativer Anstieg der In-situ-Melanome erklären.

Aus dem Modellversuch wurden weitere Schlussfolgerungen gezogen, die wissenschaftlich nicht zulässig sind: Aus einer Verlaufsbeobachtung der Mela-nom-Mortalität mit kumulierten Daten des Krebsregisters Schleswig-Holstein in den Jahren nach dem Modellversuch wurde gefolgert, der Modellversuch ha-

be zu einer Mortalitätssenkung geführt [19]. In der Tat war die Melanom-Morta-lität in Schleswig-Holstein in den Jahren nach dem Modellversuch leicht gesun-ken. Da dieser Parameter in dem kleinen Bundesland großen Schwankungen un-terliegt und zudem keine individuellen Verläufe dokumentiert werden konn-ten, ist die Schlussfolgerung, der Mo-dellversuch habe zu einer Senkung der Melanom-Mortalität geführt aus metho-dischen Gründen nicht zulässig [17, 20]. Die Melanom-Mortalität in Schleswig-Holstein stieg schon wenige Jahre nach dem Modellversuch wieder deutlich an. Im Jahr 2013 lag sie leicht über dem Bundesdurchschnitt.

Tabelle 1 Sterbefälle am Melanom in Deutschland, Rate altersstandardisiert nach Standard-

bevölkerung Deutschland 2011 (Datenquelle: Statistisches Bundesamt)

Tabelle 2 Abschätzung der diagnostischen Güte der visuellen Ganzkörperinspektion für den

Verdacht auf Melanom bei einer Sensitivität von 60 %, einer Spezifität von 80 % und einer Prä-

valenz von 0,05 % bei Personen über 35 Jahren

300

Tacke:Das deutsche Hautkrebsscreening: Vom Ende einer IllusionGerman Skin Cancer Screening: the End of an Illusion

Jahr

2013

2012

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

Männer

Anzahl

1.787

1.627

1.709

1.568

1.454

1.365

1.368

1.266

1.238

1.256

1.286

1.137

1.171

1.161

1.057

1.026

Rate

4,4

4,0

4,4

4,0

3,8

3,6

3,7

3,5

3,5

3,6

3,7

3,4

3,6

3,6

3,3

3,3

Frauen

Anzahl

1.255

1.248

1.212

1.143

1.203

1.135

1.099

1.021

1.089

1.037

1.009

1.073

1.046

1.017

964

1.004

Rate

3,0

3,0

3,0

2,8

3,0

2,8

2,7

2,6

2,8

2,7

2,6

2,8

2,8

2,7

2,6

2,7

Beide Geschlechter

Anzahl

3.042

2.875

2.921

2.711

2.657

2.500

2.467

2.287

2.327

2.293

2.295

2.210

2.217

2.178

2.021

2.030

Rate

3,7

3,5

3,6

3,4

3,3

3,2

3,2

3,0

3,1

3,1

3,1

3,1

3,1

3,1

2,9

3,0

100.000 Personen

Visuelle Ganzkörperinspektion Ja

Nein

Summe

Histologisch bestätigtes Melanom

Ja

30

20

50

Nein

19.990

79.960

99.950

Summe

20.020

79.980

100.000

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Bei angemessener wissenschaftli-cher Analyse hätte der G-BA im Jahr 2007 folgende Schlussfolgerungen zie-hen müssen: Der Modellversuch ist kei-ne Screening-Studie zur Nutzenermitt-lung. Es haben in erster Linie Personen mit geringerem Risiko für Hautkrebs teilgenommen. Die Zuverlässigkeit des Screening-Tests ist zweifelhaft. Es exis-tieren keine Daten im Sinne der Sen-kung der Mortalität oder entsprechen-der Surrogat-Parameter. Zum Schaden eines Hautkrebsscreenings, wie Anzahl und Ausmaß der Exzisionen oder über-steigerte Angst in der Bevölkerung, sind keine Daten verfügbar.

Bekanntlich kam der G-BA auf sei-ner Sitzung am 15. November 2007 je-doch zu einer anderen Schlussfolgerung und führte das HKS in Deutschland ein.

Evaluation des gesetzlichen Hautkrebsscreenings

Obwohl die Evidenz für eine Effektivität des Hautkrebsscreenings vom Bundes-gesundheitsministerium als unzurei-chend eingestuft wurde, erfolgte im Ja-nuar 2008 durch „Nichtbeanstandung“ die Genehmigung des HKS [16]. Das Bundesministerium wies in diesem Zu-sammenhang darauf hin, dass spätes-tens fünf Jahre nach Einführung des HKS eine Evaluation durchzuführen sei und empfahl dafür die Berücksichti-gung der Zielgröße Mortalitätssenkung. Gegenüber dem dargestellten Modell-versuch wurden beim HKS als bundes-weites Programm folgende Veränderun-

gen vorgenommen: Gesetzlich Ver-sicherte können das Screening ab dem 35. Lebensjahr alle zwei Jahre in An-spruch nehmen. Aufseiten der Ärzte dürfen nach einer Pflichtfortbildung von acht Stunden Hausärzte und Haut-ärzte das Screening durchführen und abrechnen.

Der G-BA veröffentlichte erst nach erheblichem öffentlichem Druck und mit fast zweijähriger Verspätung die Evaluation des eingeführten HKS im April 2015 [13]. Die Auswertung beruht auf Dokumentationsbögen, die von un-tersuchenden Ärzten bei jeder Scree-ning-Untersuchung ausgefüllt werden. Dieser Ansatz erwies sich jedoch für die Evaluation als nicht realisierbar: Das be-auftragte BQS-Institut war weder in der Lage, Basisdaten eines Programm-Moni-toring zu ermitteln, noch konnten Aus-sagen zur Qualität des Screening-Pro-grammes auf dieser Grundlage gemacht werden.

Die vorgelegten Analysen im Eva-luationsbericht beruhen auf lückenhaf-ten und nicht plausiblen Daten. Aus-gewertet wurden Dokumentations-bögen der Jahre 2009 und 2010. Im Jahr 2009 gab es beispielsweise zu 2,5 von 6,9 Millionen abgerechneten Screening-Untersuchungen (~36 %) keine Doku-mentationsbögen. Die Datensätze, die vorlagen, erwiesen sich als nicht plausi-bel. So wurden im Jahr 2010 in Bayern 395.000 HKS-Untersuchungen abge-rechnet. Es gab aber in diesem Jahr 774.000 Dokumentationsbögen. Bun-desweit lag die Teilnahmerate am HKS basierend auf den Dokumentations-

bögen im Evaluationszeitraum grob ori-entierend bei 11 % im Jahr 2009 und 14 % im Jahr 2010. Die Teilnahmerate der Ärzte konnte ebenfalls nur orientie-rend ermittelt werden.

Der Ablauf des Screenings konnte vom BQS-Institut nicht angemessen nachvollzogen werden. So wurde im Jahr 2010 von den Hausärzten in 161.000 Fällen eine Überweisung an Hautärzte ausgestellt, allerdings gaben Hautärzte in 274.000 Fällen eine Über-weisung von Hausärzten an. In nur 34.000 Fällen lag der Überweisung ein Hautkrebs-Verdacht zugrunde.

Im Jahr 2010 wurden 3.774 In-situ-Melanome bei insgesamt 7.414 Mela-nomen im HKS gefunden. Damit liegt der Anteil der gefundenen In-situ-Me-lanome bei über 50 % und somit deut-lich über dem weltweit üblichen Ni-veau. Dieses Ergebnis ist ein Hinweis auf eine erhebliche Anzahl von Über-diagnosen.

Zur Beurteilung der Effektivität des Screenings wurden öffentlich zugäng-liche Daten der epidemiologischen Krebsregister vom BQS-Institut verwen-det. Wenn die Rate der dünnen bzw. sehr flach wachsenden Melanome zunimmt, müsste bei einem effektiven Screening die Rate der dicken bzw. in die Tiefe wachsenden Melanome abnehmen. Doch genau dieser Fall ist für den Zeit-raum 2008 bis 2011 nicht eingetreten: Die Rate der dicken Melanome mit un-günstiger Prognose ist unverändert ge-blieben oder von der Tendenz leicht ge-stiegen. Dies ist – akzeptable Datenqua-lität unterstellt – ein Hinweis auf einen

Abbildung 1

Anzahl der Todes-

fälle am Melanom

in Deutschland

nach Alter ab dem

35. Lebensjahr.

Vergleich der Jahre

2008 und 2013

(Datenquelle: Statis-

tisches Bundesamt)

301

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fehlenden Nutzen des Screenings sowie eine Bestätigung des Schadens durch Überdiagnosen.

Entsprechend ist die Sterberate am Melanom der Haut seit Einführung des HKS nicht gesunken, sondern tenden-ziell gestiegen. Im Jahr 2008 starben nach Angaben des Statistischen Bun-desamtes 2.500 Personen am Mela-nom. Im Jahr 2013 waren es 3042 To-desfälle (altersstandardisierte Rate: 2008: 3.2/100.000; 2013: 3,7/100.000) (Tab. 1). Der Anstieg ist im Wesentli-chen auf mehr Todesfälle bei Männern ab dem 65. Lebensjahr zurückzuführen (Tab. 1, Abb. 1).

Beim weißen Hautkrebs (Basalzell-karzinom, Plattenepithelkarzinom) spielt die Mortalität als Zielgröße eine unterge-ordnete Rolle. Das Basalzellkarzinom weist eine statistische Besonderheit auf. Die relative 5-Jahresüberlebensrate beträgt 104 % [21]. Somit leben Per-sonen, die diese Diagnose erhalten, sta-tistisch länger als die altersentspre-chende Vergleichsgruppe. Das Platten-epithelkarzinom weist zwei Besonder-heiten auf: Es ist in der Regel gut sicht-bar und das Erkrankungsalter liegt bei 75 (Männer) bzw. 79 Jahren (Frauen). Insofern ist der Nutzen eines Scree-nings aufgrund des fortgeschrittenen Alters schwer nachweisbar. Die Morbi-dität dürfte beim weißen Hautkrebs al-lerdings durch ein Screening gesenkt werden, wozu es jedoch keine validen Daten gibt.

Das wichtigste Ziel des HKS war die Senkung der Melanom-Mortalität. Dieses Ziel wurde offensichtlich nicht erreicht. Warum aber ist das HKS gescheitert?

Grundlagen der Epidemiologie ignoriert

Bezogen auf die Altersgruppe ab dem 35. Lebensjahr liegt die Neuerkrankungs-rate in Deutschland beim Melanom bei etwa 50 pro 100.000 Personen pro Jahr

(= Inzidenz 0,05 %). Somit müssen 2000 Personen untersucht werden, um ein Melanom zu finden – vorausgesetzt, die untersuchenden Ärzte finden jedes Me-lanom und finden es früher als sonst üb-lich. Diese beiden Annahmen sind je-doch im Alltag unrealistisch.

Obgleich keine verlässlichen Daten zur Diagnostik eines Melanoms mittels visueller Ganzkörperinspektion vorlie-gen, können die Daten aus der Litera-tur grob abgeschätzt werden. Die Sensi-tivität dürfte bei etwa 60 % liegen und die Spezifität bei etwa 80 %. Tabelle 2 zeigt die Ergebnisse des Screening-Tests bei einer Prävalenz von 0,05 %. Bei 100.000 Screening-Teilnehmern wer-den von 50 Melanomen mittels visuel-ler Ganzkörperinspektion 30 gefun-den. Dafür müssen 99.950 gesunde P ersonen untersucht werden. Auf je-des gefundene Melanom kommen 666 Verdachtsfälle, die einem operativen Eingriff zugeführt werden müssen und die sich dann als Fehlalarm herausstel-len. Wird schließlich berücksichtigt, dass die Risikogruppen bei der Teilnah-me am HKS unterrepräsentiert sind und die Teilnahmerate am Screening nur bei 10 bis 15 % pro Jahr liegt, ist of-fensichtlich, dass das HKS bereits auf-grund der epidemiologischen Rahmen-daten nicht effektiv sein kann. Dies ist übrigens auch der Grund, warum in al-len Ländern, auch in denen mit deut-lich höherer Inzidenz des Melanoms, das bevölkerungsweite Screening abge-lehnt wurde.

Die hier präsentierten Berechnun-gen lassen einen Nutzen für die Sen-kung der Mortalität im Rahmen eines Massenscreenings als unwahrschein-lich erscheinen. In den meisten Län-dern beschränkt sich daher ein Haut-krebsscreening nur auf Personen mit hohem Risiko.

Wie aber war es möglich, dass der G-BA trotz fehlender Evidenz zu einem positiven Votum für ein Massenscree-ning kam?

Eminenz-basierte Medizin und Personalunion

In der damaligen Situation stand der G-BA aufgrund von Kampagnen der „Haut-krebs-Lobby“ unter erheblichem Druck [22]. Zu den glühenden Befürwortern des HKS zählten der Berufsverband der deut-schen Dermatologen (BVDD) sowie ein Bündnis bestehend aus Arbeitsgemein-schaft dermatologische Prävention (ADP) und Deutsche Krebshilfe (DKH) [23]. Da-rüber hinaus waren die Krankenkassen an einer Regulierung der Hautkrebsfrüh-erkennung interessiert, um dem Druck der Versicherten auf individuell eingereichte Erstattungen von Hautkrebs-Früherken-nungen zu entgehen und somit letztlich die Verwaltungs- und Erstattungskosten über zentrale Verträge zu senken.

Die Prüfung der Evidenz entspre-chend der Verfahrensordnung des G-BA war angesichts der Studienlage eine deli-kate Angelegenheit. Eine Personalunion erleichterte die Überzeugungsarbeit im G-BA. Der Leiter des Modellversuches in Schleswig-Holstein war gleichzeitig auch der Fachberater für das HKS im zuständi-gen Unterausschuss des G-BA. Somit hat der Leiter des Modellversuches seinen ei-genen Modellversuch „wissenschaftlich“ bewertet. Darüber hinaus wurde die dazu-gehörige Stellungnahme der dermatologi-schen Gesellschaften für den G-BA vom Fachberater selbst verfasst. In diesem Zu-sammenhang darf noch erwähnt werden, dass der Leiter des Modellversuches und der Fachberater im G-BA auch der Koordi-nator der S3-Leitlinie „Hautkrebs-Präven-tion“ war [24]. Es dürfte daher nicht weiter überraschen, dass in dieser Leitlinie trotz Sondervotum das HKS „wissenschaftlich“ empfohlen wird [25].

Interessenkonflikte: Die Gemein-schaftspraxis der Hautärzte in Köln, in der JT tätig ist, nimmt am gesetzlichen Haut-krebsscreening nicht teil. Früherken-nungsuntersuchungen auf Hautkrebs wer-den als Wunschleistung nach der Gebüh-renordnung für Ärzte (GOÄ) abgerechnet.

Dr. med. Jürgen Tacke, MPH (USA)

Bremsstraße 19

50969 Köln

Tel.: 0221 9364140

[email protected]

Korrespondenzadresse

… Medizinstudium in Münster. Facharztausbildung an der Uni-

versitäts-Hautklinik in Erlangen. Public-Health-Studium an der

Johns Hopkins School of Public Health in Baltimore. Seit 2001

niedergelassener Hautarzt in einer Gemeinschaftspraxis in

Köln.

Dr. med. Jürgen Tacke, MPH (USA) …

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24. AWMF. Leitlinienreport – S3-Leitlinie Hautkrebs-Prävention. www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/032–052OL.html (letzter Zugriff am 24.06.2015)

25. Chenot J, Egidi G. Empfehlungen zum Hautkrebsscreening in der S3-Leitlinie „Prävention von Hautkrebs“ – Kritik der DEGAM Teil 2. Z Allg Med 2015; 91: 121–125

Literatur

Ständig aktualisierte Veranstaltungstermine von den „Tagen der Allgemeinmedizin“ finden Sie unter

www.tag-der-allgemeinmedizin.de

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304 DER BESONDERE ARTIKEL / SPECIAL ARTICLE

Konflikte um Leitlinien – am Beispiel der S3-Leitlinie „Sekundärprophylaxe ischämischer Schlaganfall und transitorische ischämische Attacke“Controversies Over Guidelines – Exemplified in the S3 Guideline „Secondary Prevention of Ischemic Stroke and Transient Ischemic Attack“Günther Egidi

Gemeinschaftspraxis für Allgemeinmedizin, Bremen Peer reviewed article eingereicht: 20.05.2015, akzeptiert: 12.06.2015 DOI 10.3238/zfa.2015.0304–0309

Zusammenfassung: Die Arbeitsgemeinschaft der wis-senschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften ver-suchte, auch bei den Leitlinien verschiedener Fachgesell-schaften zum Thema Schlaganfall eine Vereinheitlichung herzustellen. Bedingt durch interne personelle Probleme formulierte die DEGAM ihre Kritik an der neurologischen S3-Leitlinie „Sekundärprophylaxe ischämischer Schlag-anfall und transitorische ischämische Attacke“ erst spät. Die DGN entschied sich darauf dagegen, die DEGAM wei-ter an ihrem Leitlinien-Prozess zu beteiligen. Damit ver-liert die DGN-Leitlinie ihre Gültigkeit für den hausärzt-lichen Versorgungsbereich.

Schlüsselwörter: Leitlinien; Schlaganfall; Interessenkonflikte

Abstract: The Association of the Scientific Medical So-cieties in Germany (AWMF) attempted to harmonize the guidelines of different medical societies regarding treat-ment of ischemic stroke. Due to personal problems the DEGAM emphasized some critical comments late in the guideline development process of the DGN guideline „secondary prevention of ischemic stroke und transient ischemic attack“. The DGN decided not to consult DEGAM any more for this guideline. Thereby the DGN guideline looses its validity for family practice.

Keywords: Guidelines; Stroke; Conflict of Interests

Hintergrund

Der ischämische Schlaganfall ist eine Er-krankung mit einer hohen [1], wenn-gleich in vielen westlichen Ländern rück-läufigen [2] Inzidenz und Sterblichkeit. Die Wahrscheinlichkeit, nach einem ze-rebral-ischämischen Ereignis einen wei-teren Schlaganfall zu erleiden, ist hoch [3]. Insofern werden auch pharmakologi-sche Interventionen gegen Rezidive eines solchen Ereignisses gebraucht. Anfäng-lich gab es ausgiebige Kontroversen um den Einsatz von Clopidogrel nach Insul-ten, die unter ASS eintraten (als „ASS-Ver-sagen“ tituliert) sowie um die Kombinati-

on von Dipyridamol mit ASS [4]. In den letzten Jahren rückte die Beurteilung der neuen direkten Antikoagulanzien in den Mittelpunkt einiger Kontroversen. So führten die Empfehlungen der Arznei-mittelkommission der deutschen Ärzte-schaft (AKdÄ) zur oralen Antikoagulati-on bei nicht valvulärem Vorhofflimmern [5] zu einer massiven Kritik seitens der deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) [6] und diese wiederum zu einer deutlichen Erwiderung seitens der AKdÄ [7]. Hauptgegenstand der Kritik seitens der DGN war die Empfehlung, bei Patien-ten*, die mit Vitamin-K-Antagonisten gut zu behandeln sind, die seinerzeit

neuen Substanzen Dabigatran und Riva-roxaban nicht einzusetzen. Begründet wurde diese Empfehlung u.a. mit fehlen-den Langzeitdaten, der fehlenden Anta-gonisierbarkeit sowie unfairen Verglei-chen in den Vergleichsgruppen der Zu-lassungsstudien mit (zu) schlechter Quo-te an Patienten mit therapeutischen INR-Werten.

Vor dem Hintergrund solcher Kon-troversen (die sich im Zusammenhang mit der Markt-Einführung der neuen di-rekten Antikoagulanzien noch einmal

* Der Gebrauch der männlichen Form erfolgt nur aus Gründen der Vereinfachung. Gemeint sind im-mer Frauen und Männer.

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verschärften) standen die Aktualisierun-gen zweier Leitlinien zum ischämischen Schlaganfall an: der S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemein-medizin und Familienmedizin (DEGAM) von 2006 sowie der S1-Leitlinie von DGN und Deutscher Schlaganfallgesellschaft (DSG) zu Primär- und Sekundärpräventi-on der zerebralen Ischämie, die im Jahr 2008 veröffentlicht worden war.

Bemühungen der Arbeits-gemeinschaft der Wissen-schaftlich Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) um Einheitlichkeit in Leitlinienempfehlungen

Im Juni 2010 fand eine von der AWMF moderierte Konsensuskonferenz statt. Man verständigte sich darauf, dass die aktualisierte DEGAM-Leitlinie Schlag-anfall die Bereiche Primär- und Sekun-därprävention sowie die Rehabilitation komplett abdecken solle – die aktuali-sierte Version der DEGAM-Leitlinie wur-de im Februar 2012 veröffentlicht [8]. Die DGN solle die Federführung für eine Leitlinie zur Sekundärprävention, die Deutsche Gesellschaft für Neurologi-sche Rehabilitation die für eine Leitlinie zur Rehabilitativen Behandlung von Pa-tienten mit Schlaganfall-Folgeerkran-kungen erhalten.

Es wurde vorgeschlagen, nach Fertig-stellung der von der DGN federführend verantworteten Leitlinie Sekundärprä-vention, deren Schlüsselempfehlungen in einem Delphi-Verfahren zu konsentie-ren und danach mit Darstellung abwei-chender Voten in die DEGAM-Leitlinie Schlaganfall zu übernehmen. Minder-heitsvoten sollten dargestellt werden. Mit dieser Vorgehensweise sollten alle drei Leitlinien den S3-Level erhalten.

Personelle Probleme in der DEGAM und finale Auseinan-dersetzungen um die S3-Leit-linie „Sekundärprophylaxe ischämischer Schlaganfall und transitorisch ischämische Attacke“ der DGN

Ein erstes Konsensus-Treffen zu dieser Leitlinie [9] fand am 15.9.2010 unter Mo-deration durch die AWMF statt. 50 Schlüsselfragen wurden konsentiert.

Die meisten Empfehlungen wurden im Konsens verabschiedet (Zustimmung von > 75 % der Mandatsträger), knapp zwei Drittel im starken Konsens (Zustim-mung von > 95 % der Mandatsträger).

Die DEGAM hatte bei dieser Leitlinie das Problem, dass die Mandatsträgerin kaum Kontakt zur Ständigen Leitlinien-Kommission der DEGAM hielt – und ge-gen Ende des Leitlinien-Prozesses im Juli 2012 für keinerlei Kontaktaufnahme mehr zur Verfügung stand. So kam es, dass die DEGAM ihre Kritik an der Leit-linie erst sehr spät formulieren konnte.

Zu insgesamt acht Schlüssel-Emp-fehlungen der Leitlinie formulierte die DEGAM Änderungsvorschläge, die in der Tabelle 1 den jeweiligen Empfehlun-gen der Leitlinie gegenübergestellt sind. Diese Sondervoten wurden in einer Tele-fonkonferenz am 29.10.2012 unter Lei-tung der AWMF diskutiert – eine Auf-nahme in die Leitlinie wurde zugesagt. Die DEGAM war bereit, ihre Voten in ein einziges hausärztliches zusammenzufas-sen, um nicht durch die große Anzahl abweichender Voten einen zu massiven Eindruck zu hinterlassen.

Zusammengefasst finden sich fol-gende unüberbrückbare Positionen:1. Bewertung der Verordnungskosten

von Clopidogrel und der Kombinati-on von ASS mit Dipyridamol bei nicht nachgewiesener Überlegenheit hin-sichtlich der Wirkung

2. Bewertung des Potenzials von Stati-nen zur Prävention eines Rezidiv-In-sultes

3. Dosis-Titration oder Strategie der fi-xen Dosis beim Einsatz von Statinen

4. Generelle Empfehlung zur Antikoagu-lation bei Vorhofflimmern und präze-dentem Insult versus Empfehlung zur ergebnisoffenen Beratung hinsicht-lich Nutzen und Risiken einer Anti-koagulation

5. Einschätzung der Nutzen-Risiko-Rela-tion der neuen, direkten Antikoagu-lanzien im Vergleich zu Vitamin-K-Antagonisten

6. Einschätzung des Stellenwertes von ASS bei Vorhofflimmern und Insult

Diskussion der kontroversen Punkte

Insbesondere bei der generellen Emp-fehlung zur Antikoagulation zeigt sich möglicherweise der Einfluss des Set-

tings, innerhalb dessen die Empfeh-lung zur Anwendung kommen sollte: Während eine Medikation in Kliniken eher verordnet wird, findet in der Haus-arztpraxis eher ein Prozess des Aushan-delns statt. Dieser kann auch in Kennt-nis des Risikos eines Rezidiv-Insultes durchaus in einer informierten Ent-scheidung gegen eine Antikoagulation enden. Ähnlich verhält es sich bei der Empfehlung zum Einsatz von Statinen. Zunehmend mehr Hausärztinnen und Hausärzte arbeiten mit elektronischen Entscheidungshilfen [10]. Die grafische Demonstration einer NNT von 50/5 Jahre führt in der Beratung häufig dazu, dass die Patientinnen und Patienten nicht bereit sind, die entsprechende Substanz – hier das Statin – dauerhaft einzunehmen.

Die DGN-Leitlinie nahm bewusst nicht Stellung zu ökonomischen Fra-gestellungen. Für Hausärztinnen und Hausärzte wiederum, die die Grenzen ihres Verordnungs-Budgets zu berück-sichtigen haben, spielt bei gleichwerti-ger Wirkung verschiedener Substanzen durchaus auch deren Preis eine wichtige Rolle.

Der Stellenwert der neuen, direkten Antikoagulanzien ist weiterhin umstrit-ten [5–7]. Entscheidend scheint die Gü-te der Antikoagulation in der Kontroll-gruppe mit Vitamin-K-Antagonisten zu sein. So war beispielsweise Dabigatran in der Zulassungs-Studie RE-LY [11] ab ei-ner Zeit im therapeutischen INR-Bereich (TTR) von mehr als 65,5 % weder hin-sichtlich embolischer noch bezüglich von Blutungsereignissen überlegen (gilt für beide Dosierungen). Aktuelle Daten aus der Versorgungsforschung [12] wei-sen aber darauf hin, dass die durch-schnittliche TTR in Deutschland höher liegt.

Die Datenlage für oder gegen den Einsatz von ASS bei Vorhofflimmern ist schlecht. Daraus ergibt sich ein erhebli-cher Interpretations-Spielraum.

Entscheidung der DGN gegen eine weitere Mitarbeit der DEGAM

Die o.a. personellen Probleme innerhalb der DEGAM und die dadurch recht spät eingebrachten Sondervoten der DEGAM stellten mit Sicherheit eine Herausforde-rung für die DGN dar.

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Empfehlung der DGN-Leitlinie

Empfehlung 1.2

Patienten mit ischämischem Schlaganfall oder TIA sollen mit ASS (allein oder in Kombination mit verzögert freisetzendem Dipyridamol) oder Clopidogrel behandelt werden. Keine der beiden Substanzen ist der jeweils anderen sicher überlegen.

Empfehlungsgrad A, Evidenzebene Ib; Leitlinienadaption (SIGN 2008)

Empfehlung 2.1

Patienten mit ischämischem Schlaganfall oder TIA sollen mit einem Statin behandelt werden.

Empfehlungsgrad A, Evidenzebene Ia; Leitlinienadaption (Australia 2010)

Empfehlung 2.4

Basierend auf den Ergebnissen kardio -vaskulärer Studien sollte auch bei der Behandlung von Schlaganfallpatienten mit einem Statin ein LDL-Cholesterinwert < 100 mg/dl (< 2,6 mmol/l) angestrebt werden.

Good clinical practice; Leitlinienadaption (Spain 2009)

Empfehlung 3.1

Patienten mit ischämischem Schlaganfall oder TIA mit permanentem, persistieren-dem oder paroxysmalem Vorhofflimmern sollen eine orale Antikoagulation erhalten.

Empfehlungsgrad A, Evidenzebene Ib; Leitlinienadaption (Australia 2010)

Empfehlung 3.2

Thrombozytenfunktionshemmer sollten in der Sekundärprävention nach ischämi-schem Schlaganfall oder TIA mit Vorhof-flimmern nicht mehr verwendet werden, sofern keine kardiologische Indikation für die Gabe von Thrombozytenfunktions-hemmern vorliegt.

Good clinical practice

Änderungs-Vorschlag der DEGAM

Clopidogrel sollte außer bei echter ASS-Unverträglichkeit (Idiosynkrasie) oder höhergradi-ger pAVK nicht verordnet werden. Clopidogrel hat außer bei echter ASS-Unverträglichkeit (Idiosynkrasie) oder bei höhergradiger pAVK keinerlei Vorteil vor ASS [17]. B

Begründung: Bei nach Studienlage gleicher Wirksamkeit und Verträglichkeit ist im Sinn der Schonung der Ressourcen des Gesundheitswesens der erheblich preiswerteren Sub-stanz der Vorzug zu geben.

Dipyridamol in Kombination mit ASS sollte nicht verordnet werden – es bringt keinen zu-sätzlichen Nutzen. B

Begründung: Bei nach Studienlage gleicher Wirksamkeit ist im Sinn der Schonung der Ressourcen des Gesundheitswesens der erheblich preiswerteren Substanz der Vorzug zu geben. Die Studien zur angeblichen Überlegenheit der Kombination von Dipyridamol und ASS beruhen möglicherweise auf einem unfairen Vergleich durch zu niedrigere Do-sierung der ASS in der Kontrollgruppe. In einer Studie mit ausreichend dosierter ASS konnte der Beweis einer Nichtunterlegenheit der Kombination nicht erbracht werden [18]. Hinzu kommt eine deutlich schlechtere Verträglichkeit [19] mit einer erhöhten Ab-bruchrate.

Für den hausärztlichen Versorgungsbereich ist die Empfehlung zu Statinen bei Patienten mit einem ischämischen Hirninfarkt (Behandlung in Standarddosierung) abzuschwächen. Das hausärztliche Patientenkollektiv erfordert hier ein individuelles Vorgehen (siehe auch Diskussionspunkt 11).

Begründung: Hausärztinnen und Hausärzte haben regelhaft mit älteren und sehr alten sowie multimorbiden Personen zu tun, die einen Schlaganfall erleiden. Eine NNT zur Verhütung eines Reinsultes in Höhe von 50/5 Jahre, die sich aus der Studienlage [20, 21] ergibt, erscheint in einer solchen Situation zu hoch, um generell Statine zu emp-fehlen. In einem Cochrane-Review [22] war der Statin-Effekt nur von grenzwertiger Signifikanz.

Das Sondervotum der DEGAM zur LDL-Zieldosis in der NVL KHK sollte mit aufgenommen werden – dies entfiel mit dem Ausschluss der DEGAM aus der Leitlinie.

Patienten mit ischämischem Insult oder transienter ischämischer Attacke in der Anamnese sollen bei permanentem, persistierendem oder paroxysmalem Vorhofflimmern in einer ge-meinsamen Entscheidungsfindung über Vor- und Nachteiler einer oralen Antikoagulation beraten werden. Empfehlungsgrad: Die Entscheidung zur Therapie kann nur individuell gestellt werden.

Statement Good clinical practice.

Begründung: Es darf nach Auffassung der DEGAM bei dieser präventiven Intervention kei-nen Automatismus geben. „Soll-Empfehlungen“ führen häufig zu Qualitätsindikatoren. Phenprocoumon und Warfarin sind häufig für Klinik-Einweisungen wegen unerwünschter Arzneiwirkungen verantwortlich [23]. Die Entscheidung für oder gegen eine Therapie stellt – auch in den Augen der hausärztlich betreuten Patientinnen und Patienten – einen so großen Eingriff in ihre Lebenssituation dar, dass hier der Prozess einer gemeinsamen Entscheidungsfindung nach Auffassung der DEGAM im Vordergrund stehen sollte. Nutzen und Risiken einer Antikoagulation sind den Patienten auf anschauliche Weise zu demons-trieren. Dabei kann beispielsweise unter Verwendung von Scores zum Embolie- und zum Blutungs-Risiko durchaus gemeinsam festgestellt werden, dass die potenziellen Blutungs-risiken den möglichen Nutzen überschreiten.

Acetylsalicylsäure (ASS) hat vorerst weiterhin ihren Platz in Primär- und Sekundärpräventi-on des embolischen Hirninsultes bei Vorhofflimmern [24, 25].

Empfehlungsgrad 0, Good clinical practice.

Sie sollte dann in einer Dosierung von 100 mg eingesetzt werden. Es liegt zwar nur Studi-enevidenz zur Dosierung von 300 mg vor (Evidenzlevel Ib), aber in Kenntnis des mit zu-nehmender Dosis einhergehenden Blutungsrisikos sollte die niedrigere Dosis gewählt werden.

Begründung: Die Datenlage zum Einsatz anderer Substanzen als Warfarin in der Sekun-därprävention des Insultes bei Vorhofflimmern ist schwach. Unzweifelhaft ist ASS gegen-über Warfarin unterlegen [26, 27]. Eine Wirksamkeit konnte in Subgruppen von Personen in der Sekundärprävention nach Schlaganfall bei Vorhofflimmern nachgewiesen werden [28–30]. Im direkten Vergleich mit Apixaban [31] war ASS unterlegen, jedoch bezog sich diese Untersuchung nicht auf die Sekundärprävention.

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Nachdem ein halbes Jahr zuvor die Aufnahme ihrer Sondervoten in die DGN-Leitlinie vereinbart worden war, wurde die DEGAM im Februar 2013 dann aber doch überraschend damit konfrontiert, dass man sie aufforderte, den Leitlinien-Prozess zu verlassen.

Dies vollzog das DEGAM-Präsidium gezwungenermaßen mit der folgenden Erklärung für den Evidenzreport: „Im Wesentlichen liegt den Sondervoten das Prinzip zugrunde, dass aufgrund der Be-sonderheiten des hausärztlichen Set-tings manche Empfehlungen nur in ge-änderter oder abgeschwächter Form für den primärärztlichen Sektor gelten kön-nen. Von Seiten der DGN wird daher in dieser S3-Leitlinie bezüglich der haus-ärztlichen Versorgung auf die Schlag-anfall-Leitlinie der DEGAM verwiesen.

Aus diesem Grund wird diese Leitlinie ohne Beteiligung der DEGAM heraus-gegeben, da der Dissens unter den he-rausgebenden Fachgesellschaften nicht aufgelöst werden konnte.“

Im Langtext der Leitlinie ist die DE-GAM nicht mehr erwähnt, genauso we-nig die von ihr erarbeiteten Sondervo-ten. Zugleich wurde die Zusage zurück-genommen, die beiden in der Nationa-len Versorgungsleitlinie (NVL) KHK [13] dargestellten möglichen, sich diametral unterscheidenden Behandlungsoptio-nen zur Statin-Therapie („Treat-to-tar-get-Strategie“ versus Strategie der fixen Dosis) auch in der DGN-Leitlinie zum Schlaganfall abzubilden und hiermit die Leitlinien-Landschaft zu harmonisieren.

Im Leitlinienreport benennt die DGN-Leitlinie als Adressaten „... alle Ärz-

te und Angehörige von Berufsgruppen, die mit der Sekundärprophylaxe des ischämischen Schlaganfalls befasst sind (Neurologen, Internisten, Allgemeinme-diziner ...)“. Diese Gültigkeit auch für den hausärztlichen Bereich ist in dem Mo-ment zu hinterfragen, in dem die Positio-nen der hausärztlichen Fachgesellschaft nicht mehr abgebildet werden konnten. Anders als die meisten Vertreterinnen und Vertreter der die DGN-Leitlinie ver-antwortenden Fachgesellschaften (hier gab es massive Interessenkonflikte bei Be-raterverträgen und Vortragshonoraren sowie teilweise bei Drittmitteln; die Liste insbesondere des DGN-Vertreters Profes-sor Diener ist legendär – [36]) hatten die DEGAM-Vertreter keine Interessenkon-flikte durch Verbindungen mit der phar-mazeutischen Industrie. Im Herbst 2012

Tabelle 1 Synopse zu Empfehlungen der DGN-Leitlinie und DEGAM-Kritik

Empfehlung der DGN-Leitlinie

Empfehlung 3.3

Höheres Lebensalter per se ist bei Patien-ten nach ischämischem Schlaganfall oder TIA mit Vorhofflimmern keine Kontra -indikation für eine orale Antikoagulation. Auch Patienten in höherem Lebensalter sollten antikoaguliert werden.

Empfehlungsgrad B, Evidenzebene Ib

Empfehlung 3.10

Patienten mit ischämischem Schlaganfall oder TIA und nicht valvulärem Vorhofflimmern sollen eine orale Antikoagulation erhalten.

Empfehlungsgrad A, Evidenzebene Ib; siehe Empfehlung 3.1

Die neuen Antikoagulantien (d.h. Dabiga-tran, Rivaroxaban und Apixaban) stellen eine Alternative zu den Vitamin-K-Antago-nisten dar und sollten aufgrund des güns-tigeren Nutzen-Risiko-Profils zur Anwen-dung kommen.

Empfehlungsgrad B, Evidenzebene Ib

Empfehlung 3.12

Patienten nach ischämischem Schlaganfall oder TIA mit Vorhofflimmern, die für Vita-min-K-Antagonisten ungeeignet sind und bisher dauerhaft mit einem Thrombozy-tenfunktionshemmer behandelt wurden und bei denen keine Kontraindikation für die Gabe von Apixaban vorliegt, sollten mit Apixaban behandelt werden.

Empfehlungsgrad B. Evidenzebene Ib

Alternativ zu Apixaban können in dieser Konstellation auch Dabigatran oder Riva-roxaban eingesetzt werden.

Good clinical practice

Änderungs-Vorschlag der DEGAM

Höheres Lebensalter per se ist bei Patienten nach ischämischem Insult oder transienter ischämischer Attacke mit Vorhofflimmern keine Kontraindikation für eine orale Antikoagu-lation. Evidenzlevel Ib. Auch Patienten in höherem Lebensalter sollten über Vor- und Nachteile einer Antikoagulation beraten werden. Empfehlungsgrad B.

Begründung: siehe voriges Sondervotum

Bei ausgeprägten Schwierigkeiten, mit Vitamin K-Antagonisten den Ziel-INR-Wert von 2–3 zu erreichen oder die notwendigen Kontrollen durchzuführen, sollten den Patienten Dabi-gatran, Rivaroxaban oder nach dessen Marktzulassung Apixaban angeboten werden. Evi-denzebene Ib. Empfehlungsgrad B.

Begründung: Angesichts der geringen Erfahrungen mit den neuen direkten oralen Antiko-agulanzien (NOAK), des Risikos toxischer Wirkungen bei eingeschränkter Nierenfunktion [32], der Abhängigkeit der Vorteile der NOAK von einer ungenügenden INR-Zielwerterrei-chung in der Kontrollgruppe [33], der fehlenden Antagonisierbarkeit und der erhöhten Rate von Myokardinfarkten [34, 35] (auch wenn sich diese Untersuchungen nicht auf die Sekundärprävention bezogen, bleiben ihre Aussagen valide – das Auftreten unerwünsch-ter Wirkungen hängt nicht von der Indikation ab, wegen derer die Substanz eingesetzt wurde) sollten diese Substanzen nicht in erster Linie eingesetzt werden. Die Vorteile in den Studien RELY, ROCKET und ARISTOTLE lagen im besten Fall im Promille-Bereich.

Nahezu alle Leitlinien zum Vorhofflimmern (ACCP, AHA, kanadische, australische, NICE) außer der aktualisierten ESC-LL von 2012 geben Cumarine und neue OAK zumindest als gleichwertige Optionen an.

Patienten nach ischämischen Insult oder TIA mit Vorhofflimmern, die eine klare Indikation für eine orale Antikoagulation haben, aber Cumarine wegen absoluter Kontraindikationen nicht nehmen können oder bei denen regelmäßige INR-Kontrollen nachweislich nicht möglich sind, sollte bei Fehlen von Kontraindikationen mit ASS oder Apixaban behandelt werden.

Empfehlungsgrad B. Evidenzebene Ib .

Begründung: Apixaban war im direkten Vergleich (AVERROES) gegenüber ASS bei Vorhof-flimmern überlegen, allerdings bezog sich diese Arbeit auf die Primärprävention. Die DE-GAM vertritt die Position, dass auch bei Überlegenheits-Hinweisen aus der Studien-Evi-denz eine erst während der Erstellung der Leitlinie am Markt zugelassene Substanz nicht ausschließlich vorrangig empfohlen werden kann. Informationen aus Postmarketing-Studi-en sollten abgewartet werden, um zu entscheiden, ob Apixaban das Potenzial besitzt, ASS als Reservesubstanz bei den Patienten abzulösen, die für eine orale Antikoagulation mit Warfarin oder Phenprocoumon ungeeignet sind.

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unterstützten 14 von 434 Neurologen mit ihrer Unterschrift eine Initiative in-nerhalb der DGN, die u.a. fordert, dass Personen mit Interessenkonflikten zum Thema nicht Leitlinien-Autoren sein dürfen [14]. Es erscheint durchaus mög-lich, dass im vorliegenden Fall die ange-gebenen Interessenkonflikte der DGN-Vertreter ihr Handeln im Zusammen-hang mit der Schlaganfall-Leitlinie be-einflusst haben könnten.

Im September 2013 veröffentlichte die DEGAM eine S1-Handlungsempfeh-lung [15] zu den neuen oralen Anti-koagulanzien. Diese werden in der Handlungsempfehlung nur dann emp-fohlen, wenn eine Therapie mit Vita-min-K-Antagonisten problematisch ist.

Schlussfolgerung

Die Bemühungen der AWMF um Ein-heitlichkeit in Leitlinien waren beim Thema Schlaganfall nicht erfolgreich. Das bei der NVL Therapie des Typ-2-Diabetes [16] vom Ärztlichen Zen-trum für Qualität (ÄZQ) vorbildlich durchexerzierte Verfahren, wesentliche divergierende Empfehlungen trans-parent nebeneinander darzustellen, wurde zu Gunsten einheitlicher Emp-fehlungen unter Ausschluss der Vertre-ter/innen der hausärztlichen Versor-gungsebene aufgegeben. Der Aus-schluss der DEGAM aus dem Leitlinien-Prozess erscheint nicht ausreichend be-gründet und ist möglicherweise Aus-

druck massiver Interessenkonflikte in den Reihen der DGN.

Damit verliert die DGN-Leitlinie „Se-kundärprophylaxe ischämischer Schlag-anfall und transitorisch ischämische At-tacke“ ihre Gültigkeit für den hausärztli-chen Bereich.

Interessenkonflikte: Der Autor haf-tet mit seinem Honorar für eine mögli-che Überschreitung seiner Verord-nungs-Budgets. Er war als Autor vieler kritischer Kommentare in den Prozess zur Entwicklung der DGN-Leitlinie in-volviert.

Danksagung: Herzlichen Dank an Erika Baum für die kritische Durchsicht des Manuskriptes!

Dr. Günther Egidi

Arzt für Allgemeinmedizin,

Huchtinger Heerstraße 41

28259 Bremen

Tel.: 0421 5797675

[email protected]

Korrespondenzadresse

1. Busch MA, Schienkewitz A, Nowossa-deck E, Gößwald A. Prävalenz des Schlaganfalls bei Erwachsenen im Alter von 40–79 Jahren in Deutschland. Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1). Bundesgesundheitsbl 2013; 56: 656–660

2. Koton S, Schneider ALC, Rosamond WD, et al. Stroke incidence and morta-lity trends in US communities 1987–2011. JAMA 2014; 312: 259–268

3. Johnston SC, Gress DR, Browner WS, Sidney S. Short-term prognosis after emergency department diagnosis of TIA. JAMA 2000; 284: 2901–2906

4. Donner-Banzhoff N, Lelgemann M. Ein neuer Maßstab. Aktuelle Studien ver-langen veränderte Beurteilungskrite-rien. ZAeFQ 2003; 97: 301–306

5. Arzneimittelkommission der deut-schen Ärzteschaft (AKdÄ). Orale Anti-koagulation bei nicht valvulärem Vor-hofflimmern. Leitfaden Version 1.0. September 2012. http://akdae.de/Arznei-mitteltherapie/TE/LF/PDF/OAKVHF.pdf

6. Diener HC, Hohnloser SH. Gemein-same Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Schlaganfall-Gesell-schaft (DSG) zum Leitfaden der Arz -neimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) zur oralen Anti-

koagulation bei nicht valvulärem Vorhofflimmern Pressemitteilung vom 18.1.2013 http://tinyurl.com/oe2vqc9

7. http://akdae.de/Arzneimitteltherapie /TE/LF/PDF/OAKVHF-Antwort.pdf

8. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinme-dizin und Familienmedizin (DEGAM). DEGAM-Leitlinie Nr. 8. AWMF-Register 053–011 Schlaganfall. http://www.awmf. org/uploads/tx_szleitlinien/053–011l_S3 _Schlaganfall_2012–10.pdf

9. Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft (DSG) und Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). S3-Leitlinie – Teil 1 (Langversion) „Sekundärprophylaxe ischämischer Schlaganfall und tran-sitorisch ischämische Attacke. AWMF-Register Nr. 030/133. http://www.awmf. org/leitlinien/detail/ll/030–133.html (letzter Zugriff am 20.5.2015)

10. www.arriba-hausarzt.de 11. Wallentin L, Yusuf S, Ezekowitz MD, et

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12. Prochaska JH, Göbel S, Keller K, et al. Quality of oral anticoagulation with phenprocoumon in regular medical ca-re and its potential for improvement in

a telemedicine-based coagulation ser-vice – results from the prospective, mul-ti-center, observational cohort study thrombEVAL. BMC Med 2015; 13: 14

13. http://www.leitlinien.de/mdb/downloads/nvl/khk/khk-3aufl-vers1-lang.pdf

14. http://www.neurologyfirst.de/fuer-unabhaengige-kongresse-und-leitlinien/ (letzter Zugriff am 20.5.2015)

15. http://www.degam.de/files/Inhalte/Leit linien-Inhalte/Dokumente/S1-Hand lungsempfehlung/S1-HE_NOAK_Lang fassung.pdf

16. www.degam.de/files/Inhalte/Leitlinien-Inhalte/Dokumente/S1-Handlungsemp-fehlung/S1-HE_NOAK_Langfassung.pdf

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19. Gemeinsamer Bundesausschuss. www.g-ba.de/downloads/40–268–1671/2011 –06–16_AM-RL3-SN_Dipyridamol-ASS_TrG.pdf

Literatur

... Arzt für Allgemeinmedizin, seit 1999 in hausärztlicher Ge-

meinschaftspraxis in Bremen niedergelassen; Sprecher der Sek-

tion Fortbildung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinme-

dizin und Familienmedizin (DEGAM).

Dr. med. Günther Egidi …

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Schwerpunkte auf dem Kongress ● Modelle für die gesundheitliche Versorgung im Quartier● Interdisziplinäre Kooperation innerhalb der Hausarztpraxis● Familiengesundheit im stationären und ambulanten Bereich● Beziehungsgestaltung in der Familienmedizin● Familienmedizin in der Praxis: Hausärzte stellen ihr Handeln

und ihre Lösungsansätze vor● Forschungsfragen aus der Praxis für die Praxis

Die Veranstaltung richtet sich an Hausärzte, Medizinische Fachangestellte und alle mit Interesse an der Familienmedizin. Im Fokus stehen die Fragen: Was beinhaltet Familienmedizin? Wie wird sie im hausärztlichen Alltag umgesetzt?

Ort: 11. 11. 2015 von 10–18 Uhr im Gebäude OASE des Universitäts-klinikums Düsseldorf – Kostenbeitrag: 35 Euro; Praxisteam: 70 Euro

Anmeldung und Weitere Informationen: E-Mail: [email protected] und auf www.familien-medizin.org.

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310 DER BESONDERE ARTIKEL / SPECIAL ARTICLE

Pflegende Angehörige und ihre Belastungen in Hausarztpraxen identifizieren – Hindernisse und EmpfehlungenIdentifying Informal Carers and Their Burden in Family Practices – Barriers and RecommendationsClaudia Höppner1, Marianne Schneemilch2, Thomas Lichte1

1 Institut für Allgemeinmedizin, Otto-von-Guericke-Universität, Magdeburg2 Fachärztin für Allgemeinmedizin, Doktorandin am Institut für Allgemeinmedizin, Otto-von-Guericke-Universität, MagdeburgPeer reviewed article eingereicht: 14.04.2015, akzeptiert: 03.06.2015DOI 10.3238/zfa.2015.0310–0314

Zusammenfassung: Pflegende Angehörige überneh-men in hohem Umfang die Betreuung und Versorgung von ihnen nahestehenden pflege- bzw. hilfsbedürftigen Menschen. Das Pflegeengagement kann mit persönlichen und gesundheitlichen Gewinnen einhergehen. Gleichzei-tig ist gut belegt, dass pflegende Angehörige einem er-höhten Risiko für gesundheitliche Beschwerden und Be-lastungen ausgesetzt sind und ihr soziales und berufliches Leben oftmals in hohem Maß einschränken müssen. Das hausärztliche Team kann eine Schlüsselrolle bei der Unter-stützung pflegender Angehöriger spielen. Um pflegende Angehörige in Hausarztpraxen optimal zu betreuen, müs-sen Pflegepersonen als solche identifiziert sowie ihre Be-dürfnisse und Belastungen wahrgenommen werden. Quantitative und qualitative Studien aus dem englisch-sprachigen Raum zeigen, dass dem diverse Hindernisse entgegenstehen können. Empfehlungen zur Überwin-dung dieser Barrieren wurden u.a. vom „Royal College of General Practitioners“ (UK) in Zusammenarbeit mit dem „Princess Royal Trust for Carers“ formuliert. Diese Emp-fehlungen lassen sich größtenteils auf die Versorgungs-situation in Deutschland übertragen. Im vorliegenden Ar-tikel werden diese Hindernisse und Empfehlungen dar-gestellt, um hausärztlichen Teams hierzulande Hinweise zu geben, wie sie die Identifizierung pflegender Angehöri-ger und die Wahrnehmung ihrer Belastungen verbessern könnten.

Schlüsselwörter: Hausarztpraxis; pflegende Angehörige; Identifizierung; Belastungen; Empfehlungen

Summary: Informal carers are enormously involved in giving care to their disabled or needy relatives or ac-quaintances. To care can go along with positive private and health effects. Nevertheless it is proven that informal carers are under a greater risk to suffer from health prob-lems, social isolation and restrictions in professional life. The primary care team can take on a key role by provid-ing support to informal carers. To identify those carers and their burden is essential. Quantitative and qualitative studies carried out in English-language countries reveal that there are different barriers to do so. Recommen-dations to overcome those barriers were given, among others, by the “Royal College of General Practitioners“ (UK) together with “The Princess Trust for Carers“. These recommendations are mostly transferable to the health care setting in Germany. Barriers and recommendations are specified in this article in order to help to improve the identification of informal carers and the awareness of their burden in family practices.

Keywords: Family Practice; Informal Carers; Identification; Burden; Recommendations

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Angehörige und in geringerem Umfang auch weitere Personen wie Freunde, Be-kannte und Nachbarn (im Folgenden zusammengefasst unter den Begriffen pflegende Angehörige bzw. informelle Pflegepersonen) übernehmen einen Großteil der längerfristigen unbezahl-ten Pflege alter, chronisch kranker oder anderweitig eingeschränkter Men-schen. Von den 2,6 Mio. Pflegebedürfti-gen, die 2013 Leistungen der Pflegever-sicherung erhielten, wurden 1,86 Mio. (71 %) zuhause versorgt; davon die Mehrheit (1,25 Mio.) nur durch Ange-hörige. Bei weiteren 616.000 Pflegebe-dürftigen erfolgte die häusliche Versor-gung zusammen mit bzw. durch ambu-lante Pflegedienste [1]. Über die Ge-samtzahl der Pflege- und Hilfsbedürfti-gen liegen keine zuverlässigen Daten vor. Schätzungen gehen von knapp drei Mio. weiteren hilfsbedürftigen Men-schen aus, die weder Pflegegeld noch Sachleistungen beziehen [2] und ver-mutlich zum großen Teil auch von An-gehörigen betreut werden. Die Zahlen zeigen, dass Angehörigenpflege kein randständiges Phänomen ist. Dement-sprechend kann davon ausgegangen werden, dass pflegende Angehörige im Patientenstamm nahezu jeder Haus-arztpraxis zu finden sind.

Mögliche gesundheitliche Auswir-kungen der Pflege von Angehörigen sind nicht per se ausschließlich negativ. Beispielsweise fanden Reilly et al. [3] über vier Jahre ein insgesamt niedrige-res Mortalitätsrisiko bei pflegenden An-gehörigen gegenüber nicht Pflegenden. Auch Sinnerleben, Zufriedenheit und ein Gefühl von Bereicherung kann mit der Pflegetätigkeit einhergehen [4, 5]. Gleichzeitig ist vielfältig belegt, dass in-formelle Pflegepersonen durch ihre oft-mals umfassenden Pflege-, Unterstüt-zungs- und Versorgungsleistungen ge-sundheitlichen Risiken ausgesetzt sind. Insbesondere Subgruppen sind von Be-lastungen betroffen. So ist die Pflege von Menschen mit Demenz mit einem erhöhten Stresslevel verbunden und geht mit einem hohen Risiko für einen schlechteren Gesundheitsstatus einher [6]. Stärker noch als mit körperlichen Erkrankungen ist Angehörigenpflege signifikant mit psychischen Beschwer-den, vorrangig mit depressiven Symp-tomen assoziiert [6]. Auch fühlen sich insgesamt 77 % der informellen Haupt-pflegepersonen durch die Pflege eher

stark oder sehr stark subjektiv belastet [7]. Einschränkungen bei Freizeitaktivi-täten und Freundschaften bis hin zur sozialen Isolation sind weitere mögli-che Folgen der Pflegetätigkeit [8]. Er-werbstätige informelle Pflegepersonen stehen zusätzlich vor der Herausforde-rung, Angehörigenpflege und Beruf zu vereinbaren [8].

Rolle der Hausärzte

Hausärzte können bei der Unterstüt-zung pflegender Angehöriger eine wichtige Rolle spielen [9]. Das mögli-che Handlungsspektrum umfasst nicht nur die frühzeitige Diagnostik und The-rapie möglicher gesundheitlicher Be-schwerden. Dem Hausarzt kommt auch bei Informationsvermittlung, Beratung und emotionaler Unterstützung eine Schlüsselfunktion zu [10]. Er kann u.U. Bedarfe und Bedürfnisse der informel-len Pflegepersonen rechtzeitig erken-nen und sie zur Nutzung von externen Hilfsangeboten motivieren, gegebe-nenfalls auch präventiv. Die gezielte Unterstützung pflegender Angehöriger durch Hausärzte setzt voraus, sie über-haupt als solche zu identifizieren und mögliche Beschwerden, Bedarfe und Bedürfnisse wahrzunehmen. Dem kön-nen allerdings in der Versorgungspraxis diverse Hindernisse entgegenstehen.

Hindernisse bei der Identifizierung pflegender Angehöriger

Die Gruppe der pflegenden Angehöri-gen umfasst ein breites Spektrum: Männer und Frauen, junge und alte Menschen in unterschiedlichen Ver-hältnissen zu den Gepflegten (was auch pflegende Kinder einschließt) quer durch alle sozialen Schichten leis-ten Angehörigenpflege. Aufgrund ihrer Heterogenität besitzen informelle Pfle-gepersonen keine nach außen ersicht-lichen Merkmale, die sie als solche kennzeichnen [11]. Nicht alle, die Pfle-geleistungen erbringen, bezeichnen sich selber als pflegende Angehörige, sondern bevorzugen sich weiterhin vorrangig im Verhältnis zur gepflegten Person, als Ehepartner, Sohn oder Tochter etc. zu definieren [12]. Dies liegt auch daran, dass sich der Über-

gang in die Rolle einer informellen Pflegeperson oftmals fließend gestal-tet. Kleinere Aufgaben kumulieren bis zu dem Punkt, an dem Pflegende sich bewusst werden, welche entscheiden-de Rolle sie bei der Unterstützung des Angehörigen spielen [12].

Dementsprechend kann die Identi-fikation von pflegenden Angehörigen eine Herausforderung für das hausärzt-liche Team darstellen. Nur 45 % der Hausärzte, die im Rahmen einer Weiter-bildung zum Thema Versorgung von pflegenden Angehörigen befragt wur-den, waren zuversichtlich, in ihrer Pra-xis informelle Pflegepersonen als sol-che erkennen zu können [9]. Gleichzei-tig gilt die Identifikation als Schlüssel-faktor zur Optimierung ihrer Versor-gung und Betreuung in der Hausarzt-praxis [12].

Probleme mit der Identifikation von pflegenden Angehörigen ergeben sich v.a., wenn die gepflegte Person von einer anderen Hausarztpraxis versorgt wird [9]. In Deutschland leben 34 % der Hauptpflegepersonen nicht mit den Gepflegten in einem Haushalt [7], was die Wahrscheinlichkeit der Betreuung durch unterschiedliche Hausärzte er-höht.

Überlegungen zur verbesserten Identifizierung von pflegenden Ange-hörigen in Hausarztpraxen sind in Großbritannien weiter vorangeschrit-ten als in Deutschland. Die nachfol-gend aufgeführten Empfehlungen wur-den vom „Royal College of General Practitioners“ (UK) in Zusammenarbeit mit dem „Princess Royal Trust for Ca-rers“ als Teil eines Handlungsleitfadens zur Unterstützung pflegender Angehö-riger in Hausarztpraxen entwickelt [11]. Sie gründen weder auf klinischen Studien noch auf dokumentiertem Ex-pertenkonsens. Auch sind die Verfasser namentlich nicht benannt. Da es sich bei den herausgebenden Organisatio-nen um anerkannte Fachgesellschaften handelt, lässt sich aber der den Empfeh-lungen zugrunde liegenden Evidenz das Level „Expertenmeinung“ zuord-nen. Die Identifizierung und Unterstüt-zung von informellen Pflegepersonen wird laut Handlungsleitfaden nicht al-lein als Aufgabe des Arztes gesehen, sondern eine teambasierte Heran-gehensweise wird als notwendig erach-tet [11]. Die Empfehlungen gelten dem-entsprechend für das gesamte Praxis-

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personal. Grundlegend für eine erfolg-reiche Umsetzung ist, auch nichtärztli-ches Praxispersonal für eine Identifizie-rung pflegender Angehöriger zu sensi-bilisieren und das Praxispersonal team-übergreifend zur Thematik „Betreuung von pflegenden Angehörigen in Haus-arztpraxen“ fortzubilden [11].

Empfehlungen zur Verbesserung der Fremd- und Selbstidentifizie-rung von pflegenden Angehörigen (basierend auf Expertenmeinung)

• Mögliche Pflegetätigkeiten bei Erst-kontakt im Fragebogen für neue Pa-tienten abfragen. Da sich nicht alle Menschen, die Pflegeleistungen er-bringen, selber als pflegende Ange-hörige bezeichnen, zurückhaltend mit dem Begriff „pflegende Angehö-rige“ umgehen. Stattdessen mögliche Pflege-, Versorgungs- und Betreu-ungstätigkeiten anführen.

• Aushänge im Rezeptionsbereich und Wartezimmer machen bzw. Hinweise im Praxisflyer einfügen, die pflegen-de Angehörige einladen, sich selber als solche gegenüber dem Praxisteam zu identifizieren (gegebenenfalls mehrsprachig gestalten).

• Pflegebedürftige darauf ansprechen, wer ihre informellen Pflegepersonen sind. Auch bei neuen Diagnosen, die bekanntermaßen mit Pflegebedarf einhergehen, nach möglichen pfle-genden Angehörigen fragen.

• Bei Hausbesuchen die Anwesenden einschließlich Kinder/Jugendliche und weitere Zugehörige als mögliche informelle Pflegepersonen identifi-zieren.

• In Erwägung ziehen, Patienten mit einer vermuteten Rolle als pflegende Angehörige angemessen darauf an-zusprechen.

Voraussetzung für das weitere Vor-gehen nach erfolgreicher Identifizie-rung der informellen Pflegepersonen ist die Abklärung, ob dem betreuenden Hausarzt überhaupt ein Behandlungs-auftrag vorliegt. Ansonsten kann zu-nächst die Pflegesituation hinsichtlich der Auswirkungen auf den pflegenden Angehörigen nur beobachtet und gele-gentlich der Behandlungsauftrag er-neut hinterfragt werden. In Abstim-mung mit dem pflegenden Angehöri-gen könnte eventuell eine Kontaktauf-

nahme mit dem behandelnden Haus-arzt erfolgen [13].

Hindernisse beim Erkennen von Belastungen, Bedarfen und Bedürfnissen pflegender Angehöriger

Auch wenn pflegende Angehörige in der Hausarztpraxis als solche bekannt sind, werden möglicherweise ihre Be-lastungen, Bedarfe und Bedürfnisse nicht oder nur eingeschränkt wahr-genommen. Pflegende Angehörige wer-den dementsprechend auch als „ver-steckte Patienten“ bezeichnet. Mehre-re, v.a. in Großbritannien und Aus tra -lien durchgeführte, vorwiegend quali-tative Studien benennen mögliche Hin-dernisse, die einem Erkennen von Be-lastungen der pflegenden Angehörigen durch das hausärztliche Team ent-gegenstehen [14–18]. Diese Barrieren werden im Folgenden ausgeführt.

Aus hausärztlicher Perspektive fun-gieren viele pflegende Angehörige, v.a. bei kognitiv eingeschränkten Pflegebe-dürftigen, als Unterstützer bei der Um-setzung von verordneten Maßnahmen sowie als Koordinatoren, Informations-geber und Kommunikationshilfen [14]. Ein partnerschaftlicher Einbezug pfle-gender Angehöriger in die ärztliche Versorgung des Pflegebedürftigen kann sowohl die Zufriedenheit, das Ver-mögen und Zutrauen des Pflegenden als auch die Situation des Gepflegten verbessern [11]. Allerdings können Hausärzte in dieser triadischen Konstel-lation dazu tendieren, pflegende Ange-hörige vorrangig in Bezug auf die ge-pflegte Person wahrzunehmen [15, 16]. Manche Hausärzte ordnen die Pflege von Angehörigen primär als Ausübung einer praktischen Rolle ein und margi-nalisieren dabei die psychosozialen Auswirkungen [17]. Weiterhin können Konsultationsnormen, innerhalb derer Hausärzte davon ausgehen, dass Patien-ten, die keine Beschwerden äußern auch keine Beschwerden aufweisen, da-zu führen, dass die Belastungen von pflegenden Angehörigen übersehen werden [15]. Auch wenn Hausärzten und dem Team die möglichen Heraus-forderungen einer Pflegetätigkeit be-wusst sind, kann v.a. Zeitmangel sie da-von abhalten, proaktiv auf pflegende Angehörige zuzugehen [16].

Von pflegenden Angehörigen wer-den Belastungen und Beschwerden möglicherweise nur in Bezug auf die Pflegebedürftigen geäußert bzw. gar nicht thematisiert [15, 17]. Dem kön-nen verschiedene Ursachen zugrunde liegen. Informelle Pflegepersonen be-werten im Vergleich zur Schwere der Er-krankung des gepflegten Angehörigen ihre Beschwerden als weniger bedeut-sam bzw. belanglos und relativieren so ihre eigene Rolle als Patienten [15]. Bei einer Vielzahl der zu bewältigenden Aufgaben im Pflegealltag findet eine Priorisierung zuungunsten der Sorge um die eigene Gesundheit statt [15]. Vermuteter Zeitmangel des Arztes [15, 17, 18], angenommenes ärztliches Des-interesse [18] oder eine wahrgenomme-ne Fokussierung des Hausarztes auf me-dizinische Fragen [18] kann ebenfalls zur Folge haben, dass nicht über eigene Belastungen berichtet wird. Ein Teil der pflegenden Angehörigen möchte den Arzt nicht mit eigenen Problemen be-lästigen und keine zusätzliche Bürde darstellen [16]. Manche pflegenden An-gehörigen sind sich nicht sicher, was sie vom Arzt erwarten können. Sie sehen ihn ausschließlich für medizinische Be-lange und vorrangig für die Versorgung des Gepflegten zuständig [16].

Auch wenn pflegende Angehörige vom Hausarzt auf mögliche negative Auswirkungen der Pflegetätigkeit ange-sprochen werden, können sie eine ab-wehrende Haltung gegenüber eigenem Unterstützungsbedarf einnehmen. Da-hinter steht möglicherweise – neben der oben aufgeführten Relativierung der eigenen Beschwerden – ein durch Stolz, Pflichtbewusstsein oder Schuld geprägtes Gefühl, alles alleine schaffen zu wollen/müssen [18]. Der widerstre-benden Haltung gegenüber einem Ge-spräch über die Pflegesituation kann bei pflegenden Angehörigen (von Krebskranken) der Wunsch zugrunde liegen, Gefühlen von Trauer auszuwei-chen [15].

Auch den folgenden expertenmei-nungsbasierten Empfehlungen liegt kein formaler Expertenkonsens zugrun-de. Größtenteils wurden sie von den Fachgesellschaften „Royal College of General Practitioners“ und „The Princess Royal Trust for Carers“ ohne namentliche Nennung einzelner Ex-perten entwickelt (s.o) [11]. Des Weite-ren basieren die Empfehlungen auf den

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Schlussfolgerungen einer englischen Studie mit Mixed-Methods-Ansatz, in der u.a. Fokusgruppen mit pflegenden Angehörigen und verschiedenen in der Primärversorgung tätigen Professionen durchgeführt wurden [12] sowie aus zwei australischen qualitativen Befra-gungen u.a. von Hausärzten (family practitioners) [15, 17].

Empfehlungen zum Umgang mit Hindernissen beim Erkennen von Belastungen und Bedürfnissen von pflegenden Angehörigen (basierend auf Expertenmeinung)

Pflegenden Angehörigen vermitteln, dass ihre Unterstützung auch in den Aufgabenbereich der Hausarztpraxis fällt.

• Nicht abwarten bis pflegende Ange-hörige Belastungen von sich aus the-matisieren, sondern aktiv die Initiati-ve ergreifen. Dafür auch Gesprächs-anlässe wie Gesundheits-Check-ups oder Grippeimpfungen nutzen.

• Pflegende Angehörige empathisch ermutigen, ihre eigenen gesundheit-lichen Anliegen anzusprechen.

• Gegebenenfalls Konsultationen un-abhängig von dem gepflegten Ange-hörigen vereinbaren.

• Zeit zur Verfügung stellen, mögli-cherweise bei einem Hausbesuch [11, 12, 15, 17].

Ausblick

Die dargestellten Forschungsbefunde über Barrieren bei der Identifizierung von pflegenden Angehörigen und ihrer Beschwerden sowie Empfehlungen zur Überwindung dieser Barrieren wurden im englischsprachigen Raum generiert. Es ist davon auszugehen, dass diese Empfehlungen relevante Hinweise auch für die Verbesserung der deut-schen Versorgungssituation liefern.

Dementsprechend werden die Empfeh-lungen in das momentan von zwei Au-toren dieses Artikels bearbeitete Update der 2005 veröffentlichten DEGAM Leit-linie Nr. 6 – Pflegende Angehörige – [13] einfließen. Es ist aber auch auf Unter-schiede in den Versorgungssystemen hinzuweisen. So sind beispielsweise im englischen Primärarztsystem die Ver-sicherten bei einem Hausarzt (family practitioner) eingeschrieben. Dieser ist als erster Ansprechpartner dem eventu-ellen Zugang zu einem Gebietsarzt oder der Nutzung stationärer Versorgung vorgeschaltet und koordiniert sämtli-che Behandlungsschritte; vergleichbar mit dem Modell der deutschen haus-arztzentrierten Versorgung.

In Deutschland wurden Überlegun-gen zur verbesserten Versorgung von pflegenden Angehörigen in Hausarzt-praxen u.a. durch die DEGAM-Leitlinie Nr. 6 [13] initiiert. Forschungsaktivitä-ten auf dem Gebiet sind bislang aller-dings wenig zu verzeichnen. Eine Aus-nahme bildet beispielsweise die Palli-PA-Studie zur Unterstützung pflegen-der Angehöriger von palliativ versorg-ten Menschen in Hausarztpraxen, die an der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung des Univer-sitätsklinikums Heidelberg durch-geführt wurde. In der Pilotstudie wur-den die Möglichkeiten der Hausarztpra-xen, belastete Angehörige zu erkennen sowie deren Entlastung zu verbessern, untersucht [19]. Zurzeit wird im Rah-men einer Dissertation am Institut für Allgemeinmedizin der Otto-von-Gue-ricke-Universität Magdeburg eine qua-litative Untersuchung durchgeführt, in der das Verhältnis der Hausärzte zu pflegenden Angehörigen beleuchtet wird. Es sollen insbesondere die Priori-tätensetzung des Hausarztes bei der Be-treuung der pflegenden Angehörigen, Probleme in der Interaktion sowie mög-liche Lösungsansätze herausgearbeitet werden.

Auch hinsichtlich der Potenziale von insbesondere weitergebildetem Praxisper-sonal (wie beispielsweise den sogenann-ten nichtärztlichen Praxisassistenten, NÄ-PAs, oder den Versorgungsassistentinnen in der Hausarztpraxis, VERAHs) bei der Identifizierung und Betreuung von pfle-genden Angehörigen besteht Forschungs-bedarf. Es kann vermutet werden, dass auch in Deutschland nichtärztliches Pra-xispersonal eine bedeutende Rolle bei der Versorgung von informellen Pflegeper-sonen spielt bzw. diese perspektivisch ein-nehmen kann. Dieser Thematik soll dem-nächst im Rahmen einer weiteren Qualifi-kationsarbeit am Institut für Allgemein-medizin der Otto-von-Guericke-Univer-sität Magdeburg nachgegangen werden.

Auf struktureller Ebene wurde 2014 in einer KBV-Werkstatt zur Fortentwicklung der Vergütung für die hausärztliche Ver-sorgung pflegender Angehöriger ein Se-lektivvertrag entwickelt. Das Versorgungs-konzept zielt darauf ab, gesundheitliche Risiken und Beschwerden pflegender An-gehöriger zu minimieren bzw. ihnen vor-zubeugen. Pflegende Angehörige sollen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt Un-terstützung erhalten – durch die Analyse ihrer Situation, Informationen sowie Be-ratungs- und Gesprächsangebote [20]. Es ist zu hoffen, dass der Vertragsentwurf durch Krankenkassen aufgegriffen und pflegenden Angehörigen in Hausarztpra-xen auch durch eine verbesserte Ver-gütung mehr Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet werden kann.

Interessenkonflikte: M.S. hat ein Honorar (200 Euro) vom Hausärztever-band Sachsen-Anhalt für den Vortrag „Minimodul Pflegende Angehörige“ beim Hausärztetag in Wernigerode er-halten; TL hat Honorare für Vorträge und Seminare beim IhF sowie für das „Minimodul Pflegende Angehörige“ (500 Euro) erhalten. C.H. hat keine In-teressenkonflikte angegeben.

Claudia Höppner

Medizinische Fakultät der Otto-von-

Guericke-Universität Magdeburg

Institut für Allgemeinmedizin, Haus 40

Leipziger Straße 44

39120 Magdeburg

Tel.: 0391 6721008

[email protected]

Korrespondenzadresse

… ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemein-

medizin der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Mo-

mentane Arbeitsschwerpunkte: Versorgung pflegender Ange-

höriger durch das hausärztliche Team und Leitlinienentwick-

lung

Dipl.-Soz. Claudia Höppner, MPH …

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Literatur

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Höppner, Schneemilch, Lichte:Pflegende Angehörige und ihre Belastungen in Hausarztpraxen identifizieren – Hindernisse und EmpfehlungenIdentifying Informal Carers and Their Burden in Family Practices – Barriers and Recommendations

DEGAM im Netz

www.degam.dewww.degam-leitlinien.dewww.degam-patienteninfo.dewww.tag-der-allgemeinmedizin.dewww.degam2015.dewww.online-zfa.dewww.degam-famulaturboerse.dewww.facebook.com/degam.allgemeinmedizin

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315ORIGINALARBEIT / ORIGINAL PAPER

Wie fit fühlen sich Dresdner Medizinstudierende, alkoholbezogene Störungen behandeln zu können?How Fit are Medical Students from Dresden to Treat Alcohol-Related Disorders?Thomas Hoffmann, Karen Voigt, Lydia Schlißke, Henna Riemenschneider, Antje Bergmann, Joachim Kugler

Med. Fakultät TU Dresden/Gesundheitswissenschaften/Publik Health, Fetscherstr. 74, 01307 DresdenPeer reviewed article eingereicht: 27.04.2015, akzeptiert: 11.06.2015DOI 10.3238/zfa.2015.0315–0320

Hintergrund: Die Prävalenz der Alkoholabhängigkeit ist in Deutschland hoch. Die Versorgungsrealität weist auf ei-ne Unterversorgung hin. Eine Befragung von Medizinstu-dierenden des 10. Semesters an der Medizinischen Fakul-tät der Technischen Universität Dresden (TUD) sollte den im Studium erreichten Kompetenzstatus erfassen, in ihrer späteren Tätigkeit als Arzt alkoholbezogene Störungen ef-fektiv versorgen zu können.Methoden: Diese Querschnittstudie basiert auf einer schriftlichen Befragung Medizinstudierender des 10. Semes-ters an der Medizinischen Fakultät der TUD im Juli 2013. Die Daten wurden deskriptiv mittels Kreuztabellen ausgewertet. Für die Untersuchung von Gruppenunterschieden bzw. Zu-sammenhängen kam der Mann-Whitney-U-Test bzw. χ²-Test zum Einsatz. Für die Risikoeinteilung der konsumierten Alko-holmengen wurde das Klassifizierungsschema der Deut-schen Hauptstelle für Suchtfragen verwendet.Ergebnisse: 11,3 % der Medizinstudierenden fühlen sich für die Tätigkeit mit alkoholabhängigen Patienten „adäquat trainiert und ausgebildet“ während sich mehr als 60 % un-zureichend vorbereitet einschätzen. 77,1 % wünschten sich im Rahmen ihres Medizinstudiums besser über alkoholbezo-gene Störungen informiert und trainiert zu werden. Die Ana-lyse nach Risikogruppen der Studierenden hinsichtlich ihres Alkoholkonsums erbrachte keine signifikanten Unterschiede bei der Beantwortung der verschiedenen Kompetenzitems.Schlussfolgerungen: Die Ergebnisse weisen auf Defizite in der Ausbildung zu alkoholbezogenen Störungen hin. Der selbsteingeschätzte Wissensstand ist unzureichend, der Umfang der theoretischen und praktischen Ausbil-dung wird als ungenügend bewertet. Das Krankheitsbild alkoholbezogener Störungen sollte daher angesichts sei-nes Stellenwertes in der Versorgung in den Curricula der Ausbildung aufgenommen bzw. stärker platziert und zu einem regelhaften Bestandteil der Prüfungen werden.

Schlüsselwörter: Medizinstudierende; alkoholbezogene Stö-rungen; Ausbildung; Kompetenz; Trinkverhalten

Background: The prevalence of alcohol dependency in Germany is high. Data indicate a lack of quality of care for the respective poulation. A survey of medical students of the 10th semester at the Medical Faculty of the Tech-nical University of Dresden (TUD) should cover the achieved degree of competence to effectively care for al-cohol-related disorders in their later work as doctors.Methods: This cross-sectional study is based on a paper – and – pen survey of medical students of the 10th sem-ester at the Medical Faculty of the TUD in July-2013. The data were analysed descriptively using crosstabs. For the analysis of group differences or correlations the Mann-Whitney U-test or chi-square test was used. For the risk classification of amounts of alcohol consumed, the clas-sification scheme of the German Centre for Addiction questions was used.Results: 11.3 % of the medical students feel „adequately trained and educated“ while more than 60 % feel inad-equately prepared to work with alcoholic patients. 77.1 % wanted to be better informed and trained on al-cohol-related disorders as part of their medical studies. The analysis by risk groups of students in terms of their al-cohol consumption did not reveal any significant differ-ences in answering the various competence items.Conclusions: The results indicate deficits in training al-cohol-related disorders. The self-perceived level of knowl-edge is inadequate; the scope of theoretical and practical training however, is assessed as insufficient. In view of its significance the clinical picture of alcohol-related dis-orders should be included in the curricula of education and become a rule-based part of the tests.

Keywords: Medical Students; Alcohol-Related Disorders; Training; Competence; Drinking Behavior

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Hintergrund

Zu den alkoholbezogenen Erkrankungen gehören unter anderem schädlicher und abhängiger Alkoholgebrauch [1]. Es ist da-von auszugehen, dass in Deutschland ca. 2 Mio. Menschen in schädigender Weise und 9,5 Mio. in riskanter Weise Alkohol konsumieren [2]. In Europa sind geschätzt 14,6 Mio. und in Deutschland 1,3 Mio. Erwachsene von Alkoholabhängigkeit be-troffen [3]. Neuere Zahlen sprechen sogar von 1,8 Mio. Alkoholabhängigen in Deutschland. Die Prävalenz der Alkohol-abhängigkeit liegt demnach in Deutsch-land bei 3,4 %, für Alkoholmissbrauch bei 3,1 % [4]. Riskanter Alkoholkonsum ist mit erhöhten Risiken für Folgeerkrankun-gen verbunden. Es ist davon auszugehen, dass ein übermäßiger Alkoholkonsum mehr als 30 Krankheiten in direkter Weise verursacht und indirekt an der Ausprä-gung von mehr als 60 Krankheiten betei-ligt ist [5]. Jährlich sterben in Deutschland infolge eines riskanten Alkoholkonsums 75.000 Menschen [6].

Die Situation in Europa betreffend konstatiert die World Health Organizati-on (WHO): „Nach Schätzungen wird in der primären Gesundheitsversorgung ge-fährlicher oder schädlicher Alkoholkon-sum nur in jedem zwanzigsten Fall er-kannt und eine entsprechende kurze Bera-tung angeboten und so haben auch nur weniger als einer von zwanzig Alkohol-abhängigen tatsächlich einen Spezialisten für eine Behandlung aufgesucht“ [7, S. 9–10]. Im Bereich der medizinischen Ver-sorgung alkoholabhängiger Patienten ist auch in Deutschland nach bisheriger Kenntnis eine Unter- und Fehlversorgung anzunehmen, wenn Schätzungen eine Be-handlungsquote von lediglich 9 % benen-nen [5]. Demnach ist die Alkoholabhän-gigkeit diejenige Erkrankung des zentra-len Nervensystems mit dem höchsten An-teil unbehandelter Patienten in Deutsch-land [8, 9]. In diesem Kontext stellt sich die Frage, wo die Ursachen für Unterver-sorgung liegen, und ob schon in der Aus-bildung der Medizinstudierenden eine Unterschätzung des Themas vorliegt.

Leitliniengerechtes Handeln umfasst ein möglichst frühzeitiges Erkennen von Alkoholmissbrauch durch rechtzeitige Gespräche darüber mit den Patienten [1]. Es gibt Hinweise darauf, dass das eigene Gesundheitsverhalten der Ärzte Einfluss auf die Qualität der Gesundheitsberatung bei Patienten hat: Ärzte mit riskantem Ge-

sundheitsverhalten beraten z.B. seltener ihre Patienten dahingehend ihren Le-bensstil zu ändern [10, 11]. Deshalb stellt sich die Frage, inwieweit sich das bereits bei Medizinstudierenden bzgl. ihres eige-nen Alkoholkonsums und ihrer Kom-petenz bzgl. alkoholbezogener Störungen abbildet. Zum anderen drängt sich die Fra-gestellung auf, ob Studierende in ihrem Medizinstudium ggf. auf ihre künftige fachlich-medizinische Versorgungsauf-gabe bei Patienten mit einer Alkohol-erkrankung vorbereitet sind. Verschiede-ne Untersuchungen weisen darauf hin, dass die medizinische Ausbildung diesen Indikationsbereich nicht hinreichend be-handelt und Fähigkeiten, mit diesem sen-siblen Thema sicher umzugehen und rechtzeitig eine suffiziente Diagnostik und Therapie einzuleiten, ungenügend trainiert werden [12, 13].Mit der vorliegenden Befragung von Me-dizinstudierenden sollen Erkenntnisse über folgende wissenschaftliche Fragestel-lungen gewonnen werden:1. Wie schätzen Medizinstudierende ihre

Kompetenz ein, zukünftig alkoholbezo-gene Störungen als Arzt effektiv versor-gen zu können?

2. Gibt es einen Zusammenhang zwi-schen dem eigenen Trinkverhalten der Studierenden und ihrer gewonnenen Kompetenz, künftig Patienten mit ei-ner Alkoholerkrankung effektiv zu be-handeln?

Methoden

Studiendurchführung und -instrument

Für die Befragung der Studierenden an der Medizinischen Fakultät der TUD wurde ein Fragebogen auf der Basis vorhandener nationaler und internationaler Studien und Literatur sowie eigener generierter Fragestellungen ausgearbeitet [12–14]. Der zweiseitige Fragebogen umfasst 13 Fragen mit jeweils vorgegebenen Ant-wortformaten. Neben soziodemogra-fischen Fragen (Alter, Geschlecht), wur-den Fragen zum eigenen Trinkverhalten (Häufigkeit, Menge, Alkoholsorten) und zur Einschätzung der Ausbildung im Me-dizinstudium zum Thema Alkohol (An-zahl Unterrichtsstunden, selbsteinge-schätzte Kompetenz und Bedarf an ver-besserten Lehrangeboten) gestellt. Darü-ber hinaus wurde die Kompetenz der Stu-

dierenden über konkrete Wissensfragen geprüft, z.B. die Einschätzung des riskan-ten Alkoholkonsums an einem Patienten-beispiel. Bei Fragen zur Einschätzung der eigenen Kompetenz und des Studiums so-wie bei Wissensfragen umfassten die Ant-worten Likert-Skalen in verschiedenen Ausprägungen.

Die Ausgabe der Fragebögen erfolgte am 16. und 17.07.2013 bei den Studieren-den des 10. Semesters im Anschluss an ei-ne Prüfung an der Medizinischen Fakultät der TUD. Von den 244 Studierenden be-teiligten sich 242 (99,2 %). Es kann dem-nach statistisch nahezu von einer Voll-erhebung für dieses Befragungskollektiv ausgegangen werden. Inwieweit diese Gruppe repräsentativ für die Grund-gesamtheit der Studierenden der Medizin in Deutschland ist, wurde über externe Validierung geprüft [12–14].

Datenanalyse

Im Rahmen der Datenauswertung fand zunächst eine deskriptive Auswertung mittels Kreuztabellen statt. Die Daten wurden hierbei nach verschiedenen Merkmalen, dem Geschlecht, Alter und Fachrichtungswunsch sowie nach Risiko-gruppen, dem eigenen Trinkverhalten entsprechend, analysiert. Für die Untersu-chung von Unterschieden bzw. Zusam-menhängen kamen χ²-Test und Mann-Whitney-U-Tests zum Einsatz. Ein p-Wert von < 0,05 galt bei allen Analysen als sig-nifikant.

Bei der Einteilung der Risikogruppen der befragten Studierenden wurde in die-ser Arbeit die Definition der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) zu-grunde gelegt, die auch von der AWMF-S3 Leitlinie „Screening, Diagnose und Be-handlung alkoholbezogener Störungen“ übernommen wurde [1]. Die DHS setzt die Trennlinie zwischen „risikoarm“ und „ris-kant/gefährlich“ auf 24 g Alkohol/Tag für Männer und 12 g Alkohol/Tag für Frauen [15].

Ergebnisse

Selbsteinschätzung der Medizinstu-dierenden zu ihrer Kompetenz alko-holbezogene Störungen künftig effi-zient versorgen zu können

Befragt nach den absolvierten Unter-richtsstunden zum Thema „Alkohol-

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abhängigkeit“ während ihres Studiums antwortete 41,1 % der Studierenden „1–2 Stunden“ bzw. 24,9 % „3–4 Stun-den“. 20,3 % gaben an „keine“ Unter-richtsstunden erhalten zu haben und 13,7 % konnten auf mehr als 5 Stunden Unterricht zum Thema Alkoholabhän-gigkeit verweisen. Im Rahmen ihres Medizinstudiums besser über alkohol-bezogene Störungen informiert und trainiert zu werden, wünschten sich 77.1 %.

Bei einer Testfrage sollten die Stu-dierenden den Grad des Risikos (nied-rig vs. mittel vs. hoch vs. sehr hoch) eines Patienten angeben, der täglich 3–5 Flaschen Bier trinkt. 42,9 % der Medizinstudierenden gaben darauf ei-ne richtige Antwort. 53,4 % über-schätzten und 3,8 % unterschätzten das Risiko.In den Wissensfragen zum Thema „Al-koholabhängigkeit“ zeigten sich folgen-de Ergebnisse:

• „Ich kenne die Diagnosekriterien der Al-koholabhängigkeit nach ICD10“: 67,0 %

• „Ich kenne die Folgeerkrankungen der Alkoholabhängigkeit“: 99,6 %

• „Ich weiß, wie Alkoholabhängigkeit be-handelt wird“: 81,0 %

Die Frage nach der Wirksamkeit einzelner Alkoholentwöhnungsmaßnahmen ergab ein differenziertes Bild (Tab. 1). Die in der Tabelle in „fett“ markierten Prozentzah-len wurden entsprechend der Literatur als richtige Antworten gewertet [16–23].

Bezogen auf ihre eventuell künftige ärztliche Tätigkeit schätzten 99,6 % der Befragten das Thema „Alkoholabhängig-keit“ als „sehr wichtig“ bzw. „eher wich-tig“ ein. Lediglich 0,4 % hielt das Thema für „weniger wichtig“, keiner votierte für „nicht wichtig“.

Zum Themenkomplex der Kom-petenzentwicklung, in ihrer späteren Tä-tigkeit, alkoholabhängige Patienten adä-

quat zu behandeln, ergaben sich folgende Befragungsergebnisse: Eine Minderheit von 11,3 % der Befragten fühlte sich für die Tätigkeit mit alkoholabhängigen Pa-tienten „adäquat trainiert und ausgebil-det“. 94,2 % schätzte ein, für diese Tätig-keit „legitimiert“ zu sein und 40,6 % der Befragten fühlten sich auch dazu „moti-viert“.

Die Analyse der Unterschiede nach Geschlecht der Studierenden erbrachte bei den meisten Items zur Kompetenzein-schätzung keine signifikanten Unter-schiede. Bei der Einschätzung, für die künftige Arbeit mit Patienten mit einer Al-koholabhängigkeit adäquat trainiert und ausgebildet zu sein, zeigten Studentinnen eine signifikant größere Unzufriedenheit als ihre männlichen Mitstudierenden (Tab. 2).20 % der Studenten und 7,6 % der Stu-dentinnen fühlten sich „adäquat trainiert und ausgebildet, alkoholabhängige Pa-tienten künftig als Arzt zu behandeln“.

Tabelle 1 Wissensfragen: „Wie schätzen Sie die Wirksamkeit folgender Alkoholentwöhnungsmaßnahmen ein? (Hinweis: Eine Maßnahme gilt als

„sehr effektiv“, wenn ca. 30 % aller teilnehmenden Patienten, die diese Maßnahme erhalten haben, nach einem Jahr abstinent sind.)“ (in %).

Tabelle 2 Einschätzung des eigenen Konditionierungsstatus der Studierenden für ihre spätere Tätigkeit als Arzt (in %), χ2-Test.

Willenskraft

Beratungsgespräch mit dem Hausarzt

Turbo-Entzug

Selbsthilfe-Gruppen

Selbsthilfe-Literatur

Akupunktur

Entzugstherapie in einer Klinik (14 Tage)

Entzugstherapie mit anschließender Entwöhnungsbehandlung

sehr effektiv

59,2

11,0

3,0

19,7

1,7

1,3

15,7

51,1

19,6

16,9

4,2

44,4

12,1

3,8

34,7

36,3

6,7

31,2

10,5

25,5

30,0

15,1

26,3

9,7

5,8

21,5

24,1

6,3

23,3

20,1

17,4

2,1

6,3

15,2

27,0

3,8

21,7

24,3

5,1

0,4

nicht effektiv

2,5

3,8

25,3

0,4

10,8

23,8

0,4

0,4

keine Angabe

0,4

5,9

0,4

11,7

0,4

Ich bin adäquat trainiert und ausgebildet, alkohol-abhängige Patienten künf-tig als Arzt zu behandeln.

Ich fühle mich legitimiert als künftiger Arzt, den Patienten nach seinem Alkoholkonsum zu fragen.

Ich wäre für die Arbeit mit diesen Patienten motiviert.

männlich

trifft zu

20,0

95,7

41,4

trifft nicht zu

58,6

1,4

32,9

weiß nicht

21,4

2,9

25,7

weiblich

trifft zu

7,6

93,0

39,8

trifft nicht zu

67,8

1,8

26,3

weiß nicht

23,4

4,1

32,2

p-Wert

0,039

n.s.

n.s.

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Hoffmann et al.:Wie fit fühlen sich Dresdner Medizinstudierende, alkoholbezogene Störungen behandeln zu können?How Fit are Medical Students from Dresden to Treat Alcohol-Related Disorders?

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Zusammenhang von eigenem Alkoholkonsum der Medizin- studierenden und ihre Kompetenz, alkoholabhängige Erkrankungen zu versorgen

Eine Zuordnung der Studierenden nach Risikogruppen, ergab ein differenziertes Bild. Bezogen auf die DHS-Definition be-fanden sich 83,0 % der Studierenden im risikoarmen Bereich und 17,0 % gaben an, Alkoholmengen zu konsumieren, die dem riskant/gefährlichen Bereich zuzu-ordnen wären. Der Vergleich beider Ge-schlechter zeigte, dass mehr Studenten als Studentinnen einem höheren Konsumbe-reich zuzuordnen sind.

23,8 % der Studentinnen und 15,7 % der Studenten gaben an, nie oder nur ein-mal im Monat Alkohol zu konsumieren. „viermal oder öfter/Woche“ nannten da-gegen 10,0 % der Studenten und 1,2 % der Studentinnen. Die Häufigkeit des Alko-holkonsums war in Abhängigkeit vom Ge-schlecht signifikant verschieden (Abb. 1).

Die Analyse nach Risikogruppen der Studierenden („risikoarmer Alkoholkon-sum“ vs. „riskanter/gefährlicher Kon-sum“) erbrachte keinerlei Signifikanz -unterschiede zu den verschiedenen be-fragten Kompetenzitems.

Diskussion

Diese Studie hat gezeigt, dass sich der Großteil der Medizinstudierenden für die Tätigkeit mit alkoholabhängigen Patien-ten nicht adäquat trainiert und ausgebil-det einschätzte, wobei dies signifikant mehr Studentinnen als Studenten betraf. Mehr als Dreiviertel der Studierenden wünschten sich im Rahmen ihres Medi-zinstudiums mehr über alkoholbezogene Störungen informiert und trainiert zu werden. Ein Zusammenhang zwischen

dem Risikoprofil hinsichtlich ihres eige-nen Alkoholkonsums und ihrer Antwor-ten zu den verschiedenen Kompetenzi-tems konnte nicht festgestellt werden.

Die Rücklaufquote der Fragebögen der Studierenden lassen zu, von einer Totaler-hebung auszugehen: 99,2 % haben den Fragebogen ausgefüllt. Es handelt sich bei dieser Befragung, gemessen an der Ge-samtzahl der Studierenden der Medizin in Deutschland, um ein relativ kleines Kol-lektiv von 242 Studentinnen und Studen-ten des 10. Semesters der Medizinischen Fakultät der TUD. Die Aussagen können daher nicht eo ipso die Grundgesamtheit aller Studierenden der Medizin vertreten. Da die Befragung im 10. Semester erfolgte, kann von einer profunden Einschätzung des Gesamtstudiums der Medizin an der TUD ausgegangen werden. Ein Großteil der Befragten gab an, später einmal in ei-nem Fachbereich praktizieren zu wollen, wo sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Diagnostik und Therapie von alkohol-abhängigen Patienten gefordert sein wer-den.

Obwohl die Studierenden der Indika-tion „Alkoholabhängigkeit“ eine große Wichtigkeit im niedergelassenen Setting einräumten, ist ihr Wissensstand dazu nicht ausreichend. Die überwiegende Mehrheit der Studierenden behauptete zwar, die Diagnosekriterien der Alkohol-abhängigkeit nach ICD10 (67,0 %), die Folgeerkrankungen der Alkoholabhängig-keit (99,6 %) sowie die Therapiemöglich-keiten (81,0 %) zu kennen, jedoch zeigte sich der mittels Fragebogen geprüfte kon-krete Kenntnisstand als unzureichend. Diese Ergebnisse decken sich teilweise mit einer repräsentativen Datenerhebung, die mittels Fragebogen unter Studierenden der Medizin in Deutschland in 2009 durchgeführt wurde [12]: In der bundes-weiten Erhebung war der Anteil mit ca. 80 % zur Frage („ich kenne die Folge-

erkrankungen der Alkoholabhängigkeit“) ähnlich hoch wie in der Dresdner Befra-gung. Dagegen betrug der Anteil über die behauptete Kenntnis der Therapiemög-lichkeiten nur 20 % – an der TUD waren es 81 %. Diese Zahlen sollten aber über den eigentlichen Wissensstand nur bedingt Auskunft geben.

Die Aussagen der Medizinstudieren-den zur Effektivität der einzelnen Alko-holentwöhnungsmaßnahmen zeigte im Vergleich der Befragung an der Medizi-nischen Fakultät der TUD zur bundeswei-ten Erhebung ein differenziertes Bild: Ein Großteil der Befragten an der TUD (51,1 %) maß z.B. der „Entzugstherapie mit anschließender Entwöhnungs-behandlung“ eine zu Recht sehr große Be-deutung bei. Bundesweit lag der Anteil bei 40,8 % [12]. Eine Studie hat die hohe Ef-fektivität nachgewiesen, wonach Abs-tinenzquoten von 50 % nach 9 Jahren er-reicht wurden [16]. Der Willenskraft der Patienten maßen Studierende an der TUD eine zu hohe Bedeutung bei (59,2 % vs. bundesweit: 21,3 %) [12]. Ausgehend von den Effektivitätsbewertungen in der Lite-ratur antworteten demnach lediglich 6,7 % bzw. 19,6 % (gesamt: 26,3 %) in der TUD-Befragung richtig [23]. In der bun-desweiten Erhebung war dieser Anteil der richtigen Antworten noch geringer (< 10 %) [12].

Sowohl durch die bundesweite Befra-gung als auch die Befragung an der TUD wurde auf Defizite in der Ausbildung hin-gewiesen. Wie in der Tabelle 1 zu erken-nen ist, war der Anteil der Studierenden gering, die richtig geantwortet haben (in „fett“ hervorgehoben). Dies legt die Ver-mutung nahe, dass das Wissensniveau un-genügend ist, um eine effektive und effi-ziente Therapie von alkoholbezogenen Erkrankungen in der späteren ärztlichen Tätigkeit zu gewährleisten. Gruppen-unterschiede bzgl. des Fachrichtungs-

Abbildung 1 Häufigkeit des

Alkoholkonsums nach

Geschlecht, U-Test; * p < 0,05

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Hoffmann et al.:Wie fit fühlen sich Dresdner Medizinstudierende, alkoholbezogene Störungen behandeln zu können?How Fit are Medical Students from Dresden to Treat Alcohol-Related Disorders?

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wunsches, des Alters sowie der eigenen Zugehörigkeit zu den Risikogruppen (risi-koarmer Konsum vs. riskanter/gefähr-licher Konsum) gab es bei der Bewertung des Wissensstandes nicht. Die anfangs aufgestellte Hypothese, dass es einen Zu-sammenhang zwischen dem eigenen ris-kanten Trinkverhalten der Studierenden und geringerer Kompetenz hinsichtlich alkoholbezogener Erkrankungen gibt, musste daher entgegen den Erwartungen verworfen werden. Die Ursachen für den nicht nachgewiesenen Zusammenhang konnten mittels dieser Studie nicht ermit-telt werden.

In der Selbsteinschätzung der Studie-renden, für ihre künftige Tätigkeit, ggf. al-koholabhängige Patienten medizinisch zu versorgen, sah sich zwar eine übergroße Mehrheit legitimiert, was eine positive Grundlage für eine hohe Versorgungsqua-lität sein sollte. Allerdings enttäuschen niedrige Motivationswerte von 40,6 % so-wie noch geringere Werte hinsichtlich der Frage „Bin ich adäquat trainiert und aus-gebildet?“ Nur 11,3 % der Befragten, über alle Gruppenvergleiche hinweg, meinte, dies zu sein. Eine ähnliche Befragung un-ter Medizinstudierenden an der Charité Berlin kam zu ähnlichen Ergebnissen [13]. Darüber hinaus ist auffällig, dass Studen-tinnen ihr eigenes Trainiert- und Aus-gebildet-sein noch viel schlechter ein-schätzen als ihre männlichen Kommilito-nen (7,6 % vs. 20,0 %). Dies könnte auf die generell kritischere Selbstbewertung der eigenen Kompetenzen bei gleicher Be-fähigung bei Frauen im Vergleich zu Män-nern zurückzuführen sein [24]

Die Analyse der absolvierten Unter-richtsstunden zum Thema „Alkohol-abhängigkeit“ weist auf Potenziale hin, die beschriebene insuffiziente Situation zu verbessern. Der überwiegende Anteil der Studierenden (61,4 %) hat zum The-ma keine oder nur 1–2 Stunden Unter-richt erhalten. Lediglich 13,7 % der Stu-dierenden konnten auf mehr als 5 Stun-den Unterricht verweisen. In keinen der

Gruppen konnten Unterschiede detek-tiert werden. Damit deckt sich das Ergeb-nis annähernd mit denen der bundeswei-ten Befragung. Hier wurde im Mittel ein Wert von 3 Stunden Ausbildungszeit zur Alkoholabhängigkeit ermittelt [12]. Das zeitliche Ausmaß für die Auseinanderset-zung mit dem Thema Alkoholabhängig-keit in Lehrveranstaltungen wurde von den Studierenden unterschiedlich (zwi-schen keine bis > 5 Stunden) angegeben. Die Streuung dieser Antworten ist ver-mutlich auf die Freiwilligkeit der Teilnah-me an Vorlesungen/Wahlpflichtfächern und auf individuelle Erinnerungslücken (recall bias) zurückzuführen. Insgesamt scheint aber das Angebot in den Curricu-la unterrepräsentiert zu sein, wenn 90 % der Studierenden in einer Befragung an-gaben zu wissen, wie die Hypertonie und der Diabetes zu behandeln seien, die Wis-senskenntnisse zur Alkoholerkrankung aber nur bei 20 % lagen. Dies deutet da-rauf hin, dass den klassischen internisti-schen Erkrankungen ein größeres Ge-wicht beigemessen wird als einer epi-demiologisch ebenfalls relevanten psy-chiatrischen Krankheit wie der Alkohol-abhängigkeit [25]. Laut einer Erhebung an deutschen medizinischen Fakultäten wird den Themen Diabetes und Hyperto-nie doppelt so viel Lehrzeit gewidmet wie den Themen der Alkoholerkrankung und Tabakabhängigkeit [26].

Gut auf die Arbeit mit Alkoholkran-ken vorbereitet zu sein, schließt nicht nur ausreichendes Wissen über Diagnostik und Therapie ein, sondern ebenso die be-sondere Fähigkeit, alkoholkranke Patien-ten zu führen, richtig anzusprechen, das Umfeld dieser Menschen zu beachten, Angehörige ggf. mit einzubeziehen und rechtzeitig die richtigen Entscheidungen für die Nutzung aller Ressourcen im Suchtsystem im Sinne der Gesundung der Patienten zu treffen. Aus diesem Grunde ist zu hinterfragen, ob das gängige Lehr-format der „Vorlesung“ in der Ausbildung zur Alkoholerkrankung ausreichend ist.

Eine Befragung der Dekanate an 25 medi-zinischen Fakultäten zeigte, dass aber ge-rade dies die überwiegende Lehrmethode an den Universitäten ist, so auch an der TUD. Hier wird z.B. das Thema Alkohol-sucht im Medizinstudium in zwei Haupt-vorlesungen (jeweils eine in Pharmakolo-gie/3. Studienjahr und in Psychiatrie/5. Studienjahr) gelehrt. Obwohl es in Dres-den schon praktische Trainings (Kom-munikation, der schwierige Patient etc.) gibt, werden diese nicht zur Übung der „motivierenden Gesprächsführung“ (Mo-tivational Interviewing) genutzt, wie es bei der Behandlung von Patienten mit al-koholassoziierten Erkrankungen empfoh-len wird [27]. Die bundesweite Erhebung offenbarte, dass lediglich zwei von 25 Fa-kultäten den Wissens- und Fähigkeits-nachweis auch praktisch im Rahmen ei-nes OSCE (objective structured clinical examination) einfordern. An fast allen Fa-kultäten erfolgt dagegen die Lernkontrol-le zur Alkoholerkrankung schriftlich über Multiple-Choice-Fragen oder mündlich [12]. An der TUD ist das Thema „Alkohol-abhängigkeit“ in den Prüfungen kein strukturierter Bestandteil.

Lehrprojekte an einzelnen Univer-sitäten haben gezeigt, dass eine interdis-ziplinäre Herangehensweise didaktische Vorteile böte. Ein Wahlfach „Alkohol und Nikotin“ gäbe z.B. die Möglichkeit, da es von großer allgemeiner und kli-nischer Relevanz ist, wichtige Lehrinhal-te einzelner Fächer mit diesem Thema zu verknüpfen. Dies entspräche auch dem Konzept einer horizontalen Vernetzung von Lehrinhalten. Studierende, die an solchen Projekten teilgenommen haben, gaben überwiegend ein positives Feed-back. Auch wurde deutlich, dass neben dem Wissenserwerb die Ausbildung kommunikativer Fähigkeiten sehr wich-tig sei und ebenfalls Bestandteil der Prü-fungen sein sollte [28].

Es kann davon ausgegangen werden, dass eine bessere Ausbildung nicht nur das Gefühl der Studierenden befördern wür-de, für ihre spätere Arbeit mit alkohol-abhängigen Patienten gut vorbereitet zu sein, sondern auch deren Motivation und Selbstvertrauen im Umgang mit dem The-ma Alkoholabhängigkeit würden an In-tensität gewinnen. Es ist deshalb positiv zu bewerten, dass sich die überwiegende Mehrheit der Befragten (77,1 %) dafür ausspricht, dass im Rahmen des Medizin-studiums besser über alkoholbezogene Störungen informiert und trainiert wer-

319

Hoffmann et al.:Wie fit fühlen sich Dresdner Medizinstudierende, alkoholbezogene Störungen behandeln zu können?How Fit are Medical Students from Dresden to Treat Alcohol-Related Disorders?

... Studium der Gesundheitswissenschaften/Public Health an

der Medizinischen Fakultät der TU Dresden (TUD) und Ab-

schluss als MPH; Studium der Gesundheitsökonomie – Gesund-

heitsökonom (ebs); Promovend am Institut für Gesundheitswis-

senschaften/Public Health an der Medizinischen Fakultät der

TUD; langjährige Tätigkeit im Health Care Management –

Lundbeck GmbH

Dipl. phil. Thomas Hoffmann, MPH …

© Deutscher Ärzte-Verlag | ZFA | Z Allg Med | 2015; 91 (7/8) ■

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den sollte, was sich mit den Erkenntnissen aus der bundesweiten Befragung deckt [12]. Die alkoholbedingten Störungen sollten daher angesichts ihres Stellenwer-tes in der Versorgung in den Curricula der Ausbildung aufgenommen bzw. stärker platziert werden. Im Verhältnis zu ande-ren Lehrinhalten, z.B. den klassischen in-ternistischen Erkrankungen (Hypertonie,

Diabetes) sollte mehr Ausgewogenheit stattfinden. Ebenso wichtig wäre es, das Thema „Alkoholabhängigkeit“ zu einem regelhaften Bestandteil der Prüfungen zu entwickeln, da offensichtlich das studen-tische Lernverhalten in erster Linie durch Prüfungen gesteuert wird [29].Interessenkonflikte: keine angege-ben.

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Dipl. phil. Thomas Hoffmann, MPH

Medizinische Fakultät TU Dresden/

Gesundheitswissenschaften/Public Health

Fetscherstraße 74

01307 Dresden

[email protected]

Korrespondenzadresse

320

Hoffmann et al.:Wie fit fühlen sich Dresdner Medizinstudierende, alkoholbezogene Störungen behandeln zu können?How Fit are Medical Students from Dresden to Treat Alcohol-Related Disorders?

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321ÜBERSICHT / REVIEW

Onkologische Biomarker in der Hausarztpraxis – Worum geht es?Oncology Biomarkers in Family Practice – What is at Issue? Insa Koné1, Jasper Plath1,2,3, Anne Dahlhaus1,2,3, Petra Schnell-Inderst4, Andrea Siebenhofer-Kroitzsch1,5

Hintergrund

Die Thematik rund um Biomarker ge-winnt zunehmend an Bedeutung und die Anzahl der Veröffentlichungen zu diesem Thema steigt beständig. Ins-besondere onkologische Biomarker stehen dabei im Fokus. Im folgenden Artikel soll ein Überblick von der Defi-nition bis zum Einsatz onkologischer Biomarker mit Relevanz für die haus-ärztliche Praxis gegeben werden. Wir verfolgen nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr soll eine Einführung dem Leser ermöglichen, sich von diesem Ausgangspunkt spezi-fisch zum für ihn relevanten Thema zu informieren.

Methode

Diese Übersicht soll das Thema hin-sichtlich der Relevanz für die hausärztli-chen Versorgung beleuchten. Wir sind folgenden Fragen nachgegangen: Was sind Biomarker, welche finden im haus-ärztlichen Alltag mit welcher Relevanz Verwendung, welche Informationsmög-lichkeiten gibt es für Hausärzte und Pa-tienten und wie kann es sein, dass sie in solch großen Mengen entdeckt werden?

Zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen wurde in der zweiten Jahreshälfte 2014 regelmäßig nach relevanten Publi-kationen recherchiert. Neben Recherchen mit selektivem Charakter in der Daten-bank MEDLINE mit Begriffen (und ggf.

MeSH terms) wie „Biological marker“, „Screening“, „Oncology“, „Primary he-alth care“ und “General pract*”, erfolgte die Suche nach relevanten Quellen auch über die Google-Suchmaschine. Aus-gewertet wurden insbesondere Über-sichtsartikel. Diese Arbeit erhebt nicht den Anspruch einer systematischen Über-sicht, vielmehr wurden Publikationen zu-sammengetragen, die eine Übersicht über das Thema mit der Einschätzung ihrer kli-nischen Relevanz ermöglichen.

Was sind Biomarker?

Biomarker sind nach der Definition des National Cancer Institute (USA): “A bio-

1 Institut für Allgemeinmedizin, Goethe-Universität Frankfurt a.M.2 Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ), Heidelberg3 Deutsches Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK), Heidelberg4 Institut für Public Health, Medical Decision Making and Health Technology Assessment, UMIT – University for Health Sciences, Medical Informatics and Technology,

Hall i.T., Österreich5 Institut für Allgemeinmedizin und evidenzbasierte Versorgungsforschung, Medizinische Universität Graz, Österreich Peer reviewed article eingereicht 30.04.2015, akzeptiert: 17.06.201 DOI 10.3238/zfa.2015.0321–0326

Zusammenfassung: Dieser Artikel soll eine Übersicht zur Relevanz onkologischer Biomarker für die hausärztliche Tä-tigkeit geben. Die Informationen wurden durch eine selek-tive Literaturrecherche in MEDLINE und mittels einer Inter-netrecherche (Google-Suchmaschine) erhoben. Der Begriff Biomarker wird allgemein definiert und onkologische Bio-marker werden anhand von Beispielen in der hausärzt-lichen Praxis dargestellt. Trotz einer Vielzahl wissenschaftli-cher Publikationen zum Thema sind bislang nur wenige Biomarker klinisch implementiert. Dargestellt und diskutiert wird auch, wo sich Hausärzte und Patienten bezüglich des Nutzens und Schadens informieren können und wie neue Biomarker entwickelt werden. Außer im therapeutischen Bereich gibt es bislang keine onkologischen Biomarker, die alleine eine klinische Entscheidung ermöglichen.

Schlüsselwörter: Biomarker; Hausarzt; Onkologie

Abstract: This paper attempts to provide an overview of oncology biomarkers that are relevant to family practice. Information was gathered using a selective literature search on Medline and the internet (google search en-gine). The term biomarker is broadly defined and examples of oncology biomarkers employed in family practice are presented. Notwithstanding the huge number of scientific publications, only few oncology biomarkers have been implemented in clinical practice. Information will be presented on how family practitioners and patients can obtain further details on the benefits and harms of biomarkers, as well as how new biomarkers are developed. Apart from biomarkers used in therapeutic decision making, no biomarker can yet be used as the sole basis of clinical decision making.

Keywords: Biomarker; Family Practitioner; Oncology

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logical molecule found in blood, other body

fluids, or tissues that is a sign of a normal or

abnormal process, or of a condition or disea-

se. A biomarker may be used to see how well

the body responds to a treatment for a disea-

se or condition.” [1]. Sinngemäß bedeutet dies, dass Biomarker Moleküle sind, die im Blut, in anderen Körperflüssigkeiten oder im Gewebe gefunden werden und Auskunft über die normalen und ver-änderten Prozesse bzw. den gegenwärti-gen Zustand oder eine Krankheit geben. Sie können ebenfalls eingesetzt werden, um die Reaktion des Körpers auf eine Be-handlung zu beurteilen.

Onkologische Biomarker können u.a. nach ihrer Funktion und ihrer Stoff-

klasse eingeteilt werden. Nach der Funktion werden onkologische Biomarker prädiktiv, zum Screening, diag-nostisch, prognostisch, zur Therapiewahl und zur Verlaufskontrolle genutzt [2]:• Prädiktive Gentests im menschlichen Ge-

nom geben Hinweise auf die Wahr-scheinlichkeit eines Krankheitsaus-bruchs, z.B. BRCA1/2 bei familiärem Brustkrebs [3].

• Biomarker zum Screening werden bei Ge-sunden zur Feststellung einer etwaigen Erkrankung eingesetzt, ein aufgrund seiner Nutzen-Schaden-Relation um-strittenes Beispiel ist das Prostataspezi-fische Antigen (PSA) zum Screening auf Prostatakarzinom [4].

• Diagnostische Biomarker können zur differenzialdiagnostischen Abklärung eingesetzt werden, z.B. Ca-125 bei ei-nem postmenopausalen Unterleibs-tumor oder α-Fetoprotein (AFP) bei

Verdacht auf ein hepatozelluläres Kar-zinom [5].

• Prognostische Biomarker schätzen die Prognose eines Tumors unabhängig von der Therapie ab. Ein Beispiel sind Multigentests, die ausgehend von der Expression mehrerer Biomarker im Tu-morgewebe die Prognose der Erkran-kung evaluieren, z.B. OncotypeDX für Brustkrebs [6].

• Unter prädiktiven Biomarkern versteht man speziell in der Onkologie Biomar-ker, die den Therapieerfolg in bestimm-ten Subgruppen vorhersagen. Diese Tests werden in der Regel am Tumor-genom vorgenommen. Ein klinisch im-plementierter Biomarker zur Therapie-

wahl ist K-RAS beim kolorektalen Karzi-nom [7]. Bei einer Mutation in diesem Gen ist die Erfolgswahrscheinlichkeit ei-ner Therapie mit EGFR-Antagonisten (Epidermal Growth Factor Receptor) deutlich reduziert, sodass monoklonale Antikörper nicht zum therapeutischen Einsatz kommen.

• Biomarker können zur Verlaufskontrolle genutzt werden, z.B. das Karzinogene embryonale Antigen (CEA) als Hinweis auf ein Wiederauftreten des Tumors bei kurativ-operierten Patienten mit kolorektalem Karzinom [8].

Nach Stoffklassen können onkologische Biomarker wie in Abbildung 1 dargestellt unterschieden werden. Es ist möglich, Einzelmoleküle als Biomarker zu verwen-den, z.B. eine Punktmutation in der DNA. Ebenso wird daran geforscht, die Gesamt-heit der Moleküle einer bestimmten Stoff-klasse in einem definierten Raum, z.B. alle

Proteine in einem Zellkompartiment, als Biomarker zu verwenden.

Bei der Definition der Stoffklassen kommt es zu Überschneidungen, z.B. können Proteine gleichzeitig Metabolite sein.

Onkologische Biomarker in der Hausarztpraxis

Besonders relevant für Hausärzte sind on-kologische Biomarker zur Unterstützung bei den Überlegungen zur Krankheits-wahrscheinlichkeit, Biomarker zum Screening und zur Diagnose eines bös-artigen Tumors sowie Tumormarker in der Nachsorge. Klinisch implementiert und häufig im Einsatz sind prognostische und prädiktive onkologische Biomarker zur Therapiewahl [9], wobei diese primär von betreuenden Onkologen eingesetzt werden. Diese Biomarker werden daher in diesem Artikel nicht weiter diskutiert.

Einige onkologische Biomarker sind unter dem Oberbegriff „Tumormarker“ schon seit mehreren Jahrzehnten im Einsatz. Tabelle 1 zeigt eine Auswahl die-ser Proteine, die für unterschiedliche Fragestellungen eingesetzt werden.

Ein Beispiel ist das lang bekannte CEA, ein Glykoprotein, das von ca. 90 % der kolorektalen Karzinome produziert wird. Das Protein scheint die Metastasie-rung in Lunge und Leber zu erleichtern und in seinem Vorkommen und seiner Konzentration abhängig vom Tumorsta-dium zu sein [8]. Bei CEA handelt es sich um ein normales Zellprodukt, das in kolo-rektalen Karzinomen überexprimiert wird und auch bei anderen Tumoren (z.B. Lun-ge, Brust) in seiner Konzentration erhöht sein kann. Insbesondere wenig differen-zierte Tumoren produzieren wenig CEA, wodurch sich ein manchmal niedriger CEA-Spiegel trotz fortgeschrittener Er-krankung erklärt (eingeschränkte Sensiti-vität). Weiterhin kann der CEA-Spiegel z.B. durch Rauchen oder Entzündungen erhöht sein (eingeschränkte Spezifität).

Klinisch implementiert ist der Ein-satz von CEA als Verlaufsparameter in der Nachsorge von kurativ behandelten ko-lorektalen Karzinomen zusätzlich zu re-gelmäßigen CT-Kontrollen. Die Studien-lage ist allerdings nicht eindeutig und randomisierte Studien, die einen Zusatz-nutzen von CEA in der Nachsorge bele-gen, liegen nicht vor [10]. Als Biomarker zur Vorhersage des Krankheitsausbruchs

Abbildung 1 Stoffklassen von Biomarkern (in Anlehnung an [27])

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ist CEA ungeeignet. Auch der Einsatz zum Screening ist nicht sinnvoll, da die Serumkonzentration bei Frühformen des kolorektalen Karzinoms meist unter dem Cut-off-Wert liegt. Zur sicheren Lokalisie-rung eines unklaren Primärtumors kann CEA ebenfalls nicht verwendet werden.

Allgemein lässt sich sagen, dass sich die bisher klinisch implementierten Tu-mormarker aufgrund ihrer geringen Sensitivität bei Frühstadien und der ein-geschränkten Tumorspezifität nicht zum Screening eignen. Sie können Hin-weise bei der Diagnosestellung geben, zur Therapieentscheidung beitragen und in der Nachsorge eingesetzt werden [5]. In der hausärztlichen Praxis sollten sie keine entscheidende Rolle spielen.

Onkologische Biomarker zum Screening

Eine gewisse Sonderstellung innerhalb der in Tabelle 1 aufgeführten Biomarker hat PSA. Es wird wohl am häufigsten als Biomarker zum Screening eingesetzt, obwohl das Nutzen-Schaden-Verhältnis höchst kontrovers diskutiert wird (vgl. Tab. 2). Eine Metaanalyse ergab, dass die Prostatakrebs-assoziierte Sterblichkeit in den eingeschlossenen Studien durch das PSA-Screening nicht signifikant ge-senkt werden konnte, es aber zu Über-diagnose und nicht notwendigen Thera-pien mit entsprechenden Nebenwir-kungen kommt [4].

An onkologischen Biomarkern zum Screening wird allerdings intensiv ge-forscht. Einige wenige sind bereits auf dem Markt verfügbar. Ihr Nutzen bzw. ihr Vorteil gegenüber etablierten Tests ist jedoch nicht erwiesen, sie wurden daher bislang nicht vom Gemeinsamen Bundesausschuss in den Leistungskata-log der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen [11]. Sie können von Hausärzten nur als individuelle Ge-sundheitsleistungen (IGeL) angeboten werden.

Die Präsenz „IGeL-Monitor“ des Me-dizinischen Dienstes des Spitzenverban-des Bund der Krankenkassen e.V. ana-lysiert wissenschaftliche Quellen zu ei-ner Auswahl von IGeL-Angeboten nach einem standardisierten Prinzip auf Nut-zen und Schaden. Die Bewertung erfolgt in fünf Abstufungen: Positiv, tenden-ziell positiv, unklar, tendenziell negativ und negativ [12]. Tabelle 2 zeigt die eva-luierten Biomarker zum Screening.

Weitere Tests, die als IGeL angebo-ten werden, sind der Septin-9-Test auf Darmkrebs und der PCA3-Test auf Pros-tatakrebs. Die Analyse von methylier-tem Septin-9 im Blut ist bislang nicht ausreichend sensitiv, um zum Screening eingesetzt zu werden [13]. Bei PCA3 handelt es sich um im Urin nachweisba-re miRNA (microRNA), die bei Männern mit erhöhtem PSA-Wert die Entschei-dung für oder gegen eine Prostatabiop-sie unterstützen soll [14].

Ein Beispiel für die Anwendung meh-rerer Biomarker in einem Test zur glei-chen Fragestellung (Biomarker Panel), ist ein DNA-Stuhltest zum Screening auf ko-lorektale Karzinome. Bislang ist er nur in den USA verfügbar. Der Test umfasst Mu-tationen, Methylierungen und einen fä-kalen immunologischen Test (FIT). Im Vergleich zum alleinigen FIT ist die Sensi-tivität deutlich höher. Gleichzeitig ist die Spezifität jedoch geringer als bei einem alleinigen FIT [15]. Beim Einsatz im Screening würden dann mehr gesunde Personen ein falsch-positives Testergeb-nis erhalten, das in weitere eventuell un-nötige potenziell gefährliche Maßnah-men mündet („falscher Alarm“). Grund-sätzlich besteht die Gefahr, dass bei der Anwendung von Biomarker-Panels die Sensitivität des Ergebnisses steigt, aber gleichzeitig die Spezifität sinkt.

Geforscht wird insbesondere an in Körperflüssigkeiten nachweisbarer DNA und RNA. Würde man hier krankheits-relevante Marker finden, wäre der Vorteil eine höhere Sensitivität, da DNA und RNA im Gegensatz zu Proteinen amplifizierbar

sind. Gleichzeitig erhofft man sich eine höhere Spezifität, da DNA und RNA tu-morspezifisch und somit nicht durch z.B. Entzündungen auslösbar sind [16].

Grundsätzlich muss beim Einsatz von (neuen) Screeningmethoden in der Hausarztpraxis die Prävalenz der Erkran-kung im Patientenkollektiv berücksich-tigt werden. Diese ist für Tumorerkran-kungen in der Hausarztpraxis gering. So-mit ergibt sich ein verhältnismäßiger po-sitiver bzw. negativer prädiktiver Wert nur, wenn die verwendete Testmethode über eine sehr hohe Sensitivität und Spe-zifität verfügt [17]. Andernfalls werden gesunde Patienten fälschlicherweise be-handelt und erkrankte Patienten fälsch-licherweise für gesund erklärt.

Prädiktive Gentests in der Onkologie

Eine prädiktive Testung bei Patienten mit familiärer Krebsbelastung kann in Deutschland nicht direkt durch den Hausarzt veranlasst werden [18]. Durch seine gute Kenntnis des Patienten und häufig der Angehörigen ist der Hausarzt allerdings prädestiniert eine familiäre Risikokonstellation zu erkennen. Er kann Patienten dann eine genetische Beratung durch einen Humangenetiker oder einen Arzt mit humangenetischer Zusatzausbildung anbieten. Nach dieser Beratung kann der Patient sich für oder gegen eine prädiktive Testung entschei-den. Die bislang bekannten hereditären Tumorerkrankungen haben eine sehr niedrige Prävalenz. Die Häufigsten sind

Tabelle 1 Auswahl von onkologischen Biomarkern im regelmäßigen klinischen Einsatz, die alle

zur Stoffklasse der Proteine gehören [28].

Biomarker

AFP (α-Fetoprotein)

CEA (Karzinogenes embryonales Antigen)

CA 125 (Krebsantigen 125)

CA 15–3 (Krebsantigen 15–3)

CA 19–9 (Krebsantigen 19–9)

CA 72–4 (Krebsantigen 72–4)

hCG (Choriongonadotropin)

Hormonrezeptoren (z.B. Östrogen-Rezeptor)

PSA (Prostataspezifisches Antigen)

Tumor

Hepatozelluläres Karzinom, Keimzelltumoren, Hepatoblastom

Kolorektales Karzinom

Ovarialkarzinom

Brustkrebs

Pankreas, Leber, Gallenwege, Magen, Kolon und Rektum

Magenkarzinom, muzinöses Ovarial-karzinom

Keimzelltumor, Hepatoblastom

Brustkrebs

Prostatakarzinom

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das hereditäre kolorektale Karzinom oh-ne Polyposis (HNPCC) mit einer Häufig-keit von 1:500 sowie der Familiäre Brust- und Eierstockkrebs mit einer Häufigkeit von 1:500 bis 1:1000 Anlageträgern in der Allgemeinbevölkerung [19].

Wo können sich Hausärzte und Patienten informieren?

Nur wenige onkologische Biomarker sind bereits in der hausärztlichen Praxis ein-setzbar. Eine gute Informationsbasis stel-len die Veröffentlichungen des IGeL-Mo-nitors dar. In diesen wird ein Überblick über die Studienlage zu einzelnen Biomar-kern (vgl. Tab. 2) gegeben. Ebenso sind umfangreiche Berichte und Schlüssel-

publikationen verfügbar. Bewertet werden Leistungen, die in „nennenswertem Um-fang“ in der ambulanten Versorgung an-geboten werden oder von Nutzern des In-ternetportals nachgefragt werden [12].

Patienteninformationen zu Biomar-kern, die als IGeL angeboten werden, rei-chen häufig nicht für eine informierte Entscheidung des Patienten. Eine Evalua-tion ergab, dass in den meisten Fällen der Autor nicht aus der Information hervor-geht, sondern lediglich der Hersteller ge-nannt wird. Eine Einschätzung der Unab-hängigkeit und Vertrauenswürdigkeit die-ser Informationen war daher nicht mög-lich [20]. Vor diesem Hintergrund sollten Ärzte ihre IGeL-Angebote auf Basis der verfügbaren Studien kritisch hinterfragen und Patienten auf Informationsangebote

wie den IGeL-Monitor hinweisen. Ins-besondere sollten mögliche negative Kon-sequenzen durch falsch-positive Test-ergebnisse benannt werden [21].

Wie werden neue Biomarker entwickelt?

Um die Jahrtausendwende waren moleku-largenetische Biomarker eine große Hoff-nung und der technische Fortschritt in der Molekularbiologie war seitdem schneller als erwartet [22]. Es stellt sich daher die Fra-ge, warum nur wenige neue Biomarker kli-nisch implementiert wurden.

Grundsätzlich gibt es zwei Methoden zur Entwicklung neuer Biomarker. Beim klassischen Vorgehen wird Tumorgewe-be und die direkte Umgebung mit dem Ziel untersucht, pathologische Signalwe-ge zu erkennen und durch Biomarker nachzuweisen. Beim „discovery approach“ werden durch High-throughput-Verfah-ren Unterschiede zwischen Erkrankten und einer Vergleichsgruppe festgestellt [2]. Das letztgenannte Vorgehen erlaubt die Weiterentwicklung von Biomarkern für den klinischen Einsatz, ohne dass ge-naue Kenntnisse über den zugrunde lie-genden Signalweg vorliegen. Die Un-menge der so generierten potenziellen Biomarker erschwert allerdings die Aus-wahl tatsächlich klinisch relevanter Bio-marker [23]. Ein sorgfältiges Studien-design ist notwendig, um Artefakte oder sonstige andersbedingte Unterschiede nicht als Biomarker fehl zu deuten.

Bei der Suche nach Markern zum Screening wird häufig kritisiert, dass Pro-ben von Patienten mit fortgeschrittenem Krankheitsstadien mit Proben von Ge-sunden verglichen werden [22]. Tatsäch-lich sollen beim Screening aber Frühfor-men erkannt werden. In diesem Sinne fanden retrospektive Fall-Kontroll-Studi-en zu methyliertem Septin-9 eine deut-lich höhere Sensitivität als eine prospek-tive Studie mit asymptomatischen Pa-tienten [13]. Die Spezifität von Markern

Tabelle 2 Biomarker als IGeL-Leistungen [12]

Tabelle 3 Glossar [29]

Test

M2-PK-Stuhltest zur Darmkrebsfrüherkennung

NMP22-Test zur Früherkennung von Harnblasenkrebs

PSA-Test zur Früherkennung von Prostatakrebs

Ergebnis

unklar

tendenziell negativ

tendenziell negativ

Kosten (inkl. Beratung)

31 bis 41 Euro

31 bis 41 Euro

25 bis 35 Euro

letzte Aktualisierung

22.02.2012

25.02.2014

30.07.2013

Cut-off-Wert

Effektivität

Falsch positiv/ falsch negativ

Negativer prädiktiver Wert

Positiver prädiktiver Wert

Prävalenz

Robustheit (eines medizinischen Tests)

Sensitivität

Spezifität

Translationale Forschung

Testtrennwert, der als Grenze zwischen positiven und negativen Ergebnissen festgelegt wurde

Zielerreichungsgrad, Wirkung oder Nutzen einer Maßnahme oder eines Verfahrens

Gesunde Personen werden fälschlicherweise durch einen Test als krank eingeordnet bzw. kranke Perso-nen als gesund. Falsch positiv = nicht krank, aber positives TestergebnisFalsch negativ = krank, aber negatives Testergebnis

Anteil der Personen mit negativem Testergebnis, bei denen die gesuchte Krankheit tatsächlich nicht vor-liegt. Dieser Wert hängt von der Prävalenz der Er-krankung in der untersuchten Gruppe ab.

Anteil der Personen mit positivem Testergebnis, bei denen die gesuchte Krankheit auch tatsächlich vor-liegt. Dieser Wert hängt von der Prävalenz der Er-krankung in der untersuchten Gruppe ab.

Die Prävalenz beschreibt den Anteil Erkrankter an der Gesamtzahl einer definierten Population zu ei-nem bestimmten Zeitpunkt.

Maß für das Liefern reproduzierbarer Ergebnisse unter variablen Bedingungen (Umgebungsfakto-ren, Proben u.a.)

Der Wert gibt an, wie geeignet ein medizinischer Test ist, Erkrankte zu erkennen.

Der Wert gibt an, wie geeignet ein medizinischer Test ist, Nichterkrankte zu erkennen.

Überführung von Grundlagenforschung in die klini-sche Anwendung

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kann bei einer Kontrollgruppe (z.B. ande-re Krankenhauspatienten), die ebenfalls am betreffenden Organ erkrankt sind, überschätzt werden [24]. Ebenso muss berücksichtigt werden, dass die Proben zu einem vergleichbaren Zeitpunkt ent-nommen werden (im Tagesverlauf aber auch im Verhältnis z.B. zu Operationen), keine Nahrungskarenz voraus ging (bzw. die Kontrollgruppe entsprechend ge-wählt wurde) und etwaige Medikamen-teneinnahmen beachtet wurden [25].

Die Stabilität von Biomarkern ist sehr unterschiedlich und um die Mes-sung von Artefakten zu vermeiden, soll-ten die Abläufe insbesondere bei allen eingeschlossenen Personen vergleichbar sein. Beachtet werden müssen unter an-derem die Auswahl der Grundsubstanz (z.B. Plasma oder Serum), die Stabilität bei unterschiedlichen Formen der Kon-servierung und in Abhängigkeit zur Dauer der Lagerung, der Einfluss der ver-wendeten Gefäße [25]. Nicht zuletzt muss der eingesetzte Test ausreichend sensitiv, spezifisch und robust sein, um den Biomarker nachzuweisen.

Konnte durch prospektive Studien die Sensitivität und Spezifität eines Biomar-kers nachgewiesen werden, muss die Wirksamkeit unter Alltagsbedingungen („effectiveness“) und das Nutzen-Risiko-Profil durch translationale Studien mit ei-nem populationsbezogenen Outcome evaluiert werden. Diese sind langwierig, meist schlechter finanziert als Grund-lagenforschung, sie generieren weniger Publikationen und die Zeitschriften, in den die Ergebnisse erscheinen, haben schlechtere Impactfaktoren [26]. Obwohl dringend notwendig haben diese Studien also nur eine geringe Attraktivität.

Schlussfolgerung

Beim klinischen Einsatz von onkologi-schen Biomarkern besteht Unsicherheit über die Wirksamkeit und die Überfüh-rung der Grundlagenforschung zu Bio-markern in die klinische Praxis ist ein langwieriger Prozess. Daher haben on-kologische Biomarker in der hausärzt-lichen Praxis bislang nur eine geringe

Bedeutung. Ihr Nutzen ist nicht eindeu-tig belegt, und sie werden daher vorwie-gend als IGeL angeboten.

Als Quintessenz gilt, dass wir keine neuen onkologischen Biomarker identi-fizieren konnten, die in der hausärzt-lichen Praxis zum Einsatz kommen soll-ten. Biomarker, die als IGeL angeboten werden, müssen genau geprüft werden. Bei der Aufklärung der Patienten sollte auf die mangelnde Studienlage und den fraglichen Nutzen hingewiesen werden. Es besteht beim Einsatz von Biomarkern insbesondere bei Gesunden eine erheb-liche Gefahr den Getesteten durch falsch-positive Befunde zu schaden.

Interessenkonflikte: keine angegeben.

Danksagung: Wir danken den Haus-ärzten Dr. Hans-Michael Schäfer und Dr. Armin Wunder für die wertvollen An-merkungen und Hinweise im Rahmen der Erarbeitung unseres Artikels.

Univ. Prof. Dr. med.

Andrea Siebenhofer-Kroitzsch

Institut für Allgemeinmedizin und

evidenzbasierte Versorgungsforschung

Medizinische Universität Graz

Auenbruggerplatz 2/9

8036 Graz

Österreich

Tel: +43 316 385-73558

[email protected]

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Literatur

… ist Ärztin in der Weiterbildung zur Allgemeinmedizinerin

und seit Mai 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut

für Allgemeinmedizin in Frankfurt. Ihre aktuellen Arbeits-

schwerpunkte sind Projekte der onkologischen Versorgungsfor-

schung und die Ausbildung von Studierenden.

Dr. med. Insa Koné ...

325

Koné et al.:Onkologische Biomarker in der Hausarztpraxis – Worum geht es?Oncology Biomarkers in Family Practice – What is at Issue?

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326

Koné et al.:Onkologische Biomarker in der Hausarztpraxis – Worum geht es?Oncology Biomarkers in Family Practice – What is at Issue?

Einladung zum DEGAM-Kongress vom 17.–19. 9. 2015 in Bozen

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

das malerische Bozen erwartet uns zum DEGAM-Kongress 2015 mit dem Thema „Bedeutung der Allgemeinmedizin: für Patient, Familie und Gesellschaft“. Wir sind glücklich, dass es uns – nach Salzburg 2011 und München 2013 – erneut gelungen ist, dieses Ereignis als „Drei-Länder-Kongress“ zusammen mit den allgemeinmedizinischen Fachgesellschaften in Südtirol (SÜGAM) und Österreich (ÖGAM) zu gestalten.In den letzten Jahren wurden viele Ziele für die Allgemeinmedizin in Deutschland erreicht: Zahlreiche Lehrstühle wurden geschaffen, viele große Forschungsprojekte wurden erfolgreich abgeschlossen und die universitäre Lehre erheblich ausgebaut. Wir finden außerdem Gehör in der Gesundheitspolitik – hierfür ist es auch höchste Zeit, wenn der Bedarf an qualifizierten jungen Hausärztinnen und Hausärzten adäquat gedeckt werden soll. Diesbezüglich werden für die Zukunft sicherlich noch weitere praktikable Ideen und Konzepte von der universitären Allgemeinmedizin erwartet. Damit entstehen gleichzeitig aber auch folgende Fragen: Warum ist die hausärztliche Versorgung so wichtig? Wo liegt die Bedeutung unserer Paradigmen, wie z.B. „erlebte Anamnese“, „ganzheitliche Versorgung“ und „niedrigschwelliger Zugang“? Wie können wir belegen, dass unsere fachspezifischen Leistungen hilfreich sind für den Patienten, die Familien, die wir betreuen, und damit letztlich auch für die Gesellschaft? Dies wollen wir mit Ihnen gemeinsam diskutieren.Besonders freuen wir uns, dass wir gemeinsam diskutieren und voneinander lernen können. Die länderübergreifenden Freundschaften, die schöne Stadt und die herrliche Landschaft werden uns zusätzlich bereichern, damit wir mit wertvollen neuen Gedanken das Fach Allgemeinmedizin weiter voranbringen. Hochkarätige Gastredner werden uns zum Thema inspirieren, namentlich Prof. Richard Roberts, WONCA Past President, University Wisconsin, USA, Prof. Walter Lorenz, Professor für angewandte Sozialwissenschaften und Rektor der Freien Universität Bozen sowie Prof. Stefan Wilm, Institut für Allgemeinmedizin, Universität Düsseldorf. Neben den bereits bekannten Formaten für die Abstracteinreichung, namentlich Vorträge, Workshops und Poster, möchten wir aufgrund zahlreicher Anregungen ein neues Format ausprobieren, um noch mehr Praxisnähe herzustellen: den sogenannten Praktiker-Workshop. Hier sollen vom Praktiker für Praktiker Workshops angeboten werden, in denen in Kleingruppenarbeit evidenzbasierte, hausärztliche und patientenorientierte Seminare interaktiv durchgeführt werden. Nun sind wir gespannt auf Ihre wertvollen Beiträge aus den Medizinischen Fakultäten, Akademien und Lehrbereichen in Südtirol, Österreich und Deutschland. Die Website ist ab dem 15.1.2015 für die Einreichung geöffnet.

Wir freuen uns sehr, Sie auf unserem Kongress begrüßen zu können.

Die Kongresspräsidenten

Prof. Dr. med. Antonius SchneiderDirektor des Instituts für Allgemeinmedizin der Technischen Universität München

Dr. med Adolf EnglPräsident der Südtiroler Akademie für Allgemeinmedizin

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327LESERBRIEFE / LETTERS TO THE EDITOR

Anzeige „Bundeswehr“und Anzeige „DGIM Onlinekongress“ in der ZFA 5 / 2015

Leserbrief von Heike Diederichs-Egidi und Dr. Günther Egidi

Bitte keine Werbung in der ZFA für kon-kurrierende Fachgesellschaften und für die Bundeswehr

Wir haben Probleme mit der Mai-Ausgabe der ZFA: Auf der inneren Um-schlagseite findet sich eine ganzseitige Anzeige der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM). Wer einmal den Wiesbadener Jahreskongress der DGIM besucht hat, weiß, wie stark und anders als die DEGAM sich diese Gesellschaft, die sich in Konkurrenz mit der DEGAM um die Mitgliedschaft der hausärztlich tätigen Internisten befindet, in die Nähe der pharmazeutischen Industrie begeben hat (darüber kann auch nicht hinweg täuschen, dass sich die DGIM schneller als die DEGAM die Adaptation der ameri-kanischen Choosing-Whisely-Initiative auf die Fahnen geschrieben hat).

U.E. hat eine Anzeige der DGIM in einer Zeitschrift der DEGAM nichts zu suchen – genau so wenig wie eine ganz-seitige Anzeige der Bundeswehr unter der Überschrift „Wir.Dienen.Deutsch-land“.

Wir wollen nicht in Abrede stellen, dass es viele redliche Ärztinnen und Ärzte bei der Bundeswehr geben mag. Wir halten es zudem für möglich, dass eine Teilnahme der Bundeswehr an Blauhelm-Missionen der UNO sehr nutzbringend sein könnte. Aber gerade in der heutigen Zeit, in der wir u.a. in Osteuropa und im Mittleren Osten überreichlich Kriege mit anschauen müssen, ist unsere Grundauffassung die, dass eher die Prävention von Krieg als sein Anheizen durch das Setzen auf die militärische Karte auch aus ärzt-licher Sicht geboten ist. Es waren nicht zuletzt Ärztinnen und Ärzte, die unter Anführung durch Bernard Lown und Jewgeni Tschasow die 1985 mit dem

Friedensnobelpreis ausgezeichnete IPPNW gegründet haben; eine Organi-sation, die viel zum Abbau der seiner-zeitigen Block-Konfrontation und zur nuklearen Abrüstung beigetragen hat – und mit deren Zielen Werbe-Aktionen für eine nationale Armee in keiner Wei-se vereinbar wären.

Wir sind froh, dass unsere ZFA ohne Anzeigen der pharmazeutischen Indus-trie erscheint. Wir wären noch froher, wenn nicht für eine pharmanahe Fach-gesellschaft und für eine Armee gewor-ben werden würde.

Heike Diederichs-Egidi

Ärztin für Allgemeinmedizin

Lindenhofstr. 44

28237 Bremen

Tel.: 0421 611929

[email protected]

Korrespondenzadresse

Für die Herausgeber der ZFA antwortet Prof. Dr. Michael M. Kochen

Wir danken Heike Diederichs-Egidi und Günther Egidi für ihre kritische Zu-schrift.

Fraglos stehen wir ohne jeden Vor-behalt hinter dem Prinzip einer anzei-genfreien Zeitschrift in Bezug auf phar-mazeutische Werbung. Die Begründung ist klar: Wir wollen unter allen Umstän-den Interessenkonflikte vermeiden, die sich zwischen (haus)ärztlicher Arznei-mittelverordnung und Anzeigenerlösen ergeben könnten.

Nun stellt sich die Frage, mit wel-chen Argumenten Anzeigen abgelehnt werden sollen, die mit der ärztlichen Tä-tigkeit nicht oder nicht direkt verbun-den sind. Auch wenn unsere persönli-chen Präferenzen in Richtung einer Ab-

lehnung gehen, sind wir in unserer Funktion als Herausgeber gehalten, neu-tral zu bleiben und nicht Gefühlen sub-jektiver Bewertung zu folgen: Jede Ab-lehnung solcher Annoncen käme einer willkürlichen „Zensur“ gleich, die aus individuellen, nicht aber aus sachlichen Erwägungen heraus gerechtfertigt wäre.

Anzeigen der Bundeswehr oder selbst von pharmazeutischen Unter-nehmen, die (theoretisch) ohne Bezug auf deren Produkte wären, können in diesem Sinne nicht abgelehnt werden – es sei denn, die DEGAM hätte eine sol-che Politik z.B. in ihren Statuten veran-kert.

Gleiches gilt auch für Anzeigen einer „konkurrierenden Fachgesell-schaft“, die direkte Werbeeinflüsse auf ihre eigenen Mitglieder nicht verhin-dert, sondern sogar fördert. Umgekehrt würden wir energischen Protest erhe-

ben, wenn eine Anzeige der DEGAM in einem Organ einer konkurrierenden Fachgesellschaft ohne sachlich überzeu-gende Begründung abgelehnt würde.

Grundprinzip hinter all diesen Überlegungen: Wir sollten mit unserer Haltung nicht „jedermann erziehen“ wollen.

Selbstverständlich wäre die Situati-on völlig anders, wenn z.B. eine Organi-sation versuchen würde, rassistische, frauen- oder fremdenfeindliche Anzei-gen in der ZFA zu schalten. Solchen Ver-suchen würden wir unverzüglich einen Riegel vorschieben.

Prof. Dr. med. Michael M. Kochen, MPH,

FRCGP

[email protected]

Korrespondenzadresse

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328 LESERBRIEFE / LETTERS TO THE EDITOR

Rosenbrock R. Prävention in Lebenswelten – der Setting-Ansatz. Z Allg Med 2015; 91: 213–219

Leserbrief von Dr. Ralf Bettker-Cuza

Prof. Rosenbrock ist zu danken, dass er die konkreten biografischen Umgebun-gen, Lebenswelten oder Setting ge-nannt, in den Fokus der Prävention rückt. Unabhängig von der Frage, ob be-stimmte präventive Maßnahmen über-haupt eine messbar positive Nutzen-Schadens-Bilanz aufweisen, möchte ich aber aus der Sicht der Erfahrung der Ar-beit im „Setting Betrieb“ auch Kritik ein-wenden:

Der Artikel zeichnet sich durch eine etwas unscharfe Terminologie aus, was zu Missverständnissen führen kann. Zumindest nach dem Verständnis der betrieblichen Prävention sind die Be-griffe Gesundheitsförderung (BGF) und Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) nicht austauschbar. Gesund-heitsförderung bezeichnet Maßnah-men, die unabhängig vom Bedarf ange-boten werden, beispielsweise Sport-gruppen, Zuschüsse zu Mitgliedschaf-ten in einem Sportverein oder Ernäh-rungskurse. Gesundheitsmanagement bezeichnet dagegen den Ansatz der par-tizipativen Entscheidungsfindung mit Gesundheitszirkeln oder ähnlichen Or-ganisationen, der ein für jede Gruppe zugeschnittenes Portfolio an Angebo-ten beinhalten sollte. Diese Unschärfe findet sich auch durchgehend in der Publikation der BZgA zu den „Kriterien

guter Praxis in der Gesundheitsför-derung [...]“.

Der in einem Kasten gezeigte Ablauf eines betrieblichen Gesundheitsmana-gements wird keinesfalls „ideal“ dar-gestellt. Man wird es mir auch als Ar-beitsmediziner nicht verübeln, aber der Betriebsarzt taucht in der Darstellung aus mir unerklärlichen Gründen nicht auf! Dies finde ich angesichts der detail-lierten Darstellung anderer Erfordernis-se sehr befremdlich. Dazu ist wichtig festzuhalten, dass um sowohl BGF wie auch BGM ein riesiger Markt an Anbie-tern auch der skurrilsten Maßnahmen entstanden ist, der ärztlicher (!) Experti-se bedarf, um nicht auf viele Hochglanz-angebote hereinzufallen. Evaluierte oder gar durch Studien mit Evidenz be-legte Angebote sind extrem rar. Auch die Krankenkassen sind nicht in der Lage, dort die Spreu vom Weizen zu trennen, da sie selbst oftmals mit externen Anbie-tern kooperieren und ihre Budget an Präventionsmaßnahmen auch aus-schöpfen sollen und wollen. Als profes-sionelle Moderatoren sehe ich sie daher aufgrund ihres Eigeninteresses nicht.

Die im Textkasten erwähnte „akti-vierende Erhebung“ als Befragungs-werkzeug ist auch sehr zweifelhaft. Es gibt mit dem „Work Ability Index“ (zu deutsch: Arbeitsfähigkeitsindex oder Ar-beitsbefähigungsindex) ein seit Jahr-zehnten international validiertes und erfolgreiches Werkzeug, um die entspre-

chenden Daten zu erheben. Eine äqui-valente Erhebung außerhalb des „Set-tings Betrieb“ ist wünschenswert und sollte ebenso standardisiert werden, da nur so eine vergleichende Evaluierung möglich ist. Der Einsatz des WAI wird von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) gefördert und verfügt über ein deutschlandweites Netzwerk mit Sitz an der Universität Wuppertal, sodass das diffizile Feld der Erstellung wissenschaftlich valider Fra-gebögen auch nicht betreten werden muss.

Zusammenfassend finde ich es sehr gut, dass die verschiedenen Lebenswel-ten der Patienten in den Fokus der be-darfsgerechten Prävention rücken, aller-dings hätte ich mir ein größeres Zurück-greifen auf schon bereits etablierte Ar-beitsweisen gewünscht (es sei auch noch die DIN SPEC 91020 zum BGM er-wähnt). Ich hoffe zudem, dass die bei-den für Empfehlungen und Handrei-chungen zuständigen Einrichtungen des Bundes, die BZgA und das BAuA, hier nicht parallel nebeneinander, son-dern kooperativ zusammen arbeiten.

Antwort von Prof. Dr. Rolf Rosenbrock

Sehr geehrter Herr Dr. Bettker-Cuza, ich danke für Ihr aufmerksames Lesen und möchte kurz auf ihre Kritik eingehen:

Ad 1) Die Terminologie im Bereich von Prävention und Gesundheitsför-derung ist durchgängig unklar, wider-sprüchlich und oft beliebig. Ich habe dies auch in Veröffentlichungen wie-derholt beklagt und versucht, eine ei-gene, aus meiner Sicht konsensfähige und klassifizierungstaugliche Termi-nologie zu entwickeln (Rosenbrock R,

Gerlinger T. Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung, 3. Auflage, Huber, Bern 2014).

Für wenig zielführend halte ich Ih-ren Vorschlag der Unterscheidung zwi-schen Betrieblichem Gesundheits-management (BGM) und Betrieblicher Gesundheitsförderung (BGF). Denn der Terminus BGM wird sehr unter-schiedlich und auch für sehr vage Kon-zepte („das Management beachtet bei allen Entscheidungen die gesundheit-lichen Wirkungen für die Beschäftig-ten“) sowie für eine Fülle der von Ih-nen zu Recht kritisierten Hochglanz-angebote verwendet. Das derzeit im

Verfahren befindliche Präventions-gesetz folgt im Übrigen der von mir ge-wählten Terminologie. Das hat auch eine gewisse Berechtigung, denn in diesem Ansatz werden Selbstwirksam-keit und Teilhabe – also zentrale Ge-sundheitsressourcen – gezielt geför-dert.

Für verwirrend und den Wert sol-cher Ansätze herabsetzend würde ich es halten, wenn Gesundheitsförderung – wie sie es tun – auf die Merkmale „unab-hängig vom Bedarf“ und individuelle Verhaltensanreize reduziert würde. Die Ottawa Charta der WHO definiert Ge-sundheitsförderung hingegen als einen

Dr. med. Ralf Bettker-Cuza

Leitender Werksarzt

Vorwerk Elektrowerke, 42270 Wuppertal

[email protected]

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329LESERBRIEFE / LETTERS TO THE EDITOR

„Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Ge-sundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befä-higen“.

Ad 2) Sie kritisieren, dass Betriebsärzte in meiner Ablaufskizze einer partizipativ gestalteten Gesundheitsförderung nicht vorkommen. Diese Kritik muss ich an-nehmen, da in der Tat Betriebsärzte bei der Initiierung, Durchführung und Qua-litätssicherung vieler solcher Projekte ei-ne wichtige positive Rolle spielen. Es stimmt aber andererseits auch, dass es Betriebsärzte gibt, die sich weiterhin ge-gen solche „weichen Methoden“ stel-len. Ich glaube, dass die Ambivalenz von Betriebsärzten bis heute zu beobachten ist (Rosenbrock R, Lenhardt U. Die Rolle von Betriebsärzten in einer modernen

betrieblichen Gesundheitspolitik. Gü-tersloh: Bertelsmann Stiftung 1999).

Auch ich beobachte mit Sorge die zunehmende kommerzielle Durch-dringung der Prävention und Gesund-heitsförderung im Betrieb mit gewinn-wirtschaftlich motivierten Angeboten. Allerdings glaube ich nicht, dass allein die Einschaltung von medizinischer Expertise in die Entscheidungen über Kauf bzw. Inanspruchnahme solcher Maßnahmen eine Lösung bringen kann.

Ad 3) Ich halte den von Ihnen erwähn-ten Work Ability Index für ein wichtiges Instrument zur arbeitsbezogenen Erfas-sung von Gesundheit und ihrer – soweit absehbar – Nachhaltigkeit. Eine „akti-vierende Erhebung“ kann er nicht erset-zen. Grob gesprochen besteht der Unter-

schied darin, dass in den Instrumenten einer aktivierenden Befragung nicht nur erhoben wird, wie die gegenwärtige Ar-beitssituation mit ihren die Gesundheit belastenden und fördernden Faktoren wahrgenommen und bewertet wird, sondern auch – und das ist der entschei-dende, weil potenziell „aktivierende“ Aspekt – gefragt wird, was aus Sicht der Befragten verbessert werden könnte und sollte sowie ggf. wie dies geschehen könnte.

Prof. Dr. Rolf Rosenbrock

Paritätischer Gesamtverband

Oranienburger Straße 13–14

10178 Berlin

[email protected]

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Linde K. Darf ein guter Allgemeinmediziner an Komplementärmedizin glauben oder Placebos anwenden? Z Allg Med 2015; 91: 201–206

Leserbrief von Prof. Dr. Norbert Schmacke

Klaus Linde schreibt, dass „der einzelne Praktiker, ob er nun CAM und Placebos anwendet oder nicht, im Alltag in der Regel gar keine Legitimationsprobleme hat“. Ich würde das anders formulieren: Überzeugte Anwenderinnen und An-wender der sogenannten Alternativme-dizin sind mit rationalen Argumenten nicht mehr erreichbar. Sie arbeiten mit einer doppelten Täuschung: Sie täu-schen sich selber und ihre Patientinnen und Patienten. Wenn Kranke an Heil-wirkungen jenseits nachvollziehbarer Horizonte glauben, ist das ihre persönli-che Haltung und Entscheidung, die am Ende nicht zur Disposition steht. „Ein guter Allgemeinmediziner“ aber kann nicht im Ernst an die weltanschaulichen Setzungen von Samuel Hahnemann oder Rudolf Steiner glauben. Es würde ja auch nicht toleriert, wenn Ärztinnen

und Ärzte ihren Patientinnen und Pa-tienten erzählen, dass die Erde doch eine Scheibe ist. Wer in diesen Fragen schwankt, der muss sich vielleicht noch einmal genauer mit den Verlautbarun-gen von Homöopathen beschäftigen, die Kranke von Krebs und Schlaganfall zu heilen versprechen und bei derarti-gem Irrsinn auch nicht von den vorsich-tigeren Vertretern dieser Schulrichtun-gen zur Raison gerufen werden [1]. Das Verschreiben von Placebopräparaten ist nach übereinstimmender Bewertung des Medizinrechts und der Medizinethik nur statthaft, wenn zuvor ausdrücklich auf den fehlenden spezifischen Nutzen hingewiesen worden ist. Dies genau kann ein klassischer Homöopath aber nicht tun, weil er ja gerade glaubt, dass die Heilkraft in den individuell aus-gesuchten Globuli steckt. Die All-gemeinmedizin sollte aus der Inan-spruchnahme von CAM eine (vermut-lich nicht ganz einfache) Schlussfolge-

rung ziehen: die kommunikativen Kom-petenzen selbstkritisch betrachten und wo immer nötig verbessern [2].

1. Schmacke N (Hrsg.). Der Glaube an die Globuli. Die Verheißungen der Homöopathie. Suhrkamp medizin Human 2015 (i.E.)

2. Schmacke N, Stamer M, Müller V. Ge-hört, gesehen und verstanden wer-den: Überlegungen zu den Lehren aus der Homöopathieforschung. Z Allg Med 2014, 90: 251–255

Literatur

Prof. Dr. med. Norbert Schmacke

Marssel 48

28179 Bremen

Tel.: 01520 8987285

[email protected]

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Leserbriefe an die ZFA reichen Sie bitte online über den Editorial Manager ein (www.editorialmanager.com/zfa). Wenn „alle Stricke reißen“, können Sie auch einen der Herausgeber (Adressen im Impressum) anschreiben.

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Conradi P. Skepsis und wachsendes Unbehagen – eine Methodenkritik an Großstudien. Z Allg Med 2015; 91: 173–176

Leserbrief von Dr. Kristina Kasek

Philipp Conradi spricht mir aus dem Herzen. Wiewohl ich mich nicht dazu berufen fühle, statistische Ergebnisse von Großstudien neu berechnen zu wol-len oder deren Interpretation durch Ex-perten in Frage zu stellen.

Viel wichtiger scheint mir die grund-sätzliche Frage zu sein, wie wir unserer Gesundheit am besten nützen:– durch Arzneimitteltherapien mit dem

Ziel, jeden beliebigen (aus eben diesen Großstudien abgeleiteten) Grenzwert erreichen zu wollen

– oder durch langfristige und nachhalti-ge Lebensstiländerung – auch mit dem Ziel, Arzneimitteltherapien so lange wie möglich hinauszuzögern

Die Entscheidung zu Medikamenten wird den Ärzten mit Leitlinien sehr nahe gelegt und über die Medien allen Patienten nahe gebracht, sodass sie dies auch einfordern. Und dabei steht uns schon die Arzneimit-

tel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundes-ausschuss zur Seite, die z.B. lipidsenkende Therapien erst als effizient betrachtet, wenn das gesamt-kardiovaskuläre Risiko des konkreten Patienten hoch ist (> 20 % Ereignisrate/10 Jahre)– Wie oft wird in der Praxis dieses Risiko

konkret für jeden Patienten „berech-net“?

– Wie oft erfolgt für wie lange wenigs-tens der Versuch der Lebensstilinter-vention? Oder wissen wir schon vor-her, dass das bei „diesem“ Patienten sowieso nicht zielführend ist?

– Wie oft wird unmittelbar nach Erhalt der Laborwerte für die Lipidparameter sofort zum Rezept gegriffen?

Oft nehmen wir damit den Patienten die Verantwortung für seine Gesunderhal-tung ab und legen sie in die Hände phar-mazeutischer Hersteller. Selbstverständ-lich gibt es ja auch Grenzwerte, ab wel-cher NNT eine Therapie mit Arzneimit-teln sinnvoll und effizient ist. Letztlich lässt sich mathematisch alles berech-

nen, doch ist es damit klinisch noch im-mer nicht relevant.

Wir werden eine Chance bekom-men, alle Menschen dank klinischer Studienergebnisse zu Patienten zu ma-chen. Wir werden jedoch keine Chance haben, das alles bezahlen zu können.

Zum Glück ist das auch nicht der Sinn des Lebens. Diesen müssen wir wo-anders suchen als in der Medikalisierung des Alltags. Sei es durch kritisches Hin-terfragen von Studienergebnissen wie Conradi es gemacht hat oder – noch bes-ser – zusammen mit einer gesunden zu unserem Wohlbefinden beitragenden Lebensweise.

Antwort von Dr. Philipp Conradi

Kristina Kasek nimmt in ihrer Leser-zuschrift nur in einem geringen Maße Bezug auf meinen Artikel. Ich hatte darin ausgesagt, dass etliche Statin-Großstudien nicht korrekt durch-geführt wurden, weil deren Studien-design eine Entblindung auf der Ebene Proband/Betreuer ermöglichte. Diese Entblindung führte zur Ungleichbe-handlung des Verum- und des Placebo-kollektives mit einer Besserbetreuung in der Patientengruppe des getesteten Me-dikamentes. Misstrauisch machte mich die unlautere Ergebnisdarstellung dieser Großstudien. Weiterhin analysierte ich eine grob fehlerhafte, jedoch häufig zi-tierte Metaanalyse zum Einsatz von Sta-tinen bei älteren Patienten.

Kristina Kasek springt gleich mehre-re Schritte weiter und hinterfragt die Sinnhaftigkeit einer medikamentösen Cholesterinsenkung. Sie erhebt einen

ganzen Katalog an rhetorischen Fragen, der in der Feststellung mündet, dass wir als Gesellschaft nicht jede Therapie ei-nes willkürlich gewählten Risikofaktors bezahlen werden können.

Für diese Erweiterung bin ich der Au-torin dankbar, denn Aspekte der Verhält-nismäßigkeit, der Angemessenheit und der Ressourcengerechtigkeit werden von uns Ärzten nur selten thematisiert.

Wir sind uns sicherlich einig, dass es neben der medikamentösen Cholesterin-senkung weitere Probleme gibt, die wir als Gesellschaft in den nächsten Jahren und Jahrzehnten lösen müssen. Unsere Gesell-schaft muss sich darüber verständigen, für welche Problemlösungen sie welche Mit-tel angewendet wissen will und welche Nebenwirkungen dabei in Kauf genom-men werden. Zu den Nebenwirkungen ei-ner medikamentösen Therapie zählt u.a. der Eintrag von Medikamentenrückstän-den in das Trinkwasser. Statine nehmen darin eine Sonderstellung ein, weil deren Anwendung in Schwangerschaft und

Stillperiode absolut kontraindiziert sind. Wir wissen nicht, ob diese Rückstände kommenden Generationen Schaden zu-fügen werden, können dies aber – bei stän-dig steigenden Verschreibungszahlen – auch nicht ausschließen.

Die gesellschaftliche Diskussion be-ginnt für uns Ärzte mit einer klaren Dar-stellung vom Nutzen einer Therapie an-hand korrekter wissenschaftlicher For-schung. Die Zurückweisung fehlerhafter Studien und Metaanalysen ist deshalb nicht nur eine wissenschaftliche Selbst-verständlichkeit, sondern ein unge-schriebener gesellschaftlicher Auftrag an uns Ärzte.

Dr. Kristina Kasek

FB Arzneimittelberatung/Prüfung

Team Arzneimittelberatung/Prüfung 1

AOK PLUS

04087 Leipzig

[email protected]

Korrespondenzadresse

Dr. med. Philipp Conradi

Facharzt für Allgemeinmedizin

Otto-Dix-Ring 98

01219 Dresden

[email protected]

Korrespondenzadresse

330 LESERBRIEFE / LETTERS TO THE EDITOR

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331DEGAM-NACHRICHTEN / DEGAM NEWS

Allgemeinmedizinischer Nachwuchs freut sich auf Kongress in Bozen

Bereits der letztjährige Kongress in Ham-burg war – vor allem aufgrund der insge-samt 112 studentischen Teilnehmer – ein sehr „junger“ Kongress. Auch in Bo-zen kann sich der hausärztliche Nach-wuchs auf spezielle Veranstaltungen und Workshops freuen. Warum die Vorfreu-de gerade bei den jungen Teilnehmerin-nen und Teilnehmern besonders groß ist, schildern im Folgenden die Junge Allgemeinmedizin Deutschland (JADE) sowie ein Mitglied der neuen Kohorte der DEGAM-Nachwuchsakademie:

„Ich freue mich schon auf meinen ersten DEGAM-Kongress in Bozen: Wann hat man schon als Studentin die Möglichkeit einen Kongress zu besu-chen? Genau deswegen bin ich auch et-was aufgeregt, aber die Freude auf diese neue Erfahrung überwiegt stark. Ich freue mich besonders darauf, die ande-

ren Teilnehmer der Nachwuchsaka-demie wiederzusehen und viele interes-sante Vorträge zu hören. Wir haben schon auf unserem ersten Klausur-wochenende viel diskutiert und werden dies sicherlich auch intensiv auf dem Kongress weiterführen. Außerdem freue ich mich auf viele nette Gespräche und Kontakte, auch über die Nachwuchsaka-demie hinaus.“Anika Beck – Medizinstudentin an der Uni-

versität Düsseldorf, Mitglied der DEGAM-

Nachwuchsakademie

„Wir freuen uns sehr auf den Kongress, weil wir neue und bekannte JADE-Ge-sichter treffen werden, eine gemeinsame Vorkonferenz der jungen Allgemeinme-diziner aller drei Länder mitgestalten und auf die gelungene Arbeit des letzten Jah-res zurückblicken können. Wir erwarten

fachliche wie persönliche Inspirationen – für eine wachsende JADE und uns per-sönlich – und freuen uns auf den Aus-tausch mit allen Kongressteilnehmern.“Dr. med. Hannah Haumann – JADE-Spre-

cherin für Internationale Zusammenarbeit

– für die Junge Allgemeinmedizin Deutsch-

land (JADE)

Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)Psychosomatische Grundversorgung in der Allgemeinmedizin – Ziele, Kompetenzen, Methoden

Die Deutsche Gesellschaft für All-gemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) nimmt im Folgenden zur psy-chosomatischen Grundversorgung in der Allgemeinmedizin Stellung:

Das Positionspapier zum Thema „Psychosomatische Grundversorgung in der Allgemeinmedizin – Ziele, Kom-petenzen, Methoden“ ist in einem ge-meinsamen Abstimmungsprozess von Hausärztinnen und Hausärzten* ent-standen, die in der unmittelbaren Pa-tientenversorgung tätig sind. Es be-schreibt eine Kernkompetenz hausärzt-licher Arbeit und bettet psychosomati-sche und psychosoziale Grundversor-gung in das besondere Feld hausärzt-licher Primärversorgung ein. Dieses Feld ist in den Zukunftspositionen der DEGAM (DEGAM-Zukunftspositionen: Allgemeinmedizin – spezialisiert auf den ganzen Menschen, www.degam.de/positionspapiere) beschrieben und

beinhaltet folgende Aspekte: die lang-fristige, Anlass übergreifende, einen niedrigschwelligen Zugang ermögli-chende, wohnortnahe Betreuung, die Orientierung auf das System der Fami-lie, Nachbarschaft und Gemeinde, die Funktion der Integration und Koor-dination der Versorgung, der Gesund-heitsbildung, der Verhütung von Fehl-versorgung und der Abwendung ge-fährlicher Verläufe.

Das Positionspapier soll zu einer De-finition psychosomatischer Grundver-sorgung beitragen und ermöglichen, In-terventionen in der Primärversorgung zu entwickeln, zu operationalisieren und überprüfbar zu machen.

Zudem kann es als Leitfaden für die modulare Vermittlung dieser Kernkom-petenz in der medizinischen Aus- und Weiterbildung dienen (wird bislang in einem eigenständigen Curriculum der Bundesärztekammer in der Facharzt-

weiterbildung vermittelt). Die hier be-schriebenen Positionen ergänzen das Curriculum um Qualitätsstandards für die Vermittlung an Hausärzte und be-gründen, warum dieser Weiterbil-dungsbaustein nur mit Beteiligung von Hausärzten vermittelt werden kann. Darüber hinaus soll es dazu beitragen, die Wertschätzung der umfassenden, hausärztlichen Arbeit zu erhöhen und damit auch ihre Honorierung zu ver-bessern.

1Psychosomatische Grundversorgung in der Allgemeinarztpraxis bietet Patienten einen sicheren Raum zum Innehalten in Situationen der Belastung oder Verunsi-cherung durch Krankheiten und beson-dere Lebensereignisse. Sie ist damit mehr als eine psychosomatische oder psychiatrische Krankheitslehre, die Hausärzte zu einer verbesserten Diag-

*Nachfolgend wird aus Gründen der Vereinfachung nur die männliche Form gebraucht. Gemeint sind selbstverständlich beide Geschlechter.

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nostik psychischer Erkrankungen befä-higen soll. Sie beschreibt eine all-gemeinmedizinische Haltung, die nicht additiv, sondern konstitutiv für die hausärztliche Arbeit sein soll. Sie ist Teil hausärztlicher Identität.

2Sie basiert auf der vertrauensvollen Bezie-hung zwischen Arzt und Patient für Diag-nose und Therapie aller Beschwerden von Patienten in einer auf Dauer angelegten Beziehung und ist dabei orientiert auf das System der Familie, der Nachbarschaft, der Gemeinde und der Kultur.

3Sie sieht die Beschwerden von Patienten im Kontext ihrer Biografie und aktuellen Beziehungen in Familie und im wei-teren, sozialen und kulturellen Umfeld und unterstützt Patientinnen und Pa-tienten bei einer ganzheitlichen Wahr-nehmung ihrer Beschwerden, ihrer selbst und ihrer Beziehungen [1].

4Sie stärkt dabei ihre salutogenen Fähig-keiten (Selbstwirksamkeit) [2]. Der niedrigschwellige Zugang zur Hausarzt-praxis ermöglicht, Angehörige aller so-zialen Schichten sozialkompensato-risch und kompetenzstärkend zu be-handeln [3].

5Die Wirkfaktoren in der psychosomati-schen Grundversorgung sind:a. die Beziehung zwischen Arzt und Pa-

tient als heilsame Beziehung und Möglichkeit einer korrigierenden Be-ziehungserfahrung [4–8],

b. die Information der Patienten durch Ärzte als Experten,

c. die gemeinsame Problemaushand-lung und Formulierung von individu-ellen Gesundheitszielen [9] und die Einbeziehung der Patienten in die Entscheidungen über Diagnostik und Therapie [10–12],

d. die Erhöhung der Selbstwirksamkeit der Patienten,

e. die Erfahrung von Anteilnahme und Annehmen des Leids, Ermutigung und Fürsorge [13].

6Sie benötigt daher die ärztliche Kompe-tenz zur Beziehungsgestaltung und der Reflexion dysfunktionaler Muster der

Arzt-Patient-Beziehung [14–18], damit gemeinsam eine neue Situation ge-schaffen werden kann. Diese Kom-petenz leitet sich daraus ab, dass Patien-ten in der Beziehung zu Ärzten wieder-holen, wie sie üblicherweise Beziehun-gen mit anderen gestalten, und ermög-licht Ärzten, den eigenen Weg der Be-ziehungsgestaltung zu überdenken. Be-ziehungsgestaltung nutzt Übertragung und Gegenübertragung, die in anderen Kontexten Resonanz, Enactment oder gemeinsame Situation genannt wer-den. So können dysfunktionale Muster vermieden [14] oder aufgelöst und neue, salutogene Muster entfaltet wer-den.

7Für diese Kompetenz der Beziehungs-gestaltung sind Selbstbeobachtung und Selbstreflexion Voraussetzung. Selbstbeobachtung und Selbstreflexi-on beginnen damit, die Situation mit Patienten auf sich wirken lassen zu können. Der Hausarzt soll daher einen achtsamen Umgang mit sich selbst pflegen.

8Diese Kompetenz fördert daher die Selbstfürsorge des Arztes. Ergänzende Kompetenzen sind Selbstmanagement und zeitliche Strukturierung der eigenen Arbeitsweise.

9Beziehungsgestaltung berücksichtigt, dass in der Beziehung zwischen Arzt und Patient Machtungleichgewichte beste-hen. Es wird eine dialogisch kooperative Beziehung von Menschen mit unter-schiedlichen Kompetenzen (Fach- bzw. Eigenkompetenz) angestrebt. Damit werden ethische Grundsätze ärztlichen Handelns um eine weitere Dimension ergänzt.

10Psychosomatische Grundversorgung nutzt die Techniken der Gesprächs-führung vieler Methoden für die Ge-staltung der verschiedenen Ge-sprächskontexte wie Anamnese, Bi-lanzierung, Aufklärung und Vermitt-lung schlechter Nachrichten, Moti-vierung, Umgang mit akuten Trau-mata und Lebenskrisen [19] und Feh-lermanagement. Förderung einer sa-lutogenen Kommunikation ist die

Basis. Psychosomatische Grundver-sorgung berücksichtigt, dass jedes Gespräch Prozess orientiert ist und einen bestimmten Verlauf in der Zeit hat.

11Die Methoden der Behandlung, die immer im Kontext der Arzt-Patient-Interaktion gesehen werden sollen, sind:a. das hausärztliche Gespräch, in dem es

um Verstehen, Klären, Deuten, Erin-nern und Aktivierung von Ressourcen geht [20],

b. psychosoziale Interventionen wie z.B. Rehabilitationsangebote, Arbeits-unfähigkeitsbescheinigungen, psy-chosoziale Hilfsangebote wie Selbst-hilfegruppen,

c. Psychoedukation, d. körperliche Untersuchung, Hausbesu-

che und ggf. chirurgische Interventio-nen,

e. Entspannungsverfahren, f. und ggf. Interventionstechniken der

kognitiven Verhaltenstherapie, der sys-temischen Therapie und der Trauma-therapie und ggf. Gruppenangebote,

g. und die Medikation.

12Psychosomatische Grundversorgung bedarf bestimmter Rahmenbedingun-gen wie:a. des Ausschlusses von Gesprächsunter-

brechungen und Klärung der Barrie-ren des Kontaktes (z.B. des Sprachver-ständnisses),

b. Regeln im Umgang mit der Zeit und ihrer Transparenz,

c. einer personalen Zuordnung zwi-schen Arzt und Patient,

d. der Berücksichtigung, wann das Ge-spräch mit dem einzelnen Patienten, und wann das Gespräch mit mehre-ren stattfinden sollte,

e. der Berücksichtigung von interkultu-rellen Konzepten [21] und

f. einer psychohygienischen Praxis von Ärzten und ihrem Team.

13Psychosomatische Grundversorgung berücksichtigt, dass Behandlung immer innerhalb eines Teams stattfindet und bindet dazu die Mitarbeiterinnen der Praxis ein. Sie würdigt und erweitert da-her die Bedeutung der medizinischen Fachangestellten.

332 DEGAM-NACHRICHTEN / DEGAM NEWS

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14Sie ist Netzwerk orientiert und sucht die Zusammenarbeit mit Spezialis-ten im ambulanten und stationären Bereich und allen in der Patientenver-sorgung involvierten Berufsgruppen. In Kooperation mit der Fachpsycho-therapie kann sie den Bedarf an spezialisierter Versorgung mindern. Wenn eine Behandlung durch die Fachpsychotherapie erfolgt, bleiben Hausärzte weiter einbezogen, um die bio-psycho-soziale Perspektive zu bewahren [22].

Lehrbücher zur Psychosoma-tischen Grundversorgung

• Veit I. Praxis der psychosomatischen Grundversorgung Die Beziehung zwi-schen Arzt und Patient. Stuttgart: Kohlhammerverlag, 2010

• Fritzsche K. Psychosomatische Grund-versorgung. Berlin: Springer, 2003

• www.amwf.org. Umgang mit Patien-ten mit nicht-spezifischen, funktio-nellen und somatoformen Körper-beschwerden. Registrierungsnum-mer: 051–001, Entwicklungsstufe: S3

Dr. med Iris Veit

Ärztin für Allgemeinmedizin/

Psychotherapie

Sprecherin der Arbeitsgruppe

Psychosomatik der DEGAM

[email protected]

DEGAM-Bundesgeschäftsstelle

Goethe-Universität, Haus 15, 4. OG

Theodor-Stern-Kai 7

60590 Frankfurt am Main

Tel.: 069 65007245

[email protected]

Korrespondenzadresse

1. Bahrs O. Fallverstehen in der hausärzt-lichen Langzeitversorgung; Familien-dynamik 2011; 36: 102–111

2. Petzold TD. Salutogene Kommunikati-on zur Anregung der Selbstheilungs-fähigkeit bei langwieriger Erkrankung. In: Petzold TD, Bahrs O (Hrsg.). Chro-nisch krank und doch gesund. Bad Gandersheim: Verlag Gesunde Ent-wicklung, 2013: 263–278

3. Starfield B, Leiyu S, Macinko J. Contri-bution of primary care to health sys-tems and health. Milbank Quarterly 2005; 83: 457–502

4. Roter D, Hall J, Merisca R, Nordstrom B, Cretin D, Svarstad B. Effectiveness of interventions to improve patient com-pliance: a meta-analysis. Med Care 1997; 36: 1138–1161

5. Del Canale S, Louis DZ, Maio V, et al. The relationship between physician empathy and disease complications: an empirical study on primary care physi-cians and their diabetic patients in Par-ma, Italy. Acad Med 2012; 87: 1243–1249

6. Stewart M. Effective physician-patient communication and health outcomes: a review. CMAJ 1995; 152: 1423–1433

7. Thorne SE, Harris SR, Mahoney K, Con A, McGuinness L. The context of health care communication in chronic illness. Patient Educ Couns 2004; 54: 299–306

8. Beckman HB, Markakis KM, Suchman AL, Frankel RM. The doctor-patient re-lationship and malpractice. Lessons

from plaintiff depositions. Arch Intern Med 1994; 154: 1365–1370

9. Bahrs O. Der Bilanzierungsdialog – Eine Chance zur Förderung von Ressourcen-orientierung in der Langzeitversorgung von Patienten mit chronischen Krank-heiten. GGW 2011; 11: 7–15

10. Schneider A, Körner T, Mehring M, Wensing M, Elwyn G, Szecseny J. Im-pact of age, health locus of control and psychological co-morbidity on pa-tients’ preferences for shared decision making in general practice. Patient Educ Couns 2006; 61: 292–298

11. Loh A, Simon D, Kriston L, Härter M. Patientenbeteiligung bei medizi-nischen Entscheidungen – Effekte der Partizipativen Entscheidungsfindung aus systematischen Reviews. Dtsch Arztebl 2007; 104: A-1483–1488

12. Loh A, Leonhart R, Wills CE, Simon D, Härter M. The impact of patient partici-pation on adherence and clinical out-come in primary care of depression. Pa-tient Educ Couns 2007; 65: 69–78

13. Beck RS, Daughtridge R, Sloane PD. Phy-sician-patient communication in the pri-mary care office: a systematic review. J Am Board Fam Pract 2002; 15: 25–38

14. Veit I. Ärger in der Arzt-Patient-Bezie-hung. Z Allg Med 2014; 90: 182–186

15. Epstein RM, Hadee T, Carroll J, Mel-drum SC, Lardner J, Shields CG. “Could this be something serious?” Reassuran-ce, uncertainty, and empathy in re-sponse to patients’ expressions of wor-

ry. J Gen Intern Med 2007; 22: 1731–1739

16. Little P, Dorward M, Warner G, Ste-phens K, Senior J, Moore M. Importan-ce of patient pressure and perceived pressure and perceived medical need for investigations, referral, and prescri-bing in primary care: nested obser-vational study. BMJ 2004; 328–444

17. Hausteiner-Wiehle C, Grosber M, Bubel E, et al. Frustrating patients: physician and patient perspectives among dis-tressed high users of medical services. J Gen Intern Med 1991; 6: 241–246

18. Salmon P, Ring A, Dowrick CF, Humph-ris GM. What do general practice pa-tients want when they present medical-ly unexplained symptoms, and why do their doctors feel pressurized? J Psycho-som Res 2005; 59: 255–260

19. Reddemann O, Leve V, Eichenberg C, Herrmann M. Zur Bedeutung von Trau-mafolgestörungen in der hausärztlichen Praxis. Z Allg Med 2014; 90: 123–128

20. Huibers C. Psychosocial interventions by general practitioners. Cochrane Da-tabase Syst Rev 2003; (2): CD003494

21. Gerlach H, Abholz HH, Koc G, Yilmaz M. „Ich möchte als Migrant auch nicht anders behandelt werden“ – Fokus-gruppen zu Erfahrungen von Patienten mit Migrationshintergrund aus der Türkei. Z Allg Med; 2012, 88: 77–86

22. Herrmann M, Veit I. Fachgebundene Psychotherapie. Z Allg Med 2013; 89: 33–37

Literatur

333DEGAM-NACHRICHTEN / DEGAM NEWS

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334 DEGAM-NACHRICHTEN / DEGAM NEWS

Erfolgreicher erster Tag der Allgemeinmedizin Schleswig-Holstein

Am 30. Mai 2015 fand in Kiel der 1. Tag der Allgemeinmedizin Schleswig-Hol-stein statt. Zu dieser „Premiere“ hatten sich etwas über 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Wissenschaftszen-trum in Kiel eingefunden. Mit diesem Format der Fortbildungsveranstaltun-gen von Ärzten für Ärztinnen und Ärzte, Praxisteams, medizinische Fachange-stellte, Ärztinnen und Ärzte in Weiter-bildung und für Studierende betritt Schleswig-Holstein Neuland. Thema dieser pharmafreien Fortbildungsmög-lichkeit mit DEGAM-Label ist die Bedie-nung möglichst vielfältiger Facetten un-seres täglichen beruflichen Alltags.

Die Veranstaltung begann mit einem Überblick über den momentanen Stand in Lehre und Forschung des Faches All-gemeinmedizin in Kiel und in Lübeck.

Kiel

Vor etwas über einem Jahr (im Februar 2014) hat Prof. Hanna Kaduszkie-wizc ihre Professur in Kiel angetreten. Ihr Bestreben ist es, die Lehre für das Fach Allgemeinmedizin in Kiel neu auf-zustellen und das Fach studienbeglei-tend von den ersten Fachsemestern bis zum Praktischen Jahr (PJ) intensiver im Curriculum zu verankern. Bisher ist das im Bereich der klinischen Ausbildung schon gut vorangekommen. Das Institut beschäftigt vier „halbe“ wissenschaftli-che Mitarbeiter (zwei Planstellen).

Weiterhin gut angenommen und evaluiert ist das Blockpraktikum in Hausarztpraxen. Es sind ca. 100 Lehrpra-xen beteiligt, die sich mit viel Engage-ment der Ausbildung der Studierenden widmen. Das PJ in der Allgemeinmedi-zin ist weiterhin im Aufbau, die Resonanz ist auch hier gut. Zurzeit werden 15 Dis-sertationen betreut, davon sind zehn Arbeiten „neue“ Arbeiten, die in Kiel be-gonnen wurden, fünf „alte“ Arbeiten wurden aus Hamburg, dem vorherigen Arbeitsschwerpunkt von Frau Prof. Ka-duszkiewicz, nach Kiel „mitgebracht“.

Ein Forschungsschwerpunkt be-trifft den „Peer Review Allgemeinmedi-zin“, eine Art Hospitation von Kollegen bei Kollegen mit anschließendem Feed-back über das Erlebte. Hierüber wird be-richtet und das Ergebnis wissenschaft-

lich aufgearbeitet. Allerdings muss das Geben eines Feedbacks natürlich erst er-lernt werden. Die ersten Fortbildungs-veranstaltungen sind gelaufen. Ein ande-rer Forschungsschwerpunkt betrifft Ver-sorgungsmodelle im ländlichen Raum, in diesem Fall geht es schwerpunkt-mäßig um die Insel Pellworm.

Lübeck

In Lübeck ist die Professur für Forschung in der Allgemeinmedizin (W3) seit dem 01.10.2014 durch Prof. Jost Stein-häuser besetzt. Am Abend vor dem Tag der Allgemeinmedizin hat die Antritts-vorlesung unter reger Beteiligung der Universität und vielen Interessierten stattgefunden. Prof. Steinhäuser hat mittlerweile vier halbe wissenschaftli-che Mitarbeiter einstellen können, ein weiterer Aufbau ist geplant. Die Profes-sur für Lehre in der Allgemeinmedizin (W2 [halbe Stelle], Prof. Träder) besteht weiterhin.

Seit 2004 gibt es ein Blockprakti-kum – jeder Studierende in Lübeck geht für zwei Wochen während des Studiums in eine hausärztliche Lehrpraxis. Es wur-den in Lübeck 90 Lehrpraxen akquiriert, diese Veranstaltung ist weiterhin sehr be-liebt und wird hervorragend evaluiert. Die Online-Einschreibung für dieses Block-praktikum in Lübeck ist für die Studieren-den, die Praxen und das Sekretariat eine große Erleichterung. Alle Studierenden können auf einer Internetseite zwischen den Lehrpraxen (mit ihren verschiedenen Schwerpunkten) und den unterschiedli-chen möglichen Terminen wählen und „buchen“ diesen Termin online.

Seit 2006 werden in 30 ausgewähl-ten Lehrpraxen Studenten im PJ in der Allgemeinmedizin ausgebildet. Für das Studienjahr 2013 konnten 32 Studie-rende in Lübeck für das PJ in Lehrpraxen vermittelt werden, im Jahr 2014 waren es 29 Studierende. Die Evaluation der Studenten ist überwältigend – das PJ in Hausarztpraxen ist „heiß begehrt“. Mitt-lerweile kann allen Interessenten ein Platz vermittelt werden.

Prof. Steinhäuser hat als For-schungsschwerpunkte die Kapitel Verbundweiterbildung, Versorgung ländlicher Räume, ärztlicher Wieder-

einstieg nach Berufspausen und Manu-elle Medizin im Blick. Er betreut bisher 13 Dissertationen, Prof. Träder hat 9 Promovenden.

Workshops des TdA

Nach der Plenarveranstaltung ging es in die Workshops des TdA – hier war das An-gebot breit gestreut. In allen Workshops wurde rege und engagiert diskutiert – ge-mäß dem aus den ärztlichen Qualitätszir-keln bekannten Motto: „Jeder weiß eine Menge, doch gemeinsam wissen wir mehr.“ Die Auswahl reichte dabei von Palliativmedizin über Geriatrie bis zum Impf-Refresher. Spezielle Angebote für Medizinische Fachangestellte (z.B. Kom-munikationstraining) sowie für Ärztin-nen und Ärzte in Weiterbildung (z.B. Prüfungsvorbereitung Facharztanerken-nung) rundeten das Programm ab.

Es gab also ein breites Angebot für die über 100 Teilnehmer, von denen circa 50 % Ärztinnen und Ärzte, 30 % MFAs und 20 % Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung sowie Studierende waren.

Mittags gab es eine interaktive Fallbesprechung, bei der einige typi-sche komplexere hausärztliche Fälle von Prof. Hanna Kasduzkiewicz und von Dr. Hans-Otto Wagner (UKE Hamburg) vor-gestellt und diskutiert wurden. Das Audi-torium konnte über TED-Abstimmgeräte die unterschiedlichen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen „mit-bestimmen“ – die divergierenden Mei-nungen waren gute Kristallisationskerne für engagierte und teils auch kontroverse Diskussionen, um eine eventuelle post-prandiale Müdigkeit rasch zu beseitigen.

Staffelübergabe

Am Ende eines ereignisreichen Tages übergab Prof. Kaduszkiewicz den „Staf-felstab“ von Kiel nach Lübeck an Prof. Steinhäuser. Im kommenden Jahr wird der zweite Tag der Allgemeinmedizin am 28.05.2016 in Lübeck stattfinden.

Prof. Jens-Martin Träder

Institut für Allgemeinmedizin, Universität Lübeck

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335DEUTSCHER HAUSÄRZTEVERBAND / GERMAN ASSOCIATION OF FAMILY PHYSICIANS

Versorgungsstärkungsgesetz – wichtige Neuerungen für die hausärztliche Versorgung und Nachwuchssicherung

Am 11. Juni hat der Deutsche Bundestag das Versorgungsstärkungsgesetz ver-abschiedet. Gerade für Hausärztinnen und Hausärzte und den hausärztlichen Nachwuchs, enthält das Gesetz eine Rei-he wichtiger Neuerungen.

Eine notwendige und richtige Maß-nahme ist der Ausbau der Förderstellen in der Allgemeinmedizin. Bisher ent-scheiden sich noch deutlich zu wenig Medizinstudierende für eine allgemein-medizinische Weiterbildung. Lediglich zehn Prozent der Weiterbildungs-abschlüsse werden aktuell in der All-gemeinmedizin absolviert, knapp 90 Prozent hingegen im spezialisti-schen Bereich. Damit auch zukünftig ei-ne flächendeckende und qualitativ hochwertige Primärversorgung sicher-gestellt werden kann, muss dieser Trend dringend umgekehrt werden! Zukünftig sollen bundesweit 7.500 statt bisher 5.000 Weiterbildungsstellen in der All-gemeinmedizin gefördert werden. Ein weiterer überfälliger Schritt war, dass endlich auch das Gehalt von Ärztinnen und Ärzten in der ambulanten Weiter-bildung an das Niveau in den Kranken-häusern angeglichen wird. Diese Unge-rechtigkeit hat in der Vergangenheit viele junge Ärztinnen und Ärzte davon abgehalten, den Weg in die Allgemein-medizin zu wählen. Um die Kosten für die Weiterbildungsstelle zu refinanzie-ren, ist das Verbot der Leistungsauswei-tung für die Anstellung eines Assisten-ten im Rahmen der Weiterbildung in der Allgemeinmedizin modifiziert wor-den.

Zusätzlich zu den 7.500 Weiterbil-dungsstellen in der Allgemeinmedizin, sieht das Versorgungsstärkungsgesetz vor, zukünftig auch 1.000 Stellen in ei-nigen Facharztrichtungen zu fördern. Vor dem Hintergrund, dass knapp 90 Prozent aller Weiterbildungs-abschlüsse im spezialistischen Bereich absolviert werden und es folglich hier

gar keinen Förderbedarf gibt, ist es mehr als fraglich, inwiefern diese Maßnahme tatsächlich Verbesserungen in der Ver-sorgungsrealität mit sich bringt. Es wäre deutlich zielführender gewesen, sämtli-che Kräfte zur Förderung der Allgemein-medizin zu bündeln, denn hier besteht ein echter Nachholbedarf.

Absolut unverständlich ist die Sub-sumierung einiger, nicht näher definier-ter Facharztgruppen, unter dem Begriff „grundversorgende Fachärzte“, ohne das ersichtlich wird, welche Funktion diese in der Versorgung der Patientin-nen und Patienten erfüllen sollen. An-statt die primärärztliche Versorgung zu stärken, schafft dies allen voran Verwir-rung auf Kosten der Qualität!

Für die hausärztliche Nachwuchs-sicherung ist es dringend notwendig, die Allgemeinmedizin von ihrem Schatten-dasein an vielen Universitäten zu befrei-en. Immer noch verfügen nur knapp zwei Drittel der medizinischen Fakultä-ten über einen Lehrstuhl für Allgemein-medizin – ein absolut unhaltbarer Zu-stand! Daher ist es ein wichtiges Signal, dass zukünftig fünf Prozent der Förder-mittel für die Weiterbildung in der All-gemeinmedizin in die Einrichtung von Kompetenzzentren fließen. Dies wird dazu beitragen, der Allgemeinmedizin zukünftig ihren angemessenen Platz in der universitären Landschaft zu ver-schaffen.

Mit der geplanten Parität in der Kas-senärztlichen Bundesvereinigung (KBV), hat der Gesetzgeber eine langjäh-rige Forderung des Deutschen Hausärz-teverbandes umgesetzt. Demnach sollen zukünftig Hausärzte über hausärztliche Angelegenheiten und Fachärzte über fachärztliche Angelegenheiten entschei-den. Dies ist notwendig geworden, nachdem in der Vergangenheit fachärzt-

liche Mehrheiten immer wieder über hausärztliche Fragen entschieden ha-ben. Bedauerlich ist, dass diese Regelung nicht auch auf die Kassenärztlichen Ver-einigungen in den Ländern ausgeweitet worden ist, denn gerade in einigen Län-der-KVen spielen hausärztliche Interes-sen kaum eine Rolle.

Auch die Möglichkeit, zukünftig rein hausärztliche Medizinische Versor-gungszentren gründen zu können, geht auf die Initiative von Hausärztinnen und Hausärzten zurück. Gerade für viele junge Nachwuchsärzte stellen MVZ in-zwischen eine interessante Möglichkeit dar, als angestellt tätige Ärzte in der Pa-tientenversorgung zu arbeiten. Es ist da-her begrüßenswert, dass der Gesetzgeber hier mehr Flexibilität ermöglicht und unnötige Hürden abbaut.

Ein Thema, das in der öffentlichen Diskussion der letzten Monate großen Raum eingenommen hat, sind die so ge-nannten „Terminservicestellen“. Sie sol-len Patientinnen und Patienten bei Be-darf innerhalb von vier Wochen einen Facharzttermin vermitteln. Damit rea-giert die Politik auf Einwände einer z.T. monatelangen Wartezeit auf einen Facharzttermin. Im Rahmen der Verträ-ge zur Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) besteht dieses Problem nicht, denn hier können durch die Koordinati-on des Behandlungsprozesses von den Hausarztpraxen bei Bedarf zeitnah Fach-arzttermine organisiert werden. Nicht nur aus diesem Grund hat der Gesetzge-ber die Stellung der HZV als Alternative zur kollektivvertraglichen Versorgung noch einmal explizit herausgearbeitet. Sie ist inzwischen ein fester Bestandteil der Regelversorgung und führt nach-gewiesenermaßen zu einer Verbesserung der Versorgung der Patientinnen und Patienten.

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Organschaft / AffiliationDeutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM; www.degam.de),DEGAM-Bundesgeschäftsstelle Goethe-Universität, Theodor-Stern-Kai 7, Haus 15, 4. OG, 60590 Frankfurt; Gesellschaft der Hochschullehrer für Allgemeinmedizin (GHA; www.gha-info.de); Salzburger Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SAGAM; www.oegam.at/c1/page.asp?id=35);Südtiroler Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SüGAM; www.suegam.it); Tiroler Gesellschaft für Allgemeinmedizin (TGAM; www.tgam.at);Vorarlberger Gesellschaft für Allgemeinmedizin (VGAM)Official Journal of the German College of General Practitioners and Family Physicians, the Society of Professors of Family Medicine, the Salzburg Society of Family Medicine, the South-tyrolean College of General Practitioners, the Tyrolean College of General Practitioners and the Vorarlberg Society of Family Medicine

Herausgeber / EditorsProf. Dr. med. Heinz-Harald Abholz Facharzt für Allgemeinmedizin Abt. Allgemeinmedizin (Emeritus) Heinrich-Heine-UniversitätMoorenstraße 5 40225 Düsseldorf E-Mail: [email protected] http://www.uniklinik-duesseldorf.de/ allgemeinmedizin

Prof. Dr. med. Michael M. Kochen, MPH, FRCGP Facharzt für Allgemeinmedizin Institut für Allgemeinmedizin (Emeritus)Georg-August-Universität GöttingenLudwigstraße 37 79104 Freiburg E-Mail: [email protected] http://www.allgemeinmedizin. med.uni-goettingen.de

Prof. Dr. med. Wilhelm Niebling Facharzt für Allgemeinmedizin Lehrbereich Allgemeinmedizin Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Schwarzwaldstraße 6979822 Titisee-Neustadt E-Mail: [email protected] http://www.ukl.uni-freiburg.de/med/lehre/lehrbereich/niebling.htm

Dr. med. Susanne Rabady Ärztin für AllgemeinmedizinParacelsus Medizinische Privatuniversität Landstraße 2A-3841 Windigsteig E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. med. Andreas SönnichsenFacharzt für Allgemeinmedizin Institut für Allgemeinmedizin und FamilienmedizinUniversität Witten/HerdeckeAlfred-Herrhausen-Straße 5058448 WittenE-Mail: [email protected]://www.uni-wh.de/gesundheit/lehrstuhl-institut-allgemeinmedizin-familienmedizin/

Internationaler Beirat / International Advisory BoardJ. Beasley, Madison/Wisconsin, USA; F. Buntinx, Leuven/Belgien; G.-J. Dinant, Maastricht/NLM. Egger, Bern/CH ; E. Garrett, Columbia/ Missouri, USA; P. Glasziou, Robina/Australien

T. Greenhalgh, London/UK; P. Hjortdahl, Oslo/Norwegen; E. Kahana, Cleveland/Ohio, USAA. Knottnerus, Maastricht/NL; J. Lexchin, Toronto/Ontario, Kanada; C. del Mar, Robina/Australien; J. de Maeseneer, Gent/BelgienP. van Royen, Antwerpen/Belgien; F. Sullivan, Dundee/Schottland, UK; C. van Weel, Nijmegen/NL; Y. Yaphe, Porto/Portugal

Verlag / PublisherDeutscher Ärzte-Verlag GmbHDieselstr. 2, 50859 KölnPostfach 40 02 65, 50832 KölnTel.: +49 2234 7011–0 www.aerzteverlag.dewww.online-zfa.de

Geschäftsführung / Management of the CompanyNorbert A. Froitzheim (Verleger), Jürgen Führer

Leiterin Produktbereich / Leader Product Division: Katrin Groos

Produktmanagement / Product ManagerMarie-Luise BertramTel.: +49 2234 7011–389Fax: +49 2234 7011–6389E-Mail: [email protected]

Koordination / CoordinationJürgen Bluhme-RasmussenTel.: +49 2234 7011–512Fax: +49 2234 7011–6512E-Mail: [email protected]

AbonnementserviceTel.: +49 2234 7011–520Fax: +49 2234 7011–[email protected]

Leiter Kunden Center / Leader Customer Service: Michael Heinrich Tel. +49 2234 7011–233 E-Mail: [email protected]

Leiterin Anzeigenmanagement und verantwortlich für den Anzeigenteil / Advertising CoordinatorMarga Pinsdorf, Tel.: +49 2234 7011–243 E-Mail: [email protected]

Verkaufsleiter Medizin / Head of SalesEric HenquinetE-Mail: [email protected]

Sales Management Petra Paul Tel. +49 2234 7011–239E-Mail: [email protected]

Verkauf Industrieanzeigen / Regional Sales Verkaufsgebiete Nord&Ost / NorthGötz KneiselerTel.: +49 30 88682873Fax: +49 30 88682874Mobil: +49 172 3103383E-Mail: [email protected]

Verkaufsgebiete Mitte&Süd / SouthHardy LorenzTel.: +49 6131 219490Fax: +49 6131 219492Mobil: +49 172 2363730E-Mail: [email protected]

Leiter Medienproduktion / Leader Media Production: Bernd Schunk

Tel.: +49/2234 7011–280, [email protected]

Herstellung / Production Department

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Alexander Krauth, Tel.: +49 2234 7011–278 E-Mail: [email protected]

Layout / Layout

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91. Jahrgang

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Z FAZeitschrift für Allgemeinmedizin

German Journal of Family Medicine

Juli/August 2015 – Seite 289–336 – 91. Jahrgang www.online-zfa.de

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Page 51: ZFA 07-08 2015 · Verrucae vulgares oder vulgäre Warzen sind benigne epitheliale Akanthome der Haut und gehören zu den häufigsten Hauterkrankungen schlechthin. Je nach Literaturquelle

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DeutscherÄrzte-Verlag

EinheitlicherBewertungsmaßstab(EBM) Band 2

Zuordnung der operativen Prozedurennach § 295 SGB V (OPS) zu den Leistungender Kapitel 31 und 36 (Anhang 2)Stand der Ausgabe 01.04.2015

DeutscherÄrzte-Verlag

EinheitlicherBewertungsmaßstab(EBM) Band 1

Ausgabe mit Euro-Beträgen auf derGrundlage des bundeseinheitlichenOrientierungswertesStand der Ausgabe 01.04.2015

Mit CD-ROM

2 Bände, 1.578 Seiten,mit CD-ROMISBN 978-3-7691-3567-1broschiert € 49,99

Neu im EBM Stand 01.04.2015• Erhöhung des Orientierungswertes für alle

niedergelassenen Ärzte

• Neue EBM Ziffern und Zuschläge im Kapitel 3 fürdie Delegationsmöglichkeit von Leistungen anqualifizierte nicht-ärztliche Praxismitarbeiter

• Neue Leistungen für die Ambulante spezialfach-ärztlicheVersorgung (ASV)

• Aufnahme weiterer fachlich bedingter neuer EBMLeistungen wie z.B. AMD (feuchte altersbedingteMakuladegeneration)

• Aktualisierte und ergänzte pädiatrische Leistungen

• Änderung zur Notfallbehandlung

Aktuelle Kommentierung des EBMSicher abrechnen

• Von EBM-Experten aus der KBV fachkundigkommentiert

• Hohe Sicherheit bei Abrechnungsfragen injuristischen Verhandlungen

• Markierung aller Änderungen gegenüberder Vorversion

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Ja, hiermit bestelle ich mit 14-tägigem Widerrufsrecht

___ Einheitlicher Bewertungsmaßstab (EBM) 49,99 €Band 1 und Band 2ISBN 978-3-7691-3567-1

___ Kölner Kommentar zum EBM 99,99 €ISBN 978-3-7691-3150-5

___ Kölner Kommentar zum EBM auf CD-ROM 99,99 €ISBN 978-3-7691-3216-8

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Loseblattwerk in 2 Ordnern3. Auflage inklusive8. Ergänzungslieferung,Stand 01.01.2015, ca. 2.500 SeitenISBN 978-3-7691-3150-5 € 99,99

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