Sonntag
21. August 1027Vlatt Neue Zürcher
Zeitung ZweiteSonntagausgabe.
1404
Arabische Neise.Hon Mohammed Leopold Weiß.
VI.*) «n der Schwelle der heiligen Stätten.
Dschedbah (Hedschas), 29. Mai.
Wenn man die weiten, dämmrigen Zoll-baracken verläßt und sich der Stadt zuwendet,
fällt als erstes Bild «in sehrgrohes, lang«
gestrecktes, mehrstöckigesHaus in die Augen.
Es liegt jenseits eines leeren Platzes, hinter"einer niedrigen Mauer, dik das Ende Ves
Hafengebietes bezeichnet, und ist anders alsalle Häuser, die ich bisher im Orient sah. Inden islamitischen Ländern, die noch nicht völligeuropäischen Zivilisationseinflüssen
unterlegensind, baut man Privathäuser mit Vorliebe mitder Front nach innen und wendet der Straßenur eine nackte Fassade zu. Dieses Gebäude
hier aber schaut aus seinen vier Stockweilenfrei auf das Meer hinaus; überreich ist die
Fassadegegliedert: Fenster, Ballone, Erler,
Gesimse alles aus braunem Holz geschnitzt,
einem Spielwerk gleichauf die Mauern au»
rosa Koiallenstein aufgesetzt und in künstler!«scher
Vielfältigkeit modelliert, in jedem Punktwechselnd, dabei harmonisch und zierlich ohnegleichen.
Dieses Haus steht als ein heiteres und sinn-lich
beglückendes Symbol über unsermEinzug
in Arabien. Man ist sich dessenanfangs laum
bewußt, glaubt, in irgend einem beliebigen
orientalischen Land zu sein; aber in den Hin-tergründen des Gehirns zittert eine Erwartung
und Ahnung, daß dies eine neue Welt ist. Dastreicht, als wir zum erstenmal vom Hafen nachder Stadt zu
gehen, der Nasai wie «inTraum vorüber. Der großen
Hitzewegen ist
er mit Brettern und Sackleinwand überdacht;
aus Löchern und Spalten flimmern dünne, ge-bändigte Sonnenpfeile ins goldbraune DLm-merlicht. An sich stellt
ja dieser Basar gar nichtsBesonderes dar er ist einer der Basare inzahllosen Mittel- und Kleinstädten der ara.bischen Welt; einfache Läden mit orientalischenund europäischen Erzeugnissen. Garlüchen, indenen schwarze
Regelungen «eine Fleischstück«
chen am Spieß über glühenden Kohlen drehen,
Kaffeestuben mit glänzenden Messlngges2s;en
und breiten, aus Palmbaststrlckengeflochtenen
Bänken. Das alles kennen wir seitlangem.
Nun aber erscheint eine Gruppe von Beduinenvor uns, als wir um eine Ecke biegen,magere, laum mehr als mittelgroße Gestalten,gebräunt,
schnell von Bewegungen, gleichsam
huschend üb« der Erde, ganz anders als dieschwereren, gröberen Beduinen des syrischen
Nordens. Uebei diesen hierliegt der unnenn-
bare Duft Arabiens, der Duft einer steinigen,
von spärlichem Dornengestrüpp übersätenWüste, von der Sonne ohne Gnade übermannt;
zwischenErdhügeln und Steinbrocken huscht,
nach rechts und links «ugend. wie ein Gelstauftauchend und verschwindend, die goldy«»»
tiae Eidechse, die niemal» Wasser trinkt; am
Horizont stehen die schwarze Zelte der Araber!Reiter kommen von ihnen auf schaukelndenKamelen; dt« sonnige Stille saugt an ihrenStimmen, wenn sie einander anrufen, undnimmt ihnen jedes Echo. Menschen, die alsoinmitten der dürftigen, mühevollen Weltenleben, bleibt nichts anderes übrig als die
Sehnsucht in ihren Herzen, der unbewußte
Wunsch nach einem Wesen, welche» in volllom.mener und allgütiger, strenger und gerechter
Welse alle Weiten umspannt. Im Einholt-Glauben des Islam ist diese Sehnsucht Wirk-
lichleit geworden. Aber seltsam: in den Mn-dem der Freiheit und Ungebundenheit, wie die
Beduinen es sind, lebt neben all ihrer Harteeine zerbrechliche, fast weibische Schwäche, die
sie verhindert, sich vollkommen der Sehnsuchtund ihrer
Verwirklichung hinzugeben und
Linien der Bitterkeit in die Gesichter zeichnet. ;
Eine ergreifende Mischung von hart und welch,
heiter und melancholisch, za rt und gewaltsam:
so sind die arabischen Beduinen.Die steinige Wüste, die Hedschas heißt, ist
ein armes Land; so ist auch die Kleidung stinerbeduinischen Bewohner arm und einfach: einwei^ärmeliges
Hemd aus weißem, braunemoder rotem Baumwollstoff; ein rotes dreieckigzusammengelegtes und von einem schwarzenKllmelhaarstiick (Aq5l) zusammengehaltenes
Tuch auf dem Kopf; Wollschärpe um die Len-den; primitive Sandalen an den Füßen; dasist alles. Drüben im Norden, in Palästina.Syrien trägt
auch der Aermste einen Wollman-tel i«lbb2); hier sind es nur wenige, die sicheine Abl»z und ein Hemd au» feinerem Stoffleisten; es g ibt natürlich vereinzelt auch Wohl-habende, etwa Schcchs, die fehr gut gekleidet
sind, weite, feinwollige Mäntel und goldene
oder silberneAqüls auf dem Kopfe tragen.
Aber ob arm oder reich: biblischeKönige
sindsie alle; stolze und dürftige. Und Fremde ineiner Stadt, die nicht von ihresgleichen be-
wohnt ist, sondern von Menschen sattenGehabens.
Die Bürger von Dscheddah, die Kauf-leute und Wohnungsvermieter denn dies istin einer Stadt, weiche
alljährlich mehrereMonate lang Hunderttausende von Pilgern be-herbergt, die nach Mella ziehen oder von dort-hin zurückkehren, ein sehr nahrhafter und kom-
fortabler Beruf . dieseBürger von Dscheddah
sind von den Beduinen grundverschieden. Nichtnur, daß die Satten und die Dürftigen in allenLändern getrennten Welten angehören, nlchinur, daß im ganzen arabischen Orient einstarker
Gegensatzzwischen dem ansässigen
Städter und dem wandernden Beduinenherrscht: so ist er hier noch durch die Tatsacheverschärft, daß die Bewohner von Dscheboaheigentlich längst leine Araber mehr sind. Inlangen Jahrhunderten haben hier die Pilger-züge ihre bleibenden Spuren hinterlassenArabien, Syrien, Indien, Turkestan, die Sunda-Inseln, Aethiopien: diese und noch mancheandere geben
sich in den Gesichtern der Blirqer
von Dscheddah und Mella Rendezvous. 2»<;>;
echteBevölkerung de» Hedschas sind nur di,
Beduinen, jene großen und kleinen Stimmedie heute noch dieselben
Weidegebietebesitzen
wie zur Zeit Mohammed»: die Veni Hart,, di
Ateibe. die Dschuheyne. die Billi, die BenSa'ad - und viele andere. Die Städter de
Hedschas aber, die von Dscheddah und Mellavor allem, haben e, gelernt, mit Verachtung aufden herabzusehen auf den
der mit seinerausgedehnten Kamel- und Schaf-
zucht immerhin ein produktives und wesentliche«Element in der Wirtschaft de, Hedschas dar-stellt, während sie, die Städter, durchweg aus
den Taschen der Pilger ihre bequemen Ein-künste beziehen ... So sind auch ihr« Gebärden
welcher al» die der Beduinen, i l j«Gestalten
den Strümpfenzeichnen sich deutlich schwere
ilberne Fußspangen ab. Den Abschluß bilden
oeiche Stiefel von einer phantastischen Häßlich-ei», eigelb, mit niedrigen, schlotternden
Schäften . .
Die Bürger von Dschebdah und Mella^enn die Frauentracht in Mella ist dieselbecheinen mit einer enormen Eifersucht
begnadet
zu sein; erst als wandelnde Schreckgespenster
erscheinen ihnen ihre Frauen vor fremdenMännerblicken sicher...
') Veigl. ,N. I. I." Nrn. »0. S??. 811. 045
und 1285.
lässiger, ihreAugen klug und selbstzufrieden.
Wenn sie in ihrenlangen weihen Kaftanen
über die Straße gehen,lassen sie deutlich den
einen Gebanken fühlen: sind wir doch fürPatentierte!"
Zu den seltsamstenErscheinungen gehören
hie« die Fr a u e n. Ein Grundprinzip scheint
ihre Tracht zu beherrschen: den Körper mitseinen natürlichen Formen nicht nur möglichst
zu verhüllen, sondern ihn auch zu einer Parodieseiner selbst zu machen. Unter einem weiten,
seidenen Tuch in dunllen Farbenbewegt
sich
ein unregelmäßige« Polygon, oben brett undin einem hohen, euroPäisch'Mittelalteilich an-mutenden Kopfputz kulminierend, der aber
seinerseits ebenfalls von dem dunklen Ueber»
Wurf verdeckt ist und sich nur in seinen Umrissenahnen läßt. Nach unten hin
verjüngtsich das
Polygon und verrät in der Höhe der halbenWaden eine Kollektion von seidenen und bäumwollenen Röcken, Unteirö^en. Obeiröcken, Volants, au« denen schließlich ein Paar vonBeinen in langen farbigen
Hosen und groben,
bunten Vaumwollstrümpfen herausragt; unter
^herrscht wird Dscheddahgegenwärtig
natürlich von Pilgern aus der ganzen isla-mitischen Welt. Da sie alle nur ihr einheitliche»Pilaergewllnd aus zwei
««genähten Tücherntragen, wirken sie uniform, wie die Soldateneiner altertümlichen Armee: da sind dieLegionen aus Indien, braunhäutig, mager, mitdunllen, sehnsüchtigen Blicken; da sind diegroßen, stämmigen Bauern aus Aegypten; zier-liche, schmalgestchtige Jemeniten mit schwarzenLocken; und viele andere, deren Herkunft mannur erraten kann.
Im Zentrum aller Interessen und aller Be-wegung
stehen die zahllosen Kamelkarawanen,
die täglich, von Beduinen begleitet,nach dem
Osttoi der Stadt ziehen. Viele Pilgersitzen
einfach hoch oben auf ihrem Gepäck, nur einen
Sonnenschirm über dem bloßen Kopf; die Wohl-habenderen leisten sich einen eindoppeltes Gestell au« Holz, dünnen Baumzweigen
und Sackleinwand, eine Art Doppel-Palanlin.
der symmetrisch an beiden Seiten des Kamel-rückens befestigt wird und zwei Reifenben be-quem Raum bietet. Etwas billiger als ein«Schugduf-, und deshalb von der Mittelschichtder Pilger viel benutzt, ist die .Schiblis, ein
bettähnliches Gestell aus Holz und Palmbast-stricken, welches quer über dem Rücken de«
Kamels liegt; zwei Reisende sitzen hier zu-sammengelaueit nebeneinander.
Seit ein paar Jahren kennt der Hedschasauch Automobile. Obwohl es im ganzen
Lande keine einzige ssunststrahegibt und große
Teile der zu durchfahrenden Strecken aus stelni-gen Wüsten, Wadis (ausgetrockneten Fluss-läufen) und Sandboden besteht, wickelt sich der
Verkehr in ziemlicherRegelmäßigkeit ab. Der
Zeitgewinn ist natürlich sehrgroß. Gegenüber
den zwei Nächten, die eine Karawane von Last-kamelen braucht, um die 80 Kilometer von
Dscheddah nach Mella zurückzulegen, beansprucht
eine Reise im Auto nur zwei bis drei Stunden;
und die 14 Tagereisen von Mekka nach Medinaweiden in anderthalb bis zwei
Tage umgewan-
delt. Da das Kamel die Mitnahmegroßer
Lastenermöglicht und billiger
ist. hat es vorder-Hand die Konkurrenz der Automobile nicht zubefürchten; daß es aber mit der Zeit auf vielbegangenen Wegen als Verkehrsmittel derdrängt werden wird, kann keinem Zweifeunterliegen. Und e» ist so. al» ob dl« Kamelellua wle sie sind, in den neuen Ungeheuern
ihre Felnd« witterten. Nenn die «luto, dmchdie Straßen und Basare fahren, mit Pilgerndollarladen, aus Sianalhupen und elektrischen
Hörnern schreiend, schrecken dl« Kamele zusammen. brücken sich an die Häuserwände und
drehen ihre lanqen Hälse verwirrt, hilflos huund her... Eine neue Zeit ist es. die dieshohen, aeduldiaen T i e re mit apokalyptischeAngsterfüllt...
tausend Kamele zwischen Dscheddah und Mellaverkehren, herrscht
angesichts der ungeheuren
Pilaeislut eine beträchtlicheKnappheit an Ver-
lehrmitteln. Meine Bengalen unten im Tor-weg warten schon mehrere
Tage lang, geduld»«
und ohneKlage. Wenn sie sich zum Beten zu-
rechtmachen und ihre Gesichter dorthin wenben.
wo Mella liegt, herrscht em solcher Friede m
ihren Gebärden daß man fühlt: diese Menschensind dem Ziele ihres Wunsches nahe und schon
in seinem Umkreis. - Und wir anderen? Ls
sind kaum anderthalbTage, ftttwir ar°b'schen
Boden berührten - und schon wnd alles andere
zu einer fernenVergangenheit: das sonnte
Meer mit dem Geräusch seinerWellen, die
Schiffe draußen auf der Reede, hinter den blaß-
farbenen Streifen, die die unterseeischen
Korallenriffe ins Wasserzeichnen, die Fischer,
boote mit weißenDieiecksegeln. und selbst der
Hafen von Tscheddal) : alles, was Meer und
weite Welt ist. Vor uns liegt das Land Arabien,
in sichgeschlossene Welt.
Hoch oben im dritten Stockweil eines derHäuser, die von der Straße aus einem Flechtwerk aus Stein. Holz und Ziegeln gleichen
befindet sich unserprovisorisches Quartier. Di
Fenster sehen auf eine Seitengasse. Im Torweg des gegenüberliegenden Hauses sitzt einGruppe von Pilgern aus Vengalen,
schönenmageren Erscheinungen mit lanalociigeiu Haaund Bart ill Tagore. Sie sind von seltscmbunten Bündeln und Gepäckstücken umgebe,
offenbarreisefertig, und warten. Wahlschein
llch haben sie noch leine Kamele auftreibe«nnen denn obwohl in diesen
Tagen zwöl
Die Welttirchenkonferenzin Lausanne.
N. r..Ii. Lausanne, 18. August.
Die Weltlilchenlonferenzgeht ihrem Ende ent-
egen. ohne daß man schon heut« Genaueres übel
ie wirklich greifbaren Ergebnisse berichten tonnte.
Die Gesanllsitzungen von Freitag und Samstag
werben ausschlaggebend sein. Die S chwl ess-elte n liegen jetzt weniger in den Beratungen
er Kommissionssitzungen, die fast ausnahmslosu lonlieten Vorschlägen an da« Plenum «e°angten. Hier aber werben Änderungen, zum Teilin redaktioneller Art, vorgeschlagen und diese
chen nun an die neugewählte Dreizehner««»«,
nission zurück, die dann wieder an das Plenumelans«. Es werben ein starkes
Solidaritätsgefühl,
in setter Will« zurErzielung eindeutiger Kund«
ebunaen an die christliche Welt und eine freudige
Seieitschast zuweltgehenden Konzessionen
nötig
ein, um Über diese letzten und größten Schwierig-
eren siegreich hinwegzukommen. Dl« Stim«nung ist nach wie vor zuversichtlich und
die festeEntschlossenheit, der Welt das Schauspiel
ines MheisolgeS zuersparen, ist nach wie vor
rotz manchenEnttäuschungen und Empfindlich-
eren vorhanden.Selbs» im besten Fall der übereinstimmenden
Erledigung der siebenvorliegenden Hauptfragen
sind wir darum noch nicht über den Berg, b«nn diewenigsten Delegierten haben
genügende Vollmacht,
um im Namen ihr« «llche völlig« Zustimmung
zu den g«saht«nBeschlüssen zu «llären. Ob zwar
einzelne Kirchen und Lauder da« Odium einerAblehnung des Beschlossenen auf sich laden und
ihreAbgesandten desavouieren wollen, ist eine
ander« Frage. Dl« verschied«»«, Grabe de, erteilt««
Vollmachten sind 2b«lchauvt «in« «rnfteSchwielig-
leit bei den Verhandlungen, sine ganze Statavon Nuancen ist in den Bezeichnungen- ollie!»!<;IeIsF»<;o, alternats member, oreäenti»! messender,
lrlencll^ visitor, oo-opteä member enthalten.Einige
Land«! h«lt«n sich auff»ll«nd zurück, holland un»
Oesterreich hab«n leine Delegation geschielt,sind
aber als cu optecl member» je durch «inen Nam«n
etwas durstig vertreten. Andere Kirchen undLänder sind anwesend, verhalten sich aber passiv
(Italien). Von einer eigentlichen Obstruktion undOpposition kann indessen leine Rede fein. Hie undda wird «ine Gruppe wohl etwas nervös. Immer-hin ist anzuerkennen, daß die Kirchen nicht ihr«extremen Leute ins Treffen führen. So fiel ««
z. V. aus, daß in einer der öffentlichen Mittwoch«-Vtlflnnmlungcn für die Olmreli ok LnFwnü nicht
Bischof G o i e , der ancilcmnte Führer der anglo-
katholischen Rechte», sondern der evangelikal«,
b. h. der protestantischen Auffassung näherstehende
BischofTemple Ion Manchester die Ansprach«
hielt. Auch von d«m Verttet« des deutschevang«-
lichen Klich«nau»schuss««.Generalsuperintendent
Iüllner. ist trotz«lnlge» abkühlend«« Bemer-
kungen leine gegensätzlich« Haltung zu erwarten.
^Mv H'bftto.D« Klang de« Gong» <;«lbt alle Gaste d«»
Hotelsgebieterisch in d«n großen h«ll«n Taal, all«,
mitleidlos. I«ne, denen dl« Mahlzelt d«r Glanz-punkt des Tage« ist, und jen«. dl« man nur ungern
von der Landschaf», die sie betrachten, von dem
Buch, das sie lesen und li«b« trennt. Nach den,
lärmenden Nucken der Sessel, dem ««schattig««
Wirbel der Saaltöchter mit ihren weihen Schurzen,
dem würdigen Kommen und Gehen der Kellner in
Schwarz tritt Still« «in, Schweigen, in ein«. Altvon unerklärlicher Andacht ißt man die Sichpe.
colbin«" heißt'» im Menü. An
einem Fenstertisch. an dem eine sranzosische Familiespeist wird die Stimme eine« «lein«« Jungen laut,durchdringend und schütt im warmen dunstigen
Tuppenftieben. Mama, warum C<;m«°nm>;b cals-
8»in°? Nicht wahr, die Köchin heißt Celestin«?
Warum heißen die Damen nie Celestin-.?"
Noch bevor die Eltern den jungen R,r! m»lausdrucksvollen, energischen Gebärden zum Schwei-gen bringen können, hört man mißbilligendes Ge-
murmel an einen, Nachbartisch. Dort ist eine
deutsche Familie mit Kindern im gleichen Alter
wie die der französischen Familie. Hinüber und
herübergehen Blicke wie von vor dem Wasien-
stillstand. Riii wirb puterrot und still und senk'
die Nase auf feinen Teller. Im ganzen Saal
herrscht nun allgemeine, halblaute Konversation
In der Tür stehend, befragt eine lispelnde ge-
puderte Dame, deren auffallendeGewandung die
tadelnden Blicke säst aller Damen hervorruft, eine,
lklln«. Si« fragt, ob ihr süßer kleiner Junge noch
nicht da s«i. Da diesel süße kleine Jungesicher volle
ünsunbzwcmzig Iah« zählt, muh der Kelln» «stheftig nachdenken; man sieht, wl« «l di« Stirn in
falten legt und die Augen roll».D«l Fräulein« lullen ihre Zwicker zurecht, um
t>;!« 8oln z !» vub»rrv zuverspeisen. Dies« Damen
<;««««« Tolle«««, wie man sie in den Witzblatt«»von vor zwanzig Iah«,, sah und verbreiten «in
lähmendes Staunen un, sich. Ihr Gesprächist
eigenartig, lh« Vorstellung vom Gebirge «den»
falls. Eben sagt die eine:Felsen am Rand d«» Tobels lst «tnsach
hinreißend."erwidert die ander«, »aber wenn du den
Abgrund hinterm Wald ««sehen hättest, ganz
reizend ..."Ein« vielköpfig« Familie ohne Fehl und Tadel
nimmt die Mitte d«» Saales ein; sie zerkaut un'überzeugt, aber pflichtgetreu das ziemlich zähe NietModello», das jetzt serviert wird. Die sechs kleinen
Mädchentragen das Haar
sorgsam Nb«r die
Schläfengekämmt und in Strähnen gebunden,
so
daß auch lein Härchen htlvoistehen lann. Unterm
Tisch steht man eine Reihebeunruhigender
Füße... Jede« de» Kinder trägt Schuhe, zweiNummern größer als dl« Füße: in diesem Alterwächst man rasch und dl« Ellern sind
vorsorglich
Am Tisch daneben sitz» das Ergötzen und dlc
Freude der Jugend: das »hochzeitspaar" des Ho-tels. Er ist «ei» und komisch, sie ist die endlichversorgte alte Jungs». Zwischen de» einzelne» Gän<;M drücken sie einander di« Hand, als wäre» sieirgendeiner Gesahr entronnen. Sie weide» vo,
all«n S«it«n b«ob»cht«t. ab«r, von üi«b« umnebelt
melken sie nichts. Die Kellner benutzen das
und servieren ihn«n, was von den andin. Tischenübrig bleibt. S!« bekomm«« di« von andern Han-d«n zurückgewiesenen wurmigen und unreifenFrüchte, abei wir wollen hoff««, daß sül sie die
Paladiesesfrucht alle Dessertsauswicg», denn sie
beschweren sich nie.Die süße
Speise erscheint und entlockt den deut-
schen Kindern e i n en Freudenschrei. Die Eltern deslungen Nili wechseln schnell einen überlegenen und
«lsleuten Blick. Die Kellner beugensich ernst vor
und bieten «Peche Ncurdaloue" an. Was isteigentlich Ist e« diese» Obst ohneUloma, von etwas flauer Farbe, einer Konserven-
büchseentstiegen? Ist es das schale, weiße Giles»
plätzchen, auf dem es liegt? Man sragtsich. wäl>;
,«nd man diese süßlichen Massen laut. Plötzlichein großes Geheul. Ein Junggeselle, der an einem
kleinen Tisch für sichspeist und sich während des
Esstns dem Studium botanischer Werle hingibt,
hebt die Augen entnistet zur Decke. Eins der dcut-
schen Kinder weint. Zwischen zwei Schluchzernlallt es:
,Mmni, ich bin scho»fertig mit der süßen
Speise. Ich Hab'weniger bekommen!"
Dieses nicht so schnell aufhörenden Geschreisd«l faden Pbches Nourdciloue und d«s sich schonlanger als elne Munde h!nzi«hcnd«n Dinels «inwenig übeldlussta, «rh«l>;t sich alles und begibt
sich
««messen«» Schrittes in die anstoßend«« Nüumein denen di« Musil Anstrengungen macht, ,'lkN«v kloon« mit Verve zu
spielen.
Nili steht bei seinergleichaltrigen Freund!,
Tu»ann«. In b«m Saal, in dem da« Mahl zu
Ende ist, hat e r das letzte Wort, wie er das erste
«ltte.«Nkißt du, was ich lMte morgen getan habe?
Ich Hab' dem Zimmermädchen die Kleideibüist«gestibitzt. Ich Hab' alle Wände im Haus damitabgebürstet. Die Bürste hat lein einziges Haal«ehr. D<;i Papa hat mir eine Ohrfeige gegeben,
aber mir hat's furchtbarSpaß gemacht. Es Wal
herrlich!" Neithe Kollbrunner.
Kleine Ehronit.Vln Vis««bahn'Vücherwagen. »t. Im Staate
Montana in d«n Vereinigten Staaten läuft, wi«das .Völsenbl. fül den deutschen Buchh." berichtet,
ein Violiothelswagen aus den Eisenbahn-schienen. Es ist ein großer Kastenwagen mitOberlicht und hinterem Fenster, der im Innernungesähr 4X12 in groß
ist. Dieser Innenraum hatoffene
Büchergestelle und einen großenLese-
tisch mit Armstühlen fowie einen Verschlag für denBüchern»«», wo auch kleine Pakete
fertig gemacht
werden, in denen Bücher in die Umgegend (5 bis« englische Meilen weit) während des Aufenthaltsdes Wagens an einem Ort zu Leihzwecken versandtwerden. Der Wagen
istgeheizt und abends be-
leuchtet. Die Bedilnungsmannfchaft d«l Lolo-motiv« beschäftigt
sich wählend der Liegezeit inden uml!eg«nden Nälb«ln mit Füll«« und Auf-schichten von Holz. Dies«! erste NisenbaHnbücher-wag«» stellt e i n en Teil del unelUlüdlichen Nrbeitamerikanischer Bibliothekare dar, entlegen« länd-
licheGegenden dem Buche
näherzubringen
Neue Zürcher Zeitung vom 13.07.1924