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ZEITSCHRIFTFÜR SOZIALÖKONOMIE · Vo r w o r t 1 während der Fußballweltmeisterschaft mag...

Date post: 14-Aug-2019
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Author: lytram
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Z f ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALÖKONOMIE Die globale Hierarchie der Städte – Investitionsbeziehungen als Bindeglied zwischen Zentrum und Peripherie? Fördert Regiogeld eine nach- haltige Regionalentwicklung? Regionalgeld und Gemeinwesenarbeit Streitfall Regionalwährungen / Wurden die ägyptischen Pyra- miden mit einer „Demurrage“- Währung gebaut? Entwicklungstand und Perspek- tiven der Regionalgeldbewegung Leserbriefe – Bücher – Berichte 39. Mündener Gespräche Regionalgeld-Kongress in Weimar Robert Musil Muriel Herrmann Katharina Schwaiger Hugo Godschalk Ralf Becker 3 12 19 26 32 38 52 53 149. 43. Jahrgang Folge Juni 2006 ISSN 0721-0752
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  • SÖZf

    SÖZf

    ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALÖKONOMIE

    Die globale Hierarchie derStädte – Investitionsbeziehungenals Bindeglied zwischen Zentrumund Peripherie?

    Fördert Regiogeld eine nach-haltige Regionalentwicklung?

    Regionalgeld undGemeinwesenarbeit

    Streitfall Regionalwährungen /Wurden die ägyptischen Pyra-miden mit einer „Demurrage“-Währung gebaut?

    Entwicklungstand und Perspek-tiven der Regionalgeldbewegung

    Leserbriefe – Bücher – Berichte

    39. Mündener Gespräche

    Regionalgeld-Kongress in Weimar

    Robert Musil

    Muriel Herrmann

    Katharina Schwaiger

    Hugo Godschalk

    Ralf Becker

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    12

    19

    26

    32

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    149.43. Jahrgang Folge Juni 2006

    ISSN 0721-0752

    Wachstums- und Schrumpfungseffektezwischen unterschiedlichen Räumen werdendurch den freien Markt nicht ausgeglichen,sondern verstärkt. Der Effizienz- und Wachs-tumsdruck des Geldes ist dabei zentral: dieVerfügbarkeit von Geld, in ausreichenderQuantität und Qualität, bestimmt die Ent-wicklungsfähigkeit von Regionen. Unter-schiedliche Räume, mit unterschiedlichen"Geschwindigkeiten" und Effizienzniveausstellen unterschiedliche Anforderungen anGeld.Dies führt zu der Frage, ob unter den gegen-wärtigen Voraussetzungen eine nachhaltigeRaumentwicklung, ein Angleichen regionalerUnterschiede, wie es von der Regionalent-wicklungspolitik der Europäischen Unionangestrebt wird, überhaupt möglich ist.Liegt hierin, in der Profitgewinnung durchräumliche Unterschiede, ein Wesensmerkmaldes Kapitalismus?Es werden eine Reihe unterschiedlicherStrategien und Konzepte vorgestellt, indenen Geld nicht als Spekulationsobjektdient, sondern die Zirkulation von Waren zuermöglicht, ohne in andere Regionen"davonlaufen" zu können.

    ROBERT MUSIL:

    Geld. Raum. Nachhaltigkeit.Alternative Geldmodelle als neuer Weg derendogenen Regionalentwicklung?212 Seiten, Pb. - ISBN 3-87998-446-8 | 21,90 Euro

    Neue Adresse ab Ende Juli 2006:Hofholzallee 67, 24109 Kiel

    Fon: 0431-6793650 | Fax: 0431-6793651

  • 1V o r w o r t

    während der Fußballweltmeisterschaft mages erlaubt sein daran zu erinnern, dass SilvioGesell das Geld einmal als den „Fußball derVolkswirtschaft“ bezeichnet hat. (Band 11, S.143) Damit wollte er seinen Gedanken ver-anschaulichen, dass es im ‚Wirtschaftsspiel’nicht darauf ankam, dass der ‚Ball’ aus Goldhergestellt war; er könne besser aus Papiergefertigt werden – was sich zwischenzeitlichals richtig erwies.

    Auch wenn aus dem Fußballsport ein mil-lionenschweres pseudoreligiöses Spektakel ge-worden ist, das wie „das Brot und die Spiele“im alten Rom unzählige Menschen vom poli-tischen Denken ablenkt, mag es erlaubt sein,Gesells bildhaften Vergleich noch zu erwei-tern: Wie der Fußball soll das Geld nichtaußerhalb des Spielfeldes festgehalten, son-dern nach jedem Schuss ins Seitenaus unver-züglich wieder eingeworfen werden. Der Fuß-ball und das Geld sollen gleichermaßen instetiger Bewegung gehalten werden. Wer dasFußballspiel unnötig verzögert, bekommt vomSchiedsrichter die gelbe Karte gezeigt – war-um nicht auch, wer das Wirtschaftsspiel un-nötig verzögert? Wie der Fußball keinen Ein-fluss auf das Spielgeschehen nimmt, so sollteauch das Geld die Wirtschaft nicht beein-flussen – weder die Art und den Umfang derProduktion noch die Verteilung der Güter.

    Und so wie der Fußball nach langen hohenPässen bald wieder auf den grünen Rasenherunterfällt, sollte auch das Geld immerwieder auf das Spielfeld der (überwiegendregionalen) Realwirtschaft zurückkehren undnicht in der Luft verweilen wie heutzutagedas hochgradig spekulative ‚hot money’ inden luftigen Höhen der globalen Finanzmärk-te. Auf rund 1,1 Billionen US-Dollar schätzenFachleute die Manovriermasse, mit denenHedge Fonds rund um die Uhr ihre „massiveSpekulationslust“ ausleben, was Robert vonHeusinger kürzlich bewog, auf die zunehmen-de Nervosität der Finanzaufsicht aufmerksamzu machen („Angst vor einem Desaster“, in:Die Zeit vom 20. April 2006).

    Zeitschrift für Sozialökonomie 149/2006

    Liebe Leserin und lieber Leser,

    Deshalb wollen wir mit unserem Bemühen‚am Ball bleiben’, über Spielregeln für einFairplay auch in der Wirtschaft nachzuden-ken. Auch wenn sich vieles, was in der großenPolitik und in der Wirtschaft schief läuft, vor-läufig leider noch nicht korrigieren lässt, sogibt es gleichzeitig viel Hoffnungsvolles, dastrotz aller Unvollkommenheiten den Weg ineine gerechtere Zukunft weist. Hierzu gehörtauch die zunehmende Zahl von Regionalgeld-Initiativen, die der von Robert Musil in sei-nem ersten Beitrag analysierten Konzentra-tion wirtschaftlicher Aktivitäten in GlobalCities zeichenhaft entgegenwirken. In denletzten Jahren haben die Regionalgeld-Ini-tiativen eine erstaunliche öffentliche Auf-merksamkeit gefunden und auch zu einer Zu-nahme des wissenschaftlichen Interesses anunserer Kritik am Geldwesen sowie an An-sätzen eines veränderten Geldes geführt. InAnknüpfung an unsere 144. Folge vom März2005 sollen die Beiträge im vorliegenden HeftIhnen weitere Einblicke in die Regionalgeld-szene geben. Deren Vielfältigkeit wird auchbei den beiden größeren VeranstaltungenEnde September in Weimar mitzuerleben sein.Beachten Sie hierzu bitte die Ankündigungam Ende dieses Hefts. Zuvor wird bei dennächsten Mündener Gesprächen die Kontro-verse um die Geldschöpfung der Geschäfts-banken fortgesetzt.

    Ihr Werner Onken

    Der Verlag für Sozialökonomie –Gauke GmbH zieht um.

    Ende Juli verlegt unser Verlag seinen Sitzvon Lütjenburg nach Kiel. Die neuen An-schriftendaten finden Sie auf der neben-stehenden Seite im Impressum.Die eMail- und Internetadressen bleibenselbstverständlich unverändert.

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    Zeitschrift für Sozialökonomie 149/2006

    Carl Amerys Vorschlag an den Bundespräsidenten:Gründung einer Zukunftswerkstatt

    Sehr geehrter Herr Bundespräsident,Wochen vor Ihrem Amtsantritt haben Sie angekündigt, dass Sie ‚konzeptionelle undintellektuell-geistige Führung’ ausüben wollen. Angesichts der zunehmenden Ver-flachung der öffentlichen Diskussion ist dies freudig zu begrüßen. …Es gilt als Erstes, die zentrale Krise zu orten und zu definieren, die wir vor allen an-

    deren Problemen anzugehen haben. … Dieses Dilemma der Menschheit, das größteseit der Sesshaftwerdung, ist längst über das Soziologisch-Politische hinausgewach-sen, ist zur erdgeschichtlichen Krise geworden: Die künftige Bewohnbarkeit des Pla-neten steht ernsthaft in Frage. … Es gibt kein Wachstum, jedenfalls kein wirtschaft-liches, das nicht um die Verschleuderung, Vergiftung der Ressourcen, um die Be-schleunigung der entropischen Prozesse erkauft würde. Erste Priorität müsste dahereine Wirtschaftswissenschaft haben, die politisch und sozial tragbare Schrumpfungs-modelle erstellen kann. …An diesem Punkt, Herr Bundespräsident, werden Sie vielleicht erwidern, dass es

    zur Zeit völlig ausgeschlossen wäre, dem Stimmbürger ein auch nur halbwegs hilf-reiches Programm zuzumuten, das den alten opportunistischen Prägungen wider-spricht. Und Sie haben natürlich Recht. Es verbleibt dann allerdings die Frage, mitwelchen Mitteln überhaupt noch Politik betrieben werden kann. … Weltweit bleibtdie Politik in den veralteten Koordinaten der Ressourcenausbeutung verheddert, fügtsich mehr oder weniger bereitwillig dem Selbstmordprogramm, glaubt sich kaummehr der globalen Übermacht des Ökonomismus erwehren zu können. …Der Bundespräsident aber kann, wie einige Ihrer Vorgänger gezeigt haben, durchaus

    die Macht des Wortes verwenden, um eine Kursänderung der öffentlichen Diskussionzu bewirken. Und er kann noch weiter gehen. Er kann zum Beispiel wie jeder andereStaatsbürger eine Zukunftswerkstatt ins Leben rufen. … Neben einer robusten Theo-rie-Fakultät, die sich weit über Ökonomie und Politik hinaus erstreckt, die sich mitmöglichen und neuen Kulturentwürfen befassen müsste, wäre ein Fonds zu schaffen,aus dem praktische, aber von der ökonomistischen Sofortverwertungs-Dogmatik ver-nachlässigte Visionen als Pilotprojekte bis zum Startpunkt der allgemeinen Anwend-barkeit gefördert und entwickelt werden könnten. Auch die Erarbeitung bindendersozialer und ökonomischer Verkehrsformen im internationalen Bereich wäre dieAufgabe einer solchen Werkstatt.Sie bedarf natürlich erheblicher Mittel. … Ein Schritt des First Citizen wäre denk-

    bar: Er tritt an die Hunderttausende von Millionären, die in Deutschland hausen oderals deutsche Staatsangehörige das mildere Steuerklima anderer Länder genießen, mitdem Ersuchen heran, ein Prozent oder mehr ihres Privatvermögens der Zukunfts-werkstatt des Bundespräsidenten zu schenken.“Carl Amery, An den Bundespräsidenten, in: ders. (Hg.), Briefe an den Reichtum, München 2005, S. 259 – 265.Aufgrund dieses Briefes stattete Bundespräsident Prof. Dr. Horst Köhler dem Schriftsteller Carl Amery am 12. Novem-ber 2004 einen Besuch ab. Am 24. Mai 2005 verstarb Carl Amery. Seinen Vorschlag möchten wir mit dem vorstehendenTextauszug in Erinnerung bringen. (Red.)

  • Die globale Hierarchie der Städte –Investitionsbeziehungen als Bindeglied

    zwischen Zentrum und Peripherie?Robert Musil

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    Zeitschrift für Sozialökonomie 149/2006

    1 Das Zeitalter der Städte

    Das kommende Jahr ist ein wichtiger Mark-stein in der Menschheitsgeschichte: nach Prog-nosen der Vereinten Nationen [1] werden 2007erstmals mehr als die Hälfte der Menschheit inStädten leben. Bis 2030, so rechnet die UNO,werden nur mehr rund 39 Prozent der Mensch-heit in ländlichen Räumen leben. Rapide steigtdamit auch die Zahl der Millionenstädte, die sichzwischen 1975 und 1995 auf 381 verdoppelt hat;gegenwärtig sollen es bereits 480 sein. Noch1950 gab es zwei Städte mit mehr als 10 Millio-nen Einwohnern, so genannte Megastädte, näm-lich Tokio und New York; in wenigen Jahren wer-den es bereits 22 Agglomerationen sein. Städteder Dritten Welt, die bisher nahezu unbekanntwaren, steigen in dieser Dekade in die Gruppeder größten Agglomerationen der Erde auf: Lagos(17 Mio. Einwohner), Karachi (16,2 Mio. Einwoh-ner) oder Lahore (8,7 Mio. Einwohner). Und Istan-bul wird im Jahr 2015 mit voraussichtlich 11,3Mio. Einwohnern die größte Stadt Europas sein.Die mit atemberaubender Geschwindigkeit ablau-fenden Verstädterungsprozesse sind zum über-wiegenden Teil Ausdruck nationaler und interna-tionaler Migrationsströme, die vor allem in derDritten Welt durch die Zerstörung der Lebens-grundlagen sowie halbfeudaler Besitzstrukturenin den ländlichen Räumen ausgelöst werden.[2]

    Allerdings ist die demographische Explosionnur ein Aspekt des „Zeitalters der Städte“. Durchdie (vornehmlich) ökonomischen Prozesse, dieunter dem Begriff der Globalisierung zusammen-gefasst werden – die Liberalisierung des Welt-handels, globale Vernetzung der Finanzmärkte,der Aufstieg von multinationalen Konzernen undnicht zuletzt die Revolution der Informations-technologien [3] – ist es nicht, wie Sozialwissen-

    schaftler behaupteten [4] zu dem Ende des Rau-mes und damit der Städte gekommen. Ganz imGegenteil: Agglomerationen entwickeln sich zuSteuerungs- und Schaltzentralen der Weltwirt-schaft; zu jenen Orten, an denen Globalisierung„gemacht“ wird. Die neue Bedeutung dieser Glo-bal Cities resultiert nicht mehr aus den klassi-schen Stadt-Umland-Beziehungen, sondern ausder Vernetzung mit der globalen Ökonomie, ausder Brücken- oder „Scharnierfunktion“ zwischennationalen und globalen Märkten [5].

    Mega City und Global City – zwei unterschied-liche Bewertungskategorien für Städte, die trotzihrer Unterschiedlichkeit auf die gleichen Wir-kungsfaktoren, die räumliche Strukturierung durchglobale Prozesse zurückgehen. Die Wolkenkratzerim Finanzzentrum von Manhattan und die endlo-sen Elendsviertel um Mexiko City – zwei Seitenein und derselben Medaille? Zwei Kategorien, dienur selten auf eine Stadt zutreffen: eine MegaCity (wie etwa Tianjin, China mit 9,4 Mio.) mussnicht unbedingt eine Global City sein, währendumgekehrt eine Global City (wie etwa Basel mit0,45 Mio. oder Hamburg 1,7 Mio. Einwohnern)keine Mega City sein muss.

    Die Global Cities als Steuerungszentren derWeltwirtschaft stehen im Mittelpunkt dieses Bei-trages. Und damit die zentrale Frage, wie dieInvestitionsbeziehungen zwischen diesen „Kno-tenpunkten der Weltwirtschaft“ hierarchischeBeziehungen zwischen zentralen und peripherenRäumen entstehen lassen.

    2 Die neue Bedeutung der Stadt inder Globalisierung

    Das zentrale Element der prominenten Global-City-Theorie der US-Soziologin Saskia Sassen be-ruht auf der Verbindung des komplexen Wir-

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    Zeitschrift für Sozialökonomie 149/2006

    kungsgefüges von Stadt und Globalisierung. [6]

    Die Bedeutung der Global Cities liegt dabei inder Kontrolle und dem Management der globa-lisierten Weltwirtschaft, die durch die Konzen-tration von internationalen Finanz- und unter-nehmensorientierten Dienstleistungsunterneh-men ermöglicht wird. [7] Die Stadt als „Markt“ imSinne Webers [8] erhält eine neue Bedeutung: alsOrt, an dem spezifische Informationen zur Steue-rung und zur Bewältigung der Anforderungen desglobalisierten Weltmarktes verfügbar sind. [9] Someint Sassen: „Location thus has assumed a newtype of importance, as some places will providebetter access to information than will others“[10]. Ausschlaggebend für diese globale Zentra-lität der Städte sind hoch spezialisierte Dienst-leistungsbranchen, aufgrund deren spezifischen,nur an wenigen Orten verfügbaren Wissens mul-tinationale Konzerne in der Lage sind, ihren öko-nomischen Aktionsraum auf den gesamten Glo-bus auszudehnen. Persönliche informelle Kontak-te und Netzwerke zwischen so genannten „unter-nehmensorientierten“ Dienstleistungsunterneh-men wie etwa Steuer-, Rechts-, Beratungs- undFinanzfirmen sind räumlich immobil und nichtbeliebig verschiebbar; darüber hinaus müssendiese aufgrund ihres Spezialisierungsgrades räum-lich konzentriert sein. Die Paradoxie der Entwick-lung liegt darin, dass einerseits die Produktionvon Gütern zunehmend dezentral in langen Wert-schöpfungsketten über den gesamten Globusverstreut wird, während auf der anderen Seitedie Kontrolle über diese Konzernnetzwerke und –verflechtungen in zunehmenden Maße räumlichzentralisiert werden. [11]

    Der Global-City-Ansatz von Sassen hat einenwichtigen Beitrag zu einem neuen räumlichenVerständnis von Globalisierung geleistet: dieWeltwirtschaft muss als ein Netzwerk verstandenwerden, in dem die ökonomischen Aktivitätendie Verbindungslinien, die Global Cities hingegendie Knoten darstellen. [12] Diese „basing points“bilden eine komplexe Hierarchie, wobei die Be-deutung vom jeweiligen Integrationsgrad (derStärke, der Dauer, der Form und der Intensitätder Verbindung) der Stadt in der Weltwirtschaftabhängt. [13] Zwischen diesen Knoten fließen dieStröme der Weltwirtschaft: Rohstoffe, Waren, In-

    formationen, Menschen und vor allem: Kapital.Letztgenannter wird dabei als wichtigstes (hier-archiebildendes) Bindeglied zwischen diesenStädten genannt: „World cities can be arrangedhierarchically, roughly in accord with the eco-nomic power they command. They are citiesthrough which regional, national, and interna-tional economies are articulated with the globalcapitalist system of accumulation. A city’s abi-lity to attract global investments ultimately de-termines its rank in the order of world cities.However, its fortunes in this regard, as well asits ability to absorb external shocks from tech-nological innovations and political change, arevariable” [14].

    Kapitalbasierte Kontrollverflechtungen sindalso nicht nur Ausdruck der ökonomischen Machteiner Global City sowie der Position in einemglobalen Städteranking, es ist auch Ausdruckökonomischer Stabilität sowie der Fähigkeit anInnovationen zu partizipieren oder diese selbstzu entwickeln. Paradoxerweise erfolgte durchjüngere Vertreter des Global-City-Ansatzes keineAuseinandersetzung mit dem Begriff Geldkapital,der sehr unsystematisch verwendet wurde. Eben-so fehlen bis dato empirische Untersuchungen.Es ist also zu klären, welche Prozesse hinter derKapitalmobilität stehen und welche Auswirkung-en damit für die Entstehung räumlicher Un-gleichgewichte verbunden sind. Konkret gefragt:Welche geldtheoretischen Ansätze sind für dieGlobal-City Forschung brauchbar und anwend-bar? Wie können durch Kapital(-beziehungen)hierarchische Beziehungen dargestellt werden?

    3 Kapitalflüsse – eine hierarchischeRaumbrücke?

    3.1 Die Quantität und die Qualitätdes Geldes

    Die klassische Raumwirtschaft beschränkt sichdarauf, zwei Formen von Investitionskapital zuunterscheiden: mobiles Geldkapital und immobi-les Sachkapital. [15] Sie folgt damit dem neoklas-sischen Geldparadigma, das auf dem Neutrali-tätspostulat des Geldes aufbaut: Kapital fließtvon Region A in Region B, wodurch Ausstat-tungsunterschiede ausgeglichen werden und ein

    Robert Musil: Die globale Hierarchie der Städte

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    Zeitschrift für Sozialökonomie 149/2006

    Ausgleich räumlicher Unterschiede erreicht wird.[16] Angesichts der realen Entwicklung regionalerDisparitäten wurde dieses mechanistische undvereinfachende Bild des interregionalen Aus-gleiches als „sozioökonomisches Konstrukt“ [17] kri-tisiert. Denn das ökonomische Aktivitätspoten-tial (d.h. die Verfügbarkeit sicherer Arbeitsplätze,Wachstum, Innovationsfähigkeit) einer Regionwird maßgeblich von der Verwendung des in eineRegion investierten Kapitals sowie von der Re-investition der dort erwirtschafteten Gewinnebestimmt. [18] Damit muss die schwierige Fragegestellt werden, was – im Sinne einer Region –„gutes“, was „schlechtes“ Geld ist.

    So kann es auch dazu kommen, dass die Ge-winnrückflüsse einer Region mittel- oder lang-fristig das ursprüngliche Investitionskapital über-steigen und zu einem Netto-Abfluss aus derRegion führen. Damit würde eine Situation ein-treten, die Karl Marx folgendermaßen umschrie-ben hat: „Er [der Kapitalist, RM] entlässt dasGeld nur mit der hinterlistigen Absicht, seinerwieder habhaft zu werden. Es wird daher nurvorgeschossen“. [19] Vor einer Verallgemeinerungsei jedoch gewarnt: denn es darf nicht davonausgegangen werden, dass Kapitaltransfer zurVerstärkung regionaler Ungleichgewichte führenmuss.

    Dies zeigt anschaulich, dass für die Bewer-tung einer hierarchischen Beziehung zwischenzwei Regionen (oder zwei Global Cities) nebender Quantität, also dem Investitionsvolumen,auch die Qualität der Kapitalströme herangezo-gen werden muss. Ein möglicher Ansatzpunkt füreine Bewertung ist der Einfluss bzw. die Ent-scheidungsmacht des Investors, der als aktivoder inaktiv charakterisiert werden kann: Derinaktive Investor stellt Kapital gegen Zins alsGegenleistung zur Verfügung, sein Anspruch istunabhängig vom Unternehmensgewinn; es han-delt sich hier in der Regel um Kreditkapital(Abb. 1). Der aktive Investor ist hingegen mitseiner Entscheidungsmacht in den betrieblichenAblauf eingebunden, sein Anspruch ist vomUnternehmensgewinn abhängig; es handelt sichum Beteiligungen oder Aktionäre.[20] Die Dimen-sion der Entscheidungsmacht betrifft in derRealwirtschaft in erster Linie das mobile Geld-

    Robert Musil: Die globale Hierarchie der Städte

    kapital und determiniert auch dessen Mobili-tätseigenschaften: „Die Mobilitätseigenschaftendieses zu investiven Zwecken bereitstehendenKapitals hängen ... davon ab, ob der jeweiligeEntscheidungsträger einem anderen solche Mittelüberlässt oder aber selbst über die Transfor-mation in Sachkapital entscheidet“. [21]

    Abb.1: Differenzierung von Kapital (Klöppel 1973, 17-19)

    Für die Bewertung von Investitionskapital alsGrundlage für hierarchische Raumbeziehungensind drei Eigenschaften zu nennen: [22]

    - Erstens die Quantität, der Umfang der getä-tigten Investition.- Zweitens die Qualität, die Struktur der Kapi-talströme. Damit sind beispielsweise die „Bran-chenzugehörigkeit“ des Investitionskapitals oderdie Kreditkondition gemeint. Kurz, welches Ka-pital in welcher Form, zu welchen Konditionenzur Verfügung steht.- Die dritte Dimension umfasst die Richtung desKapitals, womit der Nettokapitalfluss der Investi-tion gemeint ist. D.h. ob eine Investition von Re-gion A nach Region B nicht langfristig zu einemKapitalrückfluss von Region B nach Region A führt.

    3.2 „Geldneutrale“ Investitionsver-flechtungen?

    Mit der Perspektive der Geldqualität stellt sichdie Frage, ob Investitionsverflechtungen der Glo-bal Cities durch neutrales Geld (im Sinne desFreigeldes von Silvio Gesell) beeinflusst werdenwürden. Hier sind drei Aspekte anzuführen: Un-ternehmensverflechtungen (mikroökonomischePerspektive), das globale Finanzsystem (makro-ökonomische Perspektive) sowie die regionaleEbene (regionalökonomische Perspektive).

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    Zeitschrift für Sozialökonomie 149/2006

    Unternehmensverflechtungen:Gegenseitige Beteiligungen zwischen internatio-nalen Unternehmen entstehen in der Regel ausdem Motiv, Zugang zu neuen Absatzmärkten zugewinnen, Marktanteile zu erhöhen oder dasKnow-How anderer Unternehmer zu „kaufen“;allesamt strategische Entscheidungen, die inkeinerlei Hinsicht durch das Geldsystem moti-viert oder beeinflusst sind; allerdings ist dieOrganisationsstruktur und die Expansion inter-nationaler Konzerne durchaus als eine Folge ma-kroökonomischer Rahmenbedingungen zu sehen.Globales Geldsystem:Übernahmen internationaler Konzerne sind sicher-lich kein neues Phänomen, jedoch haben neue,institutionelle Anleger zu einer Beschleunigungdes Fusions-Boom der 1990er Jahre geführt; die-ser ist Ausdruck der Macht, die dem Manage-ment von Rentenfonds in die Hände gefallen ist,Unternehmensleitungen dahingehend zu beein-flussen, Entscheidungen ausschließlich nach derGewinnsteigerung (share holder value) zu tref-fen; eine Beschleunigung des Unternehmens-wachstums durch Fusion ist damit zu einer zen-tralen Unternehmensstrategie geworden.Regionalökonomie:Wie noch gezeigt wird (Abschnitt 3.4) habenUnternehmensverflechtungen einen signifikan-ten Einfluss auf die Entwicklung von Regionen,wobei diese zwar im Kontext des übergeordne-ten Geld- und Wirtschaftssystems gesehen wer-den müssen. Nicht „das Geld“ selbst, sehr wohlaber dessen Rahmenbedingungen und das insti-tutionelle Umfeld (wie etwa die Liberalisierungdes Welthandels) sind es, die den Wachstums-und Wettbewerbsdruck für Unternehmen bestim-men. Ob innerhalb eines Landes eine räumlicheKonzentration in den Zentren stattfindet, hängtdarüber hinaus auch in hohem Maße von derEinstellung und vor allem von dem Willen derrelevanten Akteure in Politik, Verwaltung, Wirt-schaft, von der Öffentlichkeit insgesamt ab. [23]

    3.3 Kapitalbasierte Kontrollver-flechtungen

    Eine Form von Kapitalströmen, die unterneh-merische Kontrollverflechtungen abbildet, sind

    ausländische Direktinvestitionen. Diese werdenals langfristige Investition charakterisiert, mitdenen ein strategisches Interesse sowie dieunternehmerische Kontrolle des Investors ver-bunden ist; in diesem Sinne definiert die öster-reichische Nationalbank ausländische Direktin-vestitionen folgendermaßen: „Demgemäß ver-steht man unter ausländischen Direktinvesti-tionen Kapitalanlagen, die Investoren in der Ab-sicht vornehmen, um mit einem Unternehmen ineinem anderen Land eine dauernde Wirtschafts-beziehung herzustellen und aufrecht zu erhalten,wobei gleichzeitig die Absicht besteht, auf dasManagement dieser Firma einen spürbaren Ein-fluss auszuüben“. [24]

    Kontrollverflechtungen zwischen Konzernenhaben vor allem in den 1990er Jahren einenregelrechten Boom erlebt, der durch erheblicheKonzentrationstendenzen gekennzeichnet ist.Weltweit betrachtet lag der Umfang der neungrößten Übernahmen im Jahr 1997 bei 135 Mrd.USD, im folgenden Jahr sogar 536 Mrd. USD; ermachte damit 23 Prozent des weltweiten Fusions-und Übernahmevolumens aus. [25]

    Der Ansatz des „regionalen Kontrollpotentials“trägt dieser Entwicklung Rechnung, es werdendabei die räumlichen Unternehmenshierarchienzwischen den Regionen untersucht. Die ent-scheidende Größe ist die Bilanz zwischen kapi-talbasierten Kontrollverflechtungen, die von derRegion ausgehen bzw. die in die Region einge-hen (aktive und passive Kontrollverflechtung), alsoder Saldo interregionaler Kontrollbeziehungen.[26] Die Kontrollbilanz einer Region kann somitetwa aus dem Anteil der extern kontrolliertenBeschäftigten an der Gesamtbeschäftigung er-rechnet werden. [27] Grundsätzlich können dreiidealtypische Regionen nach ihrer Kontrollbilanzunterschieden werden, wobei die Übergängefließend sind:- Regionen mit aktiver Kontrollbilanz weiseneinen hohen Anteil an Betrieben auf, die gegen-über Unternehmen in anderen Regionen eine be-herrschende Funktion ausüben.- Genau umgekehrt stellt sich die Situation inRegionen mit passiver Kontrollbilanz dar: Wäh-rend nur wenige Betriebe in einer kontrollieren-den Position sind, ist die überwiegende Zahl der

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    Unternehmen in einer regionsextern abhängigenFunktion.- Der dritte Typus ist die Region mit neutralerKontrollbilanz; es herrschen Betriebe vor, dieentweder regionsintern kontrolliert werden oderselbstständig sind.

    3.4 Raummuster derKontrollverflechtungen

    Empirische Untersuchungen zu räumlichenKontrollverflechtungen werden nur selten durch-geführt und finden darüber hinaus aufgrund derschwierigen Datenlage nur auf subnationalerEbene statt. [28] Bemerkenswert ist allerdings,dass trotz unterschiedlicher Methodiken und un-terschiedlichen Erhebungszeiträumen großteilsübereinstimmende Ergebnisse erzielt wurden, diefolgendermaßen zusammengefasst werden kön-nen:- Die externe Abhängigkeit von Unternehmenist räumlich relativ gleich verteilt, unabhängigob es sich dabei um periphere, strukturschwacheoder um hoch verdichtete Wachstumsregionenhandelt. Ein ganz anderes Bild zeigt sich hin-gegen auf „der anderen Seite“ der Kontrollbe-ziehungen, bei der räumlichen Verteilung desaktiven oder positiven Kontrollpotentials: Öko-nomische Dominanz ist hochgradig räumlichkonzentriert, sie geht zum überwiegenden Teilvon wenigen, großen Verdichtungsräumen aus.Der Saldo, die Kontrollbilanz, bestätigt dieseEinschätzung: Die Beherrschung geht von denstädtischen Regionen aus, während ländlicheGebiete eine deutlich negative Kontrollbilanzaufweisen.- Die räumlichen Muster der Kontrollbeziehung-en zeigen weiters, dass zwischen den hochver-dichteten Regionen starke gegenseitige Verflech-tungen bestehen, wobei ein erhebliches Maß anKontrolle von sehr wenigen Zentren ausgeht. ImFalle Deutschlands sind für die 1980er Jahre vorallem München, Stuttgart, Hamburg und Frank-furt zu nennen. [29] Ebenso dominieren regionaleMittelzentren durch Kontrollverflechtungen dasjeweilige Umland, wobei deren räumliche Reich-weite geringer ist als jene der großen städti-schen Agglomerationen.

    3.5 Strukturelle WirkungenUntersuchungen für die USA, Deutschland

    oder Österreich [30] zeigten, dass hierarchischeBeziehungen zwischen einem Mutterkonzern undabhängigen Beteiligungsunternehmen zu unter-schiedlichen regionalen Entwicklungspotentialenführen. Durchgängig wurde festgestellt, dassein Mutterunternehmen von einer erfolgreichenExpansion eines untergeordneten Tochterunter-nehmens mit profitiert. [31] Im Gegenzug laufenim Falle einer Stagnation Tochterunternehmenüberproportional häufig in Gefahr, mit Personal-reduktionen oder gar Standortschließungen kon-frontiert zu werden. [32] Diese Einschätzung wirdvon mehreren Unternehmensbefragungen bestä-tigt. So zeigt sich, dass Konzernzentralen (alsoUnternehmen, die Niederlassungen in Auslanderwerben oder sich zumindest beteiligen) be-triebswirtschaftliche Rückschläge leichter abfan-gen können als Einbetriebsunternehmen. [33] Esist daher auch wenig überraschend, dass Unter-nehmenszentralen ihre zukünftige Entwicklungbesser beurteilen als Zweigbetriebe. In einerUntersuchung gaben von 244 befragten öster-reichischen Unternehmen 13,6 Prozent eine po-sitive Einschätzung über ihre zukünftige Ent-wicklung an. Hingegen lag der Vergleichswertder Unternehmenszentralen bei 25 Prozent, je-ner der restlichen Betriebe (Einbetriebs- oderTochterunternehmen) nur bei 10 Prozent. [34]

    Diese eher gedämpfte Einschätzung kann auchdadurch erklärt werden, dass Zweigbetriebe (zu12,8 Prozent) in der Vergangenheit schon Erfah-rungen mit dem Verlust von Funktionskompe-tenzen gemacht haben. [35]

    Die auf die regionale Ebene ausgerichtetenUntersuchungen bestätigen die Ergebnisse vonBetriebsbefragungen. Die „Kontrollstruktur“ einerRegion beeinflusst sowohl das Qualifikations-niveau der Erwerbstätigkeit als auch die Funk-tionalstruktur signifikant. So konnten Gräber etal nachweisen, dass Regionen mit aktivem Kon-trollpotential hinsichtlich Qualifikation, Wachs-tum und Stabilität der Beschäftigung sowie beiden Durchschnittslöhnen über günstigere Eigen-schaften verfügen als beherrschte Regionen.„Durchgängig zeigt sich, dass die Existenz vonBeherrschung in irgendeiner Form mit einem

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    Zeitschrift für Sozialökonomie 149/2006

    höheren Angestelltenanteil und einem höherenQualifikationsniveau verbunden ist.“ [36] Beteili-gungs- oder Beherrschungsstrukturen sind Aus-druck einer asymmetrischen Beziehung, die zueinem Auseinanderfallen von Wertschöpfungs-erbringung und Wertschöpfungsverfügung füh-ren kann. „Der ‚Beherrschungs-Überschuss’ ei-ner Stadtregion [...] kann sich in einen ‚Aneig-nungs-Überschuss’ umsetzen, wenn der Entzugs-effekt bei Profiten und anderen Besitzeinkom-men größer ist als die Reinvestition in die Ent-zugs-Region“. [37] Damit bilden Beherrschungs-verhältnisse zwischen Stadtregionen, insbeson-dere wenn diese einseitig sind, eine Grundlagefür Transferbeziehungen, die zu einer Verfesti-gung oder Verstärkung von regionalen Ungleich-gewichten führen können.

    Mit diesem Ansatz des „regionalen Kontroll-potentials“ wird die Notwendigkeit eines Geld-ansatzes deutlich, der auf der heterodoxenNichtneutralität des Geldes aufbaut und eineDifferenzierung nach qualitativen Kriterien ein-fordert. Ausgehend von dem Anspruch, Geld-kapital (in Form von Unternehmensbeteiligung-en) als potentielle Quelle von hierarchischenVerflechtungen zu sehen, werden die wesent-lichen Ergebnisse einer Studie vorgestellt, dieausländische Direktinvestitionen der StadtregionWien in Europa untersucht hat.

    4 Wien: eine Drehscheibe zwischenEuropas Zentrum und Peripherie?

    Die Ergebnisse der hier vorgestellten Studiebasieren auf einem Datensatz von 12.230 regio-nalisierten Direktinvestitionen, die zwischen derStadtregion Wien und insgesamt 145 ausländi-schen Standorten durchgeführt wurden. [38] Da-bei werden Investitionen nach ihrer Richtungdifferenziert: „aktive“ Investitionen gehen vonWien an ausländische Standorte, „passive“ wer-den von ausländischen Unternehmen in Wiengetätigt. Eine entscheidende Größe für die Be-wertung einzelner Standorte wird daher dieBilanz dieser beiden Werte sein, die die Asym-metrie und damit die hierarchische Verflechtungzwischen den jeweiligen Standorten zum Aus-druck bringen. Der Untersuchungszeitraum um-

    fasst 13 Jahre von 1989 bis 2001 – und damitjene Dekade, in der die Stadt Wien bedeutsamegeopolitische Umbrüche erlebte: der Fall desEisernen Vorhanges, die gesellschaftliche Trans-formation in den östlichen Nachbarländern, derBeitritt Österreichs zur Europäischen Union so-wie die sich damals abzeichnende Osterweite-rung der EU. [39] Angesichts dieser Entwicklungendrängt sich die Frage auf, ob Wien an seinealte Rolle als ein den Donauraum ökonomischdominierendes Zentrum anschließen kann unddadurch der Status dieser Stadt als Global Cityaufgewertet wurde.

    4.1 Bewertung von WiensKontrollpotential

    Die kapitalbasierten Kontrollverflechtungenzwischen Wien und ausländischen Standortenhaben in den 1990er Jahren eine beträchtlicheSteigerung erfahren, wobei sowohl die Bedeu-tung der Stadt als Ausgangspunkt (aktive Inves-titionen zwischen 1991 und 2001: von 2,2 auf17,9 Mrd. Euro) als auch als Zielstandort (pas-sive Beteiligungen zwischen 1991 und 2001: von5,6 auf 21,6 Mrd. Euro) von Investitionen zuge-nommen hat. Wenn auch die aktivseitige Expan-sion in allen untersuchten Regionen stattgefun-den hat, so nehmen doch die osteuropäischenMärkte eine besondere Stellung ein, denn derenBeitrag zum Anstieg der aktiven Investitionenwar mit 32,6 Prozent (oder 5 Mrd. Euro) be-trächtlich. Bei der Herkunft der passiven Inves-titionen sind nach wie vor Deutschland undWesteuropa sehr dominierend, womit die Kon-trollbilanz Wiens trotz der Expansion an den ost-europäischen Märkten negativ geblieben ist.

    Die qualitative Struktur der Investitionenzeigt erhebliche Unterschiede zwischen den ak-tiven und passiven Beteiligungen: Bei den pas-siven Investitionen in Wien fand eine Entkoppe-lung von Beschäftigung und Investitionsver-mögen statt. Während der Beschäftigungsstandder aktiven Investitionen zwischen 1991 und2001 um rund 121.000 Arbeitsplätze wuchs, be-trug das passivseitige Nettowachstum in Wien –bei einem Anstieg der Beteiligungsvolumen von16 Mrd. Euro! – gerade rund 9.000 Beschäftigte.

    Robert Musil: Die globale Hierarchie der Städte

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    Zeitschrift für Sozialökonomie 149/2006

    Es scheint, als wären die in Wien getätigtenInvestitionen nicht in der Lage neue Beschäf-tigung zu schaffen. Dies mag darauf zurückzu-führen sein, dass ausländische Konzerne in Wienkeine Neugründungen sondern überwiegend Fu-sionen mit bestehenden Unternehmen durch-führen (wie etwa die bayrische HVB 1997 dieBankAustria-Creditanstalt übernommen hat).

    Die Gewinnstruktur und Rentabilität der In-vestitionen zeigt für Wien ebenso eine eherungünstige Bilanz: Sowohl die Gewinne in abso-luten Zahlen (aktiv 2001: 1,9 Mrd, passiv 2001:770 Mio Euro), als auch die Rentabilität (gemes-sen am Gewinnanteil am Eigenkapital) ist passiv-seitig (9,1 Prozent) doppelt so hoch wie aktiv-seitig (5,1 Prozent). Auch hier spielen die ost-europäischen Standorte für Wien eine immenswichtige Rolle: Denn immerhin 43 Prozent allererwirtschafteten Gewinne der aktivseitigen In-vestitionen kommen aus dieser Region. Weitersübersteigen die Gewinnrückflüsse aus Wien andie ausländischen Mutterkonzerne (passiv 2001:104,7 Prozent der Gewinne werden an die aus-ländische Mutter überstellt) die Zuflüsse an dieUnternehmenszentralen in Wien (aktiv 2001: 67,7Prozent der Gewinne werden an die Wiener Mut-ter überstellt). Der Saldo der Kapitalbeziehung-en, also das regionale Kontrollpotential Wiens,ist zwar nur leicht negativ; die Qualität der Be-ziehungen kann insgesamt betrachtet als nichtsehr günstig eingestuft werden – wobei festge-halten werden muss, dass die osteuropäischenStandorte einen wichtigen Beitrag zur Verbesse-rung der qualitativen Bilanz Wiens leisten.

    4.2 Bewertung der regionalenInvestitionsverflechtungen

    Die insgesamt 145 aktiven und passiven In-vestitionsstandorte weisen eine doppelte räum-liche Konzentration auf: erstens liegen nur 12Standorte außerhalb Europas und selbst inner-halb Europas konzentrieren sich die meistenStandorte auf die unmittelbaren Nachbarländer.Und auch dort konzentriert sich das Beteili-gungskapital auf wenige Standorte; im zeitlich-en Verlauf gewinnt es sogar noch mehr an Be-deutung: 1991 flossen 39,6 Prozent aller Inves-

    titionen von 10 ausländischen Standorten nachWien, 2001 lag der Wert derselben Städte bei67,1 Prozent. Bei den aktiven Investitionenzeigt sich ein sehr ähnliches Muster (1991 41,7Prozent, 2001 66,9 Prozent von 10 Standorten).

    Die Bilanzen der Investitionsbeziehungen zuden einzelnen Standorten sind durch erheblicheAsymmetrien gekennzeichnet, die eindeutige räum-liche Muster zeigen. In Abbildung 2 (s. S. 10) sinddie gewichteten Bilanzen der Gewinne für dieeinzelnen Standorte in Europa interpoliert, wo-bei die graue Signatur den Übergang von derpositiven (hellgrau) zur negativen (dunkelgrau)Kontrollbilanz aus der Sicht Wiens darstellt:Während vor allem gegenüber den Standortendes nordwesteuropäischen Zentralraumes (vonWien aus gesehen) negative Bilanzen vorherr-schen, nimmt die Donaumetropole gegenüber denStandorten in den mittel- und osteuropäischenNachbarländern eine eindeutig dominierendePosition ein. Auch konnte eine beachtliche zeit-liche Persistenz der Kontrollverflechtungen fest-gestellt werden: kaum ein Standort erlebte einenWechsel des „Vorzeichen“ seiner Kontrollbilanz,vorhandene Ungleichgewichte wurden tenden-ziell verstärkt. Die West-Ost-BrückenfunktionWiens hat sich in dem Untersuchungszeitraumbeträchtlich ausgeweitet, wobei die Expansionan den osteuropäischen Standorten nicht aus-reichte, die Dominanz westeuropäischer Stand-orte gegenüber Wien zu kompensieren.

    Von den 145 Investitionsstandorten sind ausder Literatur nur 61 als Global Cities zu identi-fizieren, wobei diese in drei Gruppen, als hoch-,mittel- und niederrangige Global Cities einge-stuft wurden. [40] Differenziert man das Kontroll-potential nach diesen drei Gruppen und weitersnach der Zeit, so zeigt sich dass gegenüber denhochrangigen Global Cities (etwa New York,London, Frankfurt oder Tokio) eine negativeBilanz (von Wien ausgesehen) vorherrscht, diein der Dekade der 1990er Jahre auch noch zuge-nommen hat. Hingegen hat die positive Kontroll-bilanz gegenüber den niederrangigen GlobalCities (etwa Barcelona, Bratislava, Dresden oderAthen) zugunsten Wiens zugenommen. Somithat zwar die Stärke der Einbindung Wiens in dieglobale Wirtschaft zugenommen, dies hat aller-

    Robert Musil: Die globale Hierarchie der Städte

  • 5 Wien: eine Metropole derSemiperipherie?

    Aus den Ergebnissen der Untersuchung lassensich sowohl konzeptionell-theoretische als auchempirische Konsequenzen ableiten. Für das Ver-ständnis der Weltwirtschaft mit ihren Verflech-tungen zwischen den dominierenden Zentren undabhängigen peripheren Räumen ist es notwen-dig, einen umfassenderen Kapitalbegriff anzu-wenden als die neoklassische Wirtschaftlehreund Standortwissenschaft. Geld ist kein „neu-traler Produktionsfaktor“; er verfügt über einequalitative Dimension, die für das Entwicklungs-potential von Städten und Regionen von enor-mer Bedeutung ist. Das Kontrollpotential ist einwichtiger Indikator dafür, ob erwirtschaftete

    Gewinne an dem Standort reinvestiert oder ab-gezogen werden. Weiters zeigt die Studie überWien, dass die netzwerkartige Weltwirtschafthochgradig konzentriert und durch vorrangigasymmetrische Verflechtungen gekennzeichnetist. Das Netzwerk der Global Cities macht auchdeutlich, was ökonomische Globalisierung kon-kret bedeutet: keine Verbrüderung der Welt mitsich selbst, keine „Umarmung“ durch Handel,sondern eine kalkulierte hierarchische Ordnung,in der es ein eindeutiges „oben“ und „unten“gibt.

    Der von dem Sozialhistoriker Braudel gepräg-te Begriff der „Relaisstadt“ [41] als Bindegliedzwischen Zentrum und Peripherie der Weltwirt-schaft dürfte für das hier untersuchte Fallbei-

    dings auch zu einer stärkeren Ausprägung derasymmetrischen Kontrollverflechtungen geführt.In der globalen Städtehierarchie konnte sich

    Wien als Regionalzentrum für Mittel- und Ost-europa etablieren, seine globale Stellung bliebdavon aber unberührt.

    Abb. 2: Die Qualität des Geldes als Ausdruck von Zentrum und Peripherie, hier am Beispiel von Wiens „Vorland“ und„Hinterland“ (Interpolation der Bilanz der Gewinne, gewichtet nach der Asymmetrie des Eigenkapitals).

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    Zeitschrift für Sozialökonomie 149/2006

    Robert Musil: Die globale Hierarchie der Städte

  • spiel Wien in hohem Maße zutreffen. Die „Inter-nationalisierungsphase“ der 1990er Jahre hatWien zwar nicht zu einer Global City werden las-

    sen, allerdings dürfte ihre Rolle als halb- odersemiperipherer Brückenkopf für Osteuropa un-umstritten sein.

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    Zeitschrift für Sozialökonomie 149/2006

    Robert Musil: Die globale Hierarchie der Städte

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    Anmerkungen[1] http://www.un.org/esa/population/publications/wup2003/2003WUPHighlights.pdfsowie http://www.un.org/Pubs/chronicle/2002/issue3/0302p36_urbanization.html[2] Feldbauer und Parnreiter 1997, S. 14.[3] Castells 2001, S. 467.[4] O´Brian 1994.[5] Sassen 1991 sowie Friedmann 1986.[6] Gerhard 2004, S. 4.[7] Sassen 1991, S. 91.[8] Weber 2002, S. 2.[9] Sassen 1991, S. 101.[10] Sassen 1991, S. 110.[11] Sassen 1991, S. 3.[12] Der Ansatz, die Weltwirtschaft als einNetzwerk zu verstehen, wurde allerdings schonlange vor ihr von Hall (1966), Friedmann undWolf (1982) sowie Friedmann (1986), vor allemaber von Castels (vgl. 2001) vertreten.[13] Smith und Timberlake 1995b, S. 81.[14] Friedmann 1993, 7; zitiert nach Smithund Timberlake 1995, S. 292.[15] Schätzl 2002, S. 102.[16] Schönebeck 1996, S. 36.[17] Verdier 2002 xii.[18] Schätzl 2001, S. 114f.[19] Marx [1858] 1957, S. 112.[20] Klöppel 1973, S. 17.[21] Klöppel 1973, S. 16.[22] Klöppel 1973, S. 18.[23] Klagge und Martin 2005.[24] OeNB 2001, S. 6.[25] Nuhn 1991, S. 16.[26] Gräber et al 1986, S. 680.[27] Krätke 1995, S. 113.[28] Gräber et al 1986 für Westdeutschland,Pred 1977 für die USA sowie Krätke 2000 fürDeutschland.[29] Gräber et al 1986, S. 686.[30] Für Österreich eine aktuelle WIFO-Studievon Knoll (Knoll 2004).[31] Pred 1977, S. 104-105.[32] Krätke 2004, S. 21.[33] OeNB 1994, S. 26.[34] Knoll 2004, S. 16.[35] Knoll 2004, S. 19.[36] Gräber et al 1986, S. 689.[37] Krätke 1995, S. 115.[38] Detailliertere Ergebnisse wurden publi-ziert in: Musil 2005a und 2005b.[39] Vgl. Schmee und Weigl 1999 sowie Mayer-hofer 2000.[40] Taylor 2004, S. 34 – 39.[41] Braudel 1986, S. 18ff.

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    Zeitschrift für Sozialökonomie 149/2006

    Fördert Regiogeld eine nachhaltigeRegionalentwicklung?

    Muriel Herrmann

    1. Einleitung

    Der politische und gesellschaftliche Wandelin Richtung einer nachhaltigen Entwicklung ver-läuft langsam. Viele internationale Verhand-lungen laufen darauf hinaus, sich auf den klein-sten gemeinsamen Nenner zu einigen. Durchdie Globalisierung der Märkte und die interna-tionale Konkurrenzsituation wird es immerschwieriger für die Nationalstaaten, soziale undökologische Ziele zu verfolgen, ohne dadurchvom internationalen Finanzsystem benachteiligtzu werden. Eine Chance besteht, wie schon aufder Rio-Konferenz festgehalten wurde, in einerLokalisierung und Regionalisierung.

    Auf lokaler und regionaler Ebene existierenzahlreiche Ansätze, eine nachhaltige Entwick-

    lungsrichtung zu fördern und insbesondere denwirtschaftlichen Konkurrenzdruck zu mildern.Darunter fallen Projekte der Agenda 21 und dieTauschring-Bewegung. Diesen Projekten gelingtes jedoch nicht, im Gros der Bevölkerung eineAufbruchstimmung in Richtung Nachhaltigkeitzu erzeugen. Eine neue Idee in diesem Bereichist die Einführung eines regionalen Geldes aufGutschein-Basis.

    2. Regiogeld im deutschsprachigen Raum

    Regiogeld gibt es in Deutschland erst seitca. fünf Jahren – und es ist ein noch kaum er-forschtes Feld. Es gibt momentan 17 Regiogeld-Initiativen (RGIs), die Regios herausgeben, undca. 20 Initiativen, die dies vorbereiten.

    Tabelle 1: Übersicht über RGIs, die mit der Ausgabe von Gutscheinen begonnen haben.

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    Zeitschrift für Sozialökonomie 149/2006

    Muriel Herrmann: Fördert Regiogeld eine nachhaltige Regionalentwicklung?

    Die meisten RGIs sind bereits im Regiogelde.V. [1], der Nachfolge-Organisation des Regionetz-werks, organisiert, wodurch sie ihre Gemein-wohlorientierung dokumentieren sowie die ge-meinsame Zielsetzung, sich für die Förderungregionaler Wirtschaftskreisläufe mit positivenökologischen und sozialen Nebeneffekten ein-zusetzen. Gleichzeitig sollen Lernprozesse inBezug auf das Geldwesen, dessen Wirkungsweiseund konstruktive Veränderungsmöglichkeiten an-gestoßen werden.

    Die Initiativen unterscheiden sich in ihrengenauen Regelwerken, z.B. in der Deckung ihrerGutscheine und in ihren Organisationsformen.Den meisten Initiativen ist gemeinsam, dassihre Gutscheine mit einer Rücktauschgebühr be-legt sind, wodurch die regionale Weitergabe desGutscheins begünstigt wird. Desweiteren sindsie mit einer Liquiditätsgebühr belegt, einer Ab-wertung des Gutscheins in bestimmten Zeit-räumen, was dazu führt, dass die Gutschein-besitzer sie schnell weitergeben.

    Um eine genauere Vorstellung von den RGIsund ihren Wirkungsweisen zu bekommen, wur-den Fallstudien über die beiden bislang etablier-testen RGIs angefertigt. Die Etablierung misstsich an der Anzahl der Beteiligten und an dersich im Umlauf befindlichen Regiogeldmenge.Aus den Fallstudien wurden theoretische Poten-ziale der RGIs abgeleitet. Im Oktober 2004 wur-de eine Befragung der beteiligten Unternehmendurchgeführt, die Aufschluss über die Ausschöp-fung der Potenziale gibt. Dabei wurden 167Unternehmer mittels eines voll standardisiertenFragebogens befragt. Die Rücklaufquote lag bei38%. Die Auswertung erfolgte in einer Diplom-arbeit der Autorin über Mittelwertvergleiche der

    Tabelle 2: Chiemgauer-Entwicklung

    in der 5-Punkte-Lickert-Skala standardisiertenFragen (Hermann 2005).

    3. Fallstudien

    Die Chiemgauer-InitiativeDie Chiemgauer-Initiative startete vor über dreiJahren als Schülerunternehmen der WaldorfschulePrien unter Leitung des Lehrers Christian Gelleri.Seitdem ist sie kontinuierlich gewachsen. DieHauptarbeit wird mittlerweile vom Verein undseinen Regional-Gruppen, die in den Teilregio-nen aktiv sind, getragen (vgl. Gelleri 28.03.05).Vielen RGIs in anderen Regionen dient derChiemgauer als Vorbild.

    Jedes Mitglied des Vereins kann Chiemgauergegen Euro erwerben. Für 100 Euro bekommtman 100 Chiemgauer [2]. Mit ihnen kann dasMitglied in den beteiligten Geschäften einkau-fen. Die Unternehmer können die Chiemgauerihrerseits regional weiter verwenden oder zurücktauschen, wobei eine fünfprozentige Gebühr an-fällt. Von diesen 5 Prozent gehen 3 % an einengemeinnützigen Verein, 2 % an den Chiemgauerregional e.V. zur Kostendeckung. Der Chiemgauerverliert zudem alle drei Monate 2% seines Wer-tes. Das bewirkt, dass alle Beteiligten versuchen,ihre Chiemgauer so schnell wie möglich weiter-zugeben – oder ihn vor Ablauf der Frist zurück-zutauschen. Verstreicht die Frist, so muss derWertverlust mit dem Aufkleben einer Wertmarkeausgeglichen werden.

    Im Jahr 2004 wurden insgesamt 211.000 Euroin Chiemgauer umgetauscht, im Jahr 2005360.000 Euro (vgl. Chiemgauer e.V. 2006a), imersten Quartal 2006 schon 116.202 Euro (vgl.Chiemgauer e.V. 2006b).

    Dem stark gestiegenen Verwal-tungs- und Betreuungsaufwand wirdmit einer stärkeren Professionali-sierung der Organisation begegnet.Auch wurde im März 2005 eineAufnahmegebühr für Unternehmenin Höhe von 100 Euro beschlossen(vgl. Chiemgauer e.V. 2005), diedie wirtschaftliche Tragfähigkeitder Initiative sichern soll.

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    Muriel Herrmann: Fördert Regiogeld eine nachhaltige Regionalentwicklung?

    An der Entwick-lung eines elektroni-schen Verrechnungs-verfahren mittels ei-ner Kundenkarte wirdgearbeitet (vgl. Gel-leri 2004b: o.S.).

    Die Sterntaler-InitiativeDie Sterntaler-Initia-tive entstand auf derBasis des TauschringsStar e.V. im Berchtes-gadener Land, der Nach-barregion zum Chiem-gauer. Die Sterntaler-Initiative ist bislangdie einzige, welcheeine eurogedeckteWährung, die Stern-taler, mit einer lei-

    auf 20% erhöht (vgl. Star e.V. 2005a: o.S.). Dieanfängliche Angst der Teilnehmer, dass demSystem die Euros ausgehen könnten, hatte sichgelegt, da sich in der achtmonatigen Laufzeiteine mehr als ausreichende Eurodeckung ergab.Langfristig ist eine weitere Erhöhung des An-teils angestrebt (vgl. Galler 28.03.05).

    Die praktische Arbeit wird von einer Kern-gruppe von Vereinsmitgliedern getragen (vgl.Galler 23.06.04). Als Besonderheit bei der Or-ganisation ist zu nennen, dass die Arbeit fürdie Sterntaler-Initiative mit 5 Talenten proStunde vergütet wird, wodurch sich leichterqualifizierte Mitarbeiter gewinnen lassen. DerLohn der Mitarbeiter wird vom Tauschring-Orga-nisationskonto bezahlt, so dass sich die Organi-satoren in der Startphase selbst Kredit geben

    konnten. Die Mitgliedschaftkostet für Unternehmen ein-malig 100 Euro und jähr-lich 60 Euro, wodurch dieInitiative es schafft, sichganz aus eigenen Mitteln zufinanzieren. Die Sterntaler-Initiative bietet den Unter-nehmen dafür eine Unter-

    stungsgedeckten Währung, den Talenten desTauschrings, koppelt (vgl. Bode 2004: 88).

    Im Prinzip funktioniert der Sterntaler ähnlichwie der Chiemgauer, mit Rücktausch- und Liqui-ditätsgebühr. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit,100 Sterntaler für 90 Euro und 10 Talente zuerwerben. 10 Talente entsprechen einer StundeArbeit im Tauschring oder 10 Sterntalern oder 10Euro. Beim Rücktausch in Euro sind wieder zweiOptionen wählbar, entweder man erhält für 100Sterntaler 90 Euro oder 65 Euro und 30 Talente.(vgl. Bode 2004: 89). Die Liquiditätsgebühr liegtmit 3 % pro Quartal höher als beim Chiemgauer.

    Im Jahr 2005 wurde mit der Begünstigunggemeinnütziger Vereine analog zum Chiemgauerbegonnen und der Talente-Anteil, mit demSterntaler erworben werden können, von 10%

    Abbildung 1: Chiemgauer-Kreislauf (erstellt vom Chiemgauer e.V., 2005;aus: Kennedy & Lietaer 2004: 106 f.)

    Abbildung 2: Ein- und Rücktausch von Sterntalern

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    Muriel Herrmann: Fördert Regiogeld eine nachhaltige Regionalentwicklung?

    stützung durch gemeinsames Marketing imInternet und durch ein gemeinsames Unterneh-mer-Handbuch, das in Praxen, Warteräumen u.ä.ausgelegt wird (vgl. Galler 28.03.05).

    Die Sterntaler-Initiative wächst stetig. VomMärz bis Dezember 2005 haben sich die Umlauf-zahlen fast verdoppelt (vgl. Star e.V. 2005b: o.S.;Star e.V. 2006: 2).

    Eine enge Kooperation mit der Chiemgauer-Initiative hat sich eingespielt. Einzelne Unter-nehmen im Grenzbereich sind an beiden Initia-tiven beteiligt, Chiemgauer und Sterntaler wer-den im Moment eins zu eins gehandelt.

    4. Potenziale von Regiogeld-Initiativen für eine nachhaltigeRegionalentwicklung

    Ökonomisch - ökologische AspekteDer durch die regionale Gültigkeit der Gutschei-ne und die Rücktauschgebühr entstehende Anreizzum regionalen Wirtschaften unterstützt klein-räumige Wirtschaftsstrukturen, deren Vorteilevielfach beschrieben wurden (vgl. u.a. Schumacher1995, Greif 2000). So wird das Wirtschaftsge-schehen überschaubarer und damit leichter zuverstehen [3]. Die Auswirkungen des wirtschaft-lichen Handelns werden schneller sichtbar, sodass Risiken früher erkannt werden können. DieGefahr von Wirtschaftskrisen, die durch Finanz-Spekulationen im international liberalisiertenWährungsraum ausgelöst werden, kann abgemil-dert werden (vgl. Lietaer 2000: 111 ff.). Auchökologische Vorteile wie die Verringerung vonTransportwegen sind gegeben.

    Produkte und Technologien, die an kleinräu-miges Wirtschaften angepasst sind, werden ge-fördert. So ist in der Chiemgauer-Region dasRegOel-Projekt entstanden, das regional erzeug-tes Pflanzenöl als Treibstoff für die Landwirte

    anbietet, die nach Ausgabe-Möglichkeiten für ihre Regiossuchen. Auch für die dafür nöti-ge Umrüstung der Traktoren aufPflanzenöl konnte ein regionalerUmrüster gefunden werden. (vgl.Gelleri 24.06.04).

    Die RGIs haben Vorteile für die regionale Wirt-schaft, da die Kaufkraft in der Region gehaltenwird. Ein Beispiel ist bei der Chiemgauer-Ini-tiative bekannt geworden: ”Der ‘Regionalmarkt’ inPrien bezieht nun von einer regionalen KäsereiProdukte, die diese zuvor nur überregional ab-setzte” (Bode 2004: 87). Die befragten Unter-nehmer geben an, im privaten Bereich mehr Geldregional auszugeben. Geschäftliche Mehrausga-ben und der Wechsel zu regionalen Lieferantenwerden bislang nicht von der Mehrheit derUnternehmer bestätigt. Auch bei den Kundenbeobachten die Unternehmer Veränderungen imEinkaufsverhalten.

    Gleichzeitig sind die Effizienz-Einbußen ge-ring, weil Regiogeld nur einen Anreiz setzt, derseine Grenze dort hat, wo die überregionalenVorteile die Rücktauschgebühr überschreiten. Sogeben die befragten Unternehmen an, durch dieRGIs sei ihr regionaler Vorteil gegenüber globa-len Unternehmen gestärkt worden. Sonst sehensie bislang keine wirtschaftlichen Vorteile, wasdurch die geringe Laufzeit der Projekte bedingtsein kann. Es werden jedoch auch keine Nach-teile festgestellt.

    Soziale AspektePositive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt las-sen sich erahnen. So versucht die Sterntaler-Initiative gezielt, die Schaffung von Mini-Jobsauf Sterntaler-Basis anzustoßen. Bis März 2005wurden 11 Stellen geschaffen (vgl. Galler 28.03.05).Zudem wird es durch die Koppelung von Talentenund Regios möglich, durch TauschringtätigkeitenGrundbedürfnisse zu befriedigen und Einkommenzu substituieren, was bei den meisten Tausch-ringen nicht gelingt (vgl. Kristof et al. 2001: 33).Bei der Befragung gaben die Unternehmer an,den Tauschring bislang nicht verstärkt zu nutzen,so dass dieses Potenzial nach viermonatiger

    Tabelle 3: Sterntaler-Entwicklung

  • 16 Muriel Herrmann: Fördert Regiogeld eine nachhaltige Regionalentwicklung?

    Zeitschrift für Sozialökonomie 149/2006

    Laufzeit des Sterntalers noch nicht ausgeschöpftwird. Jedoch ist die Akzeptanz des gekoppeltenEintausches von Euro und Talenten in Sterntalerbei den Unternehmern hoch.

    Die finanzielle Förderung gemeinnütziger An-liegen ist durch Verwendung der Rücktausch-gebühr festgelegt. Der Chiemgauer brachte ge-meinnützigen Vereinen im Jahr 2004 Spendenvon 6330 Euro, im Jahr 2005 10.800 Euro ein(vgl. Chiemgauer e.V. 2006: o.S.). Je stärker dasSystem genutzt wird, desto höher werden dieFördersummen.

    RGIs unterstützen die Bildung eines Bezie-hungsnetzwerks innerhalb der Region. Durch dieSuche der Kunden und Unternehmer nach sinn-vollen Ausgabe-Möglichkeiten für Regios ent-steht Interesse an Informationen über ”dieregionalen Möglichkeiten der Versorgung und diedamit zusammenhängenden Erlebnis- und Wohl-ergehensmöglichkeiten” (Ganzert et al. 2004: 58).Die Kunden haben ein Motiv, sich über die Ver-eine der Region zu informieren, um einen würdi-gen Nutznießer ihrer indirekten Spende auszu-wählen. Die befragten Unternehmer geben an,durch die RGIs besser über andere Unternehmenund die Vereine der Region informiert zu sein.

    Die Unternehmer können sich auf den regel-mäßigen Unternehmer-Stammtischen kennenler-nen. Durch das „Zusammenwirken der ‘persön-lichen Netzwerke’“ (Schubert et al. 2001: 12) je-des einzelnen entsteht ein Gemeinschaftsgefühl.Die befragten Unternehmer geben an, dass sichdurch die RGIs sowohl private als auch geschäft-liche Kontakte neu ergeben und intensivierthaben. Auch sehen sie eine Erhöhung der Koope-rationsbereitschaft zwischen regionalen Unter-nehmen und eine Stärkung der regionalen Iden-tität durch die RGIs. Damit hat Regiogeld eineverstärkte regionale Informations- und Kommu-nikationsfunktion, die der Euro so nicht aufweist(vgl. Gelleri 2004a: 7).

    Die RGIs bieten neue Möglichkeiten der Be-teiligung und durch den besseren Informations-stand und die stärkere Wahrnehmung der Gren-zen der Region steigt die Bereitschaft, sich zuengagieren (vgl. Ganzert et al. 2004: 58 ). Durchdie Zahlung mit und die Annahme von Regioswird der Einsatz für die regionale Gemeinschaft

    sichtbar, was auch andere Akteure motiviert,sich einzubringen. Vor allem bei der Sterntaler-Initiative gelingt die Einbindung der Unterneh-men in die Organisation der RGI, doch auch beider Chiemgauer-Initiative haben beteiligte Un-ternehmer ein Regionalbüro übernommen. Wennauch nicht alle Unternehmer aktiv werden, sosetzt sich doch der Großteil mit dem Geldsystemauseinander; diese verstärkte Auseinanderset-zung lässt sich auch bei den anderen Nutzer-gruppen der RGIs feststellen.

    RGIs sind nicht nur deshalb ideale Projektefür die regionale Agenda 21 [4]. Auch zeigen sieeinige Qualitäten, die bei vielen Agenda-Pro-zessen bemängelt wurden. So gelingt den RGIseine Einbeziehung der Unternehmen, einer Pro-blemgruppe im Rahmen der Agenda 21. „InWirtschaftskreisen werden partizipative Struk-turen und Bürgerengagement allzu oft noch als‘Störpotenzial’ und potenzieller Kostenfaktorwahrgenommen“ (Habisch 1999: S. 231). In Nach-haltigkeitsnetzwerken dauert es daher im Allge-meinen lange, bis sich wirtschaftliche Akteurebeteiligen (vgl. Pfeiffer 2003: 126), besondersden KMUs fehlt es häufig an Zeit (vgl. Pfeiffer2003: 95). Doch sowohl bei der Sterntaler- alsauch bei der Chiemgauer-Initiative sind dieUnternehmen ein tragendes Element.

    Außerdem können RGIs zur Vernetzung wei-terer LA21-Projekte beitragen. So ist auch dasRegOel-Pflanzenöl-Projekt ein Agenda-21-Pro-jekt, das mit der Chiemgauer-Initiative koope-riert. Die Chiemgauer-Initiative erleichtert dasAnlaufen des RegOel-Projekts, da der Bedarf derLandwirte nach regionalem Treibstoff teilweiseerst durch den Chiemgauer geschaffen wurde.Das RegOel-Projekt schließt nach seinem An-laufen eine Lücke im Regionalgeld-Kreislauf, wasdie Akzeptanz des Systems bei den Landwirtenerhöhen kann (vgl. Gelleri 24.06.04). Die Stern-taler-Initiative hat zu den bestehenden Agenda-Gruppen auf Gemeindeebene engen Kontakt undwird von ihnen unterstützt. Somit könnte dieInitiative die lokalen Agenda-Gruppen auf regio-naler Ebene vernetzen, wodurch sich die Arbeitder 2004 aufgelösten Landkreis-Agenda fort-setzen ließe.

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    Muriel Herrmann: Fördert Regiogeld eine nachhaltige Regionalentwicklung?

    5. Fazit und weiterer Forschungsbedarf

    Insgesamt zeichnet sich bei dieser Unter-suchung ab, dass die Regiogelder Chiemgauerund Sterntaler sehr interessante und Erfolg ver-sprechende Instrumente für die nachhaltige Ent-wicklung ihrer Region sind, auch wenn ihre län-gerfristigen Auswirkungen in dieser Erhebungnoch nicht festgestellt werden konnten. Dazuwäre eine kontinuierliche Befragung aller betei-ligten Nutzergruppen wünschenswert. Auch dieAnalyse der wesentlichen Begleitfaktoren füreine erfolgreiche RGI wäre interessant. Diedurchgeführte Befragung ergab beispielsweise,dass eine kontinuierliche Betreuung und Bera-tung der beteiligten Unternehmen für deren Zu-friedenheit mit der RGI von großer Bedeutungist. Aber auch die regionale Rahmenbedingung-en, z.B. die Wirtschaftsstruktur, Kultur u.ä. kön-nen wichtige Einflussfaktoren sein.

    Zudem könnten die Koppelungsmöglichkeitenvon klassischen Instrumenten nachhaltiger Regio-nalentwicklung mit Regionalgeld analysiert wer-den, da die Effekte regionaler Wirtschaftsförde-rung ohne die Nutzung regionaler Verrechnungs-systeme als gering eingestuft werden können(vgl. Eckey & Kosfeld 2004) [5].

    Andererseits können die unterschiedlichenAnforderungen von verschiedenen Regionen anein erfolgreiches Regiogeld untersucht werden.Im Unterschied zu den hier untersuchten Fall-beispielen wäre der Berliner ein Beispiel für einstädtisches Regiogeld, bei dem regionale Wirt-schaftskreisläufe nur unter Einbezug des Um-lands geschlossen werden können. Der Urstrom-taler ist ein Beispiel für eine Initiative in Ost-deutschland, die ein Regionalgeld herausgibt,das keine vollständige Eurodeckung und damitkeine Rücktauschmöglichkeit garantiert (vgl.Regionetzwerk 2004b: o.S.). Damit trägt er derdesolaten wirtschaftlichen Situation in Sachsen-Anhalt Rechnung.

    PS: Ausführlichere Informationen über dieFallstudien und die Unternehmensbefragung sindin der Diplomarbeit der Autorin zu finden. Diesekann an der Universität Lüneburg oder im Archivfür Geld- und Bodenreform ausgeliehen bzw. im

    Tauschringarchiv käuflich erworben werden. Mit-gliedsinitiativen des „Regiogeld e.V.“ erhaltenkostenlosen Zugang zu dieser Diplomarbeit.

    Anmerkungen

    [1] http://www.regiogeld.de[2] Es können auch geringere Beträge eingetauscht werden.[3] Lewis & Ward (2002) veranschaulichen den regionalen Geld-

    fluss für Nicht-Ökonomen. Sachs (2002) gibt eine Methodezur Veranschaulichung der Wirksamkeit des Geldes innerhalbder Region.

    [4] Becker (2003) ordnet Regionalgeld als Instrument der Agen-da 21 ein.

    [5] Die Potenziale von Komplementärwährungen für strukturschwache ländliche Räume zeigt Bode (2004, 2005) auf.

    Literatur und Internetquellen

    - Becker, R. (2003): Regionales Geld als innovatives Instrumentder Lokalen Agenda 21.In: Zukünfte. Zeitschrift für Zukunfts-gestaltung & vernetztes Denken. Nr. 46. S. 26-29.

    - Bode, S. (2004): Potentiale regionaler Komplementärwährungenfür eine endogene Regionalentwicklung. Universität Osnabrück:Diplomarbeit.

    - Chiemgauer e.V. (2005): Beitragsordnung vom 12.03.05. Unter:http://www.chiemgauer-regional.de/uploads/media/Verein_Beitragsordnung_05-03-05.pdf (Stand: 28.02.06).

    - Chiemgauer e.V. (2006a): Jahresstatistik 2005. Unter: http://www.chiemgauer-regional.de/uploads/media/Chiemgauer_Jahresstatistik2005.pdf (Stand: 28.02.06).

    - Chiemgauer e.V. (2006b): Vereinsstatistik 1/2006. Unter: http://www.chiemgauer.info/123.0.html?udb_assoc_stat_from=01.1.2006&udb_assoc_stat_to=01.4.2006 (Stand: 02.05.06).

    - Eckey, H.-F., Kosfeld, R. (2004): Regionaler Wirkungsgrad undräumliche Ausstrahlungseffekte der Investitionsförderung. Volks-wirtschaftliche Diskussionsbeiträge Nr. 55. Unter: http://www.wirtschaft.uni-kassel.de/Forschungsbeitrag/VWL/Workingpaper/Papier5504.pdf (Stand: 28.08.04)

    - Ganzert, C. et al. (2004): Empathie, Verantwortlichkeit, Gemein-wohl: Versuch über die Selbstbehauptungskräfte der Region. Er-gebnisse eines Praxisforschungsprojekts zur Vermarktung regio-naler Lebensmittel. Wuppertal (pdf-Fassung) Unter: http://www.wuppertalinst.org/Publikationen/WP/WP142.pdf (Stand:15.12.04).

    - Gelleri, C. (2004a): Assoziative Wirtschaftsräume. Der n€uro alsregionale Komplementärwährung. Unter: http://www.freigeld.de/inhalte_von_freigeld_de.html (Stand: 14.12.04)

    - Gelleri, C. (2004b): Strategiepapier zum Chiemgauer. Unter:http://www.regionetzwerk.org/image_archive/document/strategiepapier_2004_zum_chiemgauer.pdf (Stand: 18.01.05)

    - Gelleri, C. (2005): Regiogeld und Spieltheorie. In: Zeitschrift fürSozialökonomie. 42. Jg., Heft 144. S. 11-19.

    - Greif, M. (2000): Von der lokalen zur regionalen Nachhaltigkeit.Oldenburg.

    - Habisch, A. (1999): Zur ökonomischen Rationalität von Agenda-Prozessen. Partizipative Strukturen als „Sozialkapital modernerGesellschaft. In: IFOK, ZKE (Hrsg.): Was heißt hier Agenda?Analysen – Erfahrungen – Beispiele. Dettelbach. S. 231-244.

    - Herrmann,M.(2005): Potentiale von Regionalgeld-Initiativen alsMultiplikatoren für eine nachhaltige Entwicklung. UniversitätLüneburg: Diplomarbeit.

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    Muriel Herrmann: Fördert Regiogeld eine nachhaltige Regionalentwicklung?

    - Kennedy, M., Lietaer, B. (2004): Regionalwährungen. Neue Wegezu nachhaltigem Wohlstand. München.

    - Kristof, K. et al. (2001): Tauschringe und Nachhaltigkeit. Wup-pertal. (pdf-Fassung) Unter: www.wuppertalinst.org/Publikationen/WP/WP118.pdf (Stand: 15.12.04)

    - LEWIS, J., WARD, B. (2002): Plugging the Leaks. Making themost of every pound that enters your local economy. London(UK). Unter: http://www.neweconomics.org/gen/uploads/PTL%20handbook.pdf (Stand: 01.08.2004)

    - Lietaer, B. (2000): Mysterium Geld. Emotionale Bedeutung undWirkungsweise eines Tabus. 2. Auflage. München.

    - Pfeiffer, C. (2003): Integrierte Kommunikation von Sustainabi-lity-Netzwerken. Grundlagen und Gestaltung der Kommunikationnachhaltigkeitsorientierter intersektoraler Kooperationen. Frank-furt am Main.

    - Regionetzwerk (2004b Hrsg.): Protokoll des Regionetzwerktref-fen vom 23.-25. Juli 2004 in Bad Honnef. Unter: http://www.regionetzwerk.org/image_archive/document/protokoll23.06.79.doc (Stand: 20.01.05)

    - Sachs, J. (2002): The money trail. Measuring jour impact onthe local economy using LM3. London. Unter: http://www.neweconomics/gen/uploads/The%20Money%-20Trail.pdf (Stand:01.08.04)

    - Schubert, H. et al. (2001): Regionale Akteursnetzwerke. Analy-sen zur Bedeutung der Vernetzung am Beispiel der RegionHannover. Hannover.

    - Schumacher, E. F. (1995): Small is beautiful. Die Rückkehr zummenschlichen Maß. 2. Auflage. Heidelberg.

    - Star e.V. (Sterntaler & Talente Austausch Ring, Verein für or-ganisierte Nachbarschaftshilfe) (2004a, Hrsg.): Tauschregeln.Mit den beschlossenen Änderungen der letzen Hauptver-sammlung.

    - Star e.V. (2005a, Hrsg.): Tauschregeln. Unter: http://www.star-mach-mit.com/regeln.htm (Stand 11.04.05)

    - Star e.V. (2005b): Sterntalerumlauf – Eurodeckung 2005. Unter:http://www.sterntaler-regional.de/html/modules.php?name=Content&pa=showpage&pid=25 (Stand: 11.04.05)

    - Star e.V. (2006): Protokoll der Hauptversammlung vom 20.01.06.Unter: http://www.regiogeld.de/uploads/media/STAR-Protokoll_HV_20.1.06.pdf (Stand: 28.02.06)

    Mündliche Quellen und Mailverkehr:- Galler, F. (23.06.04): Gespräch mit dem Initiator der Sterntaler-

    Initiative. Besuch im Untersuchungsgebiet. Ainring.- Galler, F. (28.03.05): Mail des Initiators der Sterntaler-Initia-

    tive.- Gelleri, C. (24.06.04): Gespräch mit Initiator der Chiemgauer-

    Initiative. Besuch im Untersuchungsgebiet. Prien.- Gelleri, C. (14.12.04): Mail des Initiators der Chiemgauer-Ini-

    tiative.- Gelleri, C. (28.03.05): Mail des Initiators der Chiemgauer-Initia-

    tive.

    Keynes’ Plädoyer für eine Regionalisierung in einer offenen Weltwirtschaft

    „Ich sympathisiere daher mit jenen, die die wirtschaftliche Verflechtung zwischenden Nationen eher minimieren als maximieren wollen. Ideen, Wissen, Kunst, Gast-freundschaft, Reisen – dies sind Bereiche, die aufgrund ihrer Natur international seinsollten. Aber lasst uns auf heimische Produkte zurückgreifen, wann immer dies ver-nünftig und in angemessener Weise möglich ist; und vor allem, lasst die Finanzenvorrangig im nationalen Rahmen.“

    John Maynard Keynes, „National Self-Sufficency“ (1933),in: Collected Writings Vol. XXI, London 1982, S. 236.

    Wege in den Postkapitalismus

    „Die heutige Behandlung des Kapitals steht im krassen Widerspruch zu den Gesetzenunseres Universums und muss damit zwangläufig zu den bekannten Konflikten undZerstörungen führen. Geld ist daher an die Leistung zu koppeln. Eine Geldvermehrungohne Leistung darf nicht stattfinden. Geld hat bei Transfer und bei Lagerung Verlustehinzunehmen, ebenso wie die Energie. Die Fachworte dafür heißen Tobinsteuer undNegativzinsen. Mit diesen Maßnahmen kann der Widerspruch zwischen der Irrealität derÖkonomie und der realen Welt abgebaut werden. … Nicht die Menschen oder die demo-kratischen Regierungen bestimmen heute, was Wirtschaft ist, sondern Konzerne. DieRegierungen agieren heute wie die hilflosen Zauberlehrlinge, die den Zauberspruch ver-gessen haben. … Der Lösungsweg ‚von unten’ lautet: Entkopplung aus dem Geldkreis-lauf durch lokale Währungen und lokale Kreisläufe.“

    Prof. Dr. Hermann Knoflacher, Kapitalismus gezähmt?,in: Klaus Woltron, Hermann Knoflacher und Agnieszka Rosik-Kölbl (Hrsg.).Wege in den Postkapitalismus, Wien 2004, S. 60–61.

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    „Ich ziehe keinen scharfen Trennstrich odertreffe keine Unterscheidung zwischen Ökonomie

    und Ethik. Eine Wirtschaft, die dasWohlbefinden eines Individuums oder einer

    Nation verletzt, ist unmoralisch.“Mahatma Gandhi

    1 Gemeinwesenarbeit – sozialeRäume gestalten

    Der Begriff „Gemeinwesen“ ist heute weitge-hend aus dem allgemeinen Sprachgebrauch ver-schwunden. Im Bereich der Sozialen Arbeit wirddieser Begriff jedoch verwendet und beschreibteine Gruppe von Menschen, die durch inhaltlicheoder geografische Gemeinsamkeiten miteinanderverbunden sind. [1] [2] Die klassischen Methodender Sozialen Arbeit „Einzelfallhilfe“ und „sozialeGruppenarbeit“ stellen das Individuum ins Zen-trum der Problemlösungs- bzw. Problemvermei-dungsstrategien. Bei der Gemeinwesenarbeit da-gegen steht die Lebenswelt im Vordergrund. Durchdie aktive Gestaltung des Umfeldes, der sozia-len, politischen, ökonomischen und ökologischenBedingungsfaktoren, soll die Lebensqualität desEinzelnen verbessert werden.

    Ihre Ursprünge hat die Gemeinwesenarbeit inden USA, wo die sich rasch entwickelnde Indus-trialisierung drastische soziale und gesellschaft-liche Notstände mit sich brachte, welche nachangemessenen Handlungsmethoden verlangten.Es entstanden verschiedene soziale Bewegungenund die bisherige sentimentale Vergabe vonAlmosen wurde durch systematische Hilfeleis-tungen ersetzt. [3]

    In den frühen 1960er Jahren wurde die Ge-meinwesenarbeit in Deutschland eingeführt undstellte somit eine Ausweitung und Verbesserungklassischer Sozialarbeit dar. In ihren Anfängenwaren die theoretischen Ansätze der Gemein-wesenarbeit von Wohlfahrtsstaatlichkeit und In-tegration geprägt. Ziel dieser frühen Phase war

    es, belastende Situationen für die Menschen er-träglicher zu machen. Zum einen geschah dasdurch eine Verbesserung des Dienstleistungs-angebotes im Wohnviertel, zum anderen wurdeversucht, direkte Belastung erträglicher zu mach-en. Es ging also nicht darum, gesellschaftlicheUrsachen für lokale bzw. persönliche Problemeausfindig zu machen und zu lösen, sondern umdie Anpassung des Einzelnen an bestehendeSysteme. [4]

    Als Antwort auf die Unzulänglichkeiten deswohlfahrtsstaatlichen und integrativen Ansatzesentstand 1971 das Konzept der „aggressiven Ge-meinwesenarbeit“. Zentrales Ziel dieses Ansatzeswar die Veränderung von Kräfte- und Macht-Strukturen durch den solidarischen Zusammen-schluss von Minderheiten. [5] Disruptive Taktikenwie z.B. ziviler Ungehorsam, Streik und Demon-stration wurden eingesetzt, um eine „Revolutionvon unten“ herbeizuführen. [4] Dieser aggressiveAnsatz wurde in der Praxis wenig umgesetzt, dadie politischen Ziele sehr hoch waren und es anhandlungsleitenden Techniken zur Umsetzungfehlte. Zudem befanden sich die Sozialarbeiter/innen oft in einem Loyalitätsdilemma zwischenKlient/innen und ihren Arbeitgeber/innen, wasdie Umsetzung des Ansatzes erschwerte. [3] Den-noch kann dieser aggressive Ansatz als wichtigerBeitrag zur Entwicklung der Gemeinwesenarbeitbetrachtet werden, denn zum ersten Mal rück-ten hier gesamtgesellschaftliche Strukturen alsUrsache sozialer Probleme ins Blickfeld der deut-schen Gemeinwesenarbeit. Etwas gemäßigter unddeshalb wohl auch praxistauglicher entstandEnde der 1970er Jahre der „katalytisch-aktivie-rende Ansatz“. Mit Selbsthilfegruppen, dem Auf-bau neuer Basisstrukturen und politischer Parti-zipation wurden Möglichkeiten genutzt, innerhalbbestehender Strukturen Veränderungen voranzu-treiben.[2] [3]

    Bei aller Unterschiedlichkeit weisen die hierdargestellten theoretischen Ansätze der Gemein-

    Regionalgeld und GemeinwesenarbeitKatharina Schwaiger

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    Katharina Schwaiger: Regionalgeld und Gemeinwesenarbeit

    wesenarbeit ein sie alle verbindendes Elementauf: Gemeinwesenarbeit wurde zwischen 1960und 1970 durchgehend als „dritte Methode“ derSozialen Arbeit gesehen. Dies ist teilweise auchheute noch der Fall, doch lässt sich eine Über-nahme einzelner Elemente in andere Bereicheinnerhalb und außerhalb der Sozialen Arbeit be-obachten. Die Gemeinwesenarbeit wandelt sichvon der „dritten Methode“ zu einem „bereichs-übergreifendem Arbeitsprinzip“ und gilt als grund-sätzliche Herangehensweise an soziale Probleme.Seit den 1990er Jahren steht die Orientierungam sozialen Raum und an den Methoden der Ge-meinwesenarbeit hoch im Kurs. Die Grundaus-sagen tauchen heute in verschiedenen Arbeits-feldern wieder auf, z.B. in Konzepten des Em-powerments, der Einmischungsstrategie, des bür-gerlichen Engagements oder der lokalen Agenda21. In der Praxis ist Gemeinwesenarbeit heuteoftmals beides: Eigenständige Methode und Ar-beitsprinzip der Sozialen Arbeit.[6] Die besondereHerausforderung besteht jedoch immer darin,Lebenswelten in ihrer Differenziertheit zu erfas-sen und diese Lebenswelten als Möglichkeit derEinflussnahme, als Handlungsmöglichkeit zu be-greifen und zu nützen.

    Im Folgenden werden Leitstandards darge-stellt, welche richtungsweisend für Theorie undPraxis der heutigen Gemeinwesenarbeit sind:

    � Zielgruppenübergreifendes HandelnDie Herangehensweise der Gemeinwesenarbeitist grundsätzlich sozialraumbezogen, schließtalso verschiedene Zielgruppen mit ein. EinzelneThemen können sich jedoch auch auf spezifischeZielgruppen beziehen.� Orientierung an den Bedürfnissen und The-men der MenschenGemeinwesenarbeit versucht nicht nur Problemezu lösen, welche von außen als solche definiertwurden, sondern greift die Themen (auch diescheinbar kleinen) der Menschen auf.� Förderung der Selbstorganisation und derSelbsthilfekräfteDie Bewohner/innen werden ermutigt und unter-stützt, ihre Angelegenheiten selbst in die Handzu nehmen. Gemeinwesenarbeiter/innen „beglei-ten“ die Prozesse anstatt sie zu „leiten“.

    � Nutzung der vorhandenen RessourcenDie vorhandenen Potenziale des Gemeinwesensund der einzelnen Bewohner/innen werden ge-fördert, aktiviert, genutzt oder nutzbar gemacht.Gemeinwesenarbeit bringt auch Ressourcen derInstitutionen mit denen der Lebenswelt zu-sammen.� Verbesserung der materiellen Situation undder infrastrukturellen BedingungenAnhand des jeweiligen Bedarfs leistet Gemein-wesenarbeit einen Beitrag zur aktiven Entwick-lung des Gemeinwesens durch Ausbau der öko-nomischen und baulichen Strukturen. Um denBedarf zu erfahren und die Aktivitäten zu koor-dinieren, muss sich Gemeinwesenarbeit in lokalePolitikprozesse einklinken.� Verbesserung der immateriellen FaktorenGemeinwesenarbeit bietet Beratung, Moderation,Qualifizierung usw. an, um die Entwicklung dessozialen und kulturellen Lebens im Gemeinwesenzu unterstützen.� Ressortübergreifendes HandelnUm die Lebensbedingungen im Gemeinwesen zuverbessern, wird bereichsübergreifende Koopera-tion praktiziert. Synergieeffekte werden bewussteinkalkuliert und genützt. Gemeinwesenarbeitist Bestandteil einer kommunalpolitischen Stra-tegie; sie bezieht sich sektorübergreifend aufsoziale Räume.� Vernetzung und KooperationDurch Gemeinwesenarbeit sollen gebietsbezo-gene soziale Netzwerke geschaffen und gestärktwerden. Die Vernetzung ist hier kein Ziel, son-dern ein Mittel, um in Kooperation mit anderenLösungen zu entwickeln. [7]

    Diese 2001 formulierten Leitstandards dienenals grundlegende fachliche Orientierung. Jedochmüssen sie stetig weiterentwickelt und den sichverändernden gesellschaftlichen Situationen an-gepasst werden.

    Ein Aspekt, welcher die Lebenswelten derMenschen zunehmend bestimmt, ist die Globa-lisierung. Neben zahlreichen neuen Möglichkei-ten und Vorteilen bringt diese, vor allem imwirtschaftlichen Bereich, erhebliche Nachteilemit sich. Die neoliberale Ideologie folgt ihrereigenen Logik, soziale und ökologische Zusam-menhänge werden nicht beachtet. Die Soziale

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    Katharina Schwaiger: Regionalgeld und Gemeinwesenarbeit

    Arbeit steht nun vor der Aufgabe, auf Problemewie z.B. die hohe Arbeitslosigkeit und die an-wachsende Kluft zwischen Arm und Reich bei gleich-zeitiger Schwächung der sozialen Sicherungssy-steme angemessen zu reagieren. Auch die Gemein-wesenarbeit muss sich dem entstandenen ökono-mischen und sozialen Entwicklungsbedarf anpas-sen und sich auf die Suche nach zukunftsfähigenFormen eingebetteter Ökonomie machen.[8]

    Es bildet sich der Begriff der Gemeinwesen-ökonomie heraus, welcher innerhalb der Gemein-wesenarbeit und auch in anderen Bereichen ver-wendet wird. Susanne Elsen, Professorin an derFH München mit den Arbeitsschwerpunkten Ge-meinwesen, kooperative Wirtschaftskultur undSolidarökonomie, internationale Zusammenar-beit, Nachhaltigkeit und Zivilgesellschaft, ver-steht unter Gemeinwesenökonomie eine am Men-schen orientierte Wirtschaftskultur. Diese An-sicht impliziert kein anthropozentrisches Hand-lungsmodell, „sondern aus der Erkenntnis des„Teil-Seins“ die Verantwortung für die zukünfti-gen Generationen und geht von der Endlichkeitnatürlicher Ressourcen aus.“ [8] Ziel ist ein so-zialintegratives, solidaritätsstiftendes, vernet-zendes und bedarfsorientiertes Wirtschaften imGemeinwesen. „Es geht um eine Ökonomie, dienicht das Ökonomische verabsolutiert, sondernin ihrem ursprünglichen Sinn des Wortes ‚oikos’für das ‚ganze Haus’ sorgt, also für die Arbeits-losen ebenso wie für die Umwelt, für die Ge-sundheit ebenso wie für die Verteilung der Arbeitzwischen den Geschlechtern.“ [9]

    In der Praxis gestalten sich Gemeinwesen-ökonomien vielfältig. Beispiele sind: Alterna-tiven zur Geldwirtschaft wie etwa Tauschringeund alternative lokale Währungen, Stadteilwerk-stätten für Eigenarbeit und Produktivgenossen-schaften. [13] Grundlegend ist dabei immer, dasssich ein Wandel vollzieht hinsichtlich der Rolledes Kapitals bzw. der Ökonomie an sich. Obers-tes Ziel in der ‚freien’ Marktwirtschaft ist dieProfitmaximierung; soziale oder ökologische Not-wendigkeiten können dabei nicht berücksichtigtwerden. Demgegenüber orientiert sich die Ge-meinwesenökonomie im Wesentlichen an den Be-darfen der jeweiligen Menschen, am Gemeinwe-sen und an der Umwelt. Statt einer herrschen-

    den Rolle nimmt das Kapital hier eine dienendeRolle ein.

    Der Ansatz der Gemeinwesenökonomie wirdbisher innerhalb der deutschen Sozialarbeit ver-nachlässigt. Angesichts der derzeitigen gesell-schaftlichen Situation stellt die Veränderungökonomischer Strukturen jedoch eine zukunfts-weisende Handlungsperspektive für die SozialeArbeit und besonders für die Gemeinwesenarbeitdar.

    2 Regionalgeld

    Als Ergänzung zum Euro sind in den letztenJahren Regionalgelder wie der „Chiemgauer“, der„Regio im Oberland“ in Westdeutschland sowieder „Urstromtaler“ oder die „Havelblüte“ in Ost-deutschland entstanden. Sie werden nur inner-halb ihrer Region verwendet, um die dort ent-standene Kaufkraft nicht in wirtschaftliche Zen-tren abfließen zu lassen. Um ihren stetigenUmlauf zu sichern, sind sie mit einer automati-schen Wertminderung versehen. Derzeit sinddeutschlandweit etwa 48 Regiogeldinitiativenaktiv, bei 17 Initiativen ist der Regio bereits imUmlauf. [10]

    Regionale Währungen lassen sich als eineForm der Gemeinwesenökonomie betrachten. So-mit sind sie auch für die Gemeinwesenarbeitrelevant. Sie orientieren sich, wie die Gemein-wesenökonomie insgesamt, an den Bedarfen derGesellschaft und der Umwelt. Regiogelder sindso konzipiert, dass sie den Problemen des der-zeitigen Geldes und den Problemen der Globa-lisierung in einem regionalen Bezugsrahmen ent-gegenwirken.

    Regiogeld wirkt auf zwei verschiedenen Ebe-nen: Einmal hat es unmittelbare Auswirkungenauf die Region, in der es benützt wird. Diezweite Ebene gestaltet sich etwas anders; hierstehen nicht die unmittelbaren Wirkungen imVordergrund, sondern vielmehr die langfristigenUnzulänglichkeiten unseres derzeitigen Geldsy-stems. Regiogeld fungiert auf dieser Ebene als„Lotsenschiff“, und zwar deshalb, weil im wirt-schaftlichen Umgang untereinander und mit derNatur neue Formen erprobt und gefunden werdenmüssen, um auf die globalen Herausforderungen

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    Katharina Schwaiger: Regionalgeld und Gemeinwesenarbeit

    angemessen zu reagieren. Angesichts der immerweiter aufklaffenden Schere zwischen Arm undReich, des Wachstumszwangs und der weitrei-chenden Verschuldung ist eine grundsätzlicheÄnderung des Geldsystems notwendig. RegionaleGelder bieten den nötigen Spielraum zur Ent-wicklung und Erprobung zukunftsfähiger Geld-systeme. Wichtig ist auch ihre bewusstseins-bildende Wirkung, denn durch die Gestaltung unddie alltägliche Nutzung von Regiogeldern werdendie Nachteile des derzeitigen Geldsystems sicht-bar. So bergen Regiogelder das Potenzial, als„Lotsenschiffe“ zu fungieren und einen Weg ineine nachhaltige Zukunft aufzeigen. [11]

    3 Auswirkungen des Regionalgeldesim Kontext der Gemeinwesenarbeit

    Um die unmittelbaren Auswirkungen von regio-nalem Geld auf die jeweilige Region zu erfahren,wurden Anfang 2005 im Rahmen einer Diplom-arbeit qualitative Interviews durchgeführt undausgewertet. Befragt wurden Kund/innen, Ver-eine und Unternehmen, welche sich am Chiem-gauer- oder Sterntalersystem beteiligen. (NähereInformationen auf www.chiemgauer.info undwww.sterntaler-regional.de) Dadurch ließen sicherste Erfahrungen resümieren, und zwar sowohlin ökonomischer als auch in sozialer und ökolo-gischer Hinsicht.

    Im Bereich der ökonomischen Auswirkungensteht die Schaffung neuer Wertschöpfungsringeim Vordergrund. Durch die Beteiligung am Regio-geldsystem profitieren Unternehmen durch eineverstärkte Kundenbindung. Es handelt sich umNeukunden, welche durch das Regionalgeld aufdas jeweilige Unternehmen aufmerksam werden,und um spezielle Kund/innen, welche das regio-nale Angebot wertschätzen. Es entsteht einewirtschaftliche Vernetzung im Gemeinwesen, wo-durch der regionale Umsatz erhöht und speziellauch kleinere Unternehmen unterstützt werden.So bleibt die Vielfalt des Angebots im Gemein-wesen erhalten, was wiederum die Lebensquali-tät deutlich erhöht. Die Umsatzsteigerung imGemeinwesen trägt auch zum Erhalt und zurSchaffung von Arbeitsplätzen bei. Manche Regio-gelder, so auch der Chiemgauer, sind derart ge-

    staltet, dass durch jeden im Umlauf befindlichenRegio-Schein den mitwirkenden Vereinen in derRegion das sogenannte „Schenkgeld“ zugutekommt. Dieses Schenkgeld entsteht durch Über-schüsse, welche aus der Wertminderung und derRücktauschgebühr (bei Rücktausch des Regio-geldes in Euro) zustande kommen. Beim Chiem-gauer zum Beispiel führt das dazu, dass denVereinen in der Region direkte finanzielle Vor-teile zugute kommen. Insbesondere aus Sichtder Sozialen Arbeit und dem Gedanken ein „demMenschen dienendes Geld“ zu schaffen, ist dieseUnterstützung von Vereinen als sehr wertvoll zubetrachten. Die Kund/innen geben an, durch dieVerwendung von Regionalgeld zumindest keinewirtschaftlichen Nachteile zu haben. Zum einensei das Preis-Leistungs-Verhältnis regionaler Pro-dukte sehr gut, zum anderen werden eventuellhöhere Preise durch die Einsparungen beim Ben-zinverbrauch wieder ausgeglichen.

    Die zunehmende Vernetzung durch das regio-nale Geld führt laut den befragten Personen auchzu neuen und intensiveren Kontakten und einemgesteigerten Zusammenhalt im Gemeinwesen.Die Menschen identifizieren sich stärker mitihrem Gemeinwesen, sie lernen sich kennen undsetzen sich aktiv für den Erhalt der Lebensqua-lität in ihrer Region ein. Eine weitere Auswir-kung im sozialen Bereich ist der in Gang kom-mende Prozess der Bewusstseinsbildung. DurchVorträge und Diskussionen sowie die alltäglicheNutzung des Regiogeldes beschäftigen sich dieMenschen im Gemeinwesen mit ihrer Region, mitThemen wie Wirtschaftskreisläufen oder „Geld ansich“ und mit ihren eigenen Gestaltungsmög-lichkeiten.

    Das Sterntalersystem weist eine Besonderheitauf – den Sterntaler erwirbt man nicht nur, in-dem man dafür Euros eintauscht, so


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