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Zeitfragen

Date post: 08-Apr-2016
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Beilage der Tageszeitung zu MaerzMusik 2015 www.berlinerfestspiele.de/maerzmusik
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ZEIT FRAGEN
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ZEITFRAGEN

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TIME IS WHAT

HAPPENS WHEN

NOTHING ELSE DOES

Richard Feynman

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Vorwort

Warum haben wir alle so wenig Zeit? Die Erfahrung des Wett-laufs gegen die Zeit, gerade in einer Stadt wie Berlin, ist stets präsent in unserer Gegenwart. Sie wirkt hinein in unsere Wahrnehmung von Kunst und Kultur, und weckt zugleich die Sehnsucht nicht nur nach mehr Zeit, sondern nach anders erfahrbarer, reicherer Zeit.

Das „Festival für Zeitfragen“, wie Berno Odo Polzer es als neuer Leiter von MaerzMusik für die Berliner Festspiele entwickelt hat, nutzt in den nächsten Jahren das Phänomen der Zeit als eine Sonde. Wer sich dem Phänomen der Zeit widmet, hört anders hin, erlebt Räume und die Gesellschaft anders und denkt über Politik neu nach. Musik ist ein Medium, das chronologische und effizienzorientierte Ordnungen sprengen kann und eine alternative Erfahrung und Art zu leben bereithält, dem das Festival in ungewöhnlichen Konzertsituationen und Diskussio-nen nachspürt.

In dem neuntägigen Diskursformat „Thinking Together“ sollen Leben, Kunst und Theorie, Erlebnis und Reflexion konvergieren können, genauso wie in „The Long Now“ über 30 Stunden Bilder, Filme, Raum und Klang im Kraftwerk Berlin verschmelzen. MaerzMusik lädt uns, wie Berno Odo Polzer sagt, in einen Garten von Pfaden, die sich verzweigen, ein: Konzerte, Performances, Installationen, Filmpräsentationen und Diskursformate an verschiedenen Orten Berlins und vor allem rund um das Zentrum im Haus der Berliner Festspiele.

Willkommen in der andauernden Gegenwart: The Long Now.

Thomas OberenderIntendant der Berliner Festspiele

Wir können von der Zeitlichkeit der Kunst viel lernenBerno Odo Polzer im Gespräch Seite 4

10:09 Uhr, die ganze ZeitWarum ist Zeit politisch? Seite 9

Kreative RoutinenTägliche Rituale von Künstlern und Kreativen Seite 12

Der Zeitwert der KunstDas übermalte Wandgemäldein der Cuvrystraße Seite 12

Die Freiheit des Hörens„Liquid Room“: Autonomie über Raum und Zeit Seite 15

Wetten auf die ZukunftÖkonomien des Handelns: „KREDIT“ und „RECHT“ Seite 21

Arbeit, Alltag, AbenteuerDer Komponist Georges Aperghis im Porträt Seite 24

Der unendlich lange Moment„The Long Now“ im Kraftwerk Berlin Seite 27

Kalender Kartenverkauf, Impressum Seite 30

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Herr Polzer, wenn wir den Begriff „Fes-tival“ verstehen als einen – im Wort-sinne ja sogar „feierlich“ – aus dem Alltag herausgehobenen Zeitraum: Was ist dann Ihre Idealvorstellung eines Festivals?Berno Odo Polzer: Idealvorstellung habe ich keine. Klar ist aber, dass ein Festival über die reine (Re-)Präsentati-on hinausgehen, dass es mehr als die Summe seiner Programm-Teile sein muss, auch wenn die darin gezeigten Arbeiten im Mittelpunkt stehen.

Was könnte dieses Mehr sein?Ein Festival ist für mich ein Zeitraum der erhöhten Aufmerksamkeit, der Ver-dichtung und Intensivierung von Erfah-rungen: körperlicher, sinnlicher, geisti-ger und sozialer Erfahrungen. Ich be-greife dieses Format als Instrument der Forschung, der Spekulation und Imagi-

nation, das Wissen generieren und Be-wusstsein schaffen kann. Ein Festival ist für mich auch eine Erzählform, in-nerhalb derer sich Elemente zu einem

beziehungsreichen Gefüge bündeln, das gelesen, interpretiert, weitererzählt werden kann. Festivals interessieren mich als Gestalten in der Zeit, die ihre eigene Struktur und ihren eigenen Rhythmus entfalten: Eine Art von Kom-position oder Assemblage im Stadt-raum. Festivals sind aber vor allem auch Räume der Öffentlichkeit. Sie ver-gegenständlichen Gesellschaft und Gemeinschaft, erzeugen Sichtbarkeit und damit auch Unsichtbarkeit, repro-duzieren und hinterfragen Normen. Deshalb sind Festivals für mich Teil der politischen Sphäre, selbst wenn sie nicht explizit politischen Inhalts sind.

Was ist für Sie ein gutes Festival?Eines, das den Wert meiner dort ver-brachten Zeit respektiert. Eines, das mich provoziert und mich weiterbringt, mich neue Dinge entdecken und ver-stehen lässt. Wenn ich als Festivalbesu-cher den Eindruck habe, dass mir Zeit gestohlen wurde, bin ich auf keinem guten Festival gewesen. Und als Festi-valmacher versuche ich, mit den ge-nannten Aspekten zu arbeiten, diese Imaginationen in reale Räume und Zei-ten zu übersetzen.

Und wo bleibt das Feierliche?Die ursprüngliche Bedeutung des Wor-tes Festival, die Sie ansprechen, und die auf Kirchenfeiertage zurückgeht als Pe-rioden des Festlichen, Glanz- und Freud-vollen, schwingt heute wohl immer noch mit. Erstaunlicherweise, möchte man fast sagen, angesichts der seit den 80er-Jahren explodierenden Zahl dieser

Ausnahmezustände. Festivals sind in-zwischen eher die Regel als die Ausnah-me. Was Guy Debord in seiner Analyse der „Gesellschaft des Spektakels“ in den 60er-Jahren formuliert hat, ist relevan-ter denn je: Das Festival scheint als For-mat prädestiniert zu sein, einen Lebens- und Produktionsmodus darzustellen, der vom Versprechen des Einzigartigen und Spektakulären als redundantem Verkaufsargument lebt und dabei doch sehr viel Gewöhnliches hervorbringt im Interesse des Konsums. Ganz ehrlich: Ist Ihnen zum Feiern um seiner selbst willen zumute? Wir brauchen Festivals, die öf-fentliche Orte der Auseinandersetzung und der politischen Imagination sind. Das Feiern stellt sich von alleine ein, wenn Menschen inspiriert und involviert sind.

Nun machen Sie mit Ihrem ersten Pro-gramm die Zeit selbst zum Festi-valthema, ja mehr noch: Die Maerz-Musik wird, so ihr neuer Untertitel, zu einem „Festival für Zeitfragen“. Warum?Das Phänomen Zeit ist faszinierend: nicht definierbar, irreduzibel und jedem gleichermaßen zugänglich. Diese wider-ständigen und egalitären Eigenschaf-ten interessieren mich sehr. Hier setzen die Zeitlichkeiten von Kunst, Musik, Performance, Film und Fiktion an, die sich der Chronologie, dem Zeitma-nagement, der Verwertungs- und Effi-zienzorientierung entziehen. Ich denke, wir können von der Zeitlichkeit der Kunst viel lernen. Zeit ist aber vor allem auch eine zentrale Kategorie des Politi-schen, und das heißt: etwas, das uns

Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Musik: Ein Gespräch mit Berno Odo Polzer, dem neuen künstlerischen Leiter von MaerzMusik – Festival für Zeitfragen. Von Carsten Fastner

„WIR KÖNNEN

„Wir brauchen Festivals, die öffentliche Orte

der Ausein andersetzung und der politischen Imagination sind.”

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VON DER ZEITLICHKEIT DER KUNST VIEL LERNEN”

alle angeht, weil es im Kern die Frage berührt, wie wir leben, arbeiten und produzieren wollen. Ich bin davon über-zeugt, dass der Faktor Zeit immer mehr ins Zentrum eines Konflikts rücken wird, bei dem es um Emanzipation und Selbstbestimmung, aber auch um Zu-sammenleben und Produktionsweisen gehen wird. Frei ist, wer frei über seine Zeit verfügen kann; Macht hat, wer das Tempo und den Rhythmus vorgibt. Diese alten Konflikte nehmen in unserer Ge-genwart neue Gestalt an, einer Gegen-wart, die vom Verschwinden der Zu-kunft und von Gleichzeitigkeit, von glo-baler Vernetzung und technologischer Beschleunigung gekennzeichnet ist.

Wie stellt sich dieser alte Konflikt heute dar?Wir erleben täglich die Symptome von Transformationsprozessen, die im Kern mit Zeit zu tun haben: Zeitarmut in Wohlstandsgesellschaften, soziale Be-schleunigungsphänomene, die Deregu-lierung von Arbeitszeiten, Hochfrequenz-handel an den Finanzmärkten, globale ökologische Katastrophen, die sich in Zeitlupe vor unseren Augen entfalten, ohne dass wir in der Lage zu sein schei-nen, zeitgerecht dagegen vorzugehen. Was wir erleben, sind die Konflikte und Reibungen zwischen den unterschiedli-chen Zeitlichkeiten von Natur, Mensch, Maschine, Informationstechnologien und Kapital. Und diese Divergenzen sind eine der großen Herausforderun-gen sowohl für Individuen als auch für soziale und politische Gefüge der Zukunft.

Andererseits erleben wir eine Wertever-schiebung, in der Zeit nicht mehr in ers-ter Linie Geld, sondern ganz einfach nur Zeit ist: eine nicht erneuerbare Res-source, etwas wirklich Wertvolles – in gewisser Weise das Einzige, was wir wirklich haben. Jacques Attali hat das schön formuliert: „Nichts ist rar. Das einzig Rare ist Zeit. Zeit ist der wahre Wert. Wer nicht in der Lage ist, für an-dere wertvolle Zeit zu erzeugen, wird verschwinden.“Angesichts dieser Veränderungen ist eine Beobachtung wichtig: Unser Kon-zept von Zeit und wie wir sie strukturie-ren, organisieren, verwalten, valorisie-ren und kapitalisieren ist nicht natur-gegeben, sondern historisch gewachsen und damit veränderbar. Das Politische von Zeit setzt dort an: zu realisieren, dass wir sie anders imaginieren, anders praktizieren können, dass unser Um-gang mit Zeit bis zu einem gewissen Grad in unserer Macht steht.

Das Thema Zeit liegt also in der Zeit?Es findet gegenwärtig ein breites Nach-denken über das Phänomen Zeit statt. Nicht nur in wissenschaftlichen Diszip-linen, in der Philosophie, in Politik- und Sozialwissenschaften, sondern auch in Bewegungen, die an zeitbezogenen po-litischen Strategien wie Entschleuni-gung, Akzelerationismus oder Commo-ning Times arbeiten. Der Faktor Zeit wird in den unterschiedlichsten Kon-texten in einem neuen, politisierten Licht betrachtet. Zeit ist kein Spezi-althema für Fachleute, sondern das Medium, in dem sich unser aller Leben

entfaltet. Jeder hat einen einzigartigen Zugang zu diesem Medium.

Und was hat all das nun mit einem Festival zu tun?Festivals selbst sind Zeugnis des menschlichen Zeitbewusstseins: Von prähistorischen Ritualen zu den Son-nenwenden bis hin zu Kirchenfeierta-gen – zyklisch wiederkehrende Festivi-täten waren und sind Teil kollektiver Er-innerungsarbeit, die uns die Zeit selbst bewusst und damit handhabbar macht.

Welche Möglichkeiten bietet das Fes-tivalformat, diese Zeitfragen zu untersuchen?Es ermöglicht das Komponieren mit un-terschiedlichen Erlebnis-, Wahrneh-mungs- und Reflexionsformen und mit

„Ich bin davon über­zeugt, dass der Faktor Zeit immer mehr ins Zentrum eines Konflikts rücken wird, bei dem es um Emanzipation und Selbstbestimmung gehen wird.”

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unterschiedlichen Zeitlichkeiten. Daher ist es ideal geeignet, sich diesem viel-schichtigen Thema Zeit anzunähern. Die jeweiligen Eigenzeiten der künstle-rischen Arbeiten, die subjektive Erleb-niszeit jeder einzelnen BesucherIn lassen sich in Beziehung setzen zu Reflexions-räumen in Theorie- und Diskursforma-ten. Kunst, Lebenserfahrung und Theo-rie sollen bei diesem „Festival für Zeit-fragen“ konvergieren.

Sie sprechen von Thinking Together.Das ist das zentrale Projekt für Diskurs, Theorie und Spekulation innerhalb des Festivals – ein Ort für Begegnungen und gemeinsames Nachdenken. Wir haben internationale Gäste aus den Bereichen Philosophie, Kultur-, Politik- und Sozial-wissenschaften, aber auch KünstlerIn-nen und AktivistInnen eingeladen, die sich in ihrer Arbeit mit Zeit auseinan-dersetzen. Neun Tage lang steht das Haus der Berliner Festspiele als öffent-lich und frei zugänglicher Ort zur Verfü-gung. Das Projekt beginnt am Eröff-nungswochenende mit einer dreitägi-gen Konferenz zum Politischen von Zeit, danach fächert es sich auf in informel-le Seminare, Lectures, Lesungen, Dis-kussionsrunden, Präsentationen, Work-shops, Arbeits- und Lesegruppen. Jen-seits der üblichen Formen der (Re)Präsentation von Wissen wollen wir uns die Zeit für Gedankenreisen nehmen.

Worum soll es bei Thinking Together konkret gehen?Wir werden nachdenken über das Zeit-regime der Moderne und seinen derzei-tigen Niedergang; über kapitalistische Zeit und die Verbindungen zwischen Zeit, Schuldenpolitik und Finanzialisie-rung, die das neoliberale Milieu prägen, in dem wir leben; über die Zusammen-hänge zwischen Rhythmus, Macht und Globalisierung; über Zeitregime als Mittel der postkolonialen Machtentfal-tung. Wir werden über Streik, postkapi-talistische Zeitlichkeiten, über die Ver-schwenden von Zeit und Verlangsa-mung nachdenken und an zeit- bezogenen politischen Strategien und Imaginationen arbeiten. Queer-theo-retische und feministische Zeitver-ständnisse werden ebenso eine Rolle spielen wie postkoloniale Visionen von Zeit. Es wird aber nicht zuletzt auch um Zeit in den Künsten gehen, insbesonde-re in der Musik, aber auch in der bilden-den Kunst, Film und Performance. Wir werden an einer Bibliothek lebendiger Bücher sowie an Zeitkapseln arbeiten, die mit einer unbekannten Zukunft kor-respondieren, und vieles mehr. Das Pro-gramm ist dicht und vielschichtig und lässt sich hier leider nicht komplett darstellen. Aber ich freue mich beson-ders auf Gäste wie Antonio Negri, Mau-rizio Lazzarato, Aleida Assmann, Rana-bir Samaddar, Pascal Michon, Diedrich Diederichsen oder Mark von Schlegell, um nur einige zu nennen.

Die Gretchenfrage: Was hat das alles mit Musik zu tun? Dass die Macht der Musik auch mit ih-rem Verhältnis zur Zeit zu tun hat, ist nichts Neues. Dass Musik gestaltete Zeit ist, muss nicht extra betont wer-den. Jedes Stück Musik lässt uns die Tiefe subjektiver Zeitwahrnehmung spüren. Wenn es stimmt, dass die Zeit das Sein des Subjekts selbst ist, wie He-

gel gesagt hat, dann berührt Musik als Zeitkunst das Subjekt in seinem eigens-ten Medium. Es ist die gelebte Zeit, die in der Musik greifbar und spürbar wird: nicht reduzierbar, nicht komprimierbar, nicht objektivierbar.Musik soll in diesem Festival nicht als Il-lustration gesellschaftspolitischer Zeit-fragen missbraucht werden. Sie soll für sich stehen und ihre Eigenzeit entfal-ten. Ebenso wenig sollen umgekehrt Theorie und Diskurs die Zeitlichkeit von Kunst erklären. Zeiterfahrung und Zeit-reflexion stehen als komplementäre Räume nebeneinander und sind durch vielfältige Beziehungen miteinander verbunden. Das Interessante an der Konfrontation von künstlerischen, poli-tischen, wirtschaftlichen und sozialen Zeitbegriffen und -praktiken besteht gerade darin, dass dadurch Differenzen sichtbar werden.

Sehen Sie in der Musik unserer Zeit künstlerische Positionen, die sich expli-zit mit Zeitfragen auseinander setzen?Natürlich, und solche expliziten künst-lerischen Bezugnahmen auf Zeitfragen gibt es auch im Festival. Um nur vier Beispiele zu nennen: Wenn Morton Feldman ein fünfstündiges Streich-quartett komponiert, dann ist dies eine bis heute radikale Geste, die Wahrneh-mungsgewohnheiten, den Konzertbe-trieb und die Hörer explizit herausfor-dert und mit einem einmaligen Erlebnis beschenkt. Wenn Peter Ablinger in „TIM Song“ die telefonische Zeitansage der BBC zum Text einer Komposition macht, die bei jeder Aufführung die Realzeit vor Ort angibt und damit die Eigenzeitlich-keit des Konzerts planmäßig bricht, dann adressiert er damit explizit Zeit-fragen. Wenn Menschen in Mette Ed-vardsens Projekt „Time has fallen as-leep in the afternoon sunshine“ ganze Bücher auswendig lernen, um sie ein-zelnen Zuhörerinnen und Zuhörern in

„Zeit ist kein Spezial­thema für Fachleute,

sondern das Medium, in dem sich unser aller

Leben entfaltet.”

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einer Situation großer Intimität vorzu-tragen, dann verletzt sie damit die Ge-setze von Zeiteffizienz und Kosten-Nut-zen-Rechnungen. Und wenn schließlich Daniel Kötter und Hannes Seidl in ihrem Musiktheaterprojekt „RECHT“ die Spe-kulationsmechanismen an den Finanz-märkten thematisieren, die die Gegen-wart zur Geisel einer unbestimmbaren Zukunft machen, dann setzen sie sich explizit mit einer zeitbezogenen Proble-matik der Gegenwart auseinander.

Am unmittelbarsten und eindrücklichs-ten musikalisch erfahrbar wird das Phänomen Zeit wohl beim Abschluss des Festivals, bei „The Long Now“.Der Titel spricht eigentlich für sich. Als ich das Projekt zu konzipieren begann, nannte ich es „Chronosphäre“ – was mir vorschwebte, war eine Zeitblase, eine Situation, in der sich Zeit selbst entfal-ten kann, die Wahrnehmung von Zeit sich verändert, in der die Zeit stillsteht, ein Ort, der sich gegenüber der getak-teten Welt abgrenzt und an dem man sich verlieren kann. Als ich Dimitri He-gemann und das Kraftwerk Berlin ken-nenlernte, war sofort klar, dass es dafür keinen besseren Ort gibt. Gemeinsam mit den Kuratoren von Berlin Atonal,

Laurens von Oswald und Harry Glass, haben wir das Projekt dann weiterent-wickelt zu einer audiovisuellen Kompo-sition in Raum und Zeit, die den Ta-ges-Nacht-Rhythmus genauso hinter sich lässt wie Stil- und Genregrenzen. Das Projekt beginnt am 28. März um 18:00 Uhr und erstreckt sich bis zum 29. März um Mitternacht. In den dreißig Stunden von „The Long Now“ werden Konzerte, Film- und Klanginstallatio-nen, audiovisuelle und elektronische Live-Acts zu einem langen Moment ver-schmelzen. Zu den beteiligten Künst-lern zählen Morton Feldman und das Minguet Quartett, Phill Niblock, Zinc and Copper Works, Nelly Boyd, FM Ein-heit, Leif Inge, Thomas Köner, Eric Holm, Mix Mup & Kassem Mosse, Mika Vainio, Actress und andere. Es soll ein Fest der Zeit werden, eine künstlerische Extremerfahrung. Die Besucher sind eingeladen, sich diesem Zeitraum ganz hinzugeben, über Nacht zu bleiben, hier zu frühstücken. Für Feldbetten, Es-sen von Big Stuff Smoked BBQ und alles weitere ist gesorgt.

Das Festival eröffnet am 20. März um 09:42 Uhr. Weshalb diese seltsame Uhrzeit?Genau gesagt sogar um 09:42:38 Uhr – nämlich zum Beginn der partiellen Son-nenfinsternis, die Berlin gegen 11 Uhr zu 75 Prozent verdunkeln wird. Ein schöner Zufall, den wir gleich als Anspielung auf die kosmischen Anfänge menschlicher Zeitrechnung nehmen. In den Zeitraum des Eröffnungsprojekts „Liquid Room“ fällt dann auch der astronomische Frühlingsbeginn am 20. März um 23:45 Uhr. Und am letzten Festival-Tag, wäh-rend „The Long Now“, findet die Zei-tumstellung auf Sommerzeit statt: Am 29. März um 2:00 Uhr werden die Uhren um eine Stunde vorgestellt – eine ganz andere, un-kosmische Manipulation der Zeit. Für manche Projekte von „The

Long Now“ stellt dies ein echtes Prob-lem dar, wie z. B. für Leif Inges 24-stün-dige Klanginstallation „9 Beet Stretch“: Nach welchen Zeitkoordinaten soll man sich richten? Nach der willkür-lich-menschlichen Sommerzeitrege-lung oder nach dem uniformen Weiter-fließen der Realzeit?

Eine Manipulation wie die Sommerzeit bringt auch das Politische von Zeit nochmals schön zum Ausdruck.Genau. Die Sommerzeit ist ein Relikt des Ersten Weltkriegs und wurde aus kriegsökonomischen Überlegungen he-raus erstmals im Jahr 1916 eingeführt, um Energie zu sparen bzw. mehr Ener-gie in den Krieg investieren zu können. Allgemein eingeführt wurde diese Re-gelung dann in den Ländern der dama-ligen Europäischen Gemeinschaft ab 1977 als Reaktion auf die Ölkrise von 1973. Die kurios schöne Formulierung der Bestimmung zur erstmaligen Ein-führung im Deutschen Reich ist es wert, zitiert zu werden: „Der 1. Mai 1916 be-ginnt am 30. April 1916 nachmittags 11 Uhr nach der gegenwärtigen Zeitrech-nung.“ Es darf bezweifelt werden, dass dies auf Anhieb geklappt hat. Aber der Krieg ging trotzdem weiter.

„Es ist die gelebte Zeit, die in der Musik greifbar und spürbar wird: nicht reduzierbar, nicht komprimierbar, nicht objektivierbar.”

Berno Odo Polzer. Foto: Lucie Jansch

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Patricia Reed, „Perfect Present“ (2013). Foto: Cassander Eeftinck Schattenkerk. Mit freundlicher Genehmigung von Witte de With Center for Contemporary Art, 2014

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10:09 Uhr, die ganze

ZeitB

efragt man Bild-Datenbanken wie Dreamstime und Depo-sitphotos nach der Unmög-lichkeit, die Zeit darzustellen, zeigen sie hunderte Bilder von Uhren an, zumeist von analogen Weckern, Arm-

banduhren und altmodischen Taschenuhren. Das aber wirft sofort ein Problem auf: Das Foto eines Zifferblatts kann nur eine einzige Zeit zeigen; stecken wir jedoch in einer ein-zigen Uhrzeit fest, dann – so sagt uns unser gesunder Menschenverstand – muss die Zeit aufgehört haben zu existieren. Die Darstel-lung setzt also das, was sie darstellen will, außer Kraft. Zudem stellt sich die Frage, ob man die Zeit selbst mit den derzeitigen In-strumenten ihrer Messung verwechseln sollte.

Da uns aber keine anderen zufriedenstel-lenden Darstellungsweisen der Zeit zur Ver-fügung stehen, nehmen wir uns hier die Zeit, darüber nachzudenken, was die Abbildung einer Uhr heute bedeuten könnte.

Die Europäer begannen vor weniger als tau-send Jahren, ihre Zeit mithilfe von Uhren zu regulieren. Die Bedeutung dieser automati-sierten Apparate sollte nicht unterschätzt werden; zahlreiche Historiker weisen darauf hin, dass die Einführung einer säuberlich

unterteilten und allgemein eingehaltenen Zeit mit der Entwicklung des kapitalisti-schen Systems einherging und das Zeitalter des Imperialismus ermöglichte. Die Unter-werfung von und der Handel mit immer größeren geographischen Gebieten erfor-derten eine immer genauere Zeitmessung. Uhren unterstützten die Organisation von Arbeit und den Betrieb von Eisenbahnen. Sie säkularisierten, rationalisierten und standardisierten die Zeit. Über das Ziffer-blatt der Uhren gespannt, wurde die Zeit verflacht und in einheitliche Stücke geschnitten und so bereit gemacht zu ihrer Instrumentalisierung.

Früher wurde Zeit wie Geld behandelt: in präzise regulierten, abstrakten, neutralen numerischen Einheiten. Wie das Geld war auch sie auf eine kontrollierte Zukunft hin orientiert. Man ließ sie arbeiten, sie näherte sich durch Anschaffungen und Rücklagen-bildungen an Gewinn und Kredit an (oder an deren unvermeidliche Korrelative, Ver-lust und Schulden). Mitte des 19. Jahrhun-derts beschrieb Charles Dickens‘ Roman „Hard Times“ („Schwere Zeiten“) nicht nur „Zeiten der Härte“, sondern auch die „Verhärtung der Zeit selbst“ zu rigiden, austauschbaren Segmenten.

Dieser Roman, erschienen als wöchentliche Serie, spielte in Coketown, einer fiktionalen Abbildung von Preston, der Tex-

tilstadt in Lancashire, die sowohl Dickens als auch Karl Marx in den frühen 1850er-Jah-ren besuchten. Für die Einwohner von Coke-town war „ein jeder Tag wie gestern und morgen und jedes Jahr wie das Gegenstück des vergangenen und des nächsten“. So schreibt Dickens und evoziert damit die Monotonie und Austauschbarkeit der Zeit im Industrialismus. „Die Zeit bewegte sich in Coketown wie dessen Maschinen: so viel Stoff verarbeitet, so viel Brennmaterial ver-braucht, so viele Kräfte abgenützt und so viel Geld gemacht.“

In seiner Polemik gegen das, was er „die Tyrannei der Uhr“ nannte, beobachtete der Anarchist George Woodcock im Jahr 1944, dass die Homogenisierung und mechanische Messbarkeit der Zeit durch die Uhr die Kör-per der Arbeiter dazu zwang, deren unauf-hörliches Ticken zu befolgen und zu verkör-pern. In seinen Worten war die Uhr „das Instrument, mithilfe dessen die Regulierung und Reglementierung des Lebens, die für ein ausbeuterisches Industriesystem nötig waren, am besten erreicht werden konnten“. Ikonische Bilder der Angst, die durch die

Warum ist Zeit politisch?

Von Amelia Groom

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tyrannischen Forderungen der Uhr nach Pünktlichkeit und Produktivität erzeugt wird, finden sich auch im Kino der Zwischen-kriegszeit. So ringt zum Beispiel in Fritz Langs „Metropolis“ (1927) der Held Freder verzweifelt mit den übermächtigen und gleich gültigen Zeigern einer riesigen Fabrik-uhr und nimmt am Ende die Haltung eines auf dem Zifferblatt Gekreuzigten ein. Auch Charles Chaplins Tramp leidet in „Modern Times“ (1936) unter den körperlichen und psychischen Folgen der seelenlosen und unmenschlichen Beschleunigung am Fließ-band. Der Film zeigt einen menschlichen Kör-per, der auf tragische Weise asynchron zu den mechanisierten „modernen Zeiten“ lebt, die ihn umgeben. Im Vorspann sehen wir die unheilvolle Großaufnahme einer un-barmherzig tickenden Uhr.

Die Angst vor dem Diktat der Uhr durchzieht die populäre kulturelle Vor-stellungswelt des gesam-

ten 20. Jahrhunderts. Der Titel des Films „9 to 5“ aus dem Jahr 1980 könnte von der 9to5 National Asso-ciation of Working Women inspiriert sein, einer Organisation, die 1973 in den USA mit dem Ziel gegründet wurde, die Arbeitsbedingungen weiblicher Büroangestellter zu ver-bessern. Die Anfangssequenz besteht aus Bildern von Weckern und nervö-sen berufstätigen Frauen, die ins Büro hetzen, wo sie weniger verdienen als ihre männliche Kollegen, die sie dar-über hinaus sexuell belästigen und ihre Ideen stehlen.

„Egal, wie sie es nennen, es ist ein Spiel der reichen Männer“, singt Dolly Parton in dem Titelsong, den sie für den Film schrieb, „Du verbringst dein Leben damit, Geld in seine Taschen zu stecken“. Gleich zu Beginn des Films wird darauf angespielt, dass Gewerkschaften verboten sind; aber den drei weiblichen Hauptfiguren gelingt es, die Arbeitsbedingungen zu ver-bessern, indem sie Kinderbetreuung und flexiblere Arbeitszeiten einführen. In ihren Bemühungen geht es zumeist um die Selbst-bestimmung der eigenen Zeit. Als eine ihrer ersten Handlungen, nachdem sie den fiesen chauvinistischen Chef beseitigt haben, schaf-fen sie die Stechuhr ab, damit die Beschäf-tigten sich nicht mehr an- und abmelden müssen. Es überrascht nicht, dass der Film sich nicht zu einer wirklichen Strukturkritik durchringt und letztlich die kapitalistischen Ideale fortwährend steigender Produktivi-tät und Ausbeute bekräftigt. Konzerne wie Google haben inzwischen verstanden, dass

Flexibilität und Spaß bei der Arbeit zu grö-ßerer Effizienz der Belegschaft führen. Die disziplinarischen Mechanismen der Stechuhr zu entfernen, ist also nicht sonderlich sub-versiv, solange ihre Grundprinzipien von Ausbeutung und Knechtschaft nur in neuen Formen wiederhergestellt werden. Wir müs-sen uns fragen, was mit der Stechuhr passiert, nachdem Dolly Parton und ihre Mitkämpfe-rinnen sie aus dem Büro verbannt haben. Übrigens begann der taiwanesische Künstler Tehching Hsieh 1980 – im gleichen Jahr, in dem der Film erschien und Partons Hymne in den Radios lief – die Arbeit an seinem „Time Clock Piece“, einer Performance, bei der er ein ganzes Jahr lang Tag und Nacht in seinem Studio zu jeder vollen Stunde eine Stechuhr bediente. In einem großstädtischen,

postfordistischen Kontext, in dem das Bild rigider Zeitkontrolle fast schon ein Ana-chronismus ist, könnte uns Hsiehs aufwän-dige Darstellung des andauernden Ankom-mens vielleicht sagen, dass die Beseitigung der Stechuhr zur Folge hatte, dass der Arbeits-tag nun nicht mehr von 9 to 5 andauert, sondern die ganze Zeit.

Die ganze Zeit wird zunehmend zur üblichen Erfahrung von Zeit in der Arbeitswelt. In den vergangenen Jahren wurde immer wieder beobachtet, wie der wachsende Bedarf des Kapitals an immaterieller Arbeit dazu führt, dass Dauer und Ort der Arbeit nicht mehr

klar eingegrenzt werden. Die Arbeit findet zunehmend nicht mehr am Arbeitsplatz statt, sondern, wie Maurizio Lazzarato schreibt, „draußen in der Gesellschaft“. Daraus folgt, dass die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit unscharf werden: „Der Kapitalismus beutet nicht mehr nur die ,Arbeitszeit’ aus, sondern die Lebenszeit.“

Für die Mehrzahl derer, deren Arbeits - inhalt mit Information oder Kultur zu tun hat, gibt es kein Ein- oder Auschecken an der Stechuhr mehr.

Wir können immer und überall arbeiten, aber es besteht das Risiko, dass wir nie nicht arbeiten. Wie bei früheren Arbeitsformen hängt auch diese von einer bestimmten Ausstattung ab: Weil ich meinen Desktop

überallhin mitnehmen kann, tue ich das auch meistens. Wir dachten einmal, die beinahe Gleichzeitig-keit der E-Mail würde uns freie Zeit bescheren, aber irgendwie fressen E-Mails heute nahezu meinen ganzen Tag auf und knabbern an meinen Nächten. Die Hauptauswirkung die-ses „Die ganze Zeit” ist das tiefgrei-fende Gefühl, nie genug Zeit zu haben.

Und was bedeutet all dies nun für unsere Uhren? Die Einführung der Apple Watch legt nahe, dass Uhren die konventionelle Zeit nicht mehr anzeigen müssen. Anstatt einfach Stunden und Minuten zu markieren, versprechen uns diese Geräte endlose Beschäftigung mit kleinstteiligen Auf-gaben: Wir müssen unsere E-Mails, Herzfrequenzen, Wettervorhersagen und Börsenwerte checken, Spiele spielen, Updates posten, liken und teilen. Die neue smarte Uhr sollte als Bild der zeitlichen Fragmentie-rung betrachtet werden: konstante Verfügbarkeit in Verbindung mit zersplitterten Aufmerksamkeits-spannen. Wir tragen die Ablenkung am Handgelenk, mit individuell an-gepassten Armbandfarben.

Aber dann fiel mir etwas Merkwürdiges auf: Auf allen Werbebildern der Apple Watch wird die gleiche Zeit abgebildet. Ob digitales oder „analoges“ Zifferblatt, es ist immer 10:09 Uhr. Augenscheinlich handelt es sich dabei um eine eingeführte Konvention der Uhrenwerbung. Die meisten großen Marken stellen bei den Bildern, mit denen sie ihre Uhren verkaufen wollen, die Zeit auf neun Minuten nach zehn. Im Internet fand ich eine Erklärung: Dies sei der „kreative Stan-dard“ der Branche – ein hübsches Oxymo-ron, wie ich fand.

Tehching Hsieh, „One Year Performance” (1980–1981).Foto: Michael Shen. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und der Sean Kelly Gallery, New York

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Teure Schweizer Uhren werden gewöhnlich von Ikonen der Hochleistung beworben, wie zum Beispiel Tiger Woods (für TAG Heuer) und James Bond (für Omega). Oft werden dabei Vorstellungen von mechanischer und menschlicher Kraft und Effizienz evoziert – so ist zum Beispiel der Werbeslogan für die Eco-Drive-Uhr von Citizen: „Unstoppable. Just like the people who wear it.“ („Nicht aufzuhalten. Genau wie die Menschen, die sie tragen“). Wie eigentümlich, dass uns die Werbung bei der Aufforderung zum Konsum dieser kinetischen Gegenstände, die entwickelt wurden, um den kontinuierli-chen Verlauf zeitlicher Einheiten zu markie-ren, einen umfangreichen Katalog von Bil-dern präsentiert, auf denen die Zeit seit Jahrzehnten stillzustehen scheint.

Stillstand bei 10:09 Uhr, ungefähr der Zeit, zu der sich die 9 to 5 Büro-angestellte auf ihre erste Kaffee-pause freut. Aber das war ja unser

Ausgangsproblem: Wenn es immer die glei-che Uhrzeit ist, dann hat die Zeit ihre Bedeu-tung verloren. Wohin ist die Bedeutung unserer Zeit verschwunden? Wie können wir die Zeit wiederbeleben und zurück-erobern? Und wie sollen unsere Uhren aus-sehen? „The Ecliptic“ (2014) ist eine nicht- numerische Uhr der Gruppe Raqs Media Collective aus Delhi. Auf dem hier gezeig-ten Foto wurden die kinetischen Dimensio-nen des Gegenstands entfernt und er wurde damit in der „freien Zeit“ festgehalten, eine der verschiedenen Zeiten, die auf dieser Uhr in LED-Leuchten angezeigt werden. Aber die Worte „free time“ haben ihrerseits auch eine Zeithaftigkeit: eine Zeit ohne Verpflichtungen, eine Zeit, die kostenlos zur Verfügung gestellt wird.

Und dann lesen wir die Worte als Imperativ, als direkte Aufforderung, unsere Zeit zu befreien, sie von der Instrumentalisierung zu erlösen. Die Zeit wird nicht länger fest-genagelt, sondern befreit, um als aktive Kraft der Veränderung und des Entkommens zu wirken.

Vortrag Amelia Groom: 22. März, 12:00 Uhr, Haus der Berliner Festspiele.

Die Grenzen zwischen Arbeits­ und Freizeit werden zunehmend unscharf.

Raqs Media Collective, „The Ecliptic“ (2014). Foto: Raqs Media Collective

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Schlaf

Schlaf

Kurzer Schlaf

Kurzer SpaziergangFrühstück

Briefe lesen

Frühstück, Bartpflege

Kaffee kochen, Frühstück

Lesen und Fachartikel schreiben

Familiäres Abendessen, Kartenspiele

oder Spaziergänge

Spaziergang

Bad und Besuche empfangen

Schlaf

Kurzer Schlaf

Essen, Wein trinken

Körperliche Übungen

Wissenschaftliche Lektüre

Nachdenken im Bett

Arbeit

Spaziergang

Patientenanalyse

Komponieren

Schreiben

Muße, kleines Essen und Spiele mit Ehefrau Emma

Schlaf

Konzentrierte Arbeit

Patientenbesuche und Analyse

Zeitungslektüre im Gasthaus Einfaches Abendessen,

Bier trinken, Pfeife rauchen

Schreiben, dabei viel Kaffee trinken

ArbeitHund ausführen

Mittagessen

Zeitungslektüre, Briefe schreiben

Spaziergang auf der Wiener Ringstraße

Mittagessen

Hauptarbeit Bewegung Gelderw

erb

Stu

dien

Fr

eizeit Schlaf

Sigmund Freud (1856 – 1939)Psychoanalytiker

Charles Darwin (1809–1882)Naturforscher

Ludwig van Beethoven (1770–1827)Komponist

Honoré de Balzac (1799–1850)Schriftsteller

Unberührbare Zeit, Kochen und Essen mit Familie

Quelle: Mason Currey, „Daily Rituals” (Knopf, New York 2013); eigene Recherche.

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Komponieren

Schreiben

Joggen

Arbeit, Meetings

Kaffee trinken, Bad

Schreiben und Zigaretten rauchenLesen

Besucher empfangen, lesen oder Schallplatten hören

SchlafSchlaf

Essen und Freunde treffen

Unterrichten, Studenten betreuen, Veranstaltungen organisieren

Mittagessen

Unterricht geben

Tee mit der Familie

Kurzer Schlaf

Mittagessen, Zigarre rauchen

Anziehen

SchlafSchlaf

Freizeit mit Ehefrau Constanze

Artikel verfassen

Spaziergang

Duschen, Joggen, Frühstück

Frühstück

Komponieren

E-Mail-Korrespondenz Besuch von Veranstaltungen

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Amelia Groom, „timeless “ (2015)

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DER ZEITWERTDER KUNST

Jeder, der schon einmal von einer Hausratsversi-cherung Gebrauch machen musste, wird mit dem versicherungstechnischen Terminus des „Zeitwerts“ vertraut sein. Im Gegensatz zum „Wiederbeschaffungswert“ taxiert er den Wert des Gegenstands zum Zeitpunkt des Verlusts.

Hat der Zimmerbrand also beispielsweise den einwandfreien, jedoch längst veralteten Fernse-her erwischt, dürfte die erstattete Summe gering ausfallen und kaum für eine Neuanschaffung ausreichen.Mit der Kunst, insbesondere mit öffentlicher Kunst, verhält es sich oft genau andersherum: Die Werke und Bilder, die Künstler in den Alltag unserer Städte einfügen, gewinnen ihren Wert erst mit der Zeit. Das Umfeld, persönliche Erfah-rungen und historische Ereignisse schreiben sich in die Arbeiten ein, lassen sie zu den individuellen Erinnerungsor-ten werden, die auch eine Stadt ausmachen.

Interessante Kunst bietet vielfältige Möglichkeiten einer Inter pretation und persönlichen Bindung. Deshalb funktio-niert sie auch so gut als Informationsträger für den Einzel-nen oder als Vehikel für groß angelegte Marketingkampag-nen, ganz gleich, ob diese nun einen Turnschuh, eine Punkband oder eine ganze Stadt bewerben. Ein Wandge-mälde wie das von Blu in der Cuvrystraße fängt im besten Fall den Zeitgeist ein, reift als Zeuge von Ereignissen und auch durch seine unfreiwillige Verwertung. Man könnte sogar annehmen, dass die Kunst – im Zeitalter ihrer imma-teriellen visuellen Verwertbarkeit – mit dem Zeitwert sogar eine Art Gebrauchswert entwickelt und so etwas wie einen „aesthetic exchange value“.

Der Zeitwert der Blu-Gemälde zum Zeitpunkt ihres Verlusts war hoch. Nachdem wir sie 2007 und 2008 unbefangen auf die beiden Brandwände in der Cuvrystraße gepinselt hatten, verselbstständigten sich die Motive ganz unabhängig von der Absicht ihres Schöpfers. Sie wurden zum Sinnbild einer Berliner Ära: Der Künstler als Freiraumpionier, Berlin unter dem Mantra des „arm, aber sexy“, die hitzige Debatte um ein „Recht auf Stadt“, die beinahe ideologisch geführte Diskussion um die Bebauung der Spreeufer, die Entstehung der informellen Siedlung auf der Cuvrybrache, das Ver-schwinden der Freiräume und das Selbstverdrängen der Künstler, deren Werke die Werbebroschüren der Immobilien-unternehmen schmücken – alles ist enthalten.

Von Lutz Henke

Die beiden Bilder werden zum Archiv. Die Ereignisse und Vorstellungen eines ganzen Jahrzehnts haben sich in die-ser Zeitkapsel gespeichert. Exemplarisch fungieren sie als Momentaufnahme, ja Chiffre einer Epoche.

Auch die Schwärzung ist nun Teil dieser Chiffre. Bereits bei der Entstehung beider Wandge-mälde gab es die Absicht, sie wieder zu über-malen oder zu verändern. Die Entscheidung

darüber fiel mit Rücksicht auf den Zeitpunkt – gemeinsam mit dem Künstler Blu, aber vor allem mit einer ganzen Gruppe von Akteuren, denen die Übermalung, nach reiflicher Über-legung, ein Anliegen war und als ein Gewinn erschien: fruchtbar als Werkzeug, um die Ereignisse und Prozesse zu veranschaulichen und mit einer breiten Öffentlichkeit zu diskutieren.

Das gemeinsame Nachdenken über diese Zeit und die Fragen, die sie aufwirft, das ist der Kern des Projekts „Precious Time“, das im Rahmen von Thinking Together bei der MaerzMusik stattfindet: Für welche persönlichen und öffentliche Ereignisse standen die Wandgemälde? War das Malen der Bilder ein Fehler? War das Übermalen legi-tim? Existieren die Motive weiter in der Erinnerung und als Phantomschmerz? Kann der Künstler Kontrolle über sein Werk behalten? Gibt es eine Strategie des künstleri-schen Auto-Ikonoklasmus? Welchen Gebrauchswert haben die schwarzen Wände? Können sie helfen, Geschichten zu erzählen oder eine Debatte zu führen?

Aufruf: Die Auseinandersetzung mit den Cuvry-Wand-gemälden im Rahmen von MaerzMusik soll die Grund-lage für eine Publikation sein. Wir bitten um Zusendung von Geschichten und Fundstücken im Zusammenhang mit den Wandmotiven, von Bildmaterial oder Fragestel-lungen an: [email protected]

„Precious Time“: 23. bis 28. März bei Thinking Together Haus der Berliner Festspiele.Vortrag Lutz Henke: 22. März, 13:30 Uhr, Haus der Berliner Festspiele.

Warum der Verlust der übermalten Wandgemälde in der Cuvrystraße auch ein Gewinn ist.

Das übermalte Wandgemälde von Blu in der Cuvrystraße, Berlin. Foto diese und folgende Seiten: Lutz Henke

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Ein Raum, vier Bühnen, zwei Ensembles, über zwanzig Stücke von ebenso vielen zum Teil völlig verschiede-nen Komponisten, und das alles im Verlauf eines ein-zigen Abends. Und das ist

noch nicht alles: Es gibt keine festen Sitz-plätze, sondern tragbare Papphocker, die überall in der Spielstätte herumstehen.

Liquid Room präsentiert zeitgenössische Musik in einem Club-Setting: Die Bar bleibt geöffnet und Sie können als Zuhörer hinein- und hinausgehen, wie es Ihnen passt. Sie können sich aussuchen, wo Sie zuhören, wann Sie zuhören (oder auch nicht) und wie Sie zuhören möchten. Sie können analy-tische Distanz wahren, mit den Augen zuhö-ren (indem Sie die Fingersätze des Pianisten aus nächster Nähe studieren) oder der Mu-sik mit geschlossenen Augen in einer dunk-len, einsamen Ecke lauschen. Sie können aufmerksam oder passiv zuhören, konzen-triert oder abgelenkt, mit oder ohne Bier in der Hand. Liquid Room ist eine freie Zone für musikalische Grenzgänger.

Wie beeinflusst diese Freiheit unsere Einstel-lung zum Zuhören, und wie kann sie unsere Einstellung zur Musik verändern, im Ver-gleich zu der – auch in der Welt der zeitge-nössischen Musik gängigen – ritualisierten und verknöcherten Konzertpraxis, die wir von den Musikliebhabern des 19. Jahrhun-dert geerbt haben?

Beethoven ist totBei dieser Ausgabe von Liquid Room – bereits der sechsten – handelt es sich in der Tat um eine Deluxe-Ausgabe, um die Vereinigung der Kräfte des belgischen Ictus Ensembles

und des deutschen ensembles mosaik. Die Musikerinnen und Musiker von Ictus hin-terfragen schon seit mehr als zwei Jahr-zehnten das traditionelle Konzertformat. Bei Liquid Room geht es ihnen weniger darum, etwas zu behaupten, als darum, einen Raum und einen Moment zu schaffen, in dem sich Musiker und Zuhörer begegnen und ein Musikerlebnis teilen können, das nicht im gezwungenen Verhaltenskodex des 19. Jahrhunderts eingebettet oder gar einbalsamiert ist. Die Konzertsituation wird auf das Wesentliche reduziert: Ich biete Musik dar, du bietest dein Zuhören dar, und wir tun dies im selben räumlichen und zeit-lichen Rahmen.

Jean-Luc Plouvier, der Pianist und künstle-rische Leiter von Ictus, erläutert das Konzept: „Es geht uns darum, dem Publikum die Musik, die wir spielen, so tiefgehend wie möglich zu vermitteln. Alles begann eigent-lich damit, dass uns die Art und Weise, wie zeitgenössische Musik gespielt wurde – und leider immer noch oft gespielt wird – zu Tode langweilte. Sie wissen schon: Zwölf Musiker spielen drei Stücke von je zwölf Minuten, und dazwischen gibt es lange, umständliche Umbauten auf der Bühne. Und die zwölf Zuhörer – vier Musiker, vier Musikwissenschaftler und zwei etwas merk-würdig aussehende ältere Paare – schweigen höflich und warten.“

Das hergebrachte Konzertformat, davon ist Plouvier überzeugt, sei nichts als ein Relikt: „Beethoven ist tot, das 19. Jahrhundert ist vorbei. Und doch ist diese beethoven-sche Mystifizierung der Musik bis heute sehr lebendig. Es gilt noch immer das beina-he schon religiös gefärbte Dogma vom un-ermesslichen Geheimnis der Musik und

vom Komponisten als Propheten, der ver-borgene Wahrheiten enthüllt, die nie ganz, oder zumindest nie direkt verstanden wer-den können.“

Ictus sucht nach Formaten, die einen klaren Schlussstrich unter diese jahr-hundertealte weltliche Religion ziehen und den künstlich aufrechterhaltenen

Abstand zwischen Publikum und Musik aufheben. „Das Publikum kann selbst ent-scheiden, wie groß oder klein dieser Abstand sein soll. Es gibt keine verborgene Wahrheit, die Musik ist durchaus ermesslich, auch wenn sie schwierig ist. Wir erweisen der zeitgenössischen Musik keinen Dienst, indem wir den Zaubernebel, der sie umgibt, noch verdichten, indem wir die Leute in eine Konzertsituation wie in einen Kirchgang zwingen: Man sitzt still, lauscht quasi betend und huldigt der Musik. Liquid Room ähnelt eher einem hinduistischen Tempel mit ständigem Kommen und Gehen als einem katholischen Hochamt. Oder eigentlich ähnelt es überhaupt keinem Tempel. Es ist einfach ein Ort, wo Menschen Musik ent-stehen lassen, indem sie sie spielen und ihr zuhören.“

Mehr als ein GagDie vier Bühnen sind mehr als ein Gag. Sie sind nicht nur die Antwort auf eine dramaturgische Frage – wie kann man zeitgenössische Musik im 21. Jahrhundert sinnbringend vermitteln? –, sondern bie-ten auch die Lösung eines praktischen Problems: Wie können wir ein Programm aus sehr unterschiedlichen Musikarten für sehr unterschiedliche Ensembles realisie-ren? Und zwar ohne die zwangsläufigen Bühnenumbauten, die den Flow des Kon-zerts zerstören?

Die Freiheit desMit dem Konzertformat Liquid Room gibt das Ictus Ensemble dem Publikum die Autonomie über Raum und Zeit. Von Wannes Gyselinck

Hörens

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Mithilfe der vier Bühnen wird eine kontinuier-liche Montage von Stücken mit ganz unter-schiedlichen Instrumenten und Interpreten möglich. Das Zusammenfügen von Programm und Ablauf gleicht daher einem technischen und dramaturgischen Puzzle. „Liquid Room ist ein technischer Albtraum“, erklärt Tom Pauwels, Gitarrist und zweiter künstlerischer Leiter von Ictus. „Alle hundert Kanäle des Mischpults sind im Einsatz, jeder ist mit einem der hundert Mikrofone für die ebenso vielen Instrumente verbunden.“

Aber auch über die Logistik hinaus muss der Abend als künstlerisches Ganzes funktionie-ren, sowohl dramaturgisch als auch intuitiv. Tom Pauwels: „Alle Stücke müssen zur offe-nen und eher formlosen Atmosphäre eines Liquid Rooms passen. Und natürlich muss auch die Gesamtmontage Be-deutung haben. Das soll nicht heißen, dass sie durchweg nahtlos ab-laufen soll: Komponierte und improvisierte Musik, Elektronik und Akusti-sches, disziplinierter Vor-trag und kreischende Bricolage werden über-blendet oder krachen mit voller Kraft aufein-ander. Man braucht einen fast schon makro- kompositionellen Ansatz, der überraschende Kon-tinuitäten und interes-sante Kontraste hervor-bringt. Beispielsweise gewinnt hyperorganisier-te Musik an Bedeutung, wenn sie Improvisationen oder einem Game Piece gegenübergestellt wird.“

Nicht zuletzt hat die räumliche Verlagerung von einer Bühne zur anderen auch Auswirkun-gen auf die Rezeption. Pauwels:

„Sie erlaubt es dem Publikum, seine Hör-muster neu zu organisieren und seinen visu-ellen und akustischen Blick neu einzustellen. Dabei bleibt die Erfahrung des Konzerts im Fluss intakt. Und schließlich muss auch der drama turgische Gesamtbogen über den ganzen Abend hinweg einen Sinn ergeben, denn es ist zwar kaum zu glauben, aber die große Mehrzahl des Publikums hört tat-sächlich vom Anfang bis zum Ende zu.“

Die Paradoxien des NomadentumsLiquid Room wurde unter anderem vom Mailänder Musikfestival Nuove Sincronie inspiriert. Die großartigen Kuratoren Fausto Romitelli und Riccardo Nova, die dieses

Festival wiederbelebten, erklärten die zeit-genössische Musik für tot und im staubigen Mausoleum des bürgerlichen Geschmacks einbalsamiert. Zeitgenössische Musik könne nur überleben und dabei wirklich lebendig sein, wenn sie sich an der Flamme der populären experimentellen Musik (an sich schon eine problematische Beziehung) neu entzünden könne.

Romitelli bezog sich auf „die anonyme Gruppe junger Leute mit Computern“. Liquid Room möchte diese Kontaktzone der experimentellen Musik ausnutzen und die Vorstellung dessen, was zeitgenössi-sche Musik ist, dahingehend erweitern, was sie eigentlich bedeuten sollte: Musik, die als sinnvolles musikalisches Angebot

an ihre Zeitgenossen gemeint ist. Zeitgenössische Musik als Subkultur neben und in Interaktion mit anderen Subkulturen, verbunden mit sich überschneidenden und flüchtigen Netzwerken.

Aber die Metapher der Flüchtigkeit, der Liquidität hat zwei Seiten. Einerseits konno-tiert sie Mobilität, Freiheit und die Emanzi-pation von repressiven, erstarrenden Struk-turen. Andererseits spricht der polnische Soziologe Zygmunt Bauman in „Liquid Modernity“ („Flüchtige Moderne“, 2000) davon, dass die Vorstellung einer flüchtigen Gesellschaft nahelege, dass Individuen sich gleichsam wie lose Partikel bewegen; dass sie wie Touristen durch ihre Zeit, ihre Welt und, letztendlich, ihr eigenes Leben reisen. Sie verschieben also gleichsam ihren Weg-werfhocker aus Pappe von Aussichtspunkt zu Aussichtspunkt.

Bauman argumentiert, dass diese existentielle Form der Nicht- Bindung dem Individuum große Verantwortung aufbürdet. In

Liquid Room tragen die Interpreten und die Zuhörer diese Verantwortung gemeinsam. Das Ensemble zerfällt und fügt sich zu Sub- Ensembles zusammen, die wieder in kleineren Sub-Sphären spielen. Dieses Nomadentum ist jedoch Bestandteil der Selbstverpflich-tung des Ensembles zur Kommunikation.

Die Freiheit des Zuhörers, so zuzuhören, wie es ihm Spaß macht, erfordert aktive Entscheidungen. Das Zuhören wird zu einer eigenen Performance. Paradoxerweise entscheiden sich viele Zuhörer, die leicht an Flucht denken, wenn sie bei einem tra-

ditionellen Konzert zum Sitzenbleiben gezwungen werden, dafür, auf ihrem Papphocker zu bleiben und mit größter Konzentration zuzuhören.

Die Wahrnehmung der Zeit ist relativ, wie wir täglich erleben. Da Musik nichts anderes ist als ausgearbeitete Zeit, nimmt man die Zeit ganz anders wahr, je nachdem ob man gezwungenermaßen auf seinem Platz im Konzertsaal sitzenbleibt oder sich frei bewegen darf. Die Freiheit, sich autonom durch die Spielstätte bewegen zu können, erleichtert die Entscheidung, die Aufmerk-samkeit – zumindest zeitweise – im Zeitab-lauf verweilen zu lassen.

Liquid Room: 20. März, 20:00 Uhr, Haus der Berliner Festspiele.

Mitglieder des Ictus Ensembles. Foto: Ictus

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Wie Ihr mir aufgetragen habt, schreibe ich Euch die folgenden Hinweise, die mir selbst seit langem dienlich sind und die, falls befolgt, so auch Euch dienlich sein können.

Gedenket, dass Zeit Geld ist. Der, der zehn Schillinge am Tag durch seine Arbeit gewinnen kann, und umherschweift oder die Hälfte des Tages Müßiggang hält, auch wenn er nur ein Sixpencestück während seiner Zerstreuung verbraucht hat, sollte nicht meinen, dies sei seine gesamte Aufwendung gewesen; in Wirklichkeit hat er zudem fünf Schillinge ausgegeben oder viel­mehr fortgeworfen.

Gedenket, dass ein Kredit Geld ist. Wenn ein Mann sein Geld in meinen Händen liegen lässt, nach­dem es fällig geworden ist, gibt er mir damit auch die Zinsen oder soviel, wie ich daraus in dieser Zeit machen kann. Dies ergibt eine beträchtliche Summe dort, wo ein Mann guten und hohen Kredit erhalten hat, und diesen auf gute Weise eingesetzt hat. (…)

Gedenket, dass sechs Pfund im Jahr nur ein Groschen pro Tag sind. Für diese kleine Summe an Zinsen, die täglich entweder in Zeit oder in unbemerkten Ausgaben vergeudet werden mag, kann ein kreditwürdiger Mann die Sicherheit

von einhundert Pfund als Besitz und zum eigenen Gebrauch haben. Soviel als Grundkapital, rasch ge­wendet von einem emsigen Mann, kann hohen Gewinn erbringen. (…)

Die geringsten Taten, die den Kre­dit eines Mannes betreffen, sollten beachtet werden. Der Klang Eures Hammers um fünf Uhr am Morgen oder um neun Uhr am Abend, vom Gläubiger gehört, lässt ihn sechs Monate länger beruhigt sein; wenn er Euch aber am Billardtisch sieht oder Eure Stimme in einer Schenke hört, während Ihr bei der Arbeit sein solltet, wird er sein Geld den nächsten Tag holen lassen; er wird es, noch bevor er alle Raten erhalten hat, im Ganzen zurückfordern. (…)

Kurz, der Weg zum Reichtum, wenn Ihr ihn begehrt, ist so einfach wie der Weg zum Markt. Er hängt vor­nehmlich von zwei Wörtern ab: Fleiß und Sparsamkeit; das heißt, weder Zeit noch Geld zu vergeuden, jedoch den besten Nutzen aus beidem ziehen. Der, der alles auf redliche Weise erwirbt, und alles, was er er­wirbt, spart (notwendige Ausgaben ausgenommen), wird gewiss r e i c h werden; falls nicht die Wesenheit, die die Welt lenkt, nach deren Segen für ihr redliches Streben alle trach­ten sollten, in ihrer weisen Vorse­hung es anders bestimmt hätte.

Benjamin Franklin, „Advice to a Young Tradesman“ (1748).

Benjamin Franklin erteilt einem ehrgeizigen Geschäftsmann Unterricht.

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Die Bankiers und Geld-wechsler des Mittelal-ters benötigten für ihre Arbeit einen Tisch, und dieser Tisch bedeu-tete die Bühne für eine Materialisierung: die

der Spekulation auf das Geschick eines Schuldners. Würde dieser in der Zukunft ökonomisch klug handeln, dann hätte der Bankier das Geld, das er verliehen hat, gut angelegt. Banco, so lautet das alte italieni-sche Wort für Tisch; es hat sich in vielen Sprachen auf die Institute des Geldhandels übertragen: La banque im Französischen, banco im Spanischen, Bank im Deutschen und Englischen.

Auch in unserer Gegenwart, in der für das alltägliche Banking nur noch PIN und TAN, IBAN und BIC nötig sind, beschäftigt sich der Beruf der Bankerin und des Bankers mit einer Abfolge von Projektionen in die Zukunft: Wie werden sich die Märkte entwickeln? Wie werden sich meine Kunden darin bewähren? Treffen deren Voraussagen auf eine finanziell erfolgreiche Zukunft überhaupt zu? Dabei hat die Digitalisierung der Finanzwirtschaft den ohnehin abstrakten Begriff „Geld“ noch einmal auf der Ebene der Interaktion

abstrahiert. Was noch nicht da ist, das lässt Menschen handeln. Die Erwartung steckt somit hinter dem Prinzip, das dem Geld auf dem Tisch einen gesteigerten Wert für die Zukunft zuschreibt.

„Von der Erwartbarkeit zukünftiger Gegen-wart“ lautet denn auch der Untertitel des Musiktheaters „KREDIT“ von Daniel Kötter und Hannes Seidl. In dieser Produktion – uraufgeführt 2013 beim steirischen herbst in Graz und Auftakt einer Trilogie unter dem Titel „Ökonomien des Handelns“ – beschäftigen sich der Filmemacher und Regisseur Kötter und der Komponist und Musiker Seidl mit dem Beruf des Bankers. Es geht ihnen um das Er-fahrbarmachen eines komplexen Systems. Hannes Seidel: „In diesem System erwartet ein Player eine be-stimmte Zukunft und schließt

darauf eine Wette ab. Ein anderer Player aber erwartet eine andere Zukunft und wettet dementsprechend. Auf diesen un-terschiedlichen Erwartungen basieren zum Beispiel Termingeschäfte.“

Nun kann die Erwartung selbst kaum künstlerisch formal dar-gestellt werden. Und so machen Daniel Kötter und Hannes Seidl

in „KREDIT“ einen wesentlichen Charakter-zug der Erwartung sicht- und hörbar: die Unsicherheit. Das Duo, das bereits seit 2008

Wetten auf die ZukunftMit ihren Musiktheater-Projekten „KREDIT“ und „RECHT“ nehmen Daniel Kötter und Hannes Seidl die „Ökonomien des Handelns“ unter die Lupe. Von Christoph Braun

Filmstill aus „KREDIT“. Foto: Kötter & Seidl

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zusammenarbeitet, erschafft in formal kom-plexen Verfahren eine leicht entzifferbare Formensprache: Gleich zu Beginn sehen wir Frankfurt am Main, die Bankenstadt, aus der Perspektive des umgebenden Hügellandes. Im Taunus zwitschern die Vögel, durch dichtes Grün und weichen Nebel zeichnet sich in der Ferne Deutsch-

lands einzige Skyline ab. Als die Sinne sich empfänglich machen für dieses Idyll, stür-zen Ton und Bild ab, fiese Störgeräusche untermalen einen schwarzen Bildschirm. Es folgen Aufnahmen aus einer Bank, Mitschnitte von Unterhaltungen unter Bankern, geistliche Musik. Es ergibt sich jedoch keine Erzählung. Und auch sonst fehlen in „KREDIT“ ganz bewusst die Sicherheiten einer moralischen Urteils-ebene. Es gibt keinen Fixpunkt, keine Figur, von der aus „KREDIT“ erzählt würde. Und es gibt kein Gegenüber: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Frankfurter Banken sind selbst die Akteure in diesem Stück, lassen sich von einer merkwürdig distanzierten Ka-mera bei ihrer Arbeit, in ihrem Alltag filmen. Geldprofis auf dem Weg in die Hochhäuser, am Schreibtisch oder auf einer Aktionärs-versammlung. „Wir haben erst einmal Sze-nen gedreht“, sagt Hannes Seidl über den Produktionsprozess. „Unsere Ausgangsidee für das Stück war, Banker zu treffen, die in Bereichen arbeiten, in denen wir uns über-haupt nicht auskennen, zum Beispiel im Investment Banking oder in der Vermögens-beratung oder im Bereich der Aktienanlage.“ Kötter und Seidl führten Interviews mit diesen Menschen und schufen so eine Grundlage für das Filmmaterial. Auf der Bühne jedoch bleibt der Film stumm; die Tonspur wird in der Tradition des Stumm-films live realisiert. So erst kann das – laut Seidl „halbdokumentarische“ – Format eine noch einmal gesteigerte Distanz zum

Gezeigten garantieren. Die Gespräche mit den Finanzexperten tauchen während der Aufführung immer wieder auf, schnipsel-weise, als Teil der Live-Montage. Ein Spre-cher mixt auf der Bühne das Material aus den Interviews mit theoretischen Schriften, etwa Joseph Vogls „Das Gespenst des Kapitals“ oder Benjamin Franklins „Advise

From An Old Tra-desman To A Youn-ger One“. Dazu singt der Chor der Deutschen Bundes-bank Credos und Choräle. So ent-steht jeden Abend aufs Neue das, was Kötter und Seidl ein „Stummfilm-Ora-torium“ nennen.

„Das Problem un-serer Gesellschaft besteht darin, dass wir ökonomische

Analphabeten sind“, sagt Hannes Seidl. „KREDIT – Von der

Erwartbarkeit zukünftiger Gegenwart“ ist aber nicht gedacht, das Publikum in Hinblick auf das Bankensystem zu alphabetisieren. Vielmehr könnte das Bühnenstück erfahrbar machen, wie sehr unser Bankensystem längst schon viel zu komplex geworden ist – für alle seine Player.

Auch in „RECHT“, dem zweiten Teil ihrer Trilogie „Ökonomien des Handelns“, beschäftigen sich Daniel Kötter und Hannes Seidl

mit den Rahmenbedingungen gesellschaft-lichen Handelns – und experimentieren dabei wieder mit verschiedenen Formen dokumen-tarischen Erzählens in den Medien Film und Musik. „RECHT“ behandelt die Frage, wie Raumordnungen und Grenzen die Rechts-ordnung bedingen.

In einer experimentellen Anordnung arbei-ten zwei Gruppen an der Schaffung von Regelsystemen: Im Film sieht man eine Gruppe von sechs Rechtswissenschaftlern und NGO-Mitarbeitern diskutieren, streiten, tanzen und feiern. Sie befinden sich auf einer Moselinsel im Niemandsland nahe des Städtchens Schengen in Luxemburg. Drei Jahrzehnte nach dem ersten Schen-gener Abkommen fragen sie sich, wie sich weltweit Gerechtigkeit durch Recht durch-setzen ließe. Ihr Auftrag: Ein neues, trans-nationales Recht zu erschaffen, das den Ansprüchen tradierter nationaler Recht-spraxis genügt und zugleich neue, globale Anforderungen berücksichtigt.

Diese außergewöhnliche Gelehr-tenrepublik initiierten Kötter und Seidl im Spätsommer 2014 und begleiteten sie über 24 Stunden

mit Kamera und Mikrofon. Bereits auf der Insel standen den Denkern Solisten des Ensembles Nadar als „Festkapelle“ und klangliche Konfrontation zur Seite. Live, auf der Bühne, arbeitet in Analogie zur Insel diese Gruppe von Musikern im Rahmen ihres eigenen Regelsystems, das zwischen Parti-tur, Improvisation, Leinwand und Konzert-raum aufgespannt ist: Experimenteller Dokumentarfilm und Live-Konzert rücken zusammen, doppeln, begleiten und kommen-tieren sich gegenseitig und lassen territori-ale Bedingungen von Recht und Musik im Zusammenspiel aller Ebenen zu einer kon-kreten Reflexion und Erfahrung über das komplexe Phänomen des Rechts werden.

„KREDIT“ und „RECHT“: 26./27. März, 19:00 / 21:00 Uhr, HAU / Hebbel am Ufer (HAU 2).

Hannes Seidl und Daniel Kötter. Foto: Kötter & Seidl

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Das Maß der Arbeit ist die Zeit. Der konstituierte Wert eines Produktes ist ganz ein fach der Wert,

der konstituiert wird durch die in demselben ent­haltene Arbeitszeit. Die Zeit ist alles, der Mensch ist nichts mehr, er ist höchstens noch die Verkör­perung der Zeit. Es handelt sich nicht mehr um

die Qualität. Die Quantität allein entscheidet alles. Stunde gegen Stunde, Tag gegen Tag.

Karl Marx, „Das Elend der Philosophie“ (1847)

Die Finanzwelt ist ein furchtbares Instrument, mit dem die Zeit der Handlung kontrolliert wird, mit dem das Mögliche, die ‘lebendige Gegenwart’, die ‘formbare Zone der Übertragung des Unsicheren’,

die ‘Begegnung von Vergangenheit und Zukunft’ neutralisiert wird. Sie verschließt das Mögliche, in

dem sie sich in die Zukunft projiziert. Die Zukunft ist für sie nur eine einfache Antizipation

der Herrschaft einer gegenwärtig bereits bestehenden Ausbeutung. Aber wenn eine kritische

Schwelle der Unsicherheit über die Zukunft und ihre Ausbeutungs­ und Herrschaftsbeziehungen einmal eintritt, dann bricht die vom Möglichen

entleerte Gegenwart in sich zusammen. Die Krise ist also eine Krise der Zeit und der Emergenz einer

Zeit politischer und sozialer Kreation, die die Finanzen zu zerstören suchen.Maurizio Lazzarato, „Die Fabrik des verschuldeten Menschen“ (2011)

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RBEIT LLTAG BENTEUERA

Dazu fehlt im Theater meist die Zeit: sich zu begegnen, ohne dass man weiß, worauf es hinausläuft; eine Improvisation zu begin-nen, ohne zu wissen, ob

sie ein brauchbares Ergebnis liefern wird – brauchbar im Sinne ihrer „Verwertbarkeit“ für eine Aufführung (und deren Wiederho-lung!), die allein den immensen zeitlichen Aufwand zu rechtfertigen scheint, den eine gemeinsame künstlerische Entdeckungsreise erfordern kann.

Als der griechisch-stämmige Komponist Georges Aperghis 1976 sein erstes eigenes Theater gründet, ist er nicht allein mit dem Wunsch, auszubrechen aus den herrschen-den Strukturen, wie sie der Theater- und Konzertbetrieb vorgibt. „Die Spezialisierung“ – Grundlage der industriellen Autofertigung ebenso wie eines auf Hochtouren laufenden Kulturbetriebs – „war uns ein Graus“, sagt Aperghis, der in seinen Theaterstücken abs-trakten Tönen einen Körper verliehen und Körper zu Musik gemacht hat. „Wir haben nicht aus Geschmacksgründen experimen-tiert. Aber der künstlerische Kontext, in dem wir leben, erlaubt es nicht, dass eine

Aufführung als Abenteuer entsteht! Wir wollen in unseren Stücken über den Alltag sprechen. Und wenn man über die Welt heute sprechen will, muss man sich auch darauf einlassen, Arbeitsweisen zu erfinden, Sprachen, Bezüge zwischen Tönen und Ges-ten, die dem entsprechen, worüber wir spre-chen wollen.“

Mit seiner Musik spricht Georges Aperghis stets über die Gegenwart. Er tut dies nicht auf journalistisch-zeitgeistige Weise; er nähert sich dem Hier und Jetzt mit der forschenden Neugier des Archäologen. Der Blick des heute 69-Jährigen erkennt

Der Komponist Georges Aperghis nimmt sich die Zeit, aus den Zwängen des Betriebs auszubrechen.

Von Patrick Hahn

Georges Aperghis. Foto: Xavier Lambours

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die Gegenwart als eine ruinierte – und treibt sein kindliches Spiel mit den Resten, die sich ihm entgegenstrecken.

Vielleicht ist diese Perspektive zwangsläufig für jemanden, der im Schatten der Akropolis aufwuchs: In Athen, in einer schmalen Gasse aus gestampfter Erde mit ihrem all-täglichen Straßentheater, untermalt von rhythmischen Hammerschlägen auf Bronze aus einem nahe gelegenen Bildhaueratelier – dort ist die akustische Urszene von Aperghis’ Komponistenbiografie anzusiedeln. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie der Sohn einer Malerin und eines Skulpteurs die Vor-gänge in seiner Straße mit leicht zusammen-gekniffenen Augen und weit geöffneten Ohren beobachtet, in sich aufsaugt und innerlich neu und anders zusammensetzt; wie sich die Laute aus den Höfen und Häu-sern zu einer außergewöhnlichen Polyphonie des Alltags verbinden.

Aperghis’ griechische Herkunft kann man heute allenfalls an der Härte erkennen, die er manchen Konsonanten verleiht, die wie kurze Schlagzeugeinsätze aus dem gemur-melten Strom seiner Rede herausstechen. Er selbst spricht seinen Namen inzwischen französisch aus – so wie die vielen Musiker und Theaterleute auf der ganzen Welt, die ihm als einem der wichtigsten Erneuerer des Musiktheaters ihre Bewunderung ent-gegen bringen.

Dass Georges Aperghis einem breiteren Publikum in Deutschland noch nicht be-kannt ist, erklärt sich einzig und allein dadurch, dass er den Marsch durch die Institutionen anderen überlassen und sein musikalisches Theater abseits der großen Häuser entwickelt hat. Wie ein Bild, das seinen Rahmen stets bei sich haben muss, erfordern seine Werke einzigartige techni-sche Setups, die nur äußerlich einfach sind. So wie die vier Projektionsflächen über den vier Frauen, die in „Machinations“ ein fes-selndes Spiel entfachen an der Schnittstelle von Mensch und Maschine: Stimmen zwi-schen kindlichem Gebrabbel und sexueller Ekstase, technischer Manipulation und archaischem Urlaut.

Als illegaler Einwanderer erreicht Aperghis 1963 Paris, dort will er seine musikalische Ausbildung fortführen. Er verdingt sich als

Pianist in Bars und Nachtclubs, aber auch in der Oper. Er schließt Bekanntschaften mit Schauspielern, Regisseuren, Autoren. Er entdeckt das Theater als Freiraum, der ganz andere Dinge zulässt als der Konzert-betrieb. Der Geist des Festivals von Avignon befeuert seine Suche nach neuen

Ausdrucksweisen. „Wir haben uns in Avig-non ein Fleckchen auf dem Feld gesucht oder am Wegesrand, um uns unseren Im-provisationsübungen hinzugeben, in denen jeder, Musiker oder nicht, den anderen sei-ne künstlerischen Bedürfnisse mitgeteilt hat, was ihn bewegt, was er an den Dingen liebt oder am Leben – auf eine originelle Weise. Diese Vorgehensweise, so primitiv sie – im existenziellen Wortsinne – sein mag, hatte zum Ziel, den Klängen einen Körper zu geben durch die Stimme und die Geste.“

Eine Hand durchbricht eine papierne Wand, eine Klarinette durchstößt sie an einer an-deren Stelle. Knapp über dem Boden lugt ein Kopf aus einem Loch und beginnt zu sprechen. Zwei Menschen begegnen sich,

fallen sich in die Arme, klopfen sich unab-lässig auf die Schultern und werfen sich emphatisch Begrüßungsformeln an die Köpfe, frenetisch, als hätten sie gerade ihre Sprache wiedergefunden. – Aperghis’ „Énumerations“ sind, wie überhaupt sein théâtre musical, eine Welt des permanen-ten Staunens: über das, was unsere Körper artikulieren können; darüber, wie die Dinge aussehen, trennt man sie von ihrem Körper ab; und nicht zuletzt darüber, was an Musik in den Dingen steckt, wenn beispielsweise Telefonbücher, Möbel und Wände den r ituellen Soundtrack zu einer geheimnis-vollen Verrichtung beisteuern, die der Arbeitswelt abgeschaut sein könnte ode r einer uralten Zeremonie.

1988 sind die „Énumerations“ entstanden; der Komponist legte dem Stück zunächst Texte nordamerikanischer Indianer zugrunde.

Doch ist von diesem Ausgangs-punkt im Spektakel, wie es der Filmregisseur Hugo Santiago in einem Pariser Abbruchhaus für

das Fernsehen festhielt, auf den ersten Blick nichts mehr sichtbar. Erhalten geblie-ben ist die aus dem Stoff resultierende Achtung, die dem Anderen, dem Fremden entgegen gebracht wird: sei es das eigene Spiegelbild, sei es die Haut des Gegenübers, die mit Fingerspitzen abgetastet wird.

1976 gründete Georges Aperghis sein Atelier Théâtre et Musique, genannt A.T.E.M., und im Deutschen erinnert bereits die Abkür-zung daran, dass dieses Theater zum Leben möchte. Aperghis hat es bewusst im Banli-eue, in den Rand zonen und Vororten von Paris angesiedelt, fernab der Tummelplätze der Kaviar-Linken und der Bourgeoisie. Nicht nur Schauspieler und Musiker, auch Anwohner waren Teil der Truppe, mit der Aperghis bis 1997 über zwanzig Werke erar-beitet hat.

Doch ist das théâtre musical nur ein kleiner, wenn auch bedeutender Ausschnitt aus dem Schaffen von Georges Aperghis. Neben seiner Theaterarbeit hat er stets auch Partituren geschrieben, selten für Orches-ter, häufig für Ensembles und meistens für Künstler, die er persönlich gut kennt. So sind über die Jahrzehnte zahlreiche intime Porträts entstanden, von Instrumenten, aber auch von jenen, die sie spielen. Es sind vorsichtige, ja, zärtliche Erkundungen unbe-kannten Terrains, denen vor allem eines zu eigen ist: ihr sprechender Charakter. „Quasi parlando“, der Titel eines Stückes für Kon-trabass, steht stellvertretend hierfür.

Das jüngste große Ensemblewerk, das Aperghis für das Klangforum Wien schrieb, dehnt diese Arbeitsweise auf ein ganzes Ensemble aus, ein Gruppenbild entsteht aus 23 Einzelporträts: „Situations“ ist eine Feier der Gemeinschaft, die das Individuum ins Zentrum rückt. Und Feste, das wusste schon der Philosoph Hans-Georg Gadamer, haben ihre eigene Zeit. „Das Fest ist nur, indem es gefeiert wird.“

So viel Zeit muss sein.

Aperghis I – V: 23. bis 25. März im Haus der Berliner Festspiele und im Kammer musiksaal der Philharmonie. Die genauen Termine finden Sie im Kalender auf Seite 30.

Der Komponist Georges Aperghis nimmt sich die Zeit, aus den Zwängen des Betriebs auszubrechen.

Mit seiner Musik spricht Georges Aperghis stets über die Gegen­wart – nicht auf zeitgeistige Weise, sondern mit der forschenden Neugier des Archäologen.

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Die Geschichte hat immer existiert, aber nicht immer in ihrer geschichtlichen Form. Die Zeitigung des Menschen, wie sie durch die Vermittlung einer Gesellschaft stattfindet, entspricht einer Vermenschlichung der Zeit. In dem geschichtlichen Bewusstsein äußert sich die bewusstlose Bewegung der Zeit und wird wahr.Guy Debord, „Die Gesellschaft des Spektakels“ (1967)

Dendrochronologie

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Flirren bis zum Stillstand, es ist, als wäre die Zeit angehal-ten worden. Aus einer Mauer von gleißendem Geigenklang zischt endlos scheinende Sekunden lang ein scharfer F-Laut in den Raum, ehe er

allmählich in ein kehliges Knattern umschlägt: rrrrrr… Es dauert lange, bis sich aus der surre-alen Geräuschkulisse die berühmten Worte „Freude, schöner Götterfunken“ geformt haben. Im Zusammenhang verständlich werden sie freilich nie; es ist kaum zu erahnen, dass hier Beethovens „Neunte“ gespielt wird. In maßloser Vergrößerung.

Für seine Klanginstallation „9 Beet Stretch“ hat der norwegische Künstler Leif Inge den siebzigminütigen Klassiker auf exakt 24 Stun-den gestreckt, in unveränderter Tonhöhe. Der Gedanke, der einem beim Hören dieser

irisierenden Klangwand unwillkürlich kommt, mag spekulativ sein und vielleicht auch ein bisschen zu romantisch, aber er ist bestechend: So ungefähr muss es im tauben Kopf des Komponisten bei der Arbeit zugegangen sein. Die Musik will vor dem in-neren Ohr des Genies dahinrauschen – und muss doch mit aller Gewalt aufgehalten werden, um sie festzuhalten im quälend langwierigen Prozess des Notenschreibens.

Eine faszinierende Vorstellung, spinnen wir sie ein bisschen weiter. Wie wäre es, wenn für viele Menschen auf einmal die Zeit ange-halten würde? Oder zumindest: Wenn sich diese vielen Menschen für einen Tag lang gemeinsam in der Zeit verlieren könnten? Es ist eine sehr spezielle Zeitfrage, die sich das Festival MaerzMusik da stellt – und die es mit einem groß, nein, sehr groß angeleg-ten Projekt in der Praxis beantworten möchte:

Unter dem Titel „The Long Now“ hat Berno Odo Polzer, der künstlerische Leiter des Fes-tivals, in Zusammenarbeit mit den Machern von Berlin Atonal, Laurens von Oswald und Harry Glass, so etwas wie eine Zeitblase konzipiert, einen Raum, in dem sich Zeit selbst entfalten und das Zeitgefühl unbekannte Wege gehen und sich verlieren kann.

Das monumentale, 30-stündige Projekt bietet zum Abschluss der MaerzMusik die Möglich-keit, sich von der getakteten Chronometrie der Großstadt für einen unendlich langen Moment abzugrenzen, um all jenen Eigenzei-ten Platz zu machen, die für gewöhnlich dem Tag und der Nacht zum Opfer fallen. Es ver-sammelt künstlerische Arbeiten − Konzerte, Performances, Klanginstallationen, Filme und elektronische Live-Acts − zu einer groß-formatigen Komposition in Raum und Zeit. Die Besucher sind eingeladen, sich dieser

DER UNENDLICH LANGE MOMENT

„The Long Now“ macht aus dem Kraftwerk Berlin einen Raum, in dem unser Zeitgefühl unbekannte Wege gehen und sich verlieren kann.

Von Carsten Fastner

Kraftwerk Berlin. Foto: Fineartberlin

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Zeitblase einzuverleiben und, schlafend oder nicht, über Nacht zu bleiben, sich dieser künstlerischen Grenzerfahrung hinzugeben.

Der Ort dieser andauernden Gegenwart ist das Kraftwerk Berlin, einer der beeindruckendsten Räume der Stadt. 1961, praktisch zeitgleich mit dem Bau der Berliner Mauer, wurde der gigantische Komplex an der Köpenicker Straße errichtet, als zentrales Heizkraft-werk für Ost-Berlin. Sein nördlicher Teil steht bis heute für die Energiegewinnung in Be-trieb; der südliche Trakt aber wurde 1997 stillgelegt und 2006 zur neuen Heimat für den Technoclub Tresor. Seit 2010 dient das Kraftwerk Berlin als riesiger Veranstaltungs- und Ausstellungsraum.

Kreuz und quer durch die Ebenen dieses grenzenlos wirkenden Labyrinths aus Beton und Stahl, aus haushohen Hallen und kar-

gen Kammern wird sich am 28. und 29. März die Zeitblase von „The Long Now“ ausdeh-nen. 30 Stunden lang können sich ihre Besu-cher frei durch Zeit und Raum bewegen und (nicht nur) musikalische Grenzerfahrungen sammeln. Etwa in Leif Inges „9 Beet Stretch“, für das die ehemalige, retro-futuristisch anmutende Schaltzentrale des Kraftwerks über die volle Länge von 24 Stunden zur Kulisse wird. Oder in einer siebenstündigen Konzert-Performance und Film-Installation von und mit dem US-amerikanischen Expe-rimental-Komponisten und Filmemacher Phill Niblock. Bei Live-Elektronik von Mix Mup & Kassem Mosse, Thomas Köner, Eric Holm, Mika Vainio und Actress ebenso wie bei einem Bier an der Bar oder bei Speisen von Big Stuff Smoked BBQ. Bei einem Power- Nap auf dem Matratzenlager ebenso wie bei zwei fragmentarisierten Gitarren-Soli des Komponisten Pierluigi Billone oder beim 16-Stunden-Screening von Burkhard von Harders Single-Shot-Dokumentarfilm „Narbe Deutschland“, einem Echtzeitflug über die ehemalige deutsch-deutsche Grenze.

Natürlich ist bei „The Long Now“ auch Morton Feldman (1926–1987) prominent vertreten: Das Minguet Quartett spielt gleich zu Beginn dessen fünfstündiges 2. Streichquartett (1983). Der New Yorker Komponist gilt mit Recht als Meister der Musik als Zeitkunst im Wortsinne. Denn in den meisten seiner radikal

reduzierten Werke gab er den Klängen nicht nur allen Raum, den sie brauchen, um die Stille beleben zu können; nicht weniger groß-zügig, ja verschwenderisch verfuhr Feldman auch mit der Zeit, die er seinen Klängen lässt. „Ich bin an Zeit in ihrem unstrukturierten Zustand interessiert“, sagte er einmal. „Mich interessiert, wie dieses wilde Tier im Dschungel lebt, nicht im Zoo. Wie Zeit exis-tiert, bevor wir unsere Klauen hineinschla-gen, unsere Ideen und Vorstellungen.“

W ichtige Anregungen für seine Musik erfuhr Feldman nicht zuletzt von Malern aus sei-nem persönlichen Umfeld,

von Mitgliedern der New York School des Abstrakten Expressionismus wie Philip Guston, Robert Rauschenberg, Jasper Johns, Mark Rothko und Willem de Kooning. Deren glü-hende Farbspiele, monochromen Bildflächen, glänzende Linien brachten ihn dazu, nach einer Musik zu suchen, „die direkter, unmit-telbarer, körperlicher war als alles, was bis dahin existiert hatte“.

So wie die Abstrakten Expressionisten die Konzentration des Betrachters auf die Farbe selbst, auf Pigment und Textur lenken woll-ten, so strebte Feldman danach, dem Hörer ein Gefühl für die Plastizität, das dynami-sche Eigenleben der Klänge zu vermitteln, den Vorgang ihrer Erzeugung, ihr Aufblühen und Verklingen: „Eine Musik, die eine Ober-fläche hat, konstruiert die Zeit. Mein Inter-esse an der Oberfläche ist das Thema meiner Musik. In diesem Sinne könnte man meine Kompositionen mit einer Zeit-Leinwand ver-gleichen. Ich bemale diese Zeit-Leinwand mit Musikfarbe.“

Welche Wirkung diese Zeit-Leinwand mit Musikfarbe auf ihre Hörer haben kann, das beschrieb niemand plastischer als der Musikwissenschaftler Ulrich Dibelius: Wer sich nur immer tiefer in Feldmans Musik verwickeln lasse, dem schenke sie „ein Erlebnis von Freiheit, Schwerelosigkeit, Gegenwartserfahrung, das – ähnlich wie die Euphorie über den nicht enden wollenden Tag in Gebieten der Mitternachtssonne – einen neuen Raum des eigenen Daseinsge-fühls zu erschließen scheint. Die Wahrneh-mung wird wichtiger als das Wahrgenommene, die Phänomene verselbständigen sich, denn Zeit entfaltet einen Aspekt von Zeitlosigkeit.“

The Long Now: 28. März., 18:00 Uhr , bis 29. März, 24:00 Uhr, Kraftwerk Berlin.

„Man könnte meine Komposi­tionen mit einer Zeit­Leinwand vergleichen. Ich bemale dieseZeit­Leinwandmit Musikfarbe.“

Kraftwerk Berlin. Foto: Fineartberlin

Morton Feldman

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Kraftwerk Berlin. Foto: Fineartberlin

© Peter Gauhe

Zwischen Ausstellung und

Aufführung

Rainer Werner Fassbinder

Mit einem Fassbinder-Special im Mai 2015 beim Theatertreffen

Mit der Ausstellung „Fassbinder – JETZT“ zeitgleich im Martin-Gropius-Bau

® Jan Versweyveld

Susanne KennedyMit „Warum läuft Herr R. Amok?“ aus den Münchner Kammerspielen eingeladen zum Theatertreffen 2015

Mit „Orfeo“ im September 2015 Musiktheater im Martin-Gropius-Bau

Tacita DeanMit „Event for a Stage“ im Mai 2015 beim Theatertreffen

Tino SehgalMit einer Arbeit im Juni / Juli 2015 bei Foreign Affairs

Mit einer Ausstellung im Martin-Gropius-Bau

Weitere Veranstaltungen und alle aktuellen Termine auf

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Alle Termine, Tag für Tag

Freitag, 20. März

Thinking TogetherKonferenz und Diskursformate in einer neuntägigen transdisziplinären Plattform, die dem gemeinsamen Nachdenken über unser Verhältnis zur Zeit gewidmet ist. Das Format besteht aus frei zugänglichen Semi-naren, Lecture-Performances, Diskus-sionen, Filmvorführungen, gemeinsa-mem Musikhören und experimentellen Diskursformaten. Zur Eröffnung lädt Thinking Together zum gemeinsamen Betrachten der partiellen Sonnen-finsternis ein (Beginn um 9:42 Uhr, Höhepunkt um 10:47 Uhr). Anschließend beginnt die Konferenz. Siehe auch S. 4 und S. 9.„The Politics of Time“. Vorträge von Aleida Assmann, Maurizio Lazzarato und Rolando Vázquez.Haus der Berliner Festspiele, ab 9:42 bzw. 13:00

Liquid RoomMusik von Peter Ablinger, Pierluigi Billone, Marko Ciciliani, Cédric Dam-brain, Jürg Frey, Bernhard Gander, Michael Gordon, Clara Ianotta, Alvin Lucier, Enno Poppe, Eliane Radigue, Eva Reiter, François Sarhan u. a.Ictus Ensemble, ensemble mosaik.„Liquid Room“ ist ein Konzertformat der besonderen Art, das die Konven-tionen des Konzerts aufbricht und eine Art Live-Streaming von Musik in Gang setzt: ein Projekt zwischen Installation und Performance, eine Komposition in Raum und Zeit, inner-halb derer sich die Besucher frei be-wegen können. Siehe auch S. 18.Haus der Berliner Festspiele, 20:00

Samstag, 21. März

Thinking TogetherKonferenz und Diskursformate (siehe 20. März). „Politico-temporal Strategies“. Vor-träge von Pascal Michon, Nick Srnicek, Daniel Blanga-Gubbay, Rene Gabri, Ayreen Anastas, Victoria Browne, Julian Pörksen und Ranabir Samaddar.Haus der Berliner Festspiele, 12:00 – 18:00

Time has fallen asleep in the after-noon sunshineEine Bibliothek der lebendigen Bücher: Sechs Performer haben jeweils ein Buch ihrer Wahl auswendig gelernt (von Goethe, Melville, Eliot, Natsume, Özdamar, Goetz). Gemeinsam warten sie darauf, abgeholt zu werden, um Teile der Bücher für einzelne „Leser“ zu rezitieren. Das Projekt der norwe-gischen Künstlerin Mette Edvardsen schafft einzigartige, intime und zeit-lose Situationen. Haus der Berliner Festspiele, 16:00 – 22:00

Time stands stillMusik von Thomas Campian, John Dowland, Francesco Filidei, Bernhard Gander, Tobias Hume, Peter Jakober, Burkhard Stangl u. a. Ensemble Unidas.Was passiert, wenn die Zeit still steht? Was lässt sich alles denken, wenn die Zeit keine Rolle mehr spielt? Dann bräuchten wir uns, wie in diesem Konzert für Sopran, Viola da Gamba und Laute, um Zeitsprünge zwischen Renaissance und Gegenwart keine Gedanken mehr zu machen. Haus der Berliner Festspiele, 18:00

CiacconaJ. S. Bach: Ciaccona für Violine solo aus BWV 1004 (1723); Ole-Henrik Moe: Ciaccona für Violine solo (2002). Kari Rønnekleiv (Violine). Ole -Henrik Moe, Grenzgänger zwischen Violine, Komposition und Experimen-talmusik, schuf mit seiner 40-minüti-gen „Ciaccona“ ein filigranes Monu-ment des schillernden Minimalismus.Haus der Berliner Festspiele, 19:30

In iij Noct.Georg Friedrich Haas: „In iij Noct.“ (2001).Ensemble KNM Berlin.Eine Extremerfahrung für Musiker und Publikum gleichermaßen: In sei-nem 3. Streichquartett „In iij Noct.“ erkundet Georg Friedrich Haas die Möglichkeiten des Musizierens im Dunkeln. Das Stück wird in völliger Finsternis gespielt – und eröffnet so dem Hören völlig neue Perspektiven.Haus der Berliner Festspiele, 21:00

Gordon: TimberMichael Gordon: „Timber“ für sechs Schlagwerker (2009).Ictus Ensemble.Michael Gordon gehört zu den Pio-nieren des Post- Minimalismus. Sein Schaffen ist geprägt vom New Yorker Underground -Rock ebenso wie von avantgardistischen Kompositionsstu-dien. In „Timber“ wird der obertonrei-che Klang roher Hartholzbalken voll zur Entfaltung gebracht. Dabei ent-steht eine ans Magische grenzende Klangmeditation, die sich über eine Stunde hinweg dreidimensional im Raum bewegt.Haus der Berliner Festspiele, 22:30

Sonntag, 22. März

Thinking TogetherKonferenz und Diskursformate (siehe 20. März). „Time and the Arts “. Vorträge von Amelia Groom, Maurizio Lazzarato, Sven Lütticken, Lutz Henke, Pascal Michon, Helga de la Motte-Haber und Gregor Herzfeld.Haus der Berliner Festspiele, 12:00 – 18:00

Soda Jerk: „The Carousel“. 2-channel video lecture performance (2011).Haus der Berliner Festspiele, 19:00

Time has fallen asleep in the afternoon sunshineEine Bibliothek der lebendigen Bücher (siehe 21. März). Haus der Berliner Festspiele, 16:00 – 22:00

Zeena ParkinsZeena Parkins: „J’ai plus de souvenirs que“ (2014) UA.Laurent Bruttin (Klarinette), Tony Buck (Perkussion), Magda Mayas (Klavier und Keyboard), Sébastien Roux (Elektronik), Zeena Parkins (Harfe), Matthew Ostrowski (Klangregie / Elektronik).Zeena Parkins bewegt sich mühelos zwischen freier Improvisation und zeit-genössischer Komposition, Noise Music und avanciertem Pop, Musik für Film und Tanz-Performances. Hier realisiert die US- Amerikanerin, die u. a. mit Björk und Yoko Ono zusammengearbeitet hat, eine neue Arbeit, der Walter Benjamins archivalische Hinterlas-senschaft zugrunde liegt.Haus der Berliner Festspiele, 19:00 und 21:00

Montag, 23. März

Thinking TogetherKonferenz und Diskursformate (siehe 20. März). Sessions, Work Groups & Projects. Detailinformationen: www.berlinerferstspiele.de/thinking-togetherHaus der Berliner Festspiele, 12:00 – 18:00

John Cage: DiaryJohn Cage: „Diary: How To Improve The World (You Will Only Make Matters Worse)“ (1965–1991).John Cages „Diary” gehört zu den großen unvollendeten Projekten des legendären Künstlers, Denkers und Komponisten. Ein Mosaik von Ideen, Beobachtungen, Statements und kurzen Erzählungen lässt die sechs-stündige, von Cage selbst gesproche-ne Text- Komposition drei Jahrzehnte Zeitgeschichte Revue passieren. Liquidrom, 15:30 – 23:30

QuerKlangQuerKlang bringt fünf Kollektiv-Kompositionen von Berliner Schülerin-nen und Schülern zur Uraufführung.Haus der Berliner Festspiele, 18:00

Aperghis I: RécitationsGeorges Aperghis: „Récitations“ für Stimme solo (1978).Donatienne Michel -Dansac (Stimme).Über 35 Jahre nach ihrem Entstehen werden Georges Aperghis’ „Récita-tions“ erstmals in der maßgebenden Interpretation von Donatienne Michel- Dansac in Berlin zu hören sein – ein atemberaubendes Erlebnis vokaler Kunst, das kompositorische Präzision und interpretatorische Virtuosität Stück vereint. Siehe auch S. 24.Haus der Berliner Festspiele, 19:30

PrototypesMusik von Fausto Romitelli, Eva Reiter, Mario Garuti und Cédric Dambrain.Eva Reiter (Viola da Gamba, Paetzold- Kontrabassblockflöte), Susanne Fröhlich (Paetzold-Kontrabassblock-flöte), Michael Schmid (Kontrabass-flöte), Cédric Dambrain (Elektronik).„Prototypes” ist ein Doppel- Porträt zweier außergewöhnlicher junger Musikerpersönlichkeiten – Eva Reiter und Cédric Dambrain –, die an den Grenzen zwischen akustischer und elektronischer Klangforschung, Komposition und Instrumentenbau, Konzert und Performance agieren. Haus der Berliner Festspiele, 21:00

Dienstag, 24. März

Thinking TogetherKonferenz und Diskursformate (siehe 20. März). Sessions, Work Groups & Projects. Detailinformationen: www.berlinerferstspiele.de/thinking-togetherHaus der Berliner Festspiele, 12:00 – 18:00

Aperghis II: FilmGeorges Aperghis und Hugo Santiago: „Énumérations“ Musikfilm (F 1990, 60 Min., A.T.E.M., La SEPT, INA).1976 gründete Georges Aperghis im Pariser Banlieue die Theatergruppe „Atelier Théâtre et Musique“ (A.T.E.M.), die vom Alltagsleben, von politischen und sozialen Problemen inspiriert war und diese häufig absurd, satirisch oder poetisch überhöhte. Der Musikfilm „Énumérations“ ist ein Dokument dieses wegweisenden künst-lerischen Experiments. Siehe auch S. 24.Haus der Berliner Festspiele, 18:00

Aperghis III: A.T.E.M.Solowerke von Georges Aperghis.Geneviève Strosser (Viola), Ernesto Molinari (Kontrabassklarinette), Uli Fussenegger (Kontrabass), Christian Dierstein (Schlagzeug).Georges Aperghis‘ künstlerische Ima-gination hat sich seit jeher am Kon-kreten, Materiellen und Körperlichen geschärft, hat sich die Zeit genommen, das Spezifische des Instruments und des Instrumentalisten zu verstehen. Selten wird dies so deutlich wie in seinen Solowerken, die der Komponist häufig in enger Zusammenarbeit mit ihren Interpreten entwickelt. Siehe auch S. 24.Haus der Berliner Festspiele, 19:30

Czernowin: HIDDENChelsea Leventhal: „An immense world still heard it“ Klanginstallation (2015) UA; Chaya Czernowin: „HIDDEN“ für Streichquartett und Elektronik (2014).JACK Quartet.Chaya Czernowins neues Streich-quartett ist eine 45-minütige Hörer-fahrung, die neueste elektroakustische Technologien aus dem Pariser IRCAM mit dem Klang des Streichquartetts verbindet – eine imaginäre Reise in felsige Unterwasserlandschaften.Heimathafen Neukölln, 22:00

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Impressum

Veranstalter: Berliner FestspieleEin Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbHGefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien

Intendant: Dr. Thomas OberenderKaufmännische Geschäftsführung: Charlotte Sieben

Künstlerischer Leiter MaerzMusik – Festival für Zeitfragen: Berno Odo PolzerOrganisationsleitung: Ilse MüllerMitarbeit: Ina Steffan, Magdalena RitterTechnische Leitung: Matthias Schäfer, Andreas Weidmann Spielstätten- und Künstlerbetreuung: Karsten Neßler, Laila Kühle, Katalin DrabantOrganisationsleitung „Thinking Together“: Lydia RillingRedaktion: Carsten FastnerGrafik: Ta-Trung, Berlin

Berliner Festspiele Schaperstraße 24 10719 BerlinT + 49 30 254 89 0

www.berlinerfestspiele.de / [email protected]

Mittwoch, 25. März

Thinking TogetherKonferenz und Diskursformate (siehe 20. März). Sessions, Work Groups & Projects. Detailinformationen: www.berlinerferstspiele.de/thinking-togetherHaus der Berliner Festspiele, 12:00 – 18:00

QuerKlangUraufführungen von Gruppen-Kompositionen durch Berliner Schüle-rinnen und Schüler (siehe 23. März).Kammermusiksaal der Philharmonie / Foyer, 18:00

Aperghis IV: SituationsGeorges Aperghis: „Situations“ für 23 Solisten (2013).Klangforum Wien, Emilio Pomàrico (Leitung).Den Höhepunkt der Hommage à Georges Aperghis bildet das groß angelegte Instrumentalwerk „Situa-tions“, das der Komponist 2013 für das Klangforum Wien schrieb. In der gut einstündigen Komposition cha-rakterisiert Aperghis die einzelnen Musikerpersönlichkeiten des Ensembles – so sind 23 Einzelporträts entstanden, die sich zu einer musikalischen Groß-form von seltener Kraft verbinden. Siehe auch S. 24.Kammermusiksaal der Philharmonie, 19:30

Aperghis V: Film und GesprächGeorges Aperghis: „Machinations“, ein Film von Anna- Célia Kendall (F 2012, 54 Min., Idéale audience, IRCAM).„Machinations“, im Jahr 2000 urauf-geführt, ist eines von Georges Aperghis’ kraftvollsten Werken, ein fesselndes Stück zwischen Archaik und Hyper-moderne, Mensch und Maschine, das

von Anna -Célia Kendall beeindru-ckend in eine filmische Version überführt wurde. Siehe auch S. 24.Hermann-Wolff-Saal der Philharmonie, 21:00

Donnerstag, 26. MärzThinking TogetherKonferenz und Diskursformate (siehe 20. März). Sessions, Work Groups & Projects. Detailinformationen: www.berlinerferstspiele.de/thinking-togetherHaus der Berliner Festspiele, 12:00 – 18:00

Ökonomien des Handelns 1: KREDITDaniel Kötter / Hannes Seidl: „Öko-nomien des Handelns: I. KREDIT. Von der Erwartbarkeit zukünftiger Gegen warten“ Musiktheater (2013). Chor der Deutschen Bundesbank, Rochus Paul (Leitung).Der Experimentalfilmer Daniel Kötter und der Komponist Hannes Seidl erproben Formen dokumentarischen Erzählens in den Medien Film und Musik. Für „KREDIT“, Teil 1 der Trilogie „Ökonomien des Handelns“, haben sie Banker mit der Kamera begleitet, um den systemischen Abgründen des Finanzkapitalismus nachzuspüren. Die Tonspur des Films wird Abend für Abend live auf der Bühne realisiert: ein Hybrid aus Konzert, Performance und Filmerlebnis. Siehe auch S. 21.HAU Hebbel am Ufer / HAU 2, 19:00

Ökonomien des Handelns 2: RECHTDaniel Kötter / Hannes Seidl: „Ökonomien des Handelns: II. RECHT“ Musiktheater (2015). Ensemble Nadar.„RECHT“ ist Teil 2 der Trilogie „Ökono-mien des Handelns“, in der sich Daniel Kötter und Hannes Seidl mit den Rah-menbedingungen gesellschaftlichen

Handelns beschäftigen. Im Kern steht dabei die Frage, wie sich Raum und Rechtsordnung gegenseitig bedingen. Experimenteller Dokumen-tarfilm und Live -Konzert rücken in die-ser neuen Produktion eng zusammen zu einer Reflexion über das komplexe Phänomen des Rechts. Siehe auch S. 21.HAU Hebbel am Ufer / HAU 2, 21:00

Freitag, 27. März

Thinking TogetherKonferenz und Diskursformate (siehe 20. März). Sessions, Work Groups & Projects. Detailinformationen: www.berlinerferstspiele.de/thinking-togetherHaus der Berliner Festspiele, 12:00 – 18:00

Ökonomien des Handelns 1: KREDITDaniel Kötter / Hannes Seidl: „Ökonomien des Handelns: I. KREDIT. Von der Erwartbarkeit zukünftiger Gegenwarten“ Musiktheater (2013). Siehe 26. März.HAU Hebbel am Ufer / HAU 2, 19:00

LongitudeDavið Brynar Franzson: „Longitude“ für Flöte, Kontrabassklarinette, Violoncello, Klavier, Schlagzeug und Elektronik (2014), UA der konzertan-ten Fassung.Ensemble Adapter.„Longitude” ist gleichzeitig Bühnen-komposition und Installation, inspiriert durch die schillernde Figur des däni-schen Abenteurers Jørgen Jørgensen. In der ursprünglichen Fassung als Bühnenmusik konzipiert, lassen sich Franzson und die Musiker des Ensembles Adapter für MaerzMusik auf eine rein akustische Version von „Longitude“ ein. ExRotaprint, 20:30 und 22:00

Ökonomien des Handelns 2: RECHTDaniel Kötter / Hannes Seidl: „Öko-nomien des Handelns: II. RECHT“ Musiktheater (2015). Siehe 26. März.HAU Hebbel am Ufer / HAU 2, 21:00

Samstag, 28. März

Thinking TogetherKonferenz und Diskursformate (siehe 20. März). Sessions, Work Groups & Projects. Detailinformationen: www.berlinerferstspiele.de/thinking-togetherHaus der Berliner Festspiele, 12:00 – 18:00

The Long NowProjekte von Morton Feldman, Phill Niblock, FM Einheit, Thomas Köner, Eric Holm, Kassem Mosse + Mix Mup, Mika Vainio, Actress, Pierluigi Billone, Burkhard von Harder und Leif Inge.Minguet Quartett, JeanLuc Fafchamps (Klavier), Yaron Deutsch (E-Gitarre), Ivana Neimarevic (Klavier), Thomas Köner (Live-Elektronik), FM Einheit.„The Long Now“ ist ein Ort der andau-ernden Gegenwart, ein Raum, in dem sich Zeit selbst entfalten und das Zeitgefühl sich verlieren kann. Eine Zeitblase, die sich von der getakteten Chronometrie der Großstadt für einen langen Moment abgrenzt. Das über 24-stündige Projekt im Kraftwerk Berlin bildet den Abschluss der Maerz-Musik 2015. Es versammelt Konzerte, Performances, Klanginstallationen, Filme und elektronische Live -Acts zu einer großformatigen Komposition in Raum und Zeit. Die Besucher sind ein-geladen, über Nacht zu bleiben und sich dieser künstlerischen Grenzerfah-rung hinzugeben. Siehe auch S. 27.Kraftwerk Berlin, 28. März, 18:00 – 29. März, 24:00

Haus der Berliner Festspiele 20.3. € 2521./22.3. € 1521.3. Kombi-Ticket für alle 4 Konzerte € 40 23./24.3. € 15

Kammermusiksaal der Philharmonie 25.3. € 20 / 15 / 10

Heimathafen Neukölln24.3. € 15

ExRotaprint27.3. € 15

HAU Hebbel am Ufer26./27.3. € 15KREDIT & RECHT Kombi-Ticket € 20 (26. oder 27.3.)

Kraftwerk Mitte28./29.3. Single Entry € 20 (gültig für einen Eintritt)28./29.3. Re-Entry € 30 (gültig für mehrere Eintritte)

Liquidrom 23.3. Cage-Special € 24,50 (für 8 Stunden)Bitte an der Kasse des Liquidroms das Passwort „Zeitfragen“ angeben.

Tickets

Kasse: Haus der Berliner Festspiele, Schaperstraße 24, 10719 BerlinMo - Sa 14:00 bis 18:00 Uhr

Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 BerlinMi - Mo 10:00 bis 18:30 Uhr

Telefon: +49 30 254 89 100, Mo - Fr 10:00 bis 18:00 UhrGebühr: 3 € pro Bestellvorgang

Online: www.berlinerfestspiele.de, Gebühr 2 € pro Bestellvorgang

Abendkasse: Öffnet jeweils eine Stunde vor Beginn der Veranstaltungen

Wählen Sie aus dem Festivalprogramm mehrere Konzerte:9 Tickets mit 35 Prozent / 6 Tickets mit 30 Prozent /3 Tickets mit 25 Prozent / Ermäßigung auf den Einzelpreis

Die Zahl der verfügbaren Wahl-Abonnements ist begrenzt. Im Wahl-Abonnement maximal 3 Tickets pro Konzert.

„The Long Now“ im Kraftwerk Berlin ist vom Wahl-Abo ausgeschlossen.

Ihr Abonnement können Sie telefonisch oder an der Kasse buchen. www.berlinerfestspiele.de/wahlabo

Ermäßigte Karten je nach Verfügbarkeit an den Abendkassen für Schüler, Studierende bis zum 27. Lebensjahr, Auszubildende, Freiwilligendienstleistende, Wehr- und Zivildienstleistende und ALG II-Empfänger (gültiger Ausweis erforderlich).

Gefördert durch die

Gefördert durch

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Wandgemälde von Blu in der Cuvrystraße, Berlin. Foto: Lutz Henke


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