Date post: | 05-Mar-2018 |
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Wolfram Ette
Kosmos Herakles
Ein Kommentar zu Alexander Kluge
Mein Thema ist eine kleine Erzählung von Alexander Kluge, aus der im Jahr 2000 er
schienenen »Chronik der Gefühle«. Diese Erzählung ist so dicht, gleichzeitig aber auch
so kurz, dass ich es mir erlauben möchte, sie zu Beginn meines Vortrags vorzulesen –
allerdings nicht zur Gänze. Sie haben ja den Text vor sich und sehen, dass er in zwei
Teile gegliedert ist. Der erste ist ein fiktiver Bericht über ein Gespräch, das Alexander
Kluge mit Heiner Müller geführt hat, der zweite spielt gleichsam den – ebenso fingier
ten – O-Ton dieses Gesprächs ein. Ich muss mich in diesem Vortrag darauf beschrän
ken, den Berichtteil des Textes zu erörtern; auch meine Lesung hält also an der Stelle
inne, wo der Bericht ins Gespräch übergeht.
* * *
Ich glaube, selbst wenn man sich den Text nur relativ flüchtig ansieht, wird doch
schnell klar, dass es sich um ein sehr dichtes intertextuelles Gewebe handelt. Der ›ei
gentliche‹ Text steht inmitten einer Konstellation wissenschaftlicher künstlerischer und
philosophischer Diskussionen, die durch ihn in Resonanz versetzt werden und aus de
ren Interferenz der geistige Raum hervorgeht, der ihn ausmacht.
Angesichts dessen möchte ich im folgenden so vorgehen, dass ich zunächst in einer
Aufeinanderfolge von kleinen Kommentaren die diskursive Konstellation erläutere, in
der der Text sich situiert (I). Es folgt dann ein interpretierender Durchgang (II). Ab
schließend werde ich auf die Frage zurückkommen, um was für eine Art von Text es
sich hier handelt und wie sich das Klugesche Erzählverfahren begrifflich bestimmen
lässt (III).
1
I. Kommentar
Zunächst also der Kommentar. Ich projiziere Ihnen hier ein Schema, aus dem über
blickshaft hervorgeht, was für Begriffe und thematische Felder Kluge in seiner Erzäh
lung ins Verhältnis setzt.
Das ist einmal Heiner Müller, der für Kluges Spätwerk im allgemeinen und von dem ein
bestimmter Text, nämlich »Herakles 2« für den Text, den wir hier von Augen haben, un
mittelbar wichtig ist.
Das zweite ist eine ganzes Konglomerat von Assoziationen, das sich hinter dem in
Anführungszeichen gesetzten Titel »Gestalt des Arbeiters« verbirgt.
Zum einen ist das Herakles selbst, der Heros der Arbeit, im Mythos ein unge
schlachter Aufklärer, der die Ungeheuer von der Erde vertilgt und sie dadurch zivili
siert, in der christlichen Überlieferung derjenige, der die inneren Ungeheuer von Wol
lust und Sinnlichkeit abtötet, also seelische Arbeit leistet.
Zum zweiten ist die Wendung ein Zitat aus Ernst Jüngers 1932 erschienenes Buch
»Der Arbeiter«. Die »Gestalt des Arbeiters« ist nicht nur eine Wendung, sondern ein ste
hender Begriff, der in Jüngers Werk eine zentrale systematische Rolle spielt.
Durch Jünger hindurch, zum Teil mit der, zum aber aber auch gegen die Intention
des »Arbeiters« aktualisiert Kluges Text zwei weitere Traditionen, in die Jünger sich ge
stellt hat.
Das ist einmal der Arbeitsbegriff in der dialektischen Theorie, wie er von Hegel ent
wickelt und von Marx und Engels fortgesetzt wurde. Dieser Arbeitsbegriff wurde der Sa
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che nach, also ohne weiter eigens thematisch zu sein, von den Systemtheorien des 20.
Jahrhunderts weitergeführt. Dabei wird er mit dem vom Begriff des Lebens vermengt
und von ihm geradezu überformt. Aus diesem Grund bildet er das zweite Zentrum des
Schemas, das Sie vor sich sehen. Das zentrale Konzept, das beide miteinander verbin
det, ist das der Selbstregulierung. Hier lebt das dialektische Erbe weiter, auch wenn es
nicht thematisiert wird. Gemeinsam ist den außerordentlich diversen Strömungen, die
sich unter dem Titel der Sytemtheorie zusammenfassen lassen, jedenfalls die Annahme,
dass es lebendige überindividuelle Systeme gibt, die sich durch Selbstregulierung er
halten.
Die zweite Tradition, in die sich Jünger durch seine Verwendung des Gestaltbegriffs
stellt, die aber gleichzeitig auch eine gewisse Rolle für einen Teil der ›Lebenswissen
schaften‹, die ich gerade erwähnt habe, spielt, ist Goethes Naturphilosophie. Sie spielt
ja in unserer Erzählung schon deswegen eine besondere Rolle, weil Goethe neben Hei
ner Müller der einzige Autor ist, den Kluge namentlich anführt.
Hinzu kommen schließlich noch Astrophysik und Quantentheorie, die für den Text
offenbar wichtig sind, deren Verhältnis zu den Zentralbegriffen von Leben und Arbeit
aber nicht ganz klat ist. Deswegen habe ich sie in dem Schema auch etwas auf die Seite
gesetzt und nicht mit den Hauptbegriffen ›Leben‹ und ›Arbeit‹ verbunden.
Ich möchte nun so verfahren, dass ich Ihnen die diskursiven Felder, die in Kluges
Erzählung angesprochen werden, in kurzen Miniaturen – Kluge hätte sagt, in Minuten
features – vorstelle, und zwar in folgender Reihenfolge:
1 / Heiner Müller
2 / Dialektische Theorie
3 / Ernst Jünger und die »Gestalt des Arbeiters«
4 / Theorien des Weltlebewesens
5 / Astrophysik und Quantentheorie
6 / Goethes Naturphilosophie
Dann werde ich mich der Frage zuwenden, was der Text mit ihnen macht. Den Be
schluss bilden, wie gesagt, einige grundsätzliche texttheoretische Erwägungen
1 / Heiner MüllerHeiner Müller hat für das Spätwerk Alexander Kluges eine gar nicht zu überschätzende
Bedeutung. Unter den zahllosen Interviews, die Kluge für seine Fernsehfeatures »Prime
Time«, »10 vor 11« und »News & Stories« geführt hat, spielen die Gespräche mit Heiner
Müller eine Sonderrolle. Sie kommen dem Ideal eines experimentellen Denkraums,
den Kluge durch seine Kultursendungen im privaten Fernsehen öffnen will, mit am
nächsten.
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Im Internet kursiert das Gerücht, es sei Heiner Müller gewesen, der Kluge wieder
zum Schreiben gebracht habe. Es könnte etwas daran sein. Die »Chronik der Gefühle«
ist voll von Reminiszenzen und Anspielungen auf die Gestalt des Freundes. Unsere Ge
schichte, die ins erste Kapitel des ersten Bandes gehört, bildet den Auftakt zu einer
Gruppe von Erzählungen, die in irgend einer Form etwas mit Müller zu tun haben:
»Zwischenmusik für Große Gesangsmaschinen«, »Die Götterdämmerung in Wien« und
»Der Göttertod – ein schwarzes Loch im Zentrum Roms«. Vor allem aber ist das Ende
des gesamten, 2000-seitigen Riesenwerks, »Heiner Müller und das Projekt Quellwasser«,
dem Weggefährten zugedacht.
Müller selber hat sich in drei Texten mit dem Herakles-Stoff auseinandergesetzt:
»Herakles 5«, »Herakles 2« und »Herakles 13«. Der für unsere wichtigste ist »Herakles 2«
Das ist ein Teil von »Zement«, einem nach Gladkow verfassten Stück über die nachre
volutionäre Situation im ländlichen Russland. In dieses realistisch gehaltene Stück hat
Müller mythologische Zwischentexte eingebaut und einer davon trägt den Titel »Hera
kles 2«.
»Herakles 2« ist einer der berühmtesten Texte von Müller. Sein Gegenstand – das
wird durch die Ziffer hinter dem Namen angezeigt – ist der zweite Auftrag: der Kampf
gegen die Hydra. Ihn hat Müller jedoch in einer eigentümlichen Weise mit dem Ende
des mythologischen Herakles zusammengebracht, als das Gift der von ihm getöteten
Hydra zu ihm zurückkehrt und ihn tötet. Die Flamme, mit der er die Hälse des Unge
heuers absengte, um die abgeschlagenen Köpfe am Nachwachsen zu hintern, ver
brennt ihn nun selbst – von innen. Und es ist diese Flamme, die für Müller – und Kluge
– identisch ist mit der »Flamme des lebendigen Arbeitsvermögens«, von der Marx in den
»Grundrissen zur Kritik der politischen Ökonomie« spricht. Müller fasst die zwei Episo
den des Mythos zu einer Handlung zusammen und identifiziert sie mit dem Begriff der
Arbeit. Müllers Text endet mit den Worten:
»in dem weißen Schweigen, das den Beginn der Endrunde ankündigte, lernte er
den immer anderen Bauplan der Maschine lesen, die er war aufhörte zu sein
anders wieder war mit jedem Blick Griff Schritt, und daß er ihn dachte änderte
schrieb mit der Handschrift seiner Arbeiten und Tode.«
Kluge nimmt dieses Konzept in der Formulierung auf, mit der der dritte Absatz seines
Textes beginnt:
»Es geht um eine ins Unendliche gerichtete, die Gegenstände verändernde Tä
tigkeit, einschließlich des Tötens und Beseitigens, um die Gestalt einer »leben
digen Maschine«; zuletzt ist sie gefangen in einem giftgetränkten Netz, das das
Innere verbrennt.«
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2 / Dialektische TheorieDamit stellt sich Kluge in die Tradition des Arbeitsbegriffs, die von Hegel ausgeht, von
Marx und Engels übernommen wurde und in den bedeutenden Strom moderner Theo
rien mündet, die sich um den Gedanken der dialektischen Rückkopplung oder der re
kursiven Selbstorganisation bewegen. Selbstorganisation, die wechselseitige Konstituti
on von Subjekt und Objekt ist für diese Tradition der Inbegriff eines lebendigen Ver
hältnisses zur Wirklichkeit. Es ist das, wodurch sich Leben und Nicht-Leben voneinan
der unterscheiden.
In der kleinen Schrift »Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen« hat En
gels das in die so populäre wie eingängige Formel gefasst: »So ist die Hand nicht bloß
das Organ der Arbeit, sondern auch ihr Produkt.«Das heißt, in der langen Linie der
Evolution verändert sich die Hand anatomisch durch die Arbeiten, die sie verrichtet
und durch ihre anatomische Veränderung wiederum ist sie zu neuen Arbeiten imstan
de, die sie aufs Neue verändern. Arbeit ist der dialektische Prozess der Unterwerfung
der Natur, durch den man sich selber bis zur Selbstaufgabe verändert.
Diese Bestimmung des Lebendigen durch Arbeit haben Kluge und Oskar Negt auch
ihrer 1980 erschienenen Studie »Geschichte und Eigensinn« zugrunde gelegt. Sie versu
chen darin, eine Geschichte der Veränderungen zu schreiben, die sich am ka
pitalistischen Subjekt durch veränderte Arbeitsbedingungen zugetragen haben. Be
stimmte Fähigkeiten verkümmern, andere werden entwickelt oder es entstehen neue,
und ob das Ganze einen Verlust darstellt, ist schwer auszumachen.
Der zentrale Begriff der einleitenden theoretischen Kapitel von »Geschichte und Ei
gensinn« ist der der Selbstregulierung. Selbstregulierung ist »ein anderes Wort für Le
bendigkeit«, der Inbegriff lebendiger Arbeit.
Nun ist es aber sehr wichtig, sich klar zu machen, dass die Selbstregulierung, dieser
Arbeitsprozess des Lebendigen keine Selbstverständlichkeit ist. Dieser Prozess kommt
vielmehr durch eine Trennung in Gang – ebenso, wie die Arbeiten des Herakles da
durch initiiert werden, dass er sich von der Mutterbrust trennt und dann das »Liebste,
das er hat«, zerstört. Am Anfang des Lebens, am Anfang des evolutionären Arbeitspro
zesses steht eine, wie es am Ende des Textes heißt, »durch unverschuldete Schuld mo
torisierte« Leidenserfahrung, und alle Arbeit beginnt mit der Gewalt, mit der man die
Erfahrung der Trennung auszugleichen versucht.
Dadurch entstehen auf jeder Stufe der Selbstregulierung neue Reibungen und
Trennungen. Jede Vermittlung bleibt notwendig fragmentarisch und ist auf neue Ver
mittlungen angewiesen. Der dialektische Prozess, den Negt und Kluge unter dem Titel
der Selbstregulierung im Sinn haben, ist nicht geschlossen wie der Hegelsche, in dem
am Ende sich alles in einem umfassenden Zusammenhang lebendiger und und gerade
zu ekstatischer Vermittlung zusammenfindet, sondern offen. Negt und Kluge vertreten
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– ganz ähnlich wie die etwa gleichzeitig entstandene Systemtheorie – die Idee eines
skeptischen Holismus, eines kritisch revidierten Hegelianismus, der den Vorgang dia
lektischer Rückkopplung übernimmt, sich von der Vorstellung einer vollständigen Ver
mittlung jedoch verabschiedet.
Diese negative, offene oder auch plurale Synthese findet sich gegen Ende unseres
Textes in dem Satz wieder, den ich für den schlechterdings entscheidenden halte, für
den Satz, auf den die gedankliche Entwicklung unserer Erzählung zusteuert:
»So zeigt das Weltall als ›Gestalt des Arbeiters‹ überhaupt keine Tendenz, sich
von einem Anfang in ein Unendliches oder auf ein Ende hin zu bewegen, son
dern es gliedert sich in Vielfalt und Einfachheit, so daß immer einer Gegenbe
wegung, eine Gegenwelt die Erscheinung begleitet«
3 / Ernst Jünger und die »Gestalt des Arbeiters« Jünger vertritt den anderen, abgekürzt gesagt, undemokratischen Aspekt der Hegel
schen Dialektik, auf die er sich übrigens in einem Brief über den »Arbeiter« ausdrück
lich beruft. Sein Arbeitsbegriff zielt von vornherein auf die totale, das heißt restlose Ver
mittlung von Subjekt und Objekt des Arbeitsprozesses durch diesen selbst. Das heißt
also, auf ihr Verschwinden.
Das verbindet sich für Jünger historisch mit dem Ende des bürgerlichen Zeitalters,
insbesondere dem Verschwinden der bürgerlichen Vorstellung von Individualität, in
der die Person sich selbst besitzt. In Jüngers Vision hat kein Lebendiges Bestand für
sich, sondern es geht auf in der energetischen Beziehung zu anderen, in dem, was es
für andere ist. Die »Gestalt des Arbeiters« hat das verwirklicht. Sie ist nicht mehr Indivi
duum, sondern, wie Jünger das nennt, »Typus«. Der Einzelne und die gesellschaftliche
Allgemeinheit werden nicht mehr im Individuum dialektisch aufeinander bezogen,
sondern fallen vermittlungslos zusammen.
Das daraus mit der Zeit entstehende planetarische Gesamtgebilde nennt Jünger
»organische Konstruktion«. Die restlos von der Arbeit beherrschte Erde strahlt als Hy
brid von Organismus und Maschine. Alle nationalen und kulturellen Unterschiede sind
getilgt. An die Stelle des Individuums tritt der Typus, der als Gestalt des Arbeiters die
Welt beherrscht. Der Einzelne ist ein austauschbares Rädchen im Getriebe der planeta
rischen Maschine. Mit der Dialektik von Teil und Ganzem, die den Organismus charak
tersisiert, hat das freilich nichts mehr zu tun, auch wenn Jünger es so nennt.
Es ist die Illusionslosigkeit der von jedem Kulturpessimismus freien Diagnose, die
Heiner Müller an Jünger fasziniert hat. Es hält sich beim Vorwurf faschistischer Ten
denzen, der Jünger gemacht worden ist, gar nicht auf und nimmt ihn von seiner stärks
ten Seite – als Seismograph eines gesellschaftlichen und anthropologischen Paradig
menwechsels, durch den das bürgerliche Zeitalter endet. Der europäische Faschismus
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ist eine Erscheinungsform dieses Paradigmenwechsel. Der Kommunismus – meint Mül
ler – könnte eine andere, bessere sein.
Kluge indes schlägt einen dritten Weg ein. An den Fortbestand bürgerlicher Indivi
dualität glaubt er ebensowenig wie Jünger und Müller. Aber zieht die ›Gestalt des Arbei
ters‹ heran, um sie zu dekonstruieren. Er braucht die Idee einer holistischen, ja totali
tären Einheit, aber nur, um sie daraufhin zu durchlöchern und zu reindividualisieren.
Die »organische Konstruktion«, die er aus Jünger zitiert, läuft ja später im Text auf ein
Nebeneinander verschiedener Welten hinaus.
Hinzu kommt noch etwas anderes. Jünger und Müller treiben Geschichtsphiloso
phie. Mit der ›Gestalt des Arbeiters‹ verbindet sich für sie der Gedanke einer epochalen
historischen Wende. Kluge ist nun in einem Grade geschichtsphilosophisch desinteres
siert, das für einen Angehörigen der Kritischen Theorie höchst erstaunlich ist. Darauf
weisen ja die Figuren, mit denen der Berichtteil des Textes schließt: Herakles, der die
Säulen der Welt immer noch hält, die immer noch ausgebliebene Apokalypse, die so si
cher schien – das sind Wendungen gegen die Geschichtsphilosophie der großen epo
chalen Erzählungen. In diesem Sinn glaubt Kluge nicht an die Geschichte. Sie ist ihm
vielmehr ein anamnetischer Speicher, in dem alles gleichzeitig vorhanden ist, eine Re
source von Parallelwelten. Die ›Natur‹ des Menschen ändert sich aber wenig, sie bleibt
im Durchgang durch die Zeit im wesentlichen konstant.
Für unseren Text bedeutet das, dass Kluge die Gestalt des Arbeiters aus dem ge
schichtsphilosophischen Zusammenhang löst, in dem sie bei Jünger und Müller steht
und sie naturalisiert. In ihr steckt ein Stück Natur, das immer schon da war und in ei
ner über die menschliche Kultur weit hinausweisenden Perspektive den Zusammen
hang der Wirklichkeit bestimmt hat.
4 / Theorien des Weltlebewesens Die Ansicht, dass die Welt, ja der gesamte Kosmos belebt sei, ist keine Spezialität Klu
ges. Sie ist ja eine Mitgift der menschlichen Evolution und findet sich sich in der ein
oder anderen Form in praktisch allen Kulturen. Religion und Kunst beruhen darauf,
auch wenn sie es nicht direkt aussprechen. Auch das 20. Jahrhundert, in vieler Hinsicht
ein Triumph naturwissenschaftlicher Rationalität, hat der Idee des organischen Welt
ganzen besonderen Schaden hätte zufügen können. Im Gegenteil hat sich durch die
Systemthorien der Organizismus eher verstärkt. Und so ist der Gedanke, dass es überin
dividuelle Lebenssysteme gibt, auch ein Leitmotiv des Klugschen Werks, das er in zahl
reichen Erzählungen, aber auch in den Filmen und Fernsehfeatures immer wieder vari
iert. Leitend ist dabei – wiederum – das Konzept der Selbstregulierung.
Für seinen Umgang mit den diversen Systemtheorien, die sich an diesem Konzept
orientieren, ist es aber charakteristisch, dass er zwischen anerkannten und abseitigen,
seripösen und esoterischen Varianten überhaupt nicht unterscheidet. In dem eigen
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tümlich halbfiktionalen Raum, den seine Erzählungen, Filme und Fernsehfeatures er
zeugen, verflüchtigt sich der Gegensatz von Poesie und Wissenschaft, Mythos und Lo
gos. Russische Esoteriker wie die ›Biokosmisten‹ der jungen Sowjetunion gelte gleich
viel wie die Biologen, die in den großen amerikanischen Laboratorien beschäftigt sich,
die Anthroposophie soviel wie die Astrophysik, Rupert Sheldrakes »morphogenetische
Felder« soviel wie Maturanas Autopoiesis des Lebendigen und die daran anknüpfende
Systemtheorie Luhmanns.
Sie alle verfolgen eine gemeinsame Idee und sie alle sind es offenbar wert, in den
narrativen Raum eingeschleust zu werden, den Kluges Werk eröffnet. Dadurch kann er
sie poetisch testen, das heißt: für die Erfahrung gangbar machen.
5 / Astrophysik und QuantentheorieEine naturwissenschaftliche Spur, die Kluge gelegt hat, müssen wir gesondert ver
folgen. Was meint er, wenn er behauptet, die Quantenmechanik ›beweise‹ die Existenz
einer Vielzahl von Welten, als deren Entstehungsort er wiederum die schwarzen Löcher
mit ihrem übermäßigen Umsatz von Masse und Energie beschreibt? Das Argument sitzt
an einer zentralen Stelle der Erzählung, dort nämlich, wo es darum geht, plausibel zu
machen, dass der kosmische Herakles – das »Weltall als Gestalt des Arbeiters« – keine
geschlossene, sondern eine offene Totalität darstellt.
Ich vermute, dass Kluge sich damit auf die sogenannte ›Viele-Welten-Theorie‹ des
englischen Physikers Hugh Everett bezieht. Diese Theorie wurde 1957, als sie erschien,
von der scientific community vollkommen ignoriert; mittlerweile aber spielt sie in
quantentheoretischen Debatten einer immer wichtiger werdende Rolle.
Im Kern behauptet diese Theorie, dass die Wirklichkeit auf quantenmechanischer
Ebene eine Vielzahl möglicher Welten in sich enthalte, die durch den Akt der Beob
achtung tatsächlich auseinandetreten und sich realisieren. Die Quantenwelt ist in
deterministisch und indifferenziert und sie »dekohäriert« durch die Beobachtung in
verschiedene Erscheinungswirklichkeiten. Jede »Erscheinung«, wie es bei Kluge heißt,
ist von einer alternativen »Gegenwelten« begleitet.
Das schwarze Loch im Zentrum der Galaxie stellt durch seine extreme Energiekon
zentration, die Materie strukturlos werden lässt und sozusagen ›verflüssigt‹, Verhältnis
se her, wie sie auf Quantenebene herrschen. Hier, an diesem kosmischen Ursprungsort,
entstehen im größten Stil Welten, die zueinander nicht in organischer Wechselwirkung
stehen. Dieses »Multiversum« ist ein Organismus, in dem konstruktive und dekonstruk
tive Kräfte zugleich tätig sind. Die »Himmelsarbeit«, also die ›Arbeit der Natur‹ stellt
eine organische Synthese her, ohne totalitär zu sein; und Kluge wäre nicht Kluge, wenn
sich nicht damit auch ei politischer Sinn verbände. Das Multiversum ist die Analogie ei
nes demokratischen Gemeinswesens, in dem das Ganze nicht über die Teile herrscht.
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6 / Goethes Naturphilosophie Die Natur, das Ganze der Wirklichkeit, ist also ein offenes, potenziell unendliches, sich
ständig in sich pluralisierendes, nicht deterministisches System. So liegt es im Sinne der
Systemtheorie, so entwirft es die Viele-Welten-Theorie, und in dieser Weise liegt es
auch Goethes Naturphilosophie zugrunde, auf die Kluge anspielt. In dem Fragment
»Die Natur« heißt es zum Beispiel:
»Sie baut immer und zerstört imme und ihre Werkstätte ist unzugänglich ... Je
des ihrer Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isoliertes
ten Begriff und doch macht alles eins aus ... Es ist ein ewiges Leben, Werden und
Bewegen in ihr und doch rückt sie nicht weiter ... Sie setzt alle Augenblicke zum
längesten Lauf an und ist alle Augenblicke am Ziel ... Alles ist immer da in ihr.
Vergangenheit und Zukunft kennt sie nicht ... Sie ist ganz und doch immer un
vollendet.«
Dieses kurze Quodlibet aus dem etwa dreiseitigen Text macht deutlich, wie nahe, wie
nahe Kluge in der Sache der Goetheschen Naturkonzeption steht, mit der allerdings
wesentlich Differenz, dass er zum einen ihrem Umfang kosmisch erweitert, und zum
anderen den Begriff der Arbeit mit der Produktivität der Natur kurzschließt, die von
Goethe hymnisch besungen wird.
Nun hat jedoch die Art und Weise, in der sich Kluge auf Goethe bezieht, etwas aus
gesprochen Verqueres und Raffiniertes. Die Wendung »Läßlichkeit der Natur« ist we
der in dem Fragment noch an anderer Stelle bei Goethe nachzuweisen; es ist also ein
Quasi-Zitat, das lediglich der Sache nach auf das konzeptionell zentrale Fragment »Von
der Natur« veweist. Nun ist aber dieses Fragment, bizarr genug, gar nicht von Goethe,
sondern von dem Schweizer Theologen Georg Christoph Tobler. Toblers anonym er
schienener Text war Goethe aber so wichtig, dass er seinen Autor lange verschwieg und
das Fragment in die Ausgabe letzter Hand aufnahm.
Wir haben es also mit der Fälschung einer Fälschung zu tun. Gerade das aber indi
ziert sachliche Nähe. Die verschlungene und kulissenschieberhafte Aneignung frem
den geistigen Eigentums, in der Goethe und Kluge übereinkommen, macht sie zu Ver
bündeten. Dort hingegen, wo Kluge korrekt zitiert, wie etwa im Falle Jüngers, modifi
ziert er unter der Hand den Sinn des Zitierten. Kritik nimmt wörtlich, die Nähe zur Sa
che nimmt es nicht so genau und ist selbst lässlich.
Noch in einer weiteren Hinsicht spielt Kluge Goethe ironisch gegen Jünger aus.
Denn die Goethesche Vorstellung einer zugleich offenen und geschlossenen Ganzheit,
eines zugleich mangelhaften und vollkommenen Produktionsprozesses von »Welt«,
schlägt nun auch auf den Gestaltbegriff zurück, den Kluge von Jünger entlehnt hat. Als
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hätte er sein Schicksal vorausgeahnt, hat sich Goethe in einer Einleitung zur »Morpho
logie« kritisch über den Gestaltbegriff geäußert:
»Betrachten wir ... alle Gestalten ..., so finden wir, daß nirgend ein Bestehendes,
nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern daß alles viel
mehr in einer steten Bewegung schwanke. … Wollen wir also eine Morphologie
einleiten, so dürfen wir nicht von Gestalt sprechen; sondern, wenn wir das Wort
brauchen, uns allenfalls dabei nur … ein in der Erfahrung nur für den Augen
blick Festgehaltenes denken.«
Gerade so ›braucht‹ auch Kluge den Begriff der Gestalt. Er übernimmt ihn von Jünger,
um ihn mit Hilfe von Jüngers eigener Quelle gegen den totalitären Sinn zu kehren, den
er im »Arbeiter« angenommen hat. Er wird weniger zweckentfremdet als seinem eigent
lichen Zweck wieder zugeführt.
II. Interpretierender Durchgang
Nach dem langen kommentierenden Anlauf möchte ich nun einen kurzen inter
pretierenden Durchgang durch den Berichtteil unserer Erzählung machen. Zuvor blen
de ich noch ein zweite Schema ein, das die Elemente des Kommentars noch einmal auf
eine neue – nun vielleicht vertrautere Weise konfiguriert:
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Kluges zentrale Idee, die gewissermaßen den Hintergrund des Schemas bildet, ist die
lebendige Arbeit; und zwar in einem schlechterdings universellen Sinne. Arbeit ist das,
was die Welt im Innersten zusammenhält, das, was aus ihr im eigentlichen Sinne über
haupt eine Welt macht, in dem Sinne, dass es eine Einheit darstellt, deren Teile sich in
aktiver Wechselwirkung aufeinander beziehen. Die Welt wird durch Arbeit zu einem le
bendigen Organismus. Diese Idee durchläuft drei Phasen. Ihnen entsprechen die Ab
sätze 1–4, 5 und 6 der Erzählung.
(1) Die Absätze 1–4 handeln von der Entstehung der Arbeit aus der Trennung,
aus einer Leidenserfahrung. Die Arbeit ist der Versuch, die Trennung zu
überwinden. Dabei allerdings verändert sich der Arbeitende bis zur totalen
Selbstverwandlung, die über seinen Tod hinausgeht. Der Arbeitsprozess,
der hier initiiert wird, ist linear »ins Unendliche gerichtet«, es ist ein dialek
tischer Wechselprozess mit offenem Ende.
(2) Im fünften Absatz wird das Schicksal des Herakles kosmologisiert. Gleich
zeitig hat es den Anschein, als würde der Erzähler sein Leiden vergessen. Es
ist allein von dem die Rede, woran man sich erinnert, wenn man sehnsüch
tig die verlorene Einheit wiederherstellen will. In der Mythologie ist das die
Milch der Hera und ihr astronomisches Äquivalent, der Milchstraße, die
Rede. Kluge betont die Idee des durch Arbeit hergestellten galaktischen Or
ganismus, der »organischen Konstruktion« der Milchstraße. Die holisti
schen, esoteriknahen Ideen stehen im Vordergrund, als Moment innerhalb
des dialektischen Prozesses, den dieser Text durchläuft.
(3) Der sechste Absatz bringt dann die ›Synthese‹ des Prozesses. Anders als bei
Hegel resultiert der Prozess aber nicht in einer Erzeugung von Einheit aus
der Entzweiung, sondern eher in ihrer Auflockerung. Das Multiversum, der
astronomische Ausdruck für die mythologische Gestalt des Arbeiters, pro
duziert permanent aus sich Differenz. Hegel spricht vom Ende des dialekti
schen Prozesses als der Identität von Identität und Differenz; in dem ewig
sich aus sich produzierenden Multiversum möchte man eher von einem
Nebeneinander von Identität und Differenz reden.
Der Prozess führt also von der Trennung über die Konstruktion einer Einheit zurück in
ein Differenzgefüge, das zwar mit der Einheit vermittelt ist, in der diese Einheit aber
nicht die Oberhand hat. Wenn man das noch dialektisch nennen will, sollte man es
wohl ›negative Dialektik‹ nennen.
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III. Texttheoretische Schlussüberlegungen
Ich komme zum Schluss mit einigen Überlegungen, die den textheoretischen Status
von »Heiner Müller und die ›Gestalt des Arbeiters‹« zu bestimmen versuchen. Was für
eine Art von Text ist das? Ich möchte im folgenden drei Vorschläge machen, die sich in
gewisser Weise ergänzen. Jeder betont einen anderen Aspekt des Klugeschen Verfah
rens.
Dieses Verfahren – die Herakles-Erzählung kann dabei exemplarisch für viele ande
re Texte von Kluge stehen – zeichnet sich durch 4 Eigentümlichkeiten aus:
1. Die narrativen Konventionen sind auf ein Minimum reduziert. Anfang und
Ende des Textes sind vollkommen unprägnant, an die Stelle einer Handlung
tritt eine mit erzählenden Mitteln dargestellte ›Entwicklung eines Begriffs‹.
2. Der Text wirkt gegenüber den Diskursen, die er arrangiert, fast unselbstän
dig. Er ist nicht autonom. Der transtextuelle Aspekt steht so massiv im Vor
dergrund, dass der Eindruck ensteht, er selbst sei es, der den Text organisie
re.
3. Die aktualisierten Kontexte sind prinzipiell unendlich. Sie verweisen auf an
deren; in dem globalen Wissensnetz, in dem sie sich bewegen, gibt es keinen
Anfang und kein Ende, sondern allein nicht vorhersagbare Vorgänge fortge
setzter Ausdifferenzierung.
4. Im Fall dieses besonderen Textes kommt noch hinzu, dass er sich mit dem
Bild des schwarzen Loches, das riesige Mengen an Substanz in sich hinein
saugt und in Form von Gegenrealitäten aus sich entlässt, selbst beschreibt. Er
hat also poetologische Qualität.
Kluges Verfahren entspricht damit ziemlich genau dem, was Deleuze und Guattari –
erster Vorschlag – rhizomatisches Erzählen nennen. Dieses Erzählen, das sie aus einer
Analyse der Erzähltechnik Kafkas entwickeln, hat sich von der Idee einer geschlossenen
Totalität verabschiedet. Es bewegt sich seriell von Unganzheit zu Unganzheit, durch ein
Netz von Querverweisen, die inneren Unendlichkeit besitzen wie Kafkas Raumfluchten.
Dieser Vorschlag betont die Offenheit des Systems.
Für die Klugeschen Text würde ich als Ergänzung – zweiter Vorschlag – einen Alter
nativbegriff ins Spiel bringen, nämlich den der lemmatischen Erzählung. Ein Lemma
ist ein Lexikoneintrag. »Heiner Müller und die ›Gestalt des Arbeiters‹« ist Teil eines ima
ginären Lexikons – eines Lexikons jedoch, das nicht aus Stichworten, sondern aus er
zählen Erfahrungsmomenten besteht. Es ist, wenn Sie so wollen, eine Art narrative Ein-
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Mann-Wikipedia, die Kluge hier aufzieht. Kein Gegenstand ist so unwichtig, kein Au
genblick so flüchtig, kein Begriff so beiläufig, dass sie es nicht verdienten, in dieses Le
xikon aufgenommen zu werden. Dieser Vorschlag betont den Wissenscharakter des
Systems. Die Idee ist die vollständige, aber zugleich diskontinierliche Verwandlung der
Wirklichkeit in erzähltes Wissen.
Erzähltes Wissen aber ist Mythologie. Gleichgültig, mit welchem texttheoretischen
Begriff man Kluges Erzählverfahren bestimmt: es ist der Sache nach ein mythologisches
Erzählen. Dieser dritte Vorschlag betont den Wirklichkeitscharakter des Systems. Wis
senschaft und Kunst, Fakten und Fiktion, Dichtung und Wahrheit beginnen im Licht
mythologischen Erzählens miteinander zu kommunizieren und ineinander zu ver
schwimmen, jede Geschichte ist Teil einer Welt, die aus Geschichten erbaut ist, die alle
miteinander zusammenhängen. Nichts anderes aber, meine Damen und Herren, ist
Mythologie.
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