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Wohlstand - Ausgabe 15 2014 des strassenfeger

Date post: 10-Oct-2015
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Berlin, Straßenzeitung, soziale Straßenzeitung, Zeitung, Berliner Straßenzeitung, Magazin, strassenfeger, Aktuelles, Politik, Soziales, Kultur, Sport, mob e.V., Obdachlosigkeit,

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  • Straenzeitung fr Berlin & Brandenburg

    1,50 EURdavon 90 CT fr

    den_die Verkufer_in

    No. 15, Juli August 2014

    SKANDALSIn den Hinterhfen der Armut (Seite 4)

    UNFASSBARDie Geschichte von Toni Luso (Seite 6)

    FORMIDABELDer neue Mcke Hring-Comic(Seite 16)

    WOHLSTAND

  • strassenfeger | Nr. 15 | Juli August 20142 | INHALT

    strassen|feger Die soziale Straenzeitung strassenfeger wird vom Verein mob obdach-lose machen mobil e.V. herausgegeben. Das Grundprinzip des strassenfeger ist: Wir bieten Hilfe zur Selbsthilfe!

    Der strassenfeger wird produziert von einem Team ehrenamtlicher Autoren, die aus allen sozialen Schichten kommen. Der Verkauf des stras-senfeger bietet obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen die Mglichkeit zur selbstbestimmten Arbeit. Sie knnen selbst entschei-den, wo und wann sie den strassenfeger anbieten. Die Verkufer erhalten einen Verkuferausweis, der auf Verlangen vorzuzeigen ist.

    Der Verein mob e.V. fi nanziert durch den Verkauf des strassenfeger soziale Projekte wie die Notbernachtung und den sozialen Treff punkt Kaff ee Bankrott in der Storkower Str. 139d.Der Verein erhlt keine staatliche Untersttzung.

    Liebe Leser_innen,mit dem Wohlstand ist das so eine Sache: Deutschland ist eines der reichsten Lnder der Welt. Leider sind die Vermgen laut ei-ner DIW-Studie in keinem Euro-Land so ungleich verteilt wie in Deutschland. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. Der durchschnittliche Besitz von Arbeitslo-sen hat sich seit 2002 fast halbiert. Auch die Unterschiede zwi-schen Ost und West sind weiterhin deutlich: In Westdeutschland liegt das Medianvermgen (dasjenige Vermgen, das exakt in der Mitte der Vermgensverteilung liegt) bei 21 000, in Ostdeutsch-land nur bei 8 000 Euro. In der Politik wird meist der materielle Wohlstand bzw. das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als Indika-tor fr materiellen Wohlstand bercksichtigt. Wohlstand misst sich aber nicht nur daran. Ob es den Menschen in einem Land wohl geht, hngt auch ab von einer intakten Umwelt sowie dem Vorhandensein und der schrankenlosen Verfgbarkeit zu kul-turellen und gesellschaftlichen Werten. Dazu gehren Frieden, Sicherheit, Freiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Bildungs-mglichkeiten, Kinderbetreuung, Kulturangebot, soziales und politisches Engagement, Freizeit und vieles andere mehr.

    Leider sieht es vor allem mit dem Materiellen fr viele Menschen eher schlecht aus. Kinderarmut ist eines der schrecklichsten Probleme. Laut Deutschem Kinderschutzbund leben ber 2,5 Millionen Kinder in Deutschland in Einkommensarmut. Unsere Autoren Anna Gomer und Thomas Grabka haben eine Grofa-milie in Alt-Moabit besucht und nachgefragt, wie es ist, arm zu sein (Seite 4). Toni Luso nennt sich selbst einen Landstreicher. Jetzt ist er schwer krank und braucht Hilfe (Seite 6). Dass es Wohlstand nicht fr alle gibt, und Geld nicht glcklich macht, darber berichten wir auf S. 8 und 9. Was es mit der Enquete-kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualitt des Deut-schen Bundestages auf sich hat, erfahren Sie auf Seite 10.

    In der Rubrik art strassenfeger lassen wir Michael Schrter zu Wort kommen: Er erzhlt exklusiv im strassenfeger ber seinen neuen Mcke-Hring-Comic (Seite 16). Unsere Kulturredak-teurin Urszula Usakowska-Wolff sprach mit der Kthe-Kollwitz-Preistrgerin Corinne Wasmuht ber deren aktuelle Ausstellung in der Akademie der Knste am Hanseatenweg (Seite 24). Im Sportteil geht es um die Neuzugnge bei Hertha BSC (Seite 26) und die Moral im Fuball (Seite 27).

    Ich wnsche Ihnen, liebe Leser_innen, wieder viel Spa beim Lesen!Andreas Dllick

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    WOHLSTANDKinderarmut abstrakt und konkret

    In den Hinterhfen der Armut

    Die Geschichte von Toni Luso

    Wohlstand fr alle!

    Angenehmer Wohlstand?

    Die Vermessung des Wohlstands

    Ich will keine zustzlichen Balkone

    Vielleicht bin ich auch reich...

    Deutschland ist der Dritt e Weg fr Tabakindustrie

    Statussymbol im Wandel der Zeit

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    TAUFRISCH & ANGESAGTa r t s t r a s s e n fe g e rEin Fall mit falschen Fuff zigern Michael Schr-ter schickt seinen umtriebigen Privatdektiv Mcke Hring wieder in die Spur

    Ve r k u fe rVerkufer-Ausweis ist keine Bett ellizenz!

    Ve re i nKaff eeklatsch mit Cowboy-Klaus

    K u l t u r t i p p sskurril, famos und preiswert!

    A k t u e l lAusstellung Corinne Wasmuht: Meine Bilder beruhen alle auf dem Prinzip der Collage

    S p o r tHertha BSC verstrkt sich extrem

    Betrachtungen zur Fuballweltmeisterschaft

    B re n n p u n k tNationale Strategie zur berwindung von Wohnungsnot und Armut in Deutschland

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    AUS DER REDAKTIONH a r t z I V - R a t g e b e rWichtige Urteile des Bundessozialgerichts (5)

    K o l u m n eAus meiner Schnupft abakdose

    Vo r l e t z t e S e i t eLeserbriefe, Vorschau, Impressum

  • strassenfeger | Nr. 15 | Juli August 2014 WOHLSTAND | 3

    Die Kinder von Familie K. haben nur sehr wenig Platz zum Spielen (Foto: Thomas Grabka)

    Kinderarmut abstrakt und konkretReportagen als Umgehungsstrategie politischer TatbestndeB E T R A C H T U N G : A n a G o m e r

    Die Frage nach der Armut ist immer auch eine Frage nach der Schuld. Die Frage nach der Kinderarmut wird oft mit gebetsmhlenartigen Schuldzu-weisungen beantwortet. Sicher, es sind noch an-dere Fragen im Feld Ab wann ist ein Kind arm, welche Faktoren machen Kinderarmut aus, wie viele Kinder sind in Deutschland arm? Das sind Fragen, auf die die Medien und Politik die Ant-wort parat haben: Jedes fnfte Kind in Deutsch-land lebt unterhalb der Armutsgrenze, die derzeit bei 940 Euro liegt. Das sind ber 2 Mio. Kinder, die nach den gesellschaftlich relativen Faktoren wie Teilhabe am Bildungs- und Sportangebot, Gesundheit, Kleidung, Zuwendung benachtei-ligt sind. Doch eine ganz andere Frage wird in den Medien nicht diskutiert: Was tun?

    Das Thema der Kinderarmut ist in aller Munde und es gibt in Mediatheken der Fernsehsender und in den Archiven der Zeitungen eine Vielzahl von Reportagen ber dieses brisante Thema. Kein Fernsehkanal scheint dieses Thema wegge-lassen zu haben. Und keine Boulevardzeitung. Dem Thema sind Eindeutigkeit, Brisanz und gewisses Potential, die Zuschauer- und Leser-herzen zu bewegen und zu empren inhrent, die bei den Massenmedien sehr gefragt sind. Diese Momente machen denn auch den Kern einer gelungenen Reportage aus. Dieses For-mat wird nmlich fast ausschlielich zur Be-handlung dieses schwierigen Themas gewhlt. Auerdem knnen dabei sowohl das Staats- als auch das kommerzielle Fernsehen, vom Super RTL bis Arte, - aber auch die Springerpresse- mit einem scheinbaren gesellschaftlichen oder gar kritischen Engagement glnzen. Nach fast hundert Jahren ist also immer noch aktuell, was Siegfried Kracauer sagte: Seit mehreren Jahren geniet in Deutschland die Reportage die Meist-begnstigung unter allen Darstellungsarten, da nur sie, so meint man, sich des ungestellten Lebens bemchtigen knne (Schriften. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1971, 216).

    Ungestellt will uns die Vierte Staatsgewalt die Kinderarmut prsentieren. Die gestalterische Hauptmethode der Berichterstattungen ber die Kinderarmut besteht darin, den Betroffenen buchstblich auf die Pelle zu rcken, ihnen unter die Haut zu gehen. So sind beispielsweise Groaufnahmen von weinenden Augen, unsi-cheren Hnden sehr beliebt. Die Kamera folgt den Armen in ihre Kchen und Schlafzimmer. Immer dieselben Bilder der Verwahrlosung und des Desasters. Immer dieselben Geschichten

    von ungebildeten, alkohol- oder drogenabhngi-gen, oder einfach nur krank gewordenen Eltern. Aber auch die Pressefotografie arbeitet beim Thema Kinderarmut mit hnlich strukturierten wiederkehrenden Motiven. Ein einsames Kind vor herbstlich- kahler Sozialbaulandschaft. Kinderfe in zerschlissenen Schuhen oder in schmutzigen, verschiedenen Socken. Daran erkennt man also Kinderarmut. Ein Kind, das sich nicht in unmittelbarer Nhe von Platten-bausiedlung aufhlt und dabei nicht mindestens zwei verschiedene Socken trgt, wird demnach gar nicht als arm identifiziert.

    D i e s e s U n t e r - d i e - H a u t - G e h e n d e r R e p o r t a g e h a t Sy s t e m Die Lupe wird so nah angesetzt, dass man nur das Gefhl hat, man she alles. Das Wichtige bleibt dabei gewollt oder ungewollt stets ungesehen. Und das sind die strukturellen Pro-bleme, die die Armut verursachen. Darber hinaus heit es meist im Subtext: Wenn sich die Eltern nur Mhe geben und nicht alles ver-saufen wrden, dann ginge dat schon. Dann knnte man auch mit Harz IV eine ganz passa-ble Kindheit haben. Kein Grund zur Sorge fr uns. Denn die Schuldigen sind ja ausgemacht und eine Lsung fr das Problem gibt es auch (aufhren zu saufen, zu rauchen, Computer zu spielen, Unterschichten- Fernsehen zu schauen, und berhaupt: Htten diese Harz IV- Empfn-ger doch gleich Medizin studiert...) Auerdem

    sind es doch Einzelschicksale. Selbst schuld.

    Statt den Weg so vieler Zeitungen und Sen-dungen zu gehen und reportagenhaft tragische Einzelschicksale aneinander zu reihen, sie mit dem Subtext moralischer Schuldzuweisungen zu spicken, bei welchen die Schuldigen immer schon ausgemacht sind und die gesellschaftli-chen Ausmae lediglich in Form von abstrakten Zahlen figurieren, msste man die umgekehrte Richtung anschlagen: Nhern durch Entfernen. Um die Einzelschicksale als Rollen in der gesell-schaftlich- konomischen Struktur begreifen zu knnen, muss man vor allem diese letztere ins Auge fassen. Die Marktwirtschaft beruht auf Technologisierung, Innovation und Wettbe-werb. Indem man aber die Wettbewerbsfhig-keit als Modus akzeptiert, akzeptiert man, dass es Verlierer geben muss.

    Partizipation durch Arbeit ist ein Kerngedanke dieser Gesellschaft. Welche Perspektiven haben also diese Kinder und Jugendlichen in einer Ge-sellschaft, in der die Arbeit als Vergesellschaf-tungsprinzip nicht (mehr?) funktioniert? Die Form der Wirtschaft und der Technologie setzt gezwungenermaen Menschen auer Arbeit. Dass es Verlierer geben muss bei diesem Wirt-schaftssystem, bei dem die Frage der Verteilung immer noch nicht offen und ernsthaft gestellt wird, bleibt ein offenes Geheimnis und den Ge-winnern nicht verborgen.

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    strassenfeger | Nr. 15 | Juli August 20144 | WOHLSTAND

    Potjomkins KinderIn den Hinterhfen der ArmutR E P O R T A G E : A n n a G o m e r | F O T O S : T h o m a s G r a b k a

    Eigentlich ist es ja gar nicht so schlimm, ist unser erster Gedanke, als wir nach vie-lem Rumgekurve endlich in der Sickin-genstrae im Stadtteil Moabit ankommen. Die Straenzge mit Geschften und Cafs lie-gen hinter uns. Wir kommen in ein Gebiet dieser Stadt, in das man sich nicht so einfach bei einem Einkaufsbummel oder auf der Suche nach einem netten Restaurant verirrt. Die Strae ist trostlos, Lagerhallen und verfallene Industriesttten auf der einen Seite, graue Altbauten auf der ande-ren Doch das Haus, in dem wir mit der Familie K. verabredet sind, scheint vor nicht allzu langer Zeit in ein frisches Zitronengelb gestrichen wor-den zu sein. Erst als der Blick die Fassade ge-nauer absucht, werden die ersten Auspizien der Armut sichtbar. An den Fenstern hngt Wsche, Kinderstrumpfhosen und kleine T-Shirts Die Fenster im Erdgeschoss sind weit geffnet, es ist Summer in the City. Das verschmte Auge streift die Innenrume, versucht sich abzuwenden. Doch eine Kinderschar, die drauen an einem der geffneten Fenster lrmt, zieht den Blick auf sich, und auch auf graue Stofffetzen am Fenster und auf gespenstische Gesichter im flackernden Licht des Fernsehers dahinter.

    Wir mssen ins Hinterhaus. Und hier werden wir wie von einer Zeitmaschine erfasst, die die Raum-zeit um uns krmmt und uns direkt in das 19. Jahr-hundert katapultiert. Graubraune Kasematten, kein Licht Bilder wie aus Dostojewskis Auf-zeichnungen aus einem Kellerloch oder, man muss nicht so weit gehen, wie aus Zilles Berlin.

    Doch etwas ist anders. Neonbuntes Spielzeug auf kaputtem Beton und dazwischen spielende Kinder holen uns ins 21. Jahrhundert zurck. Wir gehen die Treppen hoch. An den Wnden der Ru der Jahrzehnte, Geruch der Generati-onen von Armut in der Luft Oben angelangt werden wir von der Familie K. begrt und ins Wohnzimmer gebeten. Auch hier luft der Fern-seher, wird aber gleich ausgemacht. Ein Tisch am Fenster, eine Schrankwand mit Kinderfotos, eine Couchlandschaft Kahle Tapetenwnde mit ei-nem Foto des Ehepaars dicht unter der Decke.

    Frau K. atmet schwer. Brust auf und ab, bringt sie uns Getrnke an den Tisch. Fanta und Cola gibt es. Die Familie nimmt Platz auf der gro-en Eckcouch. Nicht die ganze Familie - der berblick fllt etwas schwer: Kinder laufen hin und her durch den Flur Wie viele sind es? Das Gesprch ist am Anfang stockend, we-der Frau noch Herr K. sprechen gut Deutsch. Ein Freund der Familie, ein rumnischer Deut-scher, kommt uns zu Hilfe. Er und die beiden groen Jungs, Beni(16) und Sami(14), ber-setzen und erzhlen.

    In dieser 2-Zimmer-Wohnung mit feuchten Wnden, kaum 70 qm, wohnen momentan zehn Menschen. Davon acht Kinder. Sechs Kinder der Familie, die vor zwei Jahren aus Bukarest nach Berlin kam, sind schulpflichtig. Die Familie lebt von Harz IV, die Kinder der Familie K. gehren demnach zu den 150 000 statistisch erfassten Berliner Kindern, die unter der Armutsgrenze

    leben. Das sind genau 26,9 Prozent. Fast jedes dritte Kind in Berlin

    W i e m e i s t e r t d i e Fa m i l i e d e n h a r t e n A l l t a g i n v i e l z u e n g e n Ve r h l t n i s s e n ? Es bedarf einer ganz eigenen Logistik, stimmen alle ein. Der Essenseinkauf ist ein Kapitel fr sich, erzhlt der Vater. Mehrere Familienvter tun sich zusammen und fahren mit einem Auto nach Polen zu Gromrkten, wo die Lebensmit-tel billiger sind. Fr den Einkauf verderblicher Produkte ist die tgliche Lektre der Discoun-terangebote unerlsslich.

    Doch wie bewerkstelligt Frau K. die Essens-zubereitung fr die Grofamilie in der winzig kleinen Kche? Eintpfe und viel Arbeit ist die Antwort. Aber auch Grillen im nahegelegenen Park, zusammen mit Freunden, fgt der l-teste frhlich hinzu. Das ist schn! Kommen Sie doch auch!- werden wir mit freundlichem Nicken eingeladen. Und die Hausaufgaben der Kinder? In Schichten, genauso wie Duschen und Waschen. Wir helfen einander, es geht sehr gut!- sagt der lteste ernsthaft.

    Die Aufteilung der Schlafpltze gehorcht ei-nem anderen Prinzip: die drei Kleinen schla-fen im Schlafzimmer der Eltern. Fnf Groe im Wohnzimmer. Die Frage liegt auf der Hand: Warum ziehen Sie nicht in eine grere Woh-nung? Das Jobcenter wrde eine solche be-zahlen, doch finden mssten sie sie schon selbst,

  • 01 Einkaufen geht nur im billigsten Discounter

    02 Kochen und Wohnen auf engstem Raum

    03 Armut pur: Familie K. wohnt mit zehn Personen in einer 70-Quadratmeter-Wohnung

    04 Trotz der Armut beschweren sich die Kinder nicht

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    wei der Vierzehnjhrige sachlich zu berich-ten. Genau da liege das Problem. Monatelange intensive Suche htte bis jetzt zu keinem Ergeb-nis gefhrt. Die kinderreiche Familie, die einer Pfingstgemeinde angehrt, stt immer wieder auf Ablehnung. Auch weil sie aus Rumnien kommt, vermutet der Junge: Die Vorurteile sind stark. In ihren Augen sind wir Zigeuner und klauen alle. Doch so ist es nicht, fllt der Freund der Familie dem Jungen ins Wort: Gerade aufgrund ihrer Religiositt sei es eine sehr anstndige Familie. Sie trinken und sie rauchen nicht. Der Vater htte sein Leben lang in einem Busdepot als Reinigungskraft und auf Baustellen hart gearbeitet. Die wirtschaftliche Situation in Rumnien, ein krasser Abbau von Arbeitspltzen seit dem EU-Beitritt, htte die Familie hart getroffen. Auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen fr ihre Kinder htten sie sich schlielich entschieden, nach Deutschland zu kommen.

    Wir fragen, ob sich ihre Erwartungen erfllt haben. Ein einstimmiges Ja ist die Antwort. Den Kindern gehe es gut, die Lehrer seien sehr nett und die Menschen in Deutschland kinder-freundlich.

    Die Ansprche sind nicht sehr hoch, man kommt mit wenig aus. Doch schnell wird klar, dass der Zugang zu den blichen Aktivitten den Kindern verwehrt bleibt. Fuballverein? Fehlanzeige. Es wird im Park gebolzt. Hobbys und Nachhilfe sind kein Thema. Urlaub? Undenkbar. Das we-

    nige Spielzeug kommt von Discountern und aus Spenden. Kleidung und Schuhe sind immer ein Problem. Aber auch hier entwickeln die lteren Kinder ihre Strategien: Es wird getauscht und ge-liehen. Die Frage nach der gesunden Ernhrung fr Kinder erbrigt sich. Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt.

    Die Familie hlt zusammen, betonen alle immer wieder. Es gibt fr Kinder kaum Anlass, Kon-takte auerhalb der freundlichen Hausgemein-schaft zu knpfen, in der neben zwei deut-schen Brdern (sehr netten Trinkern, die Beni und Sami manchmal von der Treppe auf-sammeln und ins Bett bringen) nur Migranten leben. Die Kinder beschweren sich nicht, dass sie keinen auerschulischen Aktivitten mit Schulkameraden nachgehen knnen. Die Fami-lie ist selbstgengsam. Und so wird es fr die Kinder wohl auch bleiben. Auf die Frage nach den Zukunftsplnen antwortet Beni, er werde zusammen mit seinem Vater Isac K., der erst 39 Jahre alt ist und noch etliche Jahre Arbeitsleben vor sich hat, auf der Baustelle arbeiten. Er wird also in die Fustapfen des Vaters treten.

    Die Bhne bleibt, die Rollen werden neu besetzt.

    Zille hatte einmal gesagt: Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso tten wie mit einer Axt.

    Wer wei, wie viele Generationen (Bau-)Arbei-ter diese Wnde noch beherbergen werden.

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    01 Sozialarbeiterin Wiebke Sprung vom Birkenhaus in Rotenburg an der Wmme: Der Weg ins norma-le Leben oft immer schwerer.

    02 Toni Luso war sein Leben lang auf der Strae jetzt ist er schwer-krank

    03 Toni Luso lebt von 15 Euro am Tag

    strassenfeger | Nr. 15 | Juli August 20146 | WOHLSTAND

    Ob ich Angst vor dem Tod habe? Wer mchte denn gern sterben?Die Geschichte von Toni LusoT E X T & F O T O S : W i e l a n d B o n a t h

    Rotenburg an der Wmme: Toni Lusos grn-graue Augen blitzen unter der Ballonmtze mit Fisch-grtenmuster, er setzt die Flasche mit dem gold-farbenen, 11-prozentigen Honigwein ab: Pader-born in die Bundesliga aufgestiegen ist das nicht

    schn!? Und ich kann nicht hin Der 63-Jhrige sitzt seit sieben Monaten im Birkenhaus fest. Dort, an der Harbur-ger Strae in Rotenburg an der Wmme, wo die Gste in der Regel nach ein, zwei Nchten ins Ungewisse weiterziehen. Fr Luso ist Rotenburg, obwohl er es nicht wahr haben will, mg-licherweise Endstation. Rachen- und Lungenkrebs haben ihn und seinen Schlafsack von der Strae in die vier festen Wnde ganz oben im Birkenhaus des Herbergsvereins gebracht.

    Ich heie eigentlich Anton, aber ich mag dieses Anton nicht. Sein Leben lang war Toni auf der Strae. Einer von scht-zungsweise 20 000 Landstreichern und Bettlern in Deutsch-land. Und dies ist bei ihm unauslschlich: Ich mchte unbe-dingt wieder lostigern und rumgammeln. Und gleich danach: Aber da wird ja eh nichts davon. Ist das funkelnagelneue Klappfahrrad, das gleich neben seinem Bett steht, so etwas wie eine zweirdrige Illusion? Fr 157 Euro hat er das Rad von seinen Ersparnissen in Rotenburg gekauft. Die Pedale mssen noch angeschraubt werden, und dann soll es losge-hen zur ersten Fahrt, vielleicht in das benachbarte Scheeel. Frher, erinnert sich Toni Luso, bin ich fast immer zu Fu gegangen. Sechs Kilometer habe ich in der Stunde geschafft. Jetzt sitzt Toni Luso in seinem kleinen Zimmer mit ungemach-tem Bett, mit altem Fernseher, der so etwas wie Partnerersatz ist, mit Khlschrank, mit einem groen, runden Tisch, den er gar nicht mag und weichen Sesseln, von denen er einen aus dem Fenster schmeien mchte, weil die eine Lehne so schwarz ist. Der nchste Termin im Krankenhaus steht be-vor. Sind die Tumore gewachsen? Er dreht sich trotzdem eine

    Zigarette mit Tabak aus dem kleinen Lederbeu-tel mit den kleinen festgenhten Emblemen vom Trompete blasenden Engel bis zum Pferdekopf. Dazu ein krftiger Schluck aus der Flasche mit sem Honigwein. Ob ich Angst vor dem Tod habe? Wer mchte denn gern sterben?

    Toni Luso wurde 1951 in Augsburg geboren. Sein Vater, Bcker und Schrotthndler von Beruf, stammt aus Kroatien. Er habe, so Luso, weil er im Krieg gegen die Serben gekmpft habe, das Land verlassen mssen und sei nach Deutschland ge-flchtet. Erinnern knne er sich an den inzwischen gestorbenen Vater nicht. Die Mutter, er glaube, sie sei 86 Jahre alt, lebe jetzt in Passau. Und dann sei da noch eine etwas jngere Schwester: Wo die verheiratet ist, wei ich nicht. Ich halte sowieso von dem ganzen Familienkram nichts. Die Schule in Passau verlsst er ohne Abschluss hinaus in eine Welt in der es gilt, von einem Tag zum anderen zu berleben und in der kein Platz fr Vagabunden-Romantik ist. Als 15-, 16- und 17-Jhriger ist er immer wieder ber Para-graphen gestolpert: Einbrche, Diebsthle. Toni Luso: Warum? Das tut man ganz einfach im Suff. Wo das war, spielte keine Rolle, Hauptsa-che, man kam dadurch ber die Runden. Was, ob er an Gott glaube? Er kenne diesen Mann nicht. Im brigen seien die ganzen Religionen doch nur immer wieder Heuchelei, Mord und Plnderung. Soll man da an Gott glauben?, fragt der 63-Jhrige. Ungezhlte Kilometer Deutschland von oben

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    strassenfeger | Nr. 15 | Juli August 2014 WOHLSTAND | 7

    nach unten, von links nach rechts - ist er in den Jahrzehnten als Landstreicher ber Asphalt, ber Sandwege und vom Regen aufgeweichte Pfade gelaufen. Er ist Menschen begeg-net, die nicht mit Unverstndnis und Verachtung sparten, und er traf immer wieder freundliche Menschen, die nicht fragten, sondern ihn mit ein paar Mark und spter Euro un-tersttzten. In Mnchen dann eine ganz besondere Bekannt-schaft: Ich war 33 Jahre, Angela 23. Sie war bildhbsch, fuhr Taxi und war nebenbei Tanzlehrerin. Wenn ich dieses Jahr vielleicht noch einmal nach Mnchen fahre, dann will ich versuchen, dass ich Angela finde. Ich wei nicht, ob sie noch in Schwabing wohnt. Ja, eine Familie htte er schon ganz gern gehabt eine Frau, ein oder zwei Kinder. Aller-dings: Zwischendurch wre er immer wieder auf die Strae gegangen. Das brauche er.

    Ob er denn demnchst an der Wahl zum Europaparlament teilnehme? Wahlen gibt es fr Toni Luso nicht, weil er als heimatloser Auslnder gilt, der zum Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland berechtigt ist. Und ganz winzig steht an anderer Stelle seines Reisepasses Ungeklrte Staatsangehrigkeit. In diesem Jahr muss der Ausweis, den er htet wie einen kleinen Schatz, vom Passamt verln-gert werden. Und was er noch braucht, was aber diesmal so schrecklich lange dauert: Das Quartal ist abgelaufen, und dann ist fr die medizinische Behandlung die AOK-Versiche-rungskarte unbedingt notwendig. Auch Bettler, heimatlose Auslnder und Landstreicher fallen also nicht durch das so-ziale Netzwerk. Die gesundheitliche Frsorge lsst sie nicht allein. Der Tagessatz, den Toni Luso erhlt, beluft sich auf 13 Euro: Wenn man keine bergroen Ansprche hat, kann man davon leben, wei der 63-Jhrige. Und dann gibt es da noch die Tafel, die fr einen Euro gute Mahlzeiten anbietet.

    Wenn da nicht der Alkohol und die Zigaretten wren Viele,

    wenn nicht zu viele Menschen am Rande der Gesellschaft ohne Perspektive, ohne Partner, ohne Halt und immer wieder gedemtigt, nehmen Rausch- und Genussmittel, um sich den falschen und kurzfristigen Ersatz zu schaffen. Toni Luso liebt Musik. Er holt ein asiatisches Instrument mit kleinen Metall-zungen hervor. Davoud der Perser hat ihm das kleine In-strument geschenkt, als er noch in Tbingen heie Maronen verkauft hat: Toni, wir kssen dich. Dein Platz is leer, steht auf dem Deckel. Toni: Ich werde jetzt zur Edeka gehen und mir ein paar Bierchen kaufen und sie auf der Bank an der Strae trinken. Da kann ich dann auch an das Meer denken, wo ich so gerne gewohnt htte.

  • strassenfeger | Nr. 15 | Juli August 20148 | WOHLSTAND

    Wohlstand fr alle!Was aus der Sozialen Marktwirtschaft wurdeT E X T : D e t l e f F l i s t e r

    Ludwig Erhard, Wirtschaftsminister in der Regierung Konrad Adenauers (CDU) und spterer Bundeskanzler, wird gemeinhin als Erfinder der Sozialen Marktwirtschaft bezeichnet. Diese beruht auf der Idee, die Folgen des Marktes sozial abzufedern und den Brgern materielle Sicherheit zu geben. Alle Brger des Staates sollen von diesem Sys-tem profitieren. Die Parole: Wohlstand fr alle! wurde als Versprechen an alle Deutschen ausge-geben. In nur zwei Jahrzehnten wurde ein in der Welt beispielloses soziales Netz aufgebaut, das die Risiken des Marktes abfedern und das erneute Entstehen von sozialer Armut in Deutschland verhindern sollte, basierend auf einem schier un-endlich scheinendem Wirtschaftswachstum. Be-sonders in der sozialdemokratischen ra unter Kanzler Willy Brandt (SPD) und teilweise auch noch unter Helmut Schmidt (SPD), bertrafen sich die Politiker gegenseitig bei der Schaffung neuer Sozialleistungen. Zumindest diesbezglich konnten die Deutschen damals stolz sein auf ih-ren Staat. Dass Wachstum begrenzt ist, wissen wir mittlerweile. Nach der Einheit sollte es daher auch ein bses Erwachen geben....

    K r z u n g d e r R e n t e n b e i t r g e d u rc h d e n K a n z l e r d e r d e u t s c h e n E i n h e i t Schon kurz nach der deutschen Einheit gab es die ersten Attacken auf die sozialen Netze. Deutsch-land war hoch verschuldet, und die Neuverschul-dung wuchs rasend schnell. Das langsame Aus-dnnen des Sozialnetzes wurde mit mehreren Attacken auf die Rente begonnen: Zweifelhafte

    Plne, wie die Versteuerung der Rente, Krzungen dieser bei Vorruhestand und auch die Zahlung von Sozialversicherung fr Rentner wurden vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl eingefhrt. Die Rentenerhhungen wurden ebenfalls eingedampft, und es gab mehrere Nullrunden. Danach wur-den die Erhhungen immer geringer. Die letzte Erhhung lag bei 0,75 Prozent und deckte nicht einmal den Inflationssatz ab. Diese Manahmen trugen entscheidend zur Entstehung von Altersarmut bei, die derzeit stetig wchst.

    H a r t z I V A r m u t p e r G e s e t zDie sozialen Schweinereien der bundesdeutschen Regierun-gen sollten aber noch einen neuen Hhepunkt erreichen. Es gab eine Riesendebatte darber, dass wir mit unserer stn-dig wachsenden Schuldenlast den knftigen Generationen die Zukunft stehlen wrden. Pltzlich standen die Bezieher staatlicher Leistungen als Sozialschmarotzer da, die sich in der sozialen Hngematte Deutschlands ausruhen und nur noch Sozialleistungen abgreifen wrden, letztlich gar nicht bereit wren zu arbeiten. Das knne man schlielich nicht zulassen, und diesen Schmarotzern msse man das Wasser abgraben. Die Boulevardpresse befeuerte diese Debatte zu Ungunsten arbeitsloser Menschen. Die Folge: Hartz IV wurde von der rot-grnen Regierung unter Gerhard Schrder auf den Weg gebracht, was zur Abschaffung des bis dahin gel-tenden Arbeitslosengeld/-hilfe- Systems fhrte. Die neuen gesetzlichen Regelungen gerieten bei den Sozialorganisatio-nen schnell unter Beschuss, wurden als Armut per Gesetz be-zeichnet. Zahlreiche Proteste halfen nicht. Stattdessen wurden die Sanktionen, die bei Pflichtverletzungen drohen, stetig erhht. Der Druck auf die Leistungsbezieher wurde bestndig erhht. Leistungen wurden auf ein Existenzminimum zurck-gefhrt, das auf veralteten Preisen beruht und auch noch ge-krzt oder zeitweise ganz verweigert werden kann.

    Fa z i tDie Rentenkrzungen und Hartz IV sind nur zwei Beispiele in der langen Reihe der fragwrdigen sozialen Manahmen der letzten Bundesregierungen, die die soziale Absicherung ar-beitsloser, armer und kranker Brger_innen extrem minimiert. Unser Staat passt sich immer mehr dem Raubtier-Kapitalismus amerikanischer Prgung an, der, wenn berhaupt, nur rudi-mentre soziale Leistungen kennt. Die Regierung von Helmut Kohl ftterte die Wirtschaft noch zustzlich mit Steuererleich-terungen und vielfltigen Abschreibungsmglichkeiten. So wird immer mehr eine Zwei-Drittel-Gesellschaft verfestigt, die das letzte Drittel vom Wohlstand ausschliet und der Armut preisgibt. Die Lhne steigen langsamer als die Preise, was viele Brger in starke soziale Nte bringt. Dies schrnkt auch ihre Freiheit und soziale Teilhabe ein. Freiheit kann ohne soziale Si-cherheit und mit Existenzngsten nicht ausgelebt werden und wird dadurch bedeutungslos.

    Ludwig Erhard 1957 mit seinem Buch Wohlstand fr Alle (Foto: Bundesarchiv B 145 Bild-F004204-0003, CC-BY-

    SA-3.0-de)

  • strassenfeger | Nr. 15 | Juli August 2014 WOHLSTAND | 9

    Lebt, wer im Wohlstand lebt, wirklich angenehm?Wider der LegendeB E T R A C H T U N G : J a n M a r k o w s k y

    Als Heranwachsender habe ich oft die-sen Satz gehrt: Der hats gut, der hat Geld. In der Regel wurde dieser Satz ausgesprochen, wenn ein Mangel zu beklagen war. Doch hat der es wirklich gut gehabt? Ich wei, in der Dreigroschenoper singt Mackie Messer im Song vom angenehmen Leben auch: Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm. Was aber ist berhaupt Wohlstand? Wohlstand, so eine Bedeutung, hat mit gesund sein, sich gut fhlen zu tun, sich wohlfhlen eben. Mackie Messer hatte aber allein das ma-teriellen Wohlergehen im Sinn. Mit ihm sicher auch die meisten meiner Mitbrger.

    P re u i s c h e D i s z i p l i n u n d S t a l i n s Te r ro r g e g e n Wo h l s t a n d

    Dass das Anhufen materieller Gter nicht un-bedingt nachhaltiges persnliches Wohl erzeugt, das habe ich in meinem Leben aus erster und zweiter Hand erfahren. Die DDR ist untergegan-gen, obgleich Erich Honecker die materiellen Le-bensverhltnisse der arbeitenden Bevlkerung verbessern wollte und u.a. im groen Stil Woh-nungen bauen lie. Den Bewohnern der einst be-rhmt-berchtigten Waldsiedlung von Wandlitz war allerdings weit weniger wohl, als neidische Zaungste glaubten. Mir wurde berichtet, dass Inge Lange, Kandidatin des Zentralkomitees der SED, ihre Tochter, die Schriftstellerin Katja Lange-Mller, nicht zu Hause in der Siedlung empfangen durfte oder wollte. Ich kann das nicht besttigen, aber auch nicht ausschlieen.

    So unwahrscheinlich ist das nicht, wei ich doch von ach so guten Genossen, die um ihrer Karriere willen die Beziehungen zu unbotmi-gen Kindern abgebrochen haben. Einem Punker hat seine Mutter Verrat an der DDR vorgewor-fen, als er dem Druck nicht mehr aushalten konnte und von Ost- Nach Westberlin gezogen ist. Besonders krass haben die Diskrepanz die Mitglieder der Komintern (Kommunistische In-ternationale) im Moskauer Luxushotel Lux erlebt. Die willkrlichen Verhaftungen, immer nachts, haben ein Klima der Angst erzeugt. We-gen der stndigen Angst konnten Johannes R. Be-cher, Georgi Dimitroff, Georg Lukcz, Klement Gottwald. Boleslaw Bierut, Walter Ulbricht und Ruth Fischer, um nur einige bekannte Namen zu nennen, das vergleichsweise gute Essen und die Ausstattung nicht genieen. Stattdessen lebten

    sie in Anspannung, Angst und mit permanenter Schlaflosigkeit. Der Terror in der DDR wirkte bis zum Fall der Mauer.

    Fa l s c h e s Ve r s p re c h e n

    Auch in der Bundesrepublik wurde und wird permanent an der Legende vom Wohlstand ge-strickt. Der damalige Bundeswirtschaftsminister und sptere Bundeskanzler Erhard hat im Feb-ruar 1957 beim ECON-Verlag das Buch Wohl-stand fr Alle herausgebracht. Der Titel war ein Versprechen. Fr Ludwig Erhard ging es um ma-teriellen Wohlstand. Er war da ganz Kind seiner Zeit. Konsum kann kompensieren, wenn Besitz materieller Gter zum Ziel des Lebens wird. Wie, das werde ich noch erklren. Hier nur so viel: Wenn ein Profifuballer der Bundesliga vor laufender Kamera in seinem nicht kleinen Auto aufs Gaspedal tritt und von Fahrspa spricht, dann sind einige Werte schief.

    Wo h l l e b e n m i t w e n i g

    Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungs-losenhilfe hat 2007 zu ihrer Jahrestagung in Potsdam geladen. Ich habe im Vorfeld folgende Ankndigung gelesen: Ist Integration noch mglich? Ich stellte mir dann die Frage, wer integriert werden muss: Ich als Mensch ohne fes-ten Wohnsitz, Mitglied der Theatergruppe Un-ter Druck, Vorstand des kleinen Vereins Unter Druck Kultur von der Strae, Autor der sozi-alen Straenzeitung strassenfeger, integriert in einer freikirchlichen Gemeinde oder eher Angela

    Merkel, in ihrer Kanzler-Waschmaschine vllig abgeschirmt von der Wirklichkeit?

    Das Leben auf der Strae ist eine der deut-lichsten Formen sozialer Ausgrenzung. Ich habe das nicht so empfunden. Mich hat das Arbeits-verhltnis im Bro zuvor so belastet, dass der Schritt in die Obdachlosigkeit eine Befreiung war. Lange vor der Kommission von Peter Hartz (dem Erfinder von Hartz IV) hat der Druck auf Arbeitnehmer_innen zugenommen. Es dauerte eine Weile, bis ich mich in das Leben ohne ein eigenes Dach ber dem Kopf eingelebt hatte. Am lngsten hat das mit dem Schlafen im Freien gedauert. Dank des vor vielen Jahren wirklich guten Systems der niedrigschwelligen Woh-nungslosenhilfe in Berlin konnte ich als mit-telloser Mensch ohne Wohnung gut berleben und leben. Das hat meine Sinne geschrft, und das ist die Grundlage meines andauernden En-gagements fr ausgegrenzte Menschen. Und als Akteur auf den Brettern, die die Welt bedeuten, habe ich auch ohne einen Pfennig in der Tasche am kulturellen Leben teilnehmen knnen. Ich wurde eingeladen.

    R e s m e e

    Wer materiell abgesichert ist, lebt nicht unbe-dingt im Wohlstand. Karriere um der Kariere willen hat ihren Preis. Auch im Wohlbefinden. Um wohl zu leben, muss erst einmal das berle-ben gesichert sein. Das geht entgegen der Mehr-heitsmeinung auch ohne Geld. Kontinuierliche Mitarbeit sorgt fr Anerkennung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Auch ohne Geld.

    Wohlstand fr alle!Was aus der Sozialen Marktwirtschaft wurdeT E X T : D e t l e f F l i s t e r

    In diesem eher bescheidenen Ambiente in der Bonzensiedlung Wandlitz (Haus 11) lebte der SED-Generalsekretr Erich Honecker (Foto: Ranofuchs/Wikipedia CC-BY-SA-3.0,2.5,2.0,1.0,)

  • strassenfeger | Nr. 15 | Juli August 201410 | WOHLSTAND

    Die Vermessung des WohlstandsAls vor gut einem Jahr die Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualitt ihren Abschlussbericht vorlegte, war von Ernchterung und Scheitern die Rede. Nun verschleppt die Bundesregierung die Inbe-triebnahme einer im Abschlussbericht vorgeschlagenen Website T E X T : J u t t a H e r m s

    Es htte der groe Wurf werden knnen. Aus der Erkenntnis, dass unsere Art zu wirtschaften und zu leben nicht zukunftstauglich ist, htte die Idee ei-nes Zufkunftsmodells werden knnen. Wo, wenn nicht in einer Enquete-Kommission, ist Platz dafr,

    ber groe Fragen gro nachzudenken? Unkonventionelle Ideen oder unbequeme Wahrheiten htten vielleicht verstrt, aber htten eine Debatte angestoen. Doch aus den groen Ideen wurde nichts. Die Bundestagswahlen waren nahe, der Klimawandel fern. Und berhaupt war Deutschland ja gut aus der Krise gekommen. Es wird alles beim Alten bleiben, und wir haben einen neuen Bericht bekommen, sagte damals der Sachverstndige Meinhard Miegel, der von der CDU in die Kommission berufen worden war.

    Die Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Le-bensqualitt wurde vor dem Hintergrund der berstandenen Finanzkrise ins Leben gerufen. ngsten von Brgern sollte be-gegnet werden, der Zusammenbruch der Finanzmrkte hatte Milliarden Dollar und Euro versenkt und unzhlige Arbeits-pltze zerstrt. Die Kommission bekam den Auftrag, schon lnger in Deutschland gefhrte Debatten aufzugreifen. Etwa die Debatte, ob Wohlstand und Lebensqualitt der Deutschen so wie das bisher geschieht - durch das Wachstum des Brutto-inlandsproduktes kurz BIP genannt - angemessen abgebildet werden knnen. Das Bruttoinlandsprodukt rechnet zusam-men, wie viele Waren und Dienstleistungen ein Land in einem Jahr produziert hat. Es rechnet als Euro zusammen. Ob aber die Deutschen gesnder sind als im letzten Jahr, die Schulen besser geworden sind, das verrt es nicht. Auch verunreinigte

    Gewsser und verseuchte Bden, Klimagase, die Fabriken und Autos in die Luft blasen, erfasst das BIP nicht. Die Kommis-sion wurde beauftragt, einen ganzheitlichen Wohlstands- bzw. Fortschrittsindikator zu entwickeln.

    W i r t s c h a f t s w a c h s t u m s c h a f f t A r b e i t s p l t z e u n d h i l f t a u s d e r K r i s e

    Auch mit dem Wirtschaftswachstum sollten sich die Enquete-Mitglieder befassen. Wachstum, das wei auch der kono-mie-Laie, hrt sich erst mal gut an, man kommt damit aus wirtschaftlichen Krisen, Wachstum schafft Arbeitspltze, es sorgt fr stabile Sozialsysteme und letztlich fr Wohlstand fr alle. Doch auch dazu braucht es kein Fachwissen auf einer endlichen Welt kann es kein unendliches Wachstum geben. Wer kologische Ressourcen ber Gebhr ausbeutet, zerstrt letztlich die Grundlagen unserer Zivilisation. Wachstum, Wachstum, Wachstum, um jeden Preis. Und davon weg-zukommen, das ist der Auftrag, der an die Enquete gestellt worden ist sagte die damalige Vorsitzende der Enquete-Kommission Daniela Kolbe, damals, als sich die Kommission zusammenfand. Mit viel Enthusiasmus war die junge Abge-ordnete aus Leipzig damals an die Arbeit gegangen.

    Neben 17 Abgeordneten des Bundestages, dem damals eine schwarz-gelbe Regierung vorstand, gehrten der Kom-mission 17 Sachverstndige aus Wissenschaft, Wirtschaft und Verbnden an, die von den Parteien in die Kommission berufen worden waren. Es war ein ziemlich bunter Haufen. Michael Mller etwa war dabei, ein in kologischen Dingen engagierter

  • 01 Das Bruttoinlandsprodukt gibt keine Auskunft ber Umweltverschmutzung (Foto: Jutta Herms)

    02 Wirtschaftswachstum verspricht materiellen Wohlstand (Foto: Jutta Herms)

    03 Die Enquete-Kommission fr Wachstum, Wohl-stand, Lebensqualitt whrend einer Sitzung. Links im Bild die Kommissions-Vorsitzende Daniela Kolbe, SPD (Quelle: Deutscher Bundestag/ Lichtblick/ Achim Melde)

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    strassenfeger | Nr. 15 | Juli August 2014 WOHLSTAND | 11

    Sozialdemokrat, Meinhard Miegel, der von einer Journalistin mal als Kassandra der Wachstums-kritik betitelt wurde, Kai Carstensen, liberaler konom vom Ifo-Institut, und ebenso Gert Wag-ner vom Deutschen Institut fr Wirtschaftsfrde-rung, ein konservativer Keynesianer.

    Da sa einer in der Enquete-Kommission (Karl-Heinz Paqu, Wirtschaftsprofessor und Ex-FDP-Finanzminister in Sachsen-Anhalt), der hatte ein Buch geschrieben mit dem Titel Wachstum! und darin nachdrcklich fr eben das pldiert. Und da sa ein anderer mit in der Runde (Ralf Fcks, Vorsitzender der Gr-nen-nahen Heinrich-Bll-Stiftung), der hatte auch ein Buch geschrieben, aber das trat ein fr intelligentes Wachstum, fr ein ressourcen-schonendes Wachstum. Unter den Politikern in der Kommission taten sich bald rot-grne und schwarz-gelbe Grben auf. Die meisten CDU- und FDP-Politiker sahen das Land und die Weltwirtschaft nicht am Wendepunkt. Die andere oppositionelle - Seite forderte ei-nen umfassenden Umbau der Wirtschaft und Wachstumsverzicht.

    Philipp Rsler, der wegen schlechter Um-fragezahlen vor der Bundestagswahl unter ge-hrigem Druck stand, erklrte irgendwann das Thema Wachstum zum Ziel seiner Partei. Das lhmte die Kommission, die ja gerade Nutzen und Sinn des Wachstums hinterfragen wollte. Wenn man keine Vernderung will, muss man es genau so anstellen, sagte Meinhard Miegel da-mals. Und die Vorsitzende Daniela Kolbe stellte fest, sie sei nach zwei Jahren Arbeit insofern et-was klger, dass ich realistischer geworden bin.

    N e b e n E i n z e l i n d i k a t o re n s o l l e s s o g e n a n n t e Wa r n l a m p e n g e b e n

    Konkrete Handlungsvorschlge legte die Pro-jektgruppe vor, die mit der Entwicklung eines alternativen Wohlstandsmaes beauftragt war: Der materielle Wohlstand und dessen Nach-haltigkeit wird im W Indikator durch das BIP pro Kopf, die Einkommensverteilung und die Staats-schulden abgebildet. Der Bereich Soziales/Teil-habe soll durch die Indikatoren Beschftigung,

    Bildung, Gesundheit und Freiheit gemessen wer-den und der Bereich kologie durch die Variab-len Treibhausgase, Stickstoff und Artenvielfalt. In dieser Darstellung sind zehn Einzelindikato-ren enthalten, die nach dem Vorschlag noch mit sogenannten Warnlampen verbunden werden sollen. Sie sollen helfen, negative Entwicklungen frhzeitig zu erkennen, um gegensteuern zu kn-nen. Das Ganze soll grafisch aufbereitet und auf einer Webseite Eingang finden. Auf diese Weise knnten Brger Zugang zu dem Indexsatz er-halten und sich einbringen.

    Im Juni letzten Jahres hat der Bundestag - mit der damaligen schwarz-gelben Mehrheit die Bundesregierung in einem Entschlieungs-antrag aufgefordert, den Vorschlag der Webseite zu verwirklichen. ber ein Jahr spter gibt es die Webseite noch nicht. Aus dem Statistischen Bundesamt, in dessen Hnden die technische Umsetzung lge, heit es, man warte auf eine Ansage aus der Politik. Aus dem, dem Statisti-schen Bundesamt vorgesetzten Bundesministe-rium des Inneren, heit es, die Angelegenheit befinde sich in Hnden des Bundeskanzleram-tes. Dieses ist zurzeit beschftigt mit dem im Koalitionsplan angekndigten Aktionsplan Gutes Leben Lebensqualitt in Deutsch-land. Die Zeitung Die Welt zitiert Bundestags-abgeordnete mit der Vermutung, dass man wohl die Kommissionsvorschlge in diesen Aktions-plan einflieen lassen will. Wirtschaftsprofessor Karl-Heinz Paqu, den die FDP damals in die Kommission berufen hatte, uert in derselben Zeitung die Vermutung, CDU und SPD wren wohl froh, wenn die Ergebnisse irgendwo in Ruhe in Aktenschrnken verstaubten.

    Die damalige Kommissionsvorsitzende Da-niela Kolbe uert sich dem strassenfeger ge-genber zufrieden: Im Koalitionsvertrag sei ein klarer Prozess vereinbart worden. Der sehe die Entwicklung eines Indikatoren und Berichts-systems zur Lebensqualitt in Deutschland vor, zudem sei ja der Aktionsplan Gutes Leben Le-bensqualitt in Deutschland beschlossen wor-den. Als Vorsitzende der ehemaligen Enquete werde ich darauf achten, dass sich unsere Vor-schlge dort auch wiederfinden.

    H i n t e rg r u n d :

    Im Dezember 2010 beschloss der Deutsche Bun-destag die Einsetzung einer Enquete-Kommission mit dem Titel Wachstum, Wohlstand, Lebensqua-litt Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft.

    Am 17. Januar 2011 nahm die Kommission ihre Arbeit auf. Ihr gehrten an: 17 externe Sachver-stndige und 17 Abgeordnete des Bundestages, von denen gem den damaligen Krfteverhlt-nissen im Bundestag sechs der CDU/CSU, vier der SPD, drei der FDP und jeweils zwei der Linken und Bndnis 90/Die Grnen angehrten.

    Gearbeitet wurde in fnf Projektgruppen:1. Stellenwert von Wachstum in Wirtschaft und

    Gesellschaft2. Entwicklung eines ganzheitlichen Wohl-

    stands- bzw. Fortschrittsindikators3. Wachstum, Ressourcenverbrauch und

    technischer Fortschritt Mglichkeiten und Grenzen der Entkopplung

    4. Nachhaltig gestaltende Ordnungspolitik5. Arbeitswelt, Konsumverhalten und Lebens-

    stileIm Mai 2013 legte die Enquete-Kommission ihren Abschlussbericht vor, der 844 Seiten lang ist. Mit einem Entschlieungsantrag beauftragte der Bundestag die Bundesregierung am 4. Juni 2013 damit, ber das Statistische Bundesamt die Darstellung eines von der Enquete-Kommission vorgeschlagenen Indikatorensatzes zur Messung und Darstellung von Wohlstand und Fortschritt im Internet zu veranlassen.

  • strassenfeger | Nr. 15 | Juli August 201412 | WOHLSTAND

    Nein, ich will keine zustzlichen Balkone fr 240 000 Euro kaufen!Mieter uern Unmut am Modernisierungsvorhaben der GESOBAUT E X T : B n d n i s P a n k o w e r M i e t e r p r o t e s t

    Im Bezirk Pankow wird seit dem letzten Jahr der Bestand der GESOBAU massiv modernisiert. Der Umfang der Manahmen ist oftmals nicht nachvollziehbar, die Kommunikation zwi-schen GESOBAU und Mietern funktioniert nicht. Die Manahmen fhren zu sehr viel hheren Mie-ten, das wiederum zieht den Auszug all jener, die sich diese Mieten nicht mehr leisten knnen, nach sich. Und es fhrt zum Unmut der Mieter. Deshalb grndeten im letzten Jahr Mietergemeinschaften von GESOBAU-Husern das Bndnis Pankower Mieterprotest (PMP) und machten ffentlich auf die Problematik der massiven Modernisierung auf dem Rcken der Mieterschaft aufmerksam. Ein Teilerfolg konnte dadurch erreicht werden, dass zwischen dem Bezirksamt Pankow, der GESO-BAU und der Mieterberatung Prenzlauer Berg ein Rahmenvertrag vereinbart wurde, der zum Teil Mieter davor schtzt, aus ihren Wohnungen ziehen zu mssen, weil sie die Mieten nach Modernisie-rung nicht mehr bezahlen knnen. Dennoch plant die GESOBAU weiterhin Manahmen, die nach Ansicht der Mieter nur dazu dienen, hhere Mie-ten zu erzielen. Aktuelles Beispiel ist der Huser-komplex Grabbeallee 50 und 52. Obwohl straen-seitig Loggien und Balkone vorhanden sind, plant die GESOBAU hofseitig den Anbau eines weiteren Balkons in jeder Wohnung gegen den Willen der meisten Mieter. Welche Auswirkungen der Balko-nanbau hat, hat sich Oskar der ist schlau durch den Kopf gehen lassen: Hallo, ich bin Oskar, fast elf Jahre alt und wohne eigent-lich schon ewig in der Grabbeallee 50. Im Vor-derhaus, Hinterhaus haben wir nicht, dafr nen Hof, das ist mein Fuballfeld. Muss Euch mal was erzhlen! Geht um mein Taschengeld. Kommt nicht immer pnktlich, aber kommt, jede Woche!

    Gestern wars. Sitze mit Mama in der Kche beim Frhstck, eigentlich wie immer. Da, sagt sie, Mamas Zeigefinger richtet sich steil durch das Fenster, also durch die Scheibe nach Irgendwo. Da kannst du bald einen Schritt nach drauen treten, sagt der eine Teil mei-nes Taschengeldgebers. Ich: Wieso, willst Du mich loswerden? (Wir wohnen im 2. Stock!) Sie verneint es heftig und streicht sanft ber mein Haar, was ich so mit fast elf eigentlich nicht mehr mag! Mit ernstem Blick setzt sie zu der Erklrung an, dass ich bald, um mich in der Wohnung wohler zu fhlen, einen Schritt auf einen Balkon machen kann. Meine Verwunde-rung ist aufsteigend. Aber wieso denn pltzlich auch in der Kche, haben wir doch schon im Wohnzimmer!. Trink deine Milch! sagt sie, obwohl sie schon lange wei, dass ich dieses

    Kuhwasser mit 1,5 Prozent Fett nicht mag. Mir wird mulmig immer noch dieser Blick.

    Die GESOBAU hat sich das ausgedacht und mchte hier hinten berall solch kleine Balkone anschrauben, damit wir es besser haben. Ich schttele jetzt meine langen Haare mit dem b-lichen Kopfrucken nach hinten und stelle fest: Wie jetzt, auch Balkon nach hinten? Runter-spucken geht nicht, Fuballspielen wohl dann auch nicht mehr. Und wer ist eigentlich die GESOBAU Ich versuche mich zu erinnern. Zu meinen Geburtstagsfeiern war die bestimmt noch nicht, vielleicht ne Gartennachba-rin? Wenn Mama so wie jetzt schaut, ist was im Gange, das kenne ich! Also sage ich: Na schn, dann eben Balkon. Mamas Blick wird noch etwas steiler, sie richtet ihre Haare und ich ahne, jetzt gehts wohl ans Eingemachte. Kann aber die Richtung nicht erkennen. Meine bisherigen Erfahrungen sagen mir, jetzt treu wie ein Dackel gucken! Und nun kommt mein Taschengeld ins Spiel! Sie: Die GESOBAU mchte gern Geld von uns, damit sie es uns so richtig schn machen kann. Gut 60 Euro im Monat fr den neuen Balkon und dies, so lange wir hier wohnen. Na und der Balkon vorn wird dann zugemacht und vergrert unser Wohn-zimmer. Macht auch nochmal 5 m mehr, und damit nochmal ca. 40 Euro mehr Miete. Da das aber viel Geld fr uns ist, haben wir gedacht, dass du so 2,50 Euro von deinem Taschengeld fr diesen Schritt nach drauen spendest.

    Meine Augen werden schmal und feucht. Um Zeit zu gewinnen, trinke ich dieses Kuhwas-ser langsam aus und rechne. Ich kenn das, meine Eltern sagen, dass ich manchmal faul aber nicht doof bin. Das Zweite stimmt! Also

    rechne ich. Im Kopf! Mein Taschengeld betrgt fnf Euro in der Woche. Davon soll ich 2,50 Euro fr den Balkon abdrcken. Das sind im Monat zehn Euro. Im Jahr 120 Euro. Das ist ja ein nagelneues Skateboard! Und das fr einen Schritt nach Irgendwo? In mir steigt die Ab-neigung. Ich rechne weiter. Wenn meine Eltern monatlich so 100 Euro (60 Euro Balkon und 40 Euro mehr Miete) an die GESOBAU zah-len, sind das im Jahr 1 200 Euro. Musste mal schnell nachsehen: Es werden wohl 20 Balkone an unserem Haus angebaut! Also 1 200 Euro x 20 sind 24 000 Euro im Jahr. Wenn ich 21 Jahre alt bin (und ich mchte nie, nie, nie heiraten und fr immer bei meinen Eltern bleiben!) ha-ben wir mit allen zusammen 240 000 Euro an die GESOBAU bezahlt. Und dann bernehme ich diese Wohnung! Und zahle weiter!

    Mama schaut immer noch mit diesem Blick. Was ist, mein Schtzchen, kommt mit mt-terlichem Unterton zu mir rber. Wie ich dieses Schtzchen hasse, immer noch kommt sie mir damit! Erkenne aber, dass Streit jetzt mein Ta-schengeld gefhrdet. Im vershnlichen Ton, den ich von Papa kenne, susele ich: Mama, ich will keinen Balkon, kann ich jetzt auf den Hof Fuball spielen gehen? Ihr Ja, geh spielen, ich kmmere mich schon darum! und ihr freundlicher Blick entfachen in mir Hoffnung. Ich lasse es zu, dass sie mir bers Haar streicht. Was nun aus meinem Taschengeld wird, wei ich nicht, die GESOBAU hat sich noch nicht gemeldet. Hat Mama sich doch nicht gekmmert?

    PS: Noch im Hausflur rufe ich: Und gemein-sam mit dir am Kchentisch sitzen kann ich auch nicht mehr. Ist nmlich kein Platz mehr, wegen der Balkontr!

    Hier an der Grabbee-allee 50/52 will die GESOBAU fr viel Geld Balkone anbauen (Foto: Andreas Dllick VG

    Bild-Kunst)

  • strassenfeger | Nr. 15 | Juli August 2014 WOHLSTAND | 13

    Vielleicht bin ich auch reich...Armut und FlleT E X T : M i s c h a N .

    Ich habe mich meiner Armut geschmt, ich habe sie und mich in ihr beklagt bis mir ein Mensch einmal entgeg-nete, ich sei nicht arm, ich habe nur kein Geld. Dieser Satz blieb mir makaber in den kargen Tagen, in denen ich zu verzweifeln drohte, in denen die Angst beherrschend war im Wissen, Rechnungen nicht zahlen zu knnen, dass die Wasch-maschine vielleicht versagen und der Khlschrank, immerhin besitze ich einen, bis Monatsende berflssig sein wrde.

    Ich habe ein Butterbrot zu schtzen gelernt, den Stolz eines einzigen Kartoffelpuffers und mich an die reich gedeckten Ti-sche, an denen ich einst sa und gedankenlos zulangte, im Zwiespalt erinnert. Ich wusste von Armut, die aber in jener Zeit nicht mich betraf und mein sorgloses Dasein im Wohl-stand auch nicht berhrte.

    Es ist leicht, in einem schnen Kleid eine gute Figur zu machen und bei einem Glschen Wein ber die Wrdelosigkeit der Un-terschicht zu diskutieren der man sich, kultiviert und sozial, immerhin solidarisch erklrt in einem en passant - hingewor-fenen Centstck. Ich habe mir diese Arroganz abgewhnt und das Kastendenken ebenso. Ich will es mir nicht mehr leisten.

    Armut ist nicht Askese. Ich habe sie nicht gewhlt und schon gar nicht verdient. Ich akzeptiere sie nicht, weder fr mich, noch fr einen anderen Menschen. Und ich empfinde Wut, wenn ich in der Lebensmittelausgabe alte Frauen an Krcken stehen sehe, mir in der Suppenkche ein Kind begegnet oder ich morgens an einem, noch auf der Parkbank schlafenden, Mann vorbergehe.

    Vielleicht aber habe ich in allem begriffen, dass nichts selbst-verstndlich ist und manches unbezahlbar. Wenn ich um die Kostbarkeit des Lebens wei, um seine Zerbrechlichkeit... wenn mir bewusst ist, dass ich nicht unbegrenzt Zeit habe und meine Gesundheit als Geschenk betrachte, dann fhle ich mitunter Dankbarkeit und scheint mir mein Leben nicht nur mehr eine bedrckend endlose Durststrecke zu sein.

    Ich habe die Aussage, dass ich nicht arm sei, nicht vergessen knnen und mich zumindest gefragt, ob es neben dem kna-startigen Gedankengang, der immerfort und einzig um den Mangel und dessen Verwaltung fhrte... ob es neben diesem Weg noch einen anderen der Betrachtung geben knne.

    Ein gewagter Blick aus den empfundenen Ruinen, zwischen den ich glaubte das Dasein einer Kanalratte zu fhren, of-fenbarte den weiten Himmel, den friedlichen der mir, aber lngst nicht allen Menschen dieser Welt vergnnt ist. Ich lebe in einem Haus, unter einem Dach, dass mir Rechte zugesteht, die ich einfordern kann.

    Was mir missfllt das darf ich uern und meine Sympathien unterliegen keiner Zensur. Zwischen den Orten, die mir nicht oder nur vorbergehend versperrt sind, gibt es immerhin noch eine Wahl und die Mglichkeit der teilhabenden Gestaltung.

    Kein Pullover aus der Kleiderkammer vermag zu umsumen,

    wer und was ich tatschlich bin. Die mir aus-gestellte Bescheinigung meiner Bedrftigkeit erklrt nicht den Zustand meines Gefhlshaus-haltes, der sich selbst mir und meiner mitunter kostengnstigen Berechnung in Verschwendung widersetzt.

    Aber es bedarf des Mutes, sich dessen bewusst zu sein. Existenzngste und -nte lassen sich nicht abschtteln, nicht im Kostm reicher Phanta-sie minimieren und ein fest geschnallter Grtel zwickt, selbst in einem offenen Gesprch, das zu bereichern und den Blickwinkel zu dehnen sucht.

    Das Leben ist letztlich nicht mit Geld zu bezahlen.

    Ein barfiger Gedanke kann geistreich, eine ver-meintlich grozgige Geste armselig, ein wortfl-liger Satz leer und ein Klagelied bezaubernd sein. Aber wer wollte es schon freiwillig singen?

    Vielleicht bin ich auch reich. Vielleicht bin ich selbst dann noch reich, wenn ich sagen muss, dass ich arm bin.

    Karik

    atur

    : OL

    Gabrielle Goettle Die RMSTEN! (Quelle: Die Andere Bibliothek/Eichborn, Frankfurt

    am Main 2000)

  • strassenfeger | Nr. 15 | Juli August 201414 | WOHLSTAND

    I N FO

    www.drogenbeauftragte.de

    www.berlin-suchtpraevention.de

    www.praevention-na-klar.de

    www.akzept.org

    www.forum-rauchfrei.de

    Deutschland ist der Dritte Weg fr die TabakindustrieZur Prvention von Drogenkonsum gehrt ein Werbeverbot fr Tabak. Doch die Industrie ist hierzulande gut vernetztB E R I C H T & F O T O : B o r i s N o w a c k

    Das Thema Drogen ist wieder auf der Agenda. An-fang Juli erschienen gleich zwei Drogenberichte sowie eine Studie ber die Hintergrnde des Drogenkonsums bei Jugendlichen, dann machte ein Urteil aus den USA ber eine Milliardenab-

    findung fr die Witwe eines Rauchers die Runde, und schlie-lich genehmigte das Verwaltungsgericht Kln den Cannabis-anbau fr medizinische Zwecke in besonderen Fllen.

    Noch bevor die Bundesregierung mit ihrem alljhrlichen Sucht- und Drogenbericht herauskam, erschien wenige Tage zuvor zum ersten Mal der Alternative Sucht- und Drogen-bericht, herausgegeben vom Bundesverband fr akzeptie-rende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik akzept e. V., der Deutschen AIDS-Hilfe sowie dem JES Bundesverband. Auerdem stellte die Fachstelle fr Suchtprvention Berlin gGmbH ihre Studie JDH Jugend, Drogen, Hintergrnde vor, in der sie Jugendliche zu den Grnden fr ihren Drogen-konsum befragt hatte.

    Whrend die Politik mit ihrer Arbeit zufrieden scheint, wenn sie schreibt: Wir haben in Deutschland gute Angebote in der Prvention und Behandlung von Suchterkrankten, be-mngelt der Alternative Drogenbericht genau das und fordert ein umfassendes Werbeverbot fr Alkohol und Tabak, wie es in anderen Lndern Europas bereits praktiziert wird. In der Studie der Berliner Fachstelle fr Suchtprvention stehen zwar Alkohol und Tabak ganz oben beim Gebrauch durch Jugendliche, doch der Fokus liegt auf illegalen Drogen, bei denen Cannabis mit Abstand an dritter Stelle fhrt. Auch dort rumt man jedoch ein, dass zu einer sinnvollen Prvention

    ein Werbeverbot insbesondere fr Tabakprodukte gehrt, da Zigaretten als Einstieg fr Cannabis gelten.

    Die Frage ist also, weshalb in Deutschland weiterhin so um-fangreich fr Tabak geworben werden darf. Dass sich die deutsche Politik mit Verboten fr derart finanzstarke Wirt-schaftszweige schwer tut, wei Johannes Spatz vom Forum Rauchfrei genau. Das Forum fhrt seit 2000 einen harten aber bestndigen Kampf gegen die Tabaklobby und macht Druck in der Politik. Als Quertreiber sieht er sich nicht, wie es ihm vor allem von Rauchern vorgeworfen wird. Ich bin Arzt und kmmere mich um das grte Gesundheitsrisiko, das es in Deutschland gibt, stellt er klar. Das zgerliche Vorgehen der Politik wundert ihn nicht. Die Tabakindustrie hat schon in den siebziger Jahren beschlossen, Deutschland als ihren Drit-ten Weg auszubauen. Soll heien: gute Kontakte zu Parlamen-tariern und Wissenschaftlern. Das reicht bis in die jngere Vergangenheit: 2008 kam heraus, dass das Herzzentrum Ber-lin zwischen 2003 und 05 mit rund einer Million Euro von Phi-lip Morris untersttzt wurde. Damals deutete sich schon an, dass der Tabakindustrie durch EU-weite Gesetze das Atmen schwerer gemacht werden sollte. Unter der schwarz-gelben Koalition verwehrte sich allein das Wirtschaftministerium un-ter Philipp Rsler gegen ein umfassendes Werbeverbot: Rs-ler bezog sich damals auf die freie Meinungsuerung, die ein Werbeverbot ausschliee, erinnert sich Spatz. Die jetzige Bundesdrogenbeauftragte Marlene Mortler hat das Thema wieder aufgegriffen und es geht das Gercht, das Ende die-sen, Anfang nchsten Jahres auch Auen- und Kinowerbung fr Tabak verboten wird.

    Es drfte jedoch spannend bleiben, denn die Industrie ist gewieft. So hatte der Bundesgerichtshof 2010 die Werbung mit Biotabak verboten. Vorausgegangen war eine Anzeige des Forums bei der Verbraucherzentrale. Bio klingt nach gesund und es darf nicht der Eindruck entstehen, Rauchen sei gesund, erklrt Spatz. Jetzt tauchte fast identische Wer-bung auf, mit ko statt bio. Santa Fe musste eine Unter-lassungserklrung abgeben und hat nun bis Ende Juli Zeit, entsprechende Werbung zu entfernen.

    Ein weiterer Erfolg des Forums und weiterer Mitstreiter war jngst die Verhinderung des Exports der Inter-tabac-Messe der Dortmunder Westfalenhallen GmbH nach Bali. Unser Ziel ist es, diese weltgrte Tabakmesse auch in Dortmund in Zukunft zu verhindern, sagt Johannes Spatz. Das Bewusstsein fr dieses Thema in der Bevlkerung aber auch in der Politik hat sich in den letzten Jahren gewandelt, daher sieht er gute Erfolgschancen.

    Johannes Spatz, Arzt und Mitbegrnder des Forums Rauchfrei

  • strassenfeger | Nr. 15 | Juli August 2014 WOHLSTAND | 15

    Statussymbol im Wandel der ZeitBei den Deutschen sind die immateriellen Werte angesagtB E R I C H T & F O T O : A n d r e a s P e t e r s

    Laut einer Studie der Berliner Strategie-Agentur different von 2013 sind vor allem die klassischen Statussymbole, wie mein Haus, mein Auto, mein Boot als Ausdruck von Geld und Wohlstand in der Masse untergangen. Der Werbespot von 1998 taugt mittlerweile nur noch als Parodie. Bei den aktuell niedrigen Kreditzinsen kann sich im Grunde fast jeder so etwas leisten, lea-sen, oder ausleihen. Auch, wenn manch einer damit geradewegs in der Schuldenfalle landet. Ein zustzliches Indiz fr materiellen Wohl-stand in einem Land ist die Tatsache, dass Sta-tussymbole mittlerweile eher als materielle Br-cken fr immaterielle Werte, wie Bewusstsein, Kompetenz und Leistung im Leben stehen. Wer hat, achtet nicht allein auf die Marke, sondern vor allem auf Qualitt. Dies gilt im Besonderen fr die Personengruppe ab 30 Jahren aufwrts. Dem Ergebnis der Untersuchung von Diffe-rent zufolge, sind allerdings junge Menschen zwischen 18 - 29 Jahren nach wie vor erreichbar fr materielle Statussymbole.

    Am Beispiel des Handys lsst sich dieses Umfra-geergebnis besonders gut nachzeichnen. Was fr eine Wichtigkeit und was fr eine Innovation war es fr die meisten, bereits Mitte der 90er Jahre ein Funktelefon sein Eigen nennen zu knnen und zwar eines, das Platz in der Hosentasche hatte. Wer beruflich viel unterwegs war, und sei es nur als Taxifahrer, der sah zu, ein solches Handy zu besitzen. Auf ffentlichen Pltzen zu telefonie-ren und dabei den Menschen, die mit fehlendem Kleingeld an der Telefonzelle standen, zuzuse-hen, das war schon cool. Doch mehr als telefo-nieren, SMS schreiben und ein bisschen Tetris spielen war ja mit den Gerten nicht mglich. Dies nderte sich aber in den folgenden Jahren mit rasender Geschwindigkeit. Erst kamen die multimedialen Features, wie Kamera und Musik-player dazu, dann kam der Zugang zum Internet, Mail for Exchange und ein Internet-taugliches Funknetz, um dass sich zuvor fr unzhlige Mil-liarden die Netzbetreiber gestritten haben.

    Mittlerweile ist das Handy als kommunikative

    Allzweckwaffe allgegenwrtig. Jeder kennt es und fast jeder hat mindestens eines. Als Status-symbol geht es zwar in der Masse etwas unter. Dennoch macht es einen Unterschied, bzw. sagt es etwas ber den Besitzer aus, ob dieser das neueste Modell besitzt oder einen alten Kno-chen, ob er sich dem grnen Roboter oder dem Apfel anvertraut. Fr die jngeren Nutzer ist das Handy jedoch noch viel mehr. Wer heute sein Handy demonstrativ im Caf auf den Tisch legt, neben seinem Latte Macchiato, oder Es-presso, tut dies nicht allein, um zu signalisieren, ich habe eines, sondern zugleich, um mitzutei-len, ich bin stndig im Kontakt mit der Welt und mit meiner sozialen Gemeinschaft. Schlielich knnte im nchsten Moment das Signal ertnen, das dazu auffordert, auf ein schlichtes Hi! oder gar auf ein etwas komplexeres Hallo, was geht? zu antworten. Und wer glaubt, das wre banal, der verkennt die Wichtigkeit, ber diesen Austausch dazuzugehren. Handygesprche und Kurzmitteilungen schmieden heutzutage soziale Bande. Das sinnliche Streben nach An-erkennung und Konsum trifft sich hier mit dem ebenso wichtigen Bedrfnis nach emotionaler Zugehrigkeit und Sicherheit.

    Und dies gilt nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Wenngleich in China oder Indien die Bedeutung des Handys als Statussymbol un-gleich grer ist als bei uns. Die meisten mssen dafr monatelang arbeiten, um sich eines leisten zu knnen. Andernorts auf der Welt wrde je-mand fr ein Handy gar sein Leben geben oder das eines anderen aufs Spiel setzen.

    Ich hingegen gehe ins Geschft und habe beim Handykauf mit einem anderen Problem zu kmpfen. Ich knnte mir zwar ohne Weiteres ein teures und angesagtes Handy, bzw. einen teuren Tarif leisten. Doch ich lasse die mir angeratene Wollmilchsau im Laden und entscheide mich fr die schlichtere Variante ohne Knebelvertrag. Bestrkt durch diese Entscheidung reift zudem beim Verlassen des multimedialen Kauftem-pels mein Vorhaben, wenigstens im Urlaub das Handy abzuschalten. Sind Handys noch Statussymbole?

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    strassenfeger | Nr. 15 | Juli August 201416 | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n fe g e r

  • strassenfeger | Nr. 15 | Juli August 2014 TAUFRISCH & ANGESAGT | 17 a r t s t r a s s e n fe g e r

    Ein Fall mit falschen FuffzigernMichael Schrter schickt seinen umtriebigen Privatdektiv Mcke Hring wieder in die SpurI N T E R V I E W : A n d r e a s D l l i c k

    Er ist wieder da der ausgebuffte Privatdetektiv Mcke Hring. Eine alte Wandervogeljacke aus Trenkercord, Motorradbreeches, Schnrgama-schen, ein blau-weigestreiftes Matrosenhemd, Lederschuhe und Schiebermtze. Dazu immer ein

    verschmitztes Lcheln im Gesicht das ist er, dieses urige Ber-liner Original! Comiczeichner Michael Schrter schickt ihn diesmal auf die Suche nach Ida Siebenschuh, die eine Stelle als Aufwartefrau in der Kneipe Finkenhahn in der Mulack-strae hatte. Drei Monate schon haben ihre Eltern nichts von ihr gehrt. Deshalb soll Mcke nun helfen und dafr mit guten Leberwrsten vom Lande bezahlt werden. Da Mcke keine anderen lukrativen Auftrge hat, muss er eben diesen kleinen Fall annehmen. Aber der entpuppt sich dann als die ganz groe Nummer: Am Ende muss er sich auf die Jagd nach der Bestie vom Landwehrkanal machen. Ganz nebenbei spielt auch eine Brecht-Oper und das dazugehrige Milljh eine nicht ganz unwichtige Rolle in diesem Lebensabschnitt von Mcke. Schon im zweiten Teil war er Gast in der illustren Runde von Freigeistern wie Ringelnatz und Co. Allzu viel soll allerdings an dieser Stelle noch nicht verraten werden. Eins ist aber klar wie Klobrhe: Diese toll gezeichnete Graphic Novel saugt den Betrachter extrem schnell rein in das wunder-bar aufregende Berlin der 20er Jahre. Andreas Dllick sprach exklusiv fr den strassenfeger vor der Verffentlichung mit dem Autor Michael Schrter.

    I N FO

    Michael Schrter wurde in Berlin Prenzlauer Berg geboren und lebt dort nach wie vor. Er war Szenenbild-Assistent beim Fernsehen der DDR (1983 - 1986). Danach werkelte er als Grafiker bei der Comic-Zeitschrift Mo-saik (1986 - 1987, 1995 - 1997), war Animationszeichner bei Hahn-Film, u. a. fr Asterix in Amerika (1992 - 1994). Seit 1998 arbeitet er als freier Grafiker. Zu seinem knstlerischem uvre gehren Illustrationen fr die New Yorker Zeitschrift Communications of the ACM (1998 - 2004), Storyboarding fr Dickes Film und last but not least die Wandgestaltung u. a. in der Bar Nemo.

    www.michaschroeter.de02Fortsetzung Seite 18

  • strassenfeger | Nr. 15 | Juli August 201418 | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n fe g e r

    01 Cover des neuen Mcke Hring-Comics

    02 Michael Schrter ist ein aufmerksamer Beobachter und filigraner Zeichner

    03 Auszug aus dem neuen Mcke Hring

    04 Milieustudie aus dem Comic

    Fotos und Quellen: Michael Schrter

    Andreas Dllick: Mcke Hring ist zurck, was treibt ihn diesmal um?

    Michael Schrter: Mcke Hring ist ein Pri-vatdetektiv, und er muss Geld verdienen. Und dabei gert er wieder mal in alles so ganz neben-bei rein. Er muss die Bestie vom Landwehrkanal finden, ist da aber gar nicht so wild drauf, denn dieser Serienmrder ist anscheinend sehr, sehr unangenehm. Und Leichen hat Mcke sowieso nicht so gern. Er merkt aber schnell, dass er da-durch sein Standing bei der Polizei verbessern knnte. Bei seiner Suche hat er dann wieder mal mehr Glck als Verstand. Na und dann gibt es die Dreigroschenoper, die ist sozusagen der Background, eine Art Hintergrundmelodie fr die Geschichte. Jedenfalls habe ich diese Hinter-grnde dieser Zeit benutzt fr den Comic und die Geschichte von Mcke, natrlich nicht eins zu eins.

    Der neue Comic eine Art Graphic Novel ist sehr anspruchsvoll

    Ich staune da manchmal selbst ber mich. Ich bin umgeben von Geschichtsbchern, Gedicht-bnden und Fotobchern. Und wenn man sich lange genug damit beschftigt, kann man daraus eine Patchwork-Geschichte stricken. Es ist aber auch ein wenig Neuland fr mich. Es ist wie bei einem Schachspiel. Dabei geht es nicht so sehr um die reine Tter-Opfer-Story, sondern es ste-hen eben alle Figuren, die geschichtlich eine Rolle spielen, mit auf dem Schachbrett. Da kann und muss dann jeder geneigte Leser des Comics selbst vielleicht noch mal nachlesen, wie das damals tatschlich in Berlin so war. Entweder ist man schon schlau und belesen oder man muss damit anfangen. Das intellektuelle Niveau damals war so hoch, das es fast so eine Art Rettungsanker fr uns heute sein knnte.

    Woher stammen Deine Ideen fr die Figuren im Comic?

    Manchmal sehe ich irgendwo eine Zeitung liegen auf einem Tisch oder in einem Regal, wo nur irgendein Fotoausschnitt oder eine Schrift-zeile vorlugt, die mir dann aber so gut gefallen, dass ich mir sage: Die mssen in die Geschichte eingebaut werden. Diese Arbeitsweise finde ich ganz gut, weil ich dann nicht mehr die volle Kontrolle ber die Geschichte habe. Kontrolle wrde ja bedeuten, dass man in irgendeinem ganz bestimmten Fluss ist... Das macht das dann alles sehr schnell. Wenn ich neue Personen skiz-zieren will und berlege, wie knnten die ausse-

    hen, dann blttere ich manchmal Bcher durch, und wenn ich dann eine krasse Mimik entdecke, dann nutze ich diese als Anregung. Nicht zu viel nachdenken einerseits. Andererseits lasse ich die Sachen, die ich dann gezeichnet habe, auch gern mehrere Tage gren. Eine erste Idee kann schon vier, fnf Mal verndert werden. Die erste Idee ist oft zu sehr bertrieben, zu nah dran an dem, was man sich so vorstellt. Dem muss man misstrauen. Wenn man abwartet, wird die Sache oft rund.

    Der neue Comic erinnert stark an die Zeichnun-gen von Heinrich Zille?

    Zumindest war er derjenige, dessen Sachen ich anfangs immer im Auge hatte. Wahrschein-lich bernimmt man dann davon einiges, oder gar viel mehr, als man denkt. Zille hatte sicher auch seine Vorbilder wie Henri de Toulouse-Lautrec, bei dem er sich Sachen abgeschaut hat. Vielleicht sind die Dinge aber auch ganz anders als man denkt. Dass eine Idee da ist, und dass immer Leute da sind, die das als eine Art Staf-felstab weiterreichen mssen. Das muss aber glaubhaft sein, sie mssen also ein Gefhl fr diese Geschichten haben. Aber Heinrich Zille, ja da knnen einem schon die Trnen kommen, wenn man sich anschaut, wie er sich fr die einfa-chen und armen Leute einsetzte und das in Kunst

    umgesetzt hat. Andere Vorbilder sind natrlich George Grosz, Max Beckmann und Otto Dix. Die waren so kompromisslos, so messerscharf, haben so irre koloriert! Wenn man so zeichnet, gert man ganz schnell in einen ganz bestimmten Energiefluss. Und dann gibt es da die ganze Riege der Simplicissimus-Zeichner, die muss man auch in Betracht ziehen mit ihrer Rauigkeit, die-ser perfekten Darstellung von Mimik. Die haben mich sehr beeindruckt. Wenn ich mir ihre Bcher anschaue, fhle ich mich, als htte ich Zutritt in ihren Klub, was ihre Denkhaltung angeht.

    Mir scheint, dass Du im neuen Comic mehr Mut zur Farbe hast...

    Das stimmt! Das hat ganz sicher damit zu tun, dass ich mir sehr viele Sachen von George Grosz angesehen habe. Wie radikal der die Farbe in seine Zeichnungen eingebracht hat... Das kann man in einem Comic natrlich nur begrenzt ma-chen. Ein Comic soll ja erzhlen! Und wenn Du da zu mutig mit den Farben spielst, dann knnte es passieren, dass die Geschichte an Tiefe verliert. Dass die Perspektive verlorengeht. Du musst also immer ganz genau Ma halten. Ich habe dann Skizzen gemacht, die Farben ganz vorsichtig aus-probiert und das dann einfach so stehen lassen. Es juckt einen natrlich in den Hnden...

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    strassenfeger | Nr. 15 | Juli August 2014 TAUFRISCH & ANGESAGT | 19 a r t s t r a s s e n fe g e r

    Mit welchen Materialien arbeitest Du momen-tan? Hat sich das was verndert?

    Nein, da ist alles so geblieben wie frher. Nur die 3D-Scanner und die Kopierer, die mein schweres braunes Papier vertragen, werden im-mer seltener. Die neue Generation der Kopie-rer schafft das gar nicht mehr. Ich htte nicht gedacht, dass das mit der Technik so schnell geht... und alles anders ist. Sicher wrde ich ganz gern mal was mit Kreide malen, ich mchte ja gern alle drei Monate was Neues ausprobie-ren. Aber ich habe mich dann zurckgepfiffen. Wenn eine Sache gut funktioniert, dann mach mal einfach weiter, habe ich mir gesagt. Vieles passiert heute bei mir wie von selbst, macht sich von ganz alleine.

    Zeichnest Du neben Mcke Hring andere Comics etc.?

    Ganz wenig. Ich habe ein paar Wettbewerbs-arbeiten gemacht, aber da muss ich dann sehr viel Energie investieren, das ist nicht so einfach. Aber ich habe gerade fr die aktuelle Ausgabe von THE HERITAGE POST was gezeichnet. Die hatten mir angeboten, mach doch mal was darber, was Mcke Hring zwischen Teil 2 und 3 so passiert ist. Dabei habe ich gemerkt, dass es eine groe Gnade ist, wenn man sich nur

    auf eine Idee konzentrieren kann. Wenn Du Auf-tragsarbeiten machen musst, ist das echt schwer.

    Kannst Du mittlerweile vom Comiczeichnen leben?

    Nein. Aber ich stehe schon auf meinen eige-nen Fen. Ich lebe aber auch sehr, sehr sparsam. Ich muss aber auch sagen, ohne meine Freundin Iris, die immer mehr auch als Lektor fungiert, die Digitalisierung bernimmt und auch die erste ist, die mir ein Feedback gibt, ohne sie im Rcken htte ich es nicht geschafft! Und dann hat mir mein Vater bei den letzten Geschichten finanziell unter die Arme gegriffen. Er findet die Mcke-Hring-Comics aber auch sehr gut.

    Was macht fr Dich einen guten Comic aus?Ein richtig guter Comic muss den Betrach-

    ter in seine Geschichte hineinziehen. Und er muss einen sehr guten Strich haben. Da bin ich ziemlich pingelig! Da ntzt die beste Geschichte nichts, wenn mir der Strich nicht gefllt! Und wenn dann zu wenig passiert in den Graphic No-vels, wenn es nur vier Seiten Unterhaltung sind ohne Vernderungen in der Handlung, dann fllt es mir sehr schwer, dranzubleiben. Es muss die voller Breitseite sein: Schwungvolle Bewe-gung, ein Schuss Erotik und eine spannende

    Geschichte, die aber auch nicht so ganz leicht zu knacken ist.

    Was planst Du als nchstes? Ich bin schon bei Mcke Hring Teil 4 auf

    Seite 25!

    Wann und wo kann man Deinen neuen Mcke Hring-Comic kaufen?

    Der Band soll Anfang August da sein. Alles schiebt sich gerade zusammen, was wieder ein-mal ein kleines Wunder ist! Ich kann das immer gar nicht fassen, wenn diese Dinge dann endlich alle so klappen. Natrlich kann man den Comic ber meine eigene Adresse www.michaschroe-ter.de kaufen. Es wird ihn aber unter anderem auch im Kulturkaufhaus Dussmann, in der Comicbuchhandlung Grober Unfug und im Georg Bchner Buchladen am Kollwitzplatz ge-ben. Beim Preis will ich 17,70 Euro hinkriegen, weil die Sieben eine magische Zahl sein soll. Der letzte Comic hat 18,90 Euro gekostet, das ist fr Dussmann normal, aber fr die kleinen Comiclden die oberste Messlatte. Die Auflage ist erst mal auf 1 000 Stck limitiert. Und das Beste: Ich will es hinkriegen, dass man alle Teile zusammen kaufen kann, wenn man will. Fr Sammler ist das extrem wichtig!

  • strassenfeger | Nr. 15 | Juli August 201420 | TAUFRISCH & ANGESAGT Ve r k u fe r

    MUSTERMANN

    MAX

    A 007

    Storkower Str. 139d10407 BerlinTelefon: 030 - 467 946 11

    Der Verkufer-Ausweis ist keine Bettellizenz!Die Verkuferregeln des strassenfeger und die schwarzen SchafeB E R I C H T : C a D a ( v e r k a u f t d e n s t r a s s e n f e g e r )

    Auch auf die Gefahr, mich bei meinen Kollegen im Zeitungsverkauf unbe-liebt zu machen, mchte ich hier aus gegebenen Anlass einiges richtigstel-len. Und das aus wichtigem Grund: Es kam in den vergangenen Monaten zu einigem rger. Dazu hatte ich unlngst beim Verkauf des strassenfe-ger vor einem Bahnhof der Berliner S-Bahn ein lngeres Gesprch mit einem Passanten. Dieser Mann behauptete, die Ausweise, die wir Verku-fer haben, wren selbst gemacht, und auch nur zu dem Zweck, damit besser betteln zu knnen. Dazu muss ich sagen: Ich persnlich verkaufe diese soziale Straenzeitung nicht, um nebenbei Geld zu erbetteln. Ich habe da meinen ganz per-snlichen Stolz, auch wenn ich wie mittlerweile so viele Menschen auf der Sozialeiter ganz un-ten stehe. Deshalb trage ich whrend des Ver-kaufs meinen strassenfeger-Ausweis sichtbar, so wie es ursprnglich gedacht war, es aber viele meiner geschtzten Kollegen leider derzeit nicht machen. Auf diesem Ausweis steht ganz oben in der ersten Zeile Verkuferausweis!

    Der Verein mob obdachlose machen mobil e.V. ist der Herausgeber des strassenfeger und sorgt seit nunmehr 20 Jahren fr die Produktion desselben. Er war es auch, der einige Verkufer-regeln aufstellte. Unter anderem die, dass jeder Verkufer nicht nur den Ausweis beim Abholen der Ausgaben der Straenzeitung dabei zu ha-ben hat, sondern auf Verlangen der Mitarbeiter an den Ausgabenstellen auch vorzeigen muss. Dann gibt es die ausdrckliche Empfehlung, den Ausweis beim Verkauf auch sichtbar zu tra-gen. Das hatte und hat auch heute den Grund, dass man den jeweiligen Verkufer bei einem etwaigen Fehlverhalten mittels seiner Nummer auch ermitteln kann. Der Sinn dieser Forderung ist klar: Bei Problemen jeglicher Art zwischen Kunde und Verkufer hat der Kunde die Mg-lichkeit, sich mit der Nummer beim Verein zu melden und sich dort gegebenenfalls ber den Verkufer beschweren oder aber ihn auch loben kann. Auerdem sollte mit dem Ausweis den Verkufern auch vermittelt werden, dass sie eben keine Bettler sind, sondern ein ganz einzigartiges und tolles Produkt anbieten!

    Um auf das o. g. Gesprch zurckzukommen: Wenn jemand einen Verkuferausweis von mob e.V. bekommen mchte, so muss er oder sie einige Bedingungen erfllen. Dazu gehrt eine kurze schriftliche Belehrung, die man auch un-terschreiben muss. In dieser steht, dass der Ver-kauf von Zeitungen in ffentlichen Zgen, Bus-

    sen und Bahnen nicht gestattet ist. Denn dort gilt die Hausordnung des jeweiligen Verkehrsunter-nehmens. Allerdings haben strassenfeger und motz mit der S-Bahn ausgehandelt, dass der Ver-kauf geduldet wird, wenn sich die Verkufer an die Hausordnung halten. Dazu muss ich sagen: Laut Berliner S-Bahn darf man mit Genehmi-gung einige Dinge schon tun, man muss nur die diensthabende Aufsicht des Bahnhofes fragen, was auf einigen Bahnhfen allerdings schwer zu realisieren sein drfte. Den genau Inhalt der Verbote und vieles andere mehr kann man als Aushang an jedem Bahnhof nachlesen.

    Die BVG ist da konsequenter, erlaubt sind bei ihr laut ihrer Hausordnung keine solchen Aus-nahmen. Wer auf den Bahnhfen keinen dies-bezglichen Aushang findet, kann dies auf den Webseiten der Unternehmen genauer nachlesen. Wer sich als Fahrgast genervt fhlt, darf meine Verkuferkollegen ruhig mal darauf hinweisen, dass sie die Verkuferregeln des Vereins zum

    Verkauf des strassenfeger nicht nur gelesen und verstanden, sondern dies mit ihrer Unterschrift als rechtsgltig bindend akzeptiert haben. Jeder Fahrgast hat also das Recht, sich den Verkufer-ausweis zeigen zu lassen und sich die Nummer zu notieren. Mit dieser Nummer kann er sich beim Verein ber den Verkufer beschweren. Aber wie schon gesagt: Es gibt sicher viel mehr gute, ehrliche und anstndige Verkufer, die ihre Arbeit richtig gut machen, als schwarze Schafe. Die gibt es allerdings berall, nicht nur bei uns. Also: Loben Sie uns auch mal, wenn Sie das, was wir machen, gut finden und untersttzen wollen. Das ist gut fr unser Selbstwertgefhl und zeigt uns, dass man uns respektiert.

    PS: Manchmal braucht man uns sogar, ich erin-nere Sie gern an den Comic Superpenner! Pltz-lich waren wir Verkufer richtig wertvoll, weil wir etwas hatten, was alle wollten. Klasse! Der Verein arbeitet gerade an einer mglichen 2. Ausgabe des Superpenner. Bleiben Sie gespannt!

    Carsten trgt seinen Verkuferausweis voller Stolz, auch beim Verkauf des Comic Superpenner! (Foto: Andreas Dllick VG Bild-Kunst)

  • strassenfeger | Nr. 15 | Juli August 2014 TAUFRISCH & ANGESAGT | 21 Ve re i n

    Kaffeeklatsch mit Cowboy-KlausDer soziale Treffpunkt Kaffee Bankrott ldt einB E R I C H T : B o r i s S c h l e c k e r m a u l N o w a c k

    Mit dem Umzug des mob obdachlose ma-chen mobil e. V. in die Storkower Strae hat auch das Kaffee Bankrott seinen Standort dorthin verlegt. Hier kann man sieben Tage die Woche gnstig essen, kostenlos Obst und

    Brot bekommen, Menschen treffen.

    Das neue Kaffee Bankrott ist gerumig und hell. Als dem Verein die lange genutzten Rume in der Prenzlauer Allee ge-kndigt wurden, fand man hier in der Storkower Strae 139d einen neuen Vermieter. Gegenber einer Autowerkstatt und einem Brogebude, nur fnf Gehminuten entfernt von der S-Bahnhaltestelle Landsberger Allee. An sechs groen und vier kleinen Tischen finden gut 40 hungrige Menschen einen Sitz-platz. Das Angebot wird auch gerne von den Beschftigten der umliegenden Gewerbe angenommen. Fr zwei bis zwei Euro fnfzig gibt es hier tglich zu essen, sieben Tage die Woche von 8 bis 19.30 Uhr, deftig und meist mit Fleisch. Vegetarisches wird selten nachgefragt, berichten die Mitarbeiter der Kche. Eine groe Cola kostet 60 Cent, auch Wasser und Kaffee wer-den ausgeschenkt. Alkohol und Drogen hingegen sind auf dem Gelnde strikt verboten. Die Naturbckerei Manufacture De-licate aus der Rykestrae spendet auerdem Brote, Brtchen und hin und wieder Gebck zum Naschen. In einer Ecke ste-hen Kleiderspenden, an der Wand hngt ein riesiger Flachbild-schirm fr die gepflegte Fernsehunterhaltung am Nachmittag fr diejenigen, die sich keinen Fernseher leisten knnen. An drei Computern knnen die Gste kostenlos im Internet surfen und E-Mails schreiben. Auch das ist extrem wichtig, denn nicht jeder obdachlose bzw. arme Mensch hat Zugang zum World Wide Web. Auerdem gibt es jede Menge Informationen, wo hilfebedrftige Menschen Untersttzung finden knnen.

    Neben Essen und Getrnken bekommt man an der Theke ge-gen Vorlage des Verkuferausweises auch immer die aktuelle Ausgabe des strassenfeger. Morgens ist hier am meisten los, sagt mir ein Gast: Da kommen die ganzen Verkufer, essen und holen die Zeitung. Auch die Zigeuner. Das Geschft ist hrter geworden in den letzten Jahren. Aber die deutschen Verkufer sind selbst schuld, wenn sie sich ihre Verkaufss-tandorte streitig machen lassen, meint er weiter.

    An einem runden Tisch sitzt ein lterer Herr mit zwei Cowboy-hten auf dem Kopf. Ich bin eben wohlbehtet, begrndet er seine Mode. Alle nennen ihn hier nur Cowboy-Klaus. Er philosophiert ber Wunderkinder. Insbesondere das amerika-nische Schachgenie polnischer Herkunft, Samuel Reshevsky, hat es ihm angetan. Der hat mit acht Jahren schon besser ge-spielt als seine erwachsenen Gegner, wei er. Cowboy-Klaus wird bald 77 und kommt seit Jahren regelmig ins Kaffee Bankrott. Man kennt sich hier, er grt das Kchenpersonal, das zurck, und er wnscht auch Fremden einen guten Ap-petit. Seinen 76. hat er hier mit Freunden ein wenig gefeiert.

    Am Tisch gegenber sitzen Max und Brigitte, ein befreunde-

    tes Rentnerpaar. Wir sind frher in eine andere Einrichtung gegangen. Aber seit mob e. V. hierher gezogen ist, essen wir hier. Es liegt auf dem Weg und das Essen ist besser und gnstiger, erzhlt Brigitte. Ist selber kochen nicht billiger als jeden Tag essen zu gehen? Ich habe genug gekocht in mei-nem Leben, winkt sie ab. 40 Jahre hat sie fr die Deutsche Reichsbahn (DR) der DDR gearbeitet und alleine drei Kinder grogezogen. Whrend sie erzhlt, kmpft sie mit einem Seni-orenhandy von Olympia mit extra groen Tasten. Das hat mir mein Sohn geschenkt, damit ich immer erreichbar bin. Wir schaffen es auch gemeinsam nicht, damit eine SMS zu versenden. Klar kriegen wir unsere Rente, sagt Max. Er hat in West-Berlin viele Jahre als Hausmeister gearbeitet. Aber man muss trotzdem sparen, wo es geht. Preise werden in die zu sammelnden Plastikpfandflaschen umgerechnet. Neulich habe ich mir am Ostkreuz morgens fr meine letzten 20 Cent eine Schrippe gekauft. Das beruhigt den Magen. Da kommt einer auf mich zu und fragt, ob ich nicht drei Euro fr einen Dner htte, schttelt er den Kopf. So, sagt Brigitte, heute waren wir aber lange hier. Die beiden verabschieden sich, sind aber morgen ganz sicher wieder zum Essen da.

    I N FO

    ffnungszeiten: Mo-So von 8-19.30 Uhr

    www.strassenfeger.org/kaffee-bankrott.html

    Cowboy-Klaus (76) ist Stammgast im Kaffee Bankrott (Foto: Andreas Dllick VG Bild-Kunst)

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    strassenfeger | Nr. 15 | Juli August 201422 | TAUFRISCH & ANGESAGT K u l t u r t i p p s

    skurril, famos und preiswert!Kulturtipps aus unserer RedaktionZ U S A M M E N S T E L L U N G : L a u r a

    01 FEST

    Berlin lachtArtistik, Clownerie, Akrobatik, Stelzentheater, Feuerperfor-mance das ist das internationale Straen-Theater-Fest von Berlin lacht! e.V.. Auch in diesem Jahr macht das internatio-nale Straentheaterknstlerfest aus dem ffentlichen Raum einen Theater-Schauplatz. Vor Streetart-Kulissen von diversen Knstlern der Szene prsentieren sie Kunst, die Freiraum lsst: Berlin lacht! ist familientauglich und barriere-frei fr jeden zugnglich.

    Noch bis zum 10.8., von 11 Uhr bis 0 Uhr, Eintritt frei! Alexanderplatz, 10178 Berlin

    Info: www.berlin-lacht.de Bild: Anja Httner

    04 TANZ

    Tanz im AugustEiner der Hhepunkte dieses Sommers ist Tanz im August, Berlins groes internationales Festival fr zeitgenssischen Tanz, prsentiert vom HAU Hebbel am Ufer: 15 Tage, 21 Kompanien, drei Installationen, 100 Prozent zeitgenssischer Tanz. Vom 15. bis 30. August 2014 bilden Kompanien bzw. Choreografen aus Europa, Kanada, den USA, Brasilien und Japan erneut ein einzigartig vielfltiges Programm auf verschie-denen Bhnen in der ganzen Stadt. Es gibt ein lang ersehntes Wiederse-hen mit der Michael Clark Company und dem Cullberg Ballet / Jefta van Dinther. Erstma-lig in Berlin treten unter anderem das Big Dance Theater und die Kompanie von Daniel Lveill auf. Neben den groen etablierten Namen stehen zahlreiche vielver-sprechende Newcomer auf dem Programm, z.B. La Veronal aus Spanien, Alexandra Bachzetsis aus der Schweiz, Dana Michel aus Kanada oder Eduardo Fukushima aus Brasilien.

    15. bis 30. August 2014Spielorte sind: HAU1, HAU2, HAU3, Haus der Berliner Festspiele, Schau-bhne am Lehniner Platz, Sophiensle, Theater an der Parkaue, Uferstudios, Volksbhne

    Vorverkauf fr smtliche Produktionen ber die Website

    Info: www.tanzimaugust.de

    03 KONZERT

    Port RoyalSeit 2004 ist Port Royal gemeinsam unterwegs. Der Bandname, entliehen der frheren Piratenhauptstadt Jamaica, steht fr Vielfalt: Ska, Elementen von Raggae, Soul und Mestizo, vermischt mit Rockn Roll. Die Bandbreite reicht von Coverversi-onen z. B. Kraftwerks Das Model oder Django Reinhardts Minor Swing bis zu eigenen Stcken.

    Am 1.8., um 20.30 Uhr, Eintritt frei!Wolffring/ Ecke Boelckestr. 12101 Berlin

    Info: www.portroyal-music.de Bild: Port Royal

    02 BARRIEREFREI

    HERZBERGER LICHTEREine neue Open-Air-Veranstaltung bereichert erstmalig am 30. August die Kulturlandschaft in Berlin. Das HERZBER-GER LICHTER genannte Event versammelt an diesem Samstag auf dem Gelnde des Evangelischen Krankenhauses Knigin Elisabeth im Lichtenberger Landschaftspark Akteure und Knstler verschiedenster Couleur. Verteilt auf der grnen Bhne des Areals wetteifern Musizierende, Tanzgruppen, Theaterensemble und Sportacts um die Gunst des Publikums. Ziel ist ein Parkfest fr alle, das ausdrcklich Menschen mit Behinderung und Migranten einldt und als Darbietende einbezieht. Zudem soll die Naturkulisse speziell unbekannten Talenten vorbehalten sein, Straenmusikanten etwa, die blicherweise an wechselnden Orten ihre Zuhrer finden. Dem Inklusionsgedanken folgend wollen die Veranstalter dazu beitragen, Barrieren im Kopf zu beseitigen. Alle gehren dazu, Alt und Jung, mit und ohne Behinderung, von hier oder anderswo. Selbst eine Barriere in Form von Eintrittsgeld ist nicht vorgesehen. Vielfalt ist Trumpf!, so die Initiatorin Zlata Findeis.

    Los gehts ab 14 Uhr Der Veranstaltungsort ist Teil des 100 Hektar groen Landschaftsparks Herzberge

    Info: www.herzberger-lichter.de

  • VORSCHLAGENSie haben da einen Tipp? Dann

    senden Sie ihn uns an:[email protected]

    Je skurriler, famoser und preiswerter, desto besser!

    08

    05 06

    strassenfeger | Nr. 15 | Juli August 2014 TAUFRISCH & ANGESAGT | 23 K u l t u r t i p p s

    08 KINO

    Der groe Gatsby Unter dem Motto Hollywood in Hellersdorf gibt es dieses Jahr erneut freitags groe Leinwandstars im Innenhof der Cecilienhfe zu sehen. Diesmal ist es Der groe Gatsby, der als kostenloses Open-Air-Kino-Event gezeigt wird. Vor dem Filmstart gibt es ab 19 Uhr bereits Livemusik und gegrillte Speisen.

    Am 8.8., um 19 Uhr, Eintritt frei!Cecilienplatz12619 Berlin

    Info: www.cecilienplatz.de Bild: Filmplakat

    05 MUSIK

    Friedensfestival Berlin 2014Das 6. Friedensfestival findet vom 14. bis 17. August auf dem Alexanderplatz statt. Am Freitag, den 15. August, prsentiert sich Christian Haase. Vom Lagerfeuer bespielenden Konzert-gitarren-Schwinger entwickelte sich Christian Haase berra-schend schnell in die erste Garde der deutschsprachigen Rock- und Popmusik hinein. Er hat seine ganz eigene Stimme: Die vielleicht originellste seiner Generation. Ein deutscher Tom Petty, vielleicht ein neuer Grnemeyer, versuchen sich die Medien zu orientieren. Hier geht es um Inhalte, um echte handgemachte Musik. Haases Texte haben genug Tiefe, um sie Lyrik zu nennen, dennoch sind seine Zeilen verstnd-lich genug, dass sie landen und haften bleiben.

    15.08.2014, 16 17 Uhr

    Frderverein Friedensfestival Berlin e.V.Marienburger Strasse 33 / QF 2D-10405 BerlinTelefon: 30 3744 3270

    Info & Foto: www.friedensfestival.org facebook.com/haaseband | ww.haase-band.de

    07 AUSSTELLUNG

    Mythos VinylDie Ausstellung Mythos Vinyl widmet sich der Musik der Nachkriegsgeneration: Bill Haley, Elvis Presley, die Beatles und die Rolling Stones. Als der Boom der Schallplatte Anfang der fnfziger Jahre begann, produzierte man in Neuklln 1952 die erste deutsche Jukebox. Die Ausstellung zeigt ein Modell dieser Firma sowie Musik-truhen und Plattenspieler aus Neukllner Familienbesitz. Sie zeigt auch die persnliche Seite zwischen Schallplatten und ihren Hrern: Fnfzig Neukllner haben dem Museum ihre Lieblingsplatte zur Verfgung gestellt. Sie erzhlen in der Ausstellung, welches Stck sie am meisten begeistert hat, wobei das Spektrum von Frank Sinatra ber Edith Piaf bis zu Jimi Hendrix und Michael Jackson reic


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