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Wissenswerte Nachrichten; News worth knowing;

Date post: 23-Dec-2016
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AUFSATZ Publizistik DOI 10.1007/s11616-013-0191-z © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 Prof. Dr. M. Maurer () · T. Holbach, MA Institut für Kommunikationswissenschaft, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 Jena, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Holbach, MA E-Mail: [email protected] Wissenswerte Nachrichten Agenda-Setting-Effekte zwischen Medienberichterstattung und Online-Informationsverhalten am Beispiel der EHEC-Epidemie Thomas Holbach · Marcus Maurer Zusammenfassung: In den vergangenen Jahren haben einige Studien Zusammenhänge zwischen der Medienberichterstattung über politische Themen und den Suchanfragen in Online-Suchma- schinen gefunden und diese als Agenda-Setting-Effekte interpretiert. Demnach ist die Häufigkeit, mit der in Online-Suchmaschinen nach bestimmten Begriffen gesucht wird, ein Indikator für die Publikumsagenda, weil die Rezipienten nach den Themen suchen, die sie für besonders relevant halten. Der vorliegende Beitrag diskutiert diese Frage zunächst aus theoretischer Perspektive und prüft die vermuteten Zusammenhänge dann mit einer Zeitreihenanalyse der Berichterstattung von elf Online-Medien über die EHEC-Epidemie im Sommer 2011 und einer Logfile-Analyse der Zugriffe auf für das Thema relevante Artikel in der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Die Analysen zeigen insgesamt deutliche Zusammenhänge beider Zeitreihen, aber auch temporäre Abweichungen, die man darauf zurückführen kann, dass das Online-Informationsverhalten nicht nur die Publikumsagenda, sondern auch die bei einem Thema bestehende Ungewissheit abbildet. Schlüsselwörter: Agenda-Setting · Ungewissheit · Online-Medien · Wikipedia · Risikokommunikation News worth knowing – Agenda-setting effects between online news and online information behavior during the EHEC outbreak Abstract: Recently, some studies found correlations between the media agenda and the amount of online search engine queries concerning several political issues and interpreted them as agen- da-setting effects. Doing so, the amount of online search engine queries is treated as a valid in- dicator of the public agenda because recipients might search for those issues they find especially relevant. This article, first, approaches this question from a theoretical perspective. Second, a time-series analysis is done comparing the amount of the coverage of eleven online media on
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AufsAtz

PublizistikDOI 10.1007/s11616-013-0191-z

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

Prof. Dr. M. Maurer () · T. Holbach, MAInstitut für Kommunikationswissenschaft, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 Jena, DeutschlandE-Mail: [email protected]

T. Holbach, MAE-Mail: [email protected]

Wissenswerte NachrichtenAgenda-Setting-Effekte zwischen Medienberichterstattung und Online-Informationsverhalten am Beispiel der EHEC-Epidemie

Thomas Holbach · Marcus Maurer

Zusammenfassung: In den vergangenen Jahren haben einige Studien Zusammenhänge zwischen der Medienberichterstattung über politische Themen und den Suchanfragen in Online-Suchma-schinen gefunden und diese als Agenda-Setting-Effekte interpretiert. Demnach ist die Häufigkeit, mit der in Online-Suchmaschinen nach bestimmten Begriffen gesucht wird, ein Indikator für die Publikumsagenda, weil die Rezipienten nach den Themen suchen, die sie für besonders relevant halten. Der vorliegende Beitrag diskutiert diese Frage zunächst aus theoretischer Perspektive und prüft die vermuteten Zusammenhänge dann mit einer Zeitreihenanalyse der Berichterstattung von elf Online-Medien über die EHEC-Epidemie im Sommer 2011 und einer Logfile-Analyse der Zugriffe auf für das Thema relevante Artikel in der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Die Analysen zeigen insgesamt deutliche Zusammenhänge beider Zeitreihen, aber auch temporäre Abweichungen, die man darauf zurückführen kann, dass das Online-Informationsverhalten nicht nur die Publikumsagenda, sondern auch die bei einem Thema bestehende Ungewissheit abbildet.

Schlüsselwörter: Agenda-Setting · Ungewissheit · Online-Medien · Wikipedia · Risikokommunikation

News worth knowing – Agenda-setting effects between online news and online information behavior during the EHEC outbreak

Abstract: Recently, some studies found correlations between the media agenda and the amount of online search engine queries concerning several political issues and interpreted them as agen-da-setting effects. Doing so, the amount of online search engine queries is treated as a valid in-dicator of the public agenda because recipients might search for those issues they find especially relevant. This article, first, approaches this question from a theoretical perspective. Second, a time-series analysis is done comparing the amount of the coverage of eleven online media on

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the EHEC pandemic in summer 2011 and the amount of page requests for articles in the online encyclopedia Wikipedia relevant to EHEC. Overall, analyses show strong correlations but also temporary discrepancies, appearing because page requests do not only depict the public agenda but also existing uncertainty about an issue.

Keywords: Agenda-setting · Uncertainty · Online media · Wikipedia · Risk communication

1 Einleitung

Die zunehmende Verbreitung der Online-Kommunikation verändert nicht nur das Mediennutzungsverhalten der Bevölkerung, sondern eröffnet auch der Medienwirkungs-forschung eine Reihe neuer Möglichkeiten. So können aufwändige und reaktive Pub-likumsbefragungen scheinbar leicht durch kostengünstige und nicht-reaktive Analysen von Online-Inhalten ersetzt werden, weil sich in Blogs, Internetforen, Kommentaren zu Online-Medien usw. unzählige Meinungsäußerungen von Privatpersonen finden. Dabei haben empirische Studien beispielsweise Online-Beiträge als Indikatoren für die öffent-liche Meinung (Schweiger und Weihermüller 2008) oder Online-Diskussionsforen als Indikatoren für interpersonale (Offline-)Kommunikation (Haas et al. 2010) betrachtet. Zuletzt haben einige Autoren auch vorgeschlagen, die Nutzung von Online-Suchmaschi-nen als Indikator für die Publikumsagenda im Rahmen des Agenda-Setting-Ansatzes zu verwenden. Ein Thema gilt dann als umso relevanter für die Bevölkerung, je häufiger danach in Online-Suchmaschinen gesucht wird (z. B. Granka 2010; Weeks und Southwell 2010; Ragas und Tran 2013). Wir wollen diese Idee im vorliegenden Beitrag aufgrei-fen und sowohl theoretisch als auch empirisch auf den Prüfstand stellen. Wir vermuten, dass die Vorgehensweise zumindest zweifelhaft ist, weil Online-Suchanfragen nicht aus-schließlich die Publikumsagenda abbilden, sondern auch die bei einem Thema vorhan-dene Ungewissheit in der Bevölkerung. Anhand eines Fallbeispiels, der EHEC-Epidemie im Sommer 2011, stellen wir zunächst Überlegungen zur Identifizierung relevanter Such-begriffe bei der Erfassung des Online-Informationsverhaltens an. Anschließend verglei-chen wir auf Tagesbasis die EHEC-Berichterstattung elf besonders reichweitenstarker deutschsprachiger Online-Medien mit Statistiken über die Zugriffe auf die thematisch relevanten Artikel in der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Schließlich diskutieren wir die Frage, ob das Online-Suchverhalten ein geeigneter Indikator für die Publikumsagenda sein kann, noch einmal neu im Lichte unserer Befunde.

2 Die Messung der Publikumsagenda im Agenda-Setting-Prozess

Auf den ersten Blick gehört die Agenda-Setting-Hypothese zu den am besten belegten Ansätzen der Medienwirkungsforschung. Dass die Häufigkeit, mit der die Massenme-dien über politische Themen bzw. Probleme berichten (Medienagenda), einen Einfluss darauf hat, welche Themen bzw. Probleme die Bevölkerung für besonders relevant hält (Publikumsagenda), ist plausibel, weil die Bürger kaum über andere Informationsquellen verfügen, wenn sie sich ein Bild über gesellschaftlich relevante Probleme machen wollen.

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Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass in den vergangenen 40 Jahren mehrere hundert Agenda-Setting-Studien mit unterschiedlichen methodischen Designs, zu unterschiedli-chen Themen und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten vorgelegt wurden. Der vermutete Effekt der Medien- auf die Publikumsagenda wird dabei in der Regel erkennbar, auch wenn er in der Stärke variiert (für einen Überblick vgl. Rössler 1997; Wanta und Ghanem 2007; Maurer 2010).

Im klassischen Design zur Untersuchung von Agenda-Setting-Effekten wird die Medienagenda mit Medieninhaltsanalysen und die Publikumsagenda mit repräsentativen Bevölkerungsbefragungen erhoben. Dabei sollen die Befragten ein oder mehrere Themen benennen, die sie im Augenblick für besonders relevant halten. Dies lässt sich entweder offen oder durch eine Listenabfrage erfassen. Als Thema gelten dabei sowohl abstrakte (z. B. Außenpolitik) als auch konkrete Gegenstände (z. B. der Irak-Krieg) oder einzelne Ereignisse (z. B. der Besuch des Außenministers im Irak). Die Schwierigkeit besteht darin, Themen trennscharf zu definieren, insbesondere dann, wenn sie auf unterschied-lichen Ebenen erfasst wurden.

Für diese Art der Messung gab es lange keine Alternative, obwohl sie aus mindes-tens drei Gründen problematisch ist: Erstens ist die Befragung eine reaktive Methode. Das bedeutet in diesem Fall, dass sich die Befragten im Alltag möglicherweise gar keine Gedanken darüber machen, welche Themen sie für wichtig halten, sondern erst durch die Frage dazu angeregt werden, darüber nachzudenken. Zudem werden bislang noch immer ganz unterschiedliche Fragemodelle zur Erfassung der Publikumsagenda verwen-det. Dabei ist zu vermuten, dass die Frageformulierung einen erheblichen Einfluss auf das Antwortverhalten der Befragten hat. Zudem dürften einige Befragte aus Gründen der sozialen Erwünschtheit Themen nennen, von denen sie glauben, dass man sie als guter Staatsbürger für wichtig halten sollte, obwohl sie faktisch für sie selbst keinerlei Rele-vanz besitzen.

Zweitens stellt die Verfügbarkeit von Befragungsdaten ein erhebliches Problem für die Agenda-Setting-Forschung dar. Wie alle Medienwirkungstheorien postuliert der Agenda-Setting-Ansatz eine Ursache-Wirkungs-Beziehung und lässt sich folglich am ehesten mit Hilfe von Längsschnittanalysen überprüfen. Dabei sind die meisten Längsschnittanalysen aus forschungsökonomischen Gründen auf Befragungsdaten angewiesen, die regelmäßig von kommerziellen Umfrageinstituten erhoben und für Sekundäranalysen zur Verfügung gestellt werden. Solche Daten sind aber selten auf Tagesbasis verfügbar (zu einer Aus-nahme vgl. Krause und Gehrau 2007). Stattdessen werden Agenda-Setting-Effekte häufig auf Wochen-, Monats- oder gar Jahresbasis untersucht, obwohl man annehmen kann, dass sie in kürzeren Zeiträumen auftreten.

Drittens ist bislang nicht eindeutig geklärt, welche Wirkungsmechanismen dem Agenda-Setting-Effekt zugrunde liegen. Die Agenda-Setting-Hypothese kann als lern-theoretischer Ansatz betrachtet werden, weil sie auf einer einfachen, linearen Ursache-Wirkungs-Annahme basiert. Lerntheoretische Ansätze setzen voraus, dass Lernen auf der Verbindung von Reizen und Reaktionen beruht, und sind deshalb einfache Stimulus-Re-sponse-Modelle. Menschen haben etwas gelernt, wenn auf das Zusammentreffen eines Reizes (Medienbeitrag) und einer Reaktion (Übernahme der Botschaft) eine Belohnung folgt. Rezipienten, die lernen, welche Themen wichtig sind, werden z. B. damit belohnt, dass sie an gesellschaftlichen Diskussionen teilnehmen können und im Extremfall vor

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gravierenden Problemen gewarnt sind (vgl. zusammenfassend Maurer 2010). In den letzten Jahren wird im Zusammenhang mit dem Agenda-Setting-Ansatz jedoch auch ein zweiter Wirkungsmechanismus diskutiert. Demnach basieren Agenda-Setting-Wirkun-gen auf einem einfachen „Accessibility-Effekt“ (vgl. z. B. Scheufele 2000). Die Rezi-pienten bezeichnen in Umfragen folglich diejenigen Themen als wichtig, die ihnen im Augenblick der Befragung kognitiv präsent (accessible) sind. Dies sind dann mit hoher Wahrscheinlichkeit Themen, über die die Massenmedien im Befragungszeitraum häu-fig berichten. Während die Lerntheorie nahelegt, dass die Rezipienten die Themen, über die die Massenmedien berichten, tatsächlich für relevant halten, ist dieser Schluss im Zusammenhang mit dem Accessibility-Effekt keinesfalls zwingend. So wäre es durchaus möglich, dass die Befragten schlicht die Themen nennen, die ihnen zuerst einfallen, ganz unabhängig davon, ob sie eine Relevanz für sie selbst besitzen (vgl. hierzu auch Eichhorn 1996, S. 86 ff.). Welcher der beiden Erklärungsansätze zutrifft, ist mit Hilfe von Befra-gungsdaten aber kaum zu prüfen.

3 Das Online-Informationsverhalten als Indikator für die Publikumsagenda

Fasst man die oben genannten Überlegungen zusammen, bestünde eine ideale Lösung zur Messung der Publikumsagenda folglich in einem nicht-reaktiven Verfahren, das kontinuierliche Daten auf Tagesbasis generiert und einen unzweifelhaften Indikator für die persönliche Relevanz eines Themas bereithält. In den letzten Jahren haben deshalb einige Autoren vorgeschlagen, die Publikumsagenda über die Nutzung von Online-Such-maschinen zu erfassen. Das Online-Informationsverhalten kann demnach als Indikator für die persönliche Relevanz eines Themas betrachtet werden, weil die Rezipienten aller Wahrscheinlichkeit nach online die Themen suchen, die sie für besonders relevant halten (vgl. Granka 2010; Weeks und Southwell 2010; Scharkow und Vogelgesang 2011). Die Studien knüpfen dabei an frühe Überlegungen zur Rolle des Verhaltens im Agenda-Set-ting-Prozess an (vgl. zuerst Becker et al. 1975). Zwar haben die meisten Studien seit-dem Verhaltensreaktionen als Folge von Agenda-Setting-Prozessen betrachtet (vgl. z. B. McCombs 2004, S. 129). Einige Untersuchungen konzipieren Verhaltensreaktionen aber auch als Indikatoren für die Publikumsagenda. So haben beispielsweise verschiedene Studien die Publikumsagenda mit der Frage erfasst, über welche Themen die Befragten sich mit anderen Menschen häufig unterhalten (interpersonale Agenda; vgl. Rössler 1997, S. 88). Dabei wurde ein Thema als umso relevanter betrachtet, je häufiger es Gegenstand der Anschlusskommunikation war. Auf diese Überlegungen aufbauend untersuchten Roberts et al. (2002) den Einfluss der Medienberichterstattung auf politische Online-Dis-kussionsforen und zeigten, dass die Häufigkeit, mit der dort ausgewählte Themen disku-tiert wurden, der Häufigkeit der Medienberichterstattung über diese Themen mit ein bis sieben Tagen Verzögerung folgte.

Die Idee, die Publikumsagenda über Verhaltensreaktionen zu erfassen, hat zuletzt neuen Auftrieb bekommen, weil seit Kurzem frei verfügbare Daten zur Nutzung von Online-Suchmaschinen z. B. über den Dienst Google Insights for Search verfügbar sind. Wenn die Häufigkeit von Diskussionen über ein Thema ein Indikator für die Publikums-agenda sein kann, so die Überlegungen, müsste Gleiches auch für die Häufigkeit von

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Suchanfragen zu einem Thema im Internet gelten. Bei Google Insights for Search wer-den alle Suchanfragen der weltweit mit Abstand am häufigsten genutzten Suchmaschine Google aggregiert. Es ist folglich prinzipiell möglich, Zusammenhänge zwischen der aggregierten Medienberichterstattung über bestimmte Themen und dem aggregierten Suchverhalten bei Google zu analysieren.

Erste Studien, die auf diese Weise vorgehen, finden solche Zusammenhänge tatsäch-lich. So analysierte Granka (2009; 2010) die Themenagenden der Nachrichtensendun-gen von drei großen amerikanischen Fernsehsendern bzw. in einer späteren Studie von rund 700 amerikanischen Zeitungen und nahezu 5.000 Internetseiten und verglich sie in Einzelthemen-Aggregatanalysen mit den entsprechenden Suchanfragen bei Google. Suchbegriffe waren teilweise abstrakte politische Themen wie Arbeitslosigkeit, aber auch die Namen von Personen, die in das aktuelle Geschehen verwickelt waren, sowie Natur-ereignisse wie Erdbeben, Stürme oder Überschwemmungen. Dabei zeigten sich zum Teil erhebliche Einflüsse der in den Medien genannten Begriffe auf das Suchverhalten. Eine Ausnahme bildete allerdings das Thema Arbeitslosigkeit, bei dem keine Einflüsse zu erkennen waren. Zugleich zeigte sich, dass das Suchaufkommen insbesondere bei poli-tischen Themen bereits nach wenigen Tagen deutlich nachließ, was auf den ersten Blick für sehr kurzfristige Agenda-Setting-Effekte zu sprechen scheint.

In einer ähnlich angelegten Untersuchung verglichen Weeks und Southwell (2010) Medienberichterstattung und Online-Suchaufkommen anhand eines einzelnen Ereignis-ses: des im Vorwahlkampf zur amerikanischen Präsidentschaftswahl 2008 entstandenen Gerüchts, Barack Obama sei Moslem. Dabei zeigten sich wiederum zum Teil erhebliche Zusammenhänge zwischen der Berichterstattung amerikanischer Fernsehnachrichtensen-dungen und Tageszeitungen und der Häufigkeit des Suchbegriffs „Obama Moslem“ bei Google Insights for Search. Die höchsten Zusammenhänge waren erkennbar, wenn die Berichterstattung mit dem Suchverhalten am selben Tag korreliert wurde.

Zuletzt haben Ragas und Tran (2013) sowie Ragas et al. (2013) das Online-Suchver-halten als Indikator für die Publikumsagenda in Bezug auf eine Person (Barack Obama) und ein Ereignis (die Explosion einer Ölplattform) betrachtet. In beiden Fällen weisen die Autoren wechselseitige Einflüsse zwischen der Medienberichterstattung und dem Online-Suchverhalten nach. Im Fall der Explosion der Ölplattform waren die Einflüsse des Such-verhaltens auf die Menge der Medienberichterstattung sogar größer als die umgekehrten Effekte. Sie blieben auch dann erhalten, wenn eine Reihe relevanter Realitätsindikatoren kontrolliert wurden.

Ob die Annahme zutrifft, dass das Online-Suchverhalten ein geeigneter Indikator für die Publikumsagenda ist, untersuchten Scharkow und Vogelgesang (2011). Sie beleg-ten mit tagesweise erhobenen Sekundärdaten Zusammenhänge zwischen der Nennung des CDU-Steuerexperten Paul Kirchhof in der heißen Phase des Bundestagswahlkampfs 2005 und der Google-Suche „Paul Kirchhof“ im selben Zeitraum. Kirchhof war mit seinem Steuerkonzept in die Kritik geraten und in diesem Sinne als Thema im weite-ren Sinne Gegenstand der öffentlichen Diskussion geworden. Die Autoren zeigen einen moderaten, aber deutlich erkennbaren Zusammenhang zwischen beiden Datenreihen, der darauf hindeutet, dass das Online-Suchverhalten die in klassischen Befragungen gemes-sene Publikumsagenda mehr oder weniger gut widerspiegelt. Allerdings weisen sie auch

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darauf hin, dass dieser Sachverhalt bislang weder theoretisch reflektiert noch empirisch überzeugend geprüft wurde.

Versucht man sich dieser Frage anzunähern, ist zunächst offensichtlich, dass sich das Online-Suchverhalten sowohl von der klassischen Frage zur Messung der Publikums-agenda als auch von der Messung der Publikumsagenda über die Häufigkeit themen-spezifischer Anschlusskommunikation dadurch unterscheidet, dass es sich hierbei um eine Form der Informationsnutzung handelt. Betrachtet man die Online-Informations-nutzung als abhängige Variable im Agenda-Setting-Prozess, muss der Agenda-Setting-Ansatz folglich mit Mediennutzungstheorien verbunden werden. Einen Zusammenhang zwischen der einem Thema zugesprochenen Relevanz und der Informationsnutzung zu einem Thema stellt das Konzept des Orientierungs- bzw. Informationsbedürfnisses (need for orientation; vgl. Weaver 1980; Matthes 2006) her. Das Informationsbedürfnis besteht demnach aus zwei Komponenten: einerseits der Politik grundsätzlich (vgl. Weaver 1980) oder einem bestimmten Thema (vgl. Matthes 2006) zugesprochenen Relevanz und ande-rerseits der bei einem Thema bestehenden Ungewissheit. Sind beide hoch, ist auch das Informationsbedürfnis hoch, und die Wahrscheinlichkeit der Informationsnutzung steigt (vgl. Matthes 2008). Wenn die Massenmedien häufig über ein Thema berichten, steigt folglich die Wahrscheinlichkeit, dass es von den Rezipienten für relevant gehalten wird. Dies sollte zu einem erhöhten Informationsbedürfnis führen, das sich wiederum in einer gesteigerten Informationsnutzung ausdrückt. Ein erhöhtes Informationsbedürfnis entsteht aber auch dadurch, dass Menschen den Eindruck haben, bei einem Thema über zu wenig Wissen zu verfügen (Ungewissheit). Ungewissheit entsteht, wenn eine Situation mehr-deutig, komplex oder nicht vorhersehbar ist, wenn Informationen nicht verfügbar oder widersprüchlich sind (vgl. Brashers 2001). Es handelt sich deshalb um einen als unan-genehm empfundenen Zustand, den es mit Hilfe von Informationen zu beseitigen gilt. Dazu werden mit hoher Wahrscheinlichkeit Informationen aus den Massenmedien heran-gezogen (vgl. Atkin 1973; Brashers 2001).

Bezieht man diese Überlegungen auf das Online-Informationsverhalten als Indikator für die Publikumsagenda, drückt sich eine durch die Medienagenda gesteigerte Themen-relevanz in der Bevölkerung folglich nur dann in einer Zunahme der Online-Suchanfragen aus, wenn bei einem Thema Ungewissheit besteht. Dies würde beispielsweise erklären, warum sich in der Studie von Granka (2009) in Bezug auf Arbeitslosigkeit keine Agenda-Setting-Effekte zeigten: Die Menschen halten das Thema zwar möglicherweise bei einer Zunahme der Medienberichterstattung zunehmend für relevant, es besteht jedoch keine Ungewissheit, die sich mit zusätzlichen Informationen reduzieren ließe, weil die meisten Rezipienten wissen, worum es beim Thema Arbeitslosigkeit geht. Selbst wenn Rezipien-ten bei diesem Thema Ungewissheit empfinden, ist es zudem eher unwahrscheinlich, dass sie für eine Online-Suche exakt diesen Suchbegriff wählen. Treffen diese Überlegun-gen zu, wäre das Online-Suchverhalten erstens nur bei solchen Themen ein geeigneter Indikator für die Publikumsagenda, bei denen man eine weit verbreitete Ungewissheit in der Bevölkerung unterstellen kann. Zweitens käme gerade bei abstrakten politischen Sachthemen der Frage nach geeigneten Suchbegriffen bei der Ermittlung der Publikums-agenda eine erhebliche Bedeutung zu.

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4 Ein Fallbeispiel: die EHEC-Epidemie im Sommer 2011

Kollektive Ungewissheit bei einem gesellschaftlich relevanten Thema entsteht vor allem bei überraschend auftretenden Ereignissen, die die gesamte Bevölkerung betreffen kön-nen. Dies ist häufig im Kontext der Risikokommunikation der Fall, da hier oft schon deshalb Ungewissheit herrscht, weil selbst Experten zum Beispiel bei einer Umweltka-tastrophe oder einer bislang unbekannten Krankheit kaum Genaueres über Ursachen und Folgen wissen (externe Ungewissheit; vgl. Kahneman und Tversky 1982; Maurer 2011).

Ein solches Ereignis war die EHEC-Epidemie im Sommer 2011. Mitte Mai war es in Norddeutschland vermehrt zu schweren Darminfektionen (so genanntes hämolytisch-urämisches Syndrom, HUS) gekommen. Die Krankheit wurde hervorgerufen durch den Stamm eines Darmbakteriums, der sich Enterohämorrhagische Escherichia coli (EHEC) nennt. Zwischen Mai und Juli 2011 erkrankten mehrere tausend Menschen vor allem im Großraum Hamburg, 50 starben. Die EHEC-/HUS-Epidemie lässt sich dabei mit Kep-plinger (2001) als überraschende und negative Ereigniskette darstellen, die über lange Zeit von öffentlicher Ungewissheit geprägt war: Unmittelbar nach den ersten Todesfällen wurden am 26. Mai zunächst spanische Gurken als Quelle des Erregers vermutet. Anfang Juni warnten die Behörden dann vor Sprossengemüse, wenige Tage später wurde der Erreger bei Sprossen auf einem Biobauernhof in Bienenbüttel in der Lüneburger Heide nachgewiesen. Diese Ereignisse wurden ergänzt durch eine Vielzahl von Stellungnahmen von Politikern, insbesondere Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) und Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP), sowie verschiedener Behörden, insbe-sondere des Robert-Koch-Instituts und des Bundesinstituts für Risikobewertung. Zwi-schenzeitlich forderte man die Bevölkerung unter anderem auf, ganz auf den Verzehr von rohem Gemüse zu verzichten, was zu erheblichen Umsatzeinbußen in der Landwirtschaft führte. Erst Anfang Juli, mehr als anderthalb Monate nach Ausbruch der Epidemie, wur-den schließlich ägyptische Bockshornkleesamen als Infektionsquelle identifiziert. Ende Juli wurde die Epidemie für beendet erklärt.

Wir können folglich ein Kern-Thema, die EHEC-Epidemie, und verschiedene Teil-ereignisse, die mit diesem Thema im Zusammenhang stehen, identifizieren. Das Kern-Thema EHEC und die Teilereignisse umfassen wiederum eine Reihe von Einzelaspekten und Informationen, die wir hier als Themenkomponenten bezeichnen wollen und die im Zeitverlauf mehr oder weniger relevant waren. Wenn man annimmt, dass die Rezipienten ihre Ungewissheit im Zusammenhang mit der EHEC-Epidemie reduzieren wollen, kann man folgern, dass sie vor allem Kenntnisse über relevante Themenkomponenten zu erlan-gen suchen. Soll die Reduzierung der Ungewissheit über eine Online-Informationssuche erfolgen, müssten die relevanten Themenkomponenten folglich weitgehend identisch sein mit potenziellen Suchbegriffen.

Dabei lässt sich zunächst aus dem Kern-Thema EHEC ein relevanter Suchbegriff direkt ableiten. Bei der Frage, welche Themenkomponenten für die Rezipienten darüber hinaus noch relevant sind, orientieren wir uns zunächst allgemein am Nachrichtenschema nach Bell (1998, S. 68). Demnach sind sowohl Orte als auch Akteure für das Verständnis des aktuellen Geschehens relevant. Als zentrale Orte betrachten wir entsprechend der oben genannten Fallbeschreibung Hamburg, weil hier die meisten Infizierten lebten, und Bienenbüttel, weil hier mehrere Tage nach der Quelle des Ausbruchs gesucht wurde. Bei

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den zentralen Akteuren lassen sich Personen und Organisationen unterscheiden. Zentrale Organisationen waren das Robert-Koch-Institut sowie das Bundesinstitut für Risikobe-wertung, die mit der wissenschaftlichen Analyse der Epidemie befasst waren. Zentrale Akteure waren die beiden zuständigen Bundesminister Ilse Aigner (CSU) und Daniel Bahr (FDP). Verbindet man diese allgemeinen Überlegungen mit Erkenntnissen über das Informationsverhalten bei Ungewissheit in der Risikokommunikation (vgl. z. B. Brashers 2001), kann man annehmen, dass für die Rezipienten darüber hinaus vor allem die Merk-male, Ursachen und Folgen eines Problems sowie mögliche Lösungen relevant sind. Dies sind im vorliegenden Fall die mit der EHEC-Epidemie verbundenen Symptome HUS und Durchfall, die verschiedenen als Quelle des Erregers genannten Lebensmittel wie Gur-ken und Sprossengemüse sowie die Medikamente und Therapien gegen den Erreger, hier das Medikament Eculizumab und die Plasmapherese, der Austausch des Blutplasmas, als mögliche Therapie.

Wir haben somit ein Kern-Thema und zwölf weitere Themenkomponenten identifiziert, von denen wir annehmen, dass sie um so häufiger Gegenstand von Online-Suchanfra-gen sind, je häufiger sie in den Massenmedien thematisiert werden. Bisherige Unter-suchungen haben das Online-Suchverhalten vor allem über Google Insights for Search erfasst. Dies ist jedoch aus mehreren Gründen problematisch: Erstens stehen die Google-Nutzungsdaten methodisch in der Kritik, weil ihr Zustandekommen relativ intransparent ist. Dies ist insbesondere für die Sozialforschung problematisch, weil das Offenlegen der Vorgehensweise ein zentrales Kriterium für die Qualität empirischer Forschung ist. Zwei-tens liegen die Google-Daten nicht in absoluten Häufigkeiten vor. Vielmehr werden rela-tive Häufigkeiten ausgewiesen, wobei die Suchanfragen zu einem bestimmten Begriff an den Suchanfragen aller Begriffe in einem gegebenen Zeitraum relativiert werden. Dabei ist die Auswahl des Zeitraums nur begrenzt möglich. Drittens weist Google Insights for Search nur für vergleichsweise kurze Zeiträume tagesweise Daten aus. Für längere Zeit-räume sind nur wochen- oder monatsweise Abfragen möglich.

Wir untersuchen deshalb den Einfluss der Medienberichterstattung über die EHEC-Epidemie auf das Informationsverhalten im Online-Nachschlagewerk Wikipedia. Wiki-pedia ist eine mehrsprachige Online-Enzyklopädie, deren Inhalte durch eine Vielzahl Ehrenamtlicher kollaborativ geschrieben werden und frei lizenziert sind. Die Enzyklo-pädie verbucht nicht zuletzt ihres guten Suchmaschinenrankings wegen monatlich mehr als 15 Mrd. Seitenaufrufe (vgl. Wikimedia Foundation 2012b) und verfügt allein in der deutschsprachigen Version inzwischen über mehr als 1,4 Mio. Artikel (vgl. Wikimedia Foundation 2012a). Laut ARD/ZDF-Online-Studie ist die Zahl der Wikipedia-Besucher in Deutschland seit 2007 stetig steigend: 2011 besuchten 70 % der deutschen Online-Nut-zer Wikipedia zumindest gelegentlich, fast ein Drittel sogar regelmäßig (vgl. Busemann und Gscheidle 2011). Die Daten zur Nutzung der einzelnen Wikipedia-Artikel sind als Logfiles frei verfügbar. Sowohl zum Kernthema EHEC als auch zu jeder der zwölf The-menkomponenten existiert ein eigener Wikipedia-Eintrag.

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5 Methode

Zur Ermittlung der Medienagenda haben wir eine computergestützte Inhaltsanalyse von elf besonders reichweitenstarken deutschsprachigen Leitmedien durchgeführt. Die Aus-wahl umfasst zum einen die neun reichweitenstärksten deutschen Online-Medien Bild.de, Spiegel Online, Focus Online, Welt Online, Sueddeutsche.de, N-tv.de, Zeit Online, Stern.de und Faz.net. Da die deutschsprachige Wikipedia nicht nur deutsche Nutzer, sondern auch Besucher aus der Schweiz und Österreich anzieht, wurden zudem reichweitenstarke Online-Angebote aus der Schweiz (Nzz.ch) und Österreich (DerStandard.at) einbezogen. Untersuchungszeitraum waren die elf Wochen vom 15. Mai (kurz vor Ausbruch der Epi-demie) bis zum 31. Juli 2011 (offizielles Ende der Epidemie). Zunächst wurden alle Bei-träge dieser Online-Medien, die den Suchbegriff EHEC enthielten, mit Hilfe eines eigens programmierten Crawlers erfasst und quantitativ ausgewertet. Insgesamt enthielten die elf Medien im genannten Zeitraum 2.393 solcher Beiträge. Anschließend wurde ermittelt, wie viele EHEC-Beiträge die übrigen zwölf Themenkomponenten erwähnten. Die Such-begriffe für den Crawler entsprachen jeweils den oben genannten Themenkomponenten, wobei unterschiedliche Bezeichnungen, Abkürzungen und Schreibweisen berücksichtigt wurden (z. B. „Sprosse“ und „Sproße“, „Robert-Koch-Institut“ und „RKI“ usw.).

Zur Analyse der Wikipedia-Nutzung konnten wir auf die frei verfügbaren, aggregierten Logfiles der Wikimedia Foundation zugreifen, die auf stündlicher Basis zur Verfügung gestellt werden.1 Logfile-Analysen stellen als sozialwissenschaftliche Methode ein non-reaktives und apparatives Beobachtungsverfahren dar. Für die vorliegende Studie wurden die Nutzungsdaten eines Jahres geladen. Da neben den Logfiles auch deren MD5-Prüf-summen zur Verfügung standen, konnte die Vollständigkeit der Downloads mit einem lokalen Prüfsummenabgleich gewährleistet werden. Die Datenmenge von 8.760 kompri-mierten Dateien und über 650 GB Volumen musste zur weiteren Verwendung gefiltert und angepasst2 werden. Als Indikator für die Informationsnutzung dient die Einheit Artikelzu-griffe pro Tag. Im Gegensatz zur Analyse mit Google Insights for Search geben die Wiki-pedia-Logfiles damit Auskunft über die absoluten Zugriffe im Untersuchungszeitraum.

Sowohl die Medienagenda als auch das Online-Informationsverhalten als Indikator für die Publikumsagenda liegen folglich als Zeitreihen auf Tagesbasis vor. Zur Berech-nung des Einflusses der Medien- auf die Publikumsagenda führen wir Zeitreihenanalysen durch, mit denen wir ermitteln, wie stark sich Veränderungen in der Medienagenda auf Veränderungen in der Publikumsagenda auswirken (Einzelthemen-Aggregatanalyse). Wir berücksichtigen dabei sowohl die zeitgleichen Zusammenhänge (die Medienagenda beein-flusst die Publikumsagenda am selben Tag) als auch in beide Richtungen um bis zu vier Tage verschobene Zusammenhänge. Auf diese Weise werden theoretisch ebenfalls mög-

1 Nähere Informationen und die Logfiles finden sich unter: http://dumps.wikimedia.org/other/pagecounts-raw/. Ein Tool, das die Nutzung jüngerer Daten visualisiert, findet sich unter http://stats.grok.se. Daten älteren Datums fehlen vereinzelt.

2 In dieser Arbeit wurden lediglich die Nutzungszahlen der deutschsprachigen Wikipedia beachtet. Die Zeitzonen der Daten mussten zudem von Koordinierter Weltzeit (UTC) auf Mitteleuropäi-sche Zeit (CET) bzw. Mitteleuropäische Sommerzeit (CEST) angepasst werden. Anschließend wurden die Daten auf Tagesbasis aggregiert.

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liche Einflüsse der Publikumsagenda auf die Medienagenda erkennbar. Ein Problem ergibt sich aus dem Sachverhalt, dass die Wikipedia-Nutzung themenunabhängig am Wochen-ende und insbesondere am Sonntag wesentlich geringer ausfällt als unter Woche.3 Weil auch Online-Medien am Wochenende weniger Beiträge publizieren (vgl. z. B. Trappel 2007), könnte eine eventuell vorhandene Übereinstimmung der beiden Zeitreihen zumin-dest teilweise auf dieses Artefakt zurückzuführen sein. Wir berechnen die Zeitreihen deshalb einmal mit und einmal ohne die Wochenendwerte und interpretieren die Werte vorsichtig.

6 Ergebnisse

Im ersten Schritt wollen wir den Einfluss der gesamten EHEC-Berichterstattung auf die Nutzung des EHEC-Artikels bei Wikipedia untersuchen. Wie wir bereits verdeut-licht haben, publizierten die elf untersuchten Online-Medien zwischen Mitte Mai und Ende Juli 2011 insgesamt 2.393 Beiträge, in denen der Begriff EHEC erwähnt wurde. Im selben Zeitraum verzeichnete der EHEC-Artikel auf Wikipedia etwas mehr als eine Millionen Zugriffe. Schaubild 1 zeigt Berichterstattung und Online-Zugriffe auf Tagesba-sis. Betrachtet man den Zusammenhang der beiden Zeitreihen, sind deutliche Parallelen erkennbar: Die Medienberichterstattung setzte um den 23. Mai ein und erreichte am Ende der ersten Berichterstattungswoche einen vorläufigen Höhepunkt. Die Informationsnut-zung in Wikipedia stieg in den ersten Tagen im Vergleich zur Medienberichterstattung deutlich überproportional an und erreichte ihren Höhepunkt bereits am 26. Mai. Bis Anfang Juni sind eine Reihe von weitgehend parallelen Schwankungen in den Zeitreihen erkennbar, die allerdings wie erwartet teilweise durch den themenunabhängigen Rück-gang von Berichterstattung und Wikipedia-Nutzung an den Wochenenden verursacht sind. Die Medienberichterstattung erreichte ihren Höhepunkt an dem Tag, an dem der Erreger auf dem Bauernhof in Bienenbüttel nachgewiesen wurde (8. Juni). Dies führte allerdings nicht zu einer weiteren Steigerung der Zugriffe auf den EHEC-Artikel in Wikipedia. Im Gegenteil: Bereits nach der ersten Epidemie-Woche ließen die Suchanfragen zum EHEC-Artikel kontinuierlich nach. Mitte Juni war schließlich auch die Medienaufmerksamkeit für das Thema erlahmt. Obwohl die Ursache des Erregers noch nicht gefunden war und die Zahl der Infizierten weiter zunahm, interessierten sich die Medien kaum noch für das Thema. Selbst der leichte Anstieg der Berichterstattung anlässlich der Entdeckung des eigentlichen Erregers Ende Juni führte zu keiner weiteren Intensivierung der Zugriffe auf den EHEC-Artikel bei Wikipedia (Abb. 1).

Der optische Eindruck einer starken Übereinstimmung beider Zeitreihen wird durch die statistische Analyse bestätigt: Diese ergibt eine sehr starke und fast identische Kor-relation von r = 0,76 bzw. 0,77 für die Lags zwischen − 2 und 0. Dies spricht für einen Einfluss der Medienagenda auf die Informationsnutzung am gleichen Tag oder sogar für

3 Um dies zu prüfen, haben wir die Zugriffe auf zehn Wikipedia-Artikel zu unterschiedlichen Themen (z. B.: Berlin, Kommunikationswissenschaft, Salbei, Michael Jackson) zwischen dem 1.12.2010 und dem 1.12.2011 auf Tagesbasis ausgewertet. Dabei zeigt sich, dass Wikipedia-Artikel themenunabhängig sonntags etwa ein Drittel weniger genutzt werden als z. B. dienstags.

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einen Einfluss der Wikipedia-Nutzung auf die Medienberichterstattung einen bzw. zwei Tage später. Dies gilt weitgehend unabhängig davon, ob die Analysen mit oder ohne Wochenenddaten durchgeführt werden (Tab. 1).

Der gemessene Zusammenhang wäre fraglos noch deutlich größer, würde man nur die ersten drei Untersuchungswochen berücksichtigen. Im weiteren Zeitverlauf entwickelten sich Medienberichterstattung und Online-Informationsnutzung zunehmend auseinander, weil der EHEC-Artikel bei Wikipedia kaum noch aufgerufen wurde. Betrachtet man die Wikipedia-Nutzung als Indikator für die Publikumsagenda im Agenda-Setting-Prozess, müsste man folglich annehmen, dass die Agenda-Setting-Effekte zunächst überpropor-tional stark ausfielen (Beschleunigungsmodell; vgl. Kepplinger et al. 1989) und dann ausblieben, weil das Thema den Befragten nicht mehr relevant erschien. Vergegenwärtigt man sich allerdings, dass das Online-Suchverhalten eine Form der Informationsnutzung

Tab. 1: Kreuzkorrelation zwischen der Nennung des Begriffs EHEC in Online-Medien und den Zugriffen auf den EHEC-Artikel bei WikipediaZeitverzug (Tage) − 4 − 3 − 2 − 1 0 1 2 3 4Ursprüngliche Zeitreihena 0,68 0,73 0,76 0,77 0,76 0,63 0,53 0,44 0,36Ohne Wochenendenb 0,72 0,77 0,80 0,79 0,76 0,64 0,5 0,36 –Basis: Inhaltsanalyse von elf Online-Medien (n = 2.393 Beiträge); Logfile-Analyse der Wikipedia-Nutzung; ausgewiesen sind nur signifikante Werte (p mindestens < 0,05)aZeitreihe besteht aus 78 MesszeitpunktenbZeitreihe besteht aus 55 Messzeitpunkten

Abb. 1: Zusammenhang zwischen der EHEC-Berichterstattung in Online-Medien und den Zugriffen auf den EHEC-Artikel bei Wikipedia im Sommer 2011

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ist, die vermutlich Ungewissheit bei einem Thema voraussetzt, erscheint es wesentlich wahrscheinlicher, dass die Rezipienten ihre Ungewissheit zum Thema bereits nach weni-gen Tagen beseitigt hatten, so dass eine weitere Nutzung des Wikipedia-Artikels über EHEC nicht mehr erforderlich war. Darüber, für wie relevant sie das Thema EHEC zu diesem Zeitpunkt hielten, sagen diese Daten dann nichts aus.

Auch wenn die Rezipienten den EHEC-Artikel selbst nach wenigen Wochen kaum noch nutzten, ist es wahrscheinlich, dass die neuen Ereignisse im Verlauf des Untersu-chungszeitraums und die damit verbundenen Themenkomponenten zur Nutzung ande-rer Wikipedia-Artikel führten. Wir wollen deshalb im zweiten Schritt den Einfluss der Berichterstattung über die zwölf einzelnen Themenkomponenten auf die Informations-suche in Bezug auf diese Komponenten untersuchen. Tabelle 2 zeigt die Häufigkeit der Berichterstattung über die Themenkomponenten und die Anzahl der Zugriffe auf die ent-sprechenden Wikipedia-Artikel im gesamten Untersuchungszeitraum. Dabei zeigen sich zum einen deutliche Unterschiede in der Häufigkeit der Berichterstattung: Während über die Plasmapherese als Therapie gegen EHEC nur 25-mal berichtet wurde, wurden Gurken im Zusammenhang mit EHEC in über 1.000 Beiträgen erwähnt. Zum anderen zeigen sich auch deutliche Unterschiede in der Nutzung der Wikipedia-Artikel. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass einige Artikel auch in anderen Kontexten genutzt wurden. Das gilt z. B. für den Artikel über Hamburg, der mit über 500.000 Zugriffen am häufigs-ten aufgerufen wurde. Die wenigsten Zugriffe verzeichnete der Artikel über das Bundes-institut für Risikobewertung (6.198) (Tab. 2).

Betrachtet man die Medienberichterstattung und die Zugriffe auf die Wikipedia-Artikel im Zeitverlauf, zeigen sich für nahezu alle Themenkomponenten ebenfalls erhebliche Zusammenhänge. In der Regel beeinflusste die Medienberichterstattung die Online-In-formationsnutzung am selben Tag am stärksten. In zwei Fällen (Sprossengemüse, HUS) scheint die Informationsnutzung eher die Menge der Medienberichterstattung zu beein-

Tab. 2: Anzahl der Online-Beiträge und Wikipedia-Zugriffe zu den zwölf ThemenkomponentenNachrichtenbeiträgen

Wikipedia-Zugriffen

Ursache Sprossengemüse 658 74.888Gurken 1.029 50.368

Symptome HUS 945 216.415Durchfall 653 110.636

Therapie Eculizumab 67 33.387Plasmapherese 25 18.742

Orte Bienenbüttel 354 14.107Hamburg 908 545.225

Personen Ilse Aigner 434 32.634Daniel Bahr 654 46.637

Organisationen Robert-Koch-Institut 811 23.965Bundesinstitut für Risikobewertung

354 6.198

Basis: Inhaltsanalyse von elf Online-Medien (n = 2.393 Beiträge, die den Begriff EHEC enthielten); Logfile-Analyse der Wikipedia-Nutzung

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flussen, in zwei anderen Fällen (Bundesinstitut für Risikobewertung, Ilse Aigner) erfolgte der Einfluss der Medienberichterstattung auf die Online-Informationsnutzung mit einem Tag Verzögerung. Nur in zwei Fällen waren keine signifikanten Zusammenhänge zwi-schen der Nennung der Themenkomponenten in den Medien und den Zugriffen auf die entsprechenden Wikipedia-Artikel erkennbar: Die Plasmapherese wurde in der Bericht-erstattung offensichtlich zu selten erwähnt. Auf den Wikipedia-Artikel über Hamburg wurde offensichtlich erstens in zu vielen anderen Kontexten zugegriffen. Zweitens dürften sich viele Rezipienten von der Nutzung des Artikels keine nennenswerte Reduktion ihrer Ungewissheit im Zusammenhang mit dem Thema EHEC versprochen haben (Tab. 3).

Betrachtet man die grafischen Verläufe von Berichterstattung und Wikipedia-Nutzung, zeigen sich ähnliche Befunde wie bei der EHEC-Berichterstattung insgesamt: In der Regel erreichten in den ersten Tagen der Berichterstattung auch die Wikipedia-Zugriffe schnell ihren Höhepunkt und fielen dann ebenso schnell wieder ab. Dieser Kurzfrist-Ef-fekt war stärker bei völlig neuen Begriffen, bei denen vermutlich besonders große Unge-wissheit bestand (z. B. Eculizumab von 0 Zugriffen Mitte Mai auf über 8.000 Zugriffe pro Tag Ende Mai), als bei bekannten Begriffen, die durch EHEC eine neue Relevanz erhielten (z. B. Gurken von durchschnittlich etwa 500 Zugriffen Mitte Mai auf etwa 2.500 Zugriffe pro Tag Ende Mai). Darüber hinaus wird erkennbar, dass verschiedene Themenkomponenten zu unterschiedlichen Zeitpunkten relevant waren. So wurde auf die Beiträge über Sprossengemüse, Bienenbüttel, die beiden Bundesminister und das Bundesinstitut für Risikobewertung erst Anfang bzw. Mitte Juni überdurchschnittlich häufig zugegriffen, nachdem sie im Zusammenhang mit der EHEC-Epidemie häufiger von den Medien erwähnt worden waren. Diese Befunde verdeutlichen noch einmal, dass das Thema EHEC auch Mitte Juni keinesfalls von der Publikumsagenda verschwunden war. Vielmehr hatten sich durch neue Ereignisse neue Themenkomponenten ergeben, bei denen in der Bevölkerung Ungewissheit bestand. Dementsprechend suchten die Rezi-

Tab. 3: Kreuzkorrelation zwischen der Anzahl der Online-Beiträge und der Anzahl der Zugriffe auf die Wikipedia-Artikel zu den zwölf Themenkomponenten

Zeitverzug − 4 − 3 − 2 − 1 0 1 2 3 4Ursachen Sprossen 0,47 0,46 0,55 0,78 0,72 0,34 0,24 0,29 0,35

Gurken 0,52 0,49 0,52 0,67 0,85 0,63 0,46 0,40 0,40Symptome HUS 0,74 0,77 0,86 0,89 0,88 0,77 0,72 0,62 0,55

Durchfall 0,35 0,50 0,68 0,84 0,86 0,69 0,57 0,51 0,46Therapie Eculizumab – – 0,35 0,61 0,90 0,83 0,72 0,41 –

Plasmapherese – – – – – – 0,22 0,24 0,38Orte Bienenbüttel 0,51 0,52 0,53 0,75 0,85 0,61 0,42 0,32 0,37

Hamburg – 0,27 0,25 – – – – – –Personen Ilse Aigner 0,25 0,28 0,31 0,42 0,62 0,67 0,54 0,37 0,31

Daniel Bahr 0,34 0,47 0,48 0,62 0,72 0,58 0,63 0,45 0,40Organisa-tionen

RKI 0,48 0,59 0,71 0,77 0,84 0,71 0,60 0,49 0,39BfR 0,36 0,44 0,55 0,65 0,63 0,67 0,71 0,55 0,51

Basis: Inhaltsanalyse von elf Online-Medien (n = 2.393 Beiträge, die den Begriff EHEC enthielten); Logfile-Analyse der Wikipedia-Nutzung; ausgewiesen sind nur signifikante Werte (p mindestens < 0,05)

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pienten jetzt nach diesen Begriffen und nutzten den Wikipedia-Artikel über EHEC deut-lich seltener als zu Beginn der Epidemie.

7 Diskussion

Die inhaltliche Ausgangsfrage dieses Beitrags war, ob es einen Zusammenhang gibt zwi-schen der Häufigkeit, mit der die Massenmedien über politische Sachthemen berichten (Medienagenda), und der Häufigkeit, mit der die Rezipienten im Internet nach korrespon-dierenden Informationen suchen (Publikumsagenda). Damit verbunden war die methodi-sche Frage, ob sich die Publikumsagenda in der Agenda-Setting-Forschung valide über das Online-Informationsverhalten messen lässt. Unsere Analysen führen dabei zu ambi-valenten Befunden. Auf der einen Seite scheinen die statistischen Analysen eindeutig für starke Agenda-Setting-Effekte zu sprechen. Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Nennung fast aller Themenkomponenten und den Zugriffen auf die entsprechenden Wiki-pedia-Artikel am selben Tag. Dieser zeitgleiche Zusammenhang ist durchaus plausibel, weil man annehmen kann, dass die Rezipienten nach der Rezeption der EHEC-Informa-tionen in den Online-Medien sofort nach weiterführenden Informationen bei Wikipedia suchen. Der Zusammenhang ist zwar teilweise auch dadurch verursacht, dass Online-Me-dien an Wochenenden grundsätzlich weniger publizieren und die Rezipienten an Wochen-enden deutlich seltener auf Wikipedia zugreifen. Dies erklärt die Zusammenhänge aber keinesfalls vollständig.

Die grafischen Analysen legen dagegen einen anderen Schluss nahe: Nach einem star-ken Anstieg der Wikipedia-Nutzung in den ersten Tagen der Medienberichterstattung sank die Zahl der Zugriffe auf die Wikipedia-Artikel jeweils nach wenigen Tagen wieder deutlich – unabhängig davon wie sich die Medienberichterstattung im gleichen Zeitraum entwickelte. Betrachtet man das Online-Suchverhalten als Indikator für die Publikums-agenda, müsste man folglich konstatieren, dass die Befragten das Kern-Thema EHEC und die dazugehörigen Themenkomponenten nach kurzer Zeit nicht mehr für relevant hielten, auch wenn die Massenmedien weiterhin häufig darüber berichteten. Diese Sicht-weise übersieht aber, dass das Online-Suchverhalten eine Form der Informationsnutzung ist. Die Informationsnutzung steigt, wenn das Informationsbedürfnis in der Bevölkerung steigt. Das Informationsbedürfnis bildet aber nicht nur die Relevanz eines Themas in der Bevölkerung ab, sondern auch die bei einem Thema bestehende Ungewissheit. Ein Rückgang der Online-Informationsnutzung kann deshalb auf eine nachlassende Themen-relevanz, aber auch auf eine nachlassende Ungewissheit hindeuten. Themenrelevanz und Ungewissheit können miteinander einhergehen oder sich auseinanderentwickeln. Im vor-liegenden Fall spricht vieles dafür, dass sie sich nach wenigen Tagen auseinanderent-wickelt haben. Die Rezipienten hielten das Thema EHEC vermutlich nach wie vor für relevant, fühlten sich nach wenigen Tagen aber so gut informiert, dass sie den EHEC-Artikel auf Wikipedia deutlich seltener aufriefen. Stattdessen wendeten sie sich zum Teil neuen Themenkomponenten zu, die erst im Verlauf der Ereigniskette relevant wurden. Sollen Logfile-Analysen zur Online-Informationsnutzung Befragungen zur Publikums-agenda ersetzen, muss die Analyse deshalb zumindest über eine große Menge theore-tisch hergeleiteter Themenkomponenten bzw. Suchbegriffe erfolgen. Dabei steht die

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Forschung in jedem Einzelfall vor dem Problem, die jeweils relevanten Suchbegriffe zu identifizieren. Dieses Problem entspricht mehr oder weniger einem bekannten Problem der klassischen Agenda-Setting-Forschung: dem Problem, Themen zu definieren und voneinander zu trennen. Wir haben dafür hier einen ersten Vorschlag gemacht, der in zukünftigen Studien fraglos weiterentwickelt werden muss.

Aus diesen Überlegungen kann man zwei unterschiedliche Schlüsse ziehen: Einer-seits könnte man konstatieren, dass das Online-Informationsverhalten kein geeigneter Indikator für die Publikumsagenda ist, weil die wahrgenommene Relevanz eines Themas und die wahrgenommene Ungewissheit nicht voneinander getrennt werden können. Folgt man diesem Argument, kann man weder unsere Studie noch all die, deren Untersuchungs-design wir hier bewusst nachgestellt haben, als Agenda-Setting-Studien betrachten. Es handelte sich dann vielmehr um Studien, die die ebenso relevante Frage untersuchen, ob und unter welchen Bedingungen die Medienberichterstattung über politische Sachthemen bei den Rezipienten Informationsbedürfnisse weckt und weitere Informationssuche aus-löst. Entsprechende Phänomene könnten dann z. B. mithilfe des Uses-and-Gratifications- oder des dynamisch-transaktionalen Ansatzes untersucht werden. Zum anderen könnte man konstatieren, dass der Agenda-Setting-Ansatz, ähnlich wie andere Medienwirkungs-theorien, modifiziert und an die Bedingungen der Online-Welt angepasst werden muss. In diesem Fall muss der Agenda-Setting-Ansatz sinnvoll mit Mediennutzungstheorien ver-bunden und insbesondere die Rolle der Ungewissheit als Voraussetzung für die Online-Suche einbezogen werden.

Darüber hinaus weist das vorliegende Untersuchungsdesign einige weitere Schwächen auf. Zum einen mag die Nutzung eines Wikipedia-Eintrags nicht mit dem exakt gleichen Ziel erfolgen wie eine Suchmaschinenanfrage. Während das Lesen des EHEC-Artikels in Wikipedia auf ein starkes Interesse an der Bedeutung des Begriffs EHEC hindeutet, verweist eine Suchmaschinenanfrage möglicherweise eher auf ein generelles Interesse am Thema EHEC im weiteren Sinne. Dennoch entsprechen unsere Befunde nahezu exakt denjenigen, die im Zusammenhang mit Suchmaschinenanfragen gewonnen wurden. Wir haben zudem bereits auf die Problematik hingewiesen, dass die Wikipedia-Nutzung grundsätzlich themenunabhängig an den Wochenenden deutlich geringer ausfällt als unter der Woche. Dies erschwert Analysen auf Tagesbasis. Allerdings treten ähnliche Probleme offensichtlich auch bei der Nutzung von Google Insights for Search auf (vgl. Scharkow und Vogelgesang 2011). Die wenigen auf Tagesbasis verfügbaren Bevölkerungsbefra-gungen sparen das Wochenende sogar meist ganz aus. Darüber hinaus kann man sich die Frage der Repräsentativität stellen. Noch immer verfügen nicht alle Deutschen über einen Internetanschluss, und nicht alle Onliner nutzen Wikipedia. Einige der hier untersuch-ten Wikipedia-Artikel haben im gesamten Untersuchungszeitraum nur wenige Tausend Zugriffe verzeichnet. Interpretiert man die Daten vorsichtig, kann es deshalb selbstver-ständlich nicht um Repräsentativität für die gesamte Bevölkerung gehen. Es geht allen-falls um die Frage, ob die Nutzer von Wikipedia die Online-Enzyklopädie besonders dann nutzen, wenn sie über ein bestimmtes Thema viele Informationen aus den Massenme-dien erhalten haben. Weil dies der Fall ist, spricht einiges dafür, dass andere Rezipien-ten andere Quellen nutzten, um sich weiterführend über EHEC zu informieren. Ob dies zutrifft, kann mit den vorliegenden Daten aber nicht geprüft werden. Schließlich könnte man einwenden, dass ein Teil der Wikipedia-Nutzung auf Journalisten entfällt, die für

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ihre Artikel über EHEC recherchieren. Dies würde auch erklären, warum die Wikipedia-Nutzung der Medienberichterstattung in einigen Fällen vorausläuft. Allerdings dürften die Suchanfragen von Journalisten im Vergleich zu den oft mehreren Zehntausend Zugrif-fen pro Tag kaum ins Gewicht fallen. Schließlich verwenden wir in unserer Argumen-tationskette Konzepte wie need for orientation oder Ungewissheit, ohne sie zu messen. Wir haben zwar gute Gründe anzunehmen, dass zu Beginn des Untersuchungszeitraums tatsächlich kollektive Ungewissheit über die Ursachen und Folgen des EHEC-Ausbruchs herrschte, können aber nicht sicher sein, dass diese tatsächlich nach wenigen Tagen der Berichterstattung beseitigt war. Weil solche Vermutungen mithilfe von Aggregatdaten-analysen kaum überprüft werden können, sollten zukünftige Studien auf Individualebene das Verhältnis von Online-Informationsverhalten, Orientierungsbedürfnis und Themen-relevanz untersuchen.

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Thomas Holbach, MA ist Absolvent des Masterstudiengangs „Öffentliche Kommunikation“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und arbeitet in einer Berliner Internet-Agentur.

Dr. Marcus Maurer ist Professor für empirische Methoden am Institut für Kommunikationswis-senschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena.


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