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Wirbelsäulenform- und Funktionsprofile; Spinal form and function profile;

Date post: 24-Jan-2017
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J. Schröder · K.-M. Braumann · R. Reer Bewegungswissenschaft, Abteilung Sport- und Bewegungsmedizin, Universität Hamburg Wirbelsäulenform- und  Funktionsprofile Referenzwerte für die klinische Nutzung  bei Rückenschmerzsyndromen Hintergrund Auffälligkeiten der Achsenskelettform und der Rumpfmuskulaturfunktion kön- nen als biomechanische Parameter zur Beurteilung von Patienten mit chroni- schen, unspezifischen Rückenbeschwer- den („chronic low back pain“, CLBP) zur diagnostischen Ergänzung oder thera- piebegleitend zur Qualitätssicherung berücksichtigt werden. So wurden be- schwerdeassoziierte Muskelfunktions- defizite schon in den 1980er Jahren be- schrieben [19]. In den 1990er Jahren wur- de ein erweitertes funktionsdiagnosti- sches Konzept evaluiert und klinisch eta- bliert, um individuell befundbasierte be- wegungstherapeutische Interventionen zu legitimieren: das muskuläre Profil der Wirbelsäule [5]. Neben der Muskelkraft sollte auch die Mobilität als sensitiver Kennwert zur Beschreibung von Dysfunktionen oder funktionellen Defiziten des paraverte- bralen ligamentär-neuromuskulären Sta- bilisierungssystems in Erwägung gezogen werden [24, 26]. Einschränkungen der Extension oder Flexion können mit defi- nierten Rückenschmerzsyndromen kor- respondieren [12, 20, 34]. Kulig et al. [14] konnten im dynamischen MRT beobach- ten, dass sowohl eine Hypo- als auch eine Hypermobilität lumbaler Segmente mit CLBP assoziiert war. Sogar die Haltung im freien bipeda- len Stand kann als Ausdruck funktionel- ler Fähigkeiten bzw. bei CLBP-Patienten als Ausdruck eines defizitären Funktions- status interpretiert werden [33, 37]. Eine deutlicher von der sagittalen Neutralposi- tion abweichende thorakolumbosakrale Wirbelsäulenkurvatur wurde photome- trisch als Hinweis auf LBP identifiziert [32]. Radiologische Befunde sprechen für eine tendenziell abgeflachte Lordose bei CLBP-Patienten [11]. Metaanalytisch konnten aber auch Asymmetrien in der Frontalebene als Indiz für chronisch un- spezifische Rückenbeschwerden identifi- ziert werden [1]. Diese Befunde wurden jüngst videorasterstereographisch bestä- tigt [31]. Diesem Verfahren konnte eine hohe klinische Nützlichkeit und Prakti- kabilität attestiert werden [2, 6]. In den vorangehenden Absätzen wur- den Referenzen herausgestellt, die einen möglichen Zusammenhang zwischen Rückenbeschwerden und biomechani- schen Funktionskennwerten in Quer- schnitt- und Korrelationsanalysen unter- sucht haben. Kausalitäten sind aus die- sen Befunden nicht direkt abzuleiten. Es darf nicht übersehen werden, dass kei- ne unmittelbaren Zusammenhänge zwi- schen Kraftkennziffern und Beschwerden bzw. zwischen einer trainingsinduzier- ten Schmerzreduktion und verbesserten Kraftkennziffern gefunden werden konn- ten; Verbesserungen im Funktionsniveau bei LBP-Patienten wurden überwiegend auf modulierende psychologische Fakto- ren wie ein „verbessertes Selbstbewusst- sein“ und „mehr Zutrauen zu den eige- nen Fähigkeiten“ zurückgeführt [16, 17]. Zusammenhänge zwischen Rückenbe- schwerden und Wirbelsäulenformmerk- malen waren darüber hinaus weniger ausgeprägt als bei Kraftkennwerten [31], aber funktionelle Zusammenhänge zwi- schen Schmerzreduktion, Kraftniveau und Haltungskennwerten konnten bei Patienten in der Rehabilitation nach Dis- kusprolaps gefunden werden [4]. Andererseits wurde der hohe Anteil unspezifischer Rückenbeschwerden am Gesamtaufkommen schon darauf zu- rückgeführt, dass die diagnostischen Möglichkeiten nicht weit genug ausge- schöpft wurden [18]. Vor diesem Hintergrund war es das Ziel der vorliegenden Arbeit, einen Refe- renzrahmen beschwerdefreier und mög- lichst wenig durch Reifung oder Alte- rung beeinflusster Personen für Wirbel- säulenform- und -funktionskennziffern zu erarbeiten, der im klinischen Alltag zur Einordnung individueller Patienten- daten nützlich sein kann, wenn der prak- tizierende Orthopäde objektivierbare Parameter im diagnostischen Screening und therapiebegleitenden Monitoring bei Rückenschmerzpatienten zu Rate ziehen möchte. Zusatzmaterial online Die Originaldaten zu den Wirbelsäulenform- und Funktionsreferenzwerten stehen online zur Verfügung. Sie finden das Supplemental unter dx.doi.org/10.1007/s00132-014-2316-0. Orthopäde 2014 DOI 10.1007/s00132-014-2316-0 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 1 Der Orthopäde 2014| Originalien
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Page 1: Wirbelsäulenform- und Funktionsprofile; Spinal form and function profile;

J. Schröder · K.-M. Braumann · R. ReerBewegungswissenschaft, Abteilung Sport- und Bewegungsmedizin, Universität Hamburg

Wirbelsäulenform- und FunktionsprofileReferenzwerte für die klinische Nutzung bei Rückenschmerzsyndromen

Hintergrund

Auffälligkeiten der Achsenskelettform und der Rumpfmuskulaturfunktion kön­nen als biomechanische Parameter zur Beurteilung von Patienten mit chroni­schen, unspezifischen Rückenbeschwer­den („chronic low back pain“, CLBP) zur diagnostischen Ergänzung oder thera­piebegleitend zur Qualitätssicherung berücksichtigt werden. So wurden be­schwerdeassoziierte Muskelfunktions­defizite schon in den 1980er Jahren be­schrieben [19]. In den 1990er Jahren wur­de ein erweitertes funktionsdiagnosti­sches Konzept evaluiert und klinisch eta­bliert, um individuell befundbasierte be­wegungstherapeutische Interventionen zu legitimieren: das muskuläre Profil der Wirbelsäule [5].

Neben der Muskelkraft sollte auch die Mobilität als sensitiver Kennwert zur Beschreibung von Dysfunktionen oder funktionellen Defiziten des paraverte­bralen ligamentär­neuromuskulären Sta­bilisierungssystems in Erwägung gezogen werden [24, 26]. Einschränkungen der Extension oder Flexion können mit defi­nierten Rückenschmerzsyndromen kor­respondieren [12, 20, 34]. Kulig et al. [14]

konnten im dynamischen MRT beobach­ten, dass sowohl eine Hypo­ als auch eine Hypermobilität lumbaler Segmente mit CLBP assoziiert war.

Sogar die Haltung im freien bipeda­len Stand kann als Ausdruck funktionel­ler Fähigkeiten bzw. bei CLBP­Patienten als Ausdruck eines defizitären Funktions­status interpretiert werden [33, 37]. Eine deutlicher von der sagittalen Neutralposi­tion abweichende thorakolumbosakrale Wirbelsäulenkurvatur wurde photome­trisch als Hinweis auf LBP identifiziert [32]. Radiologische Befunde sprechen für eine tendenziell abgeflachte Lordose bei CLBP­Patienten [11]. Metaanalytisch konnten aber auch Asymmetrien in der Frontalebene als Indiz für chronisch un­spezifische Rückenbeschwerden identifi­ziert werden [1]. Diese Befunde wurden jüngst videorasterstereographisch bestä­tigt [31]. Diesem Verfahren konnte eine hohe klinische Nützlichkeit und Prakti­kabilität attestiert werden [2, 6].

In den vorangehenden Absätzen wur­den Referenzen herausgestellt, die einen möglichen Zusammenhang zwischen Rückenbeschwerden und biomechani­schen Funktionskennwerten in Quer­schnitt­ und Korrelationsanalysen unter­sucht haben. Kausalitäten sind aus die­sen Befunden nicht direkt abzuleiten. Es darf nicht übersehen werden, dass kei­ne unmittelbaren Zusammenhänge zwi­schen Kraftkennziffern und Beschwerden bzw. zwischen einer trainingsinduzier­ten Schmerzreduktion und verbesserten Kraftkennziffern gefunden werden konn­

ten; Verbesserungen im Funktionsniveau bei LBP­Patienten wurden überwiegend auf modulierende psychologische Fakto­ren wie ein „verbessertes Selbstbewusst­sein“ und „mehr Zutrauen zu den eige­nen Fähigkeiten“ zurückgeführt [16, 17]. Zusammenhänge zwischen Rückenbe­schwerden und Wirbelsäulenformmerk­malen waren darüber hinaus weniger ausgeprägt als bei Kraftkennwerten [31], aber funktionelle Zusammenhänge zwi­schen Schmerzreduktion, Kraftniveau und Haltungskennwerten konnten bei Patienten in der Rehabilitation nach Dis­kusprolaps gefunden werden [4].

Andererseits wurde der hohe Anteil unspezifischer Rückenbeschwerden am Gesamtaufkommen schon darauf zu­rückgeführt, dass die diagnostischen Möglichkeiten nicht weit genug ausge­schöpft wurden [18].

Vor diesem Hintergrund war es das Ziel der vorliegenden Arbeit, einen Refe­renzrahmen beschwerdefreier und mög­lichst wenig durch Reifung oder Alte­rung beeinflusster Personen für Wirbel­säulenform­ und ­funktionskennziffern zu erarbeiten, der im klinischen Alltag zur Einordnung individueller Patienten­daten nützlich sein kann, wenn der prak­tizierende Orthopäde objektivierbare Parameter im diagnostischen Screening und therapiebegleitenden Monitoring bei Rückenschmerzpatienten zu Rate ziehen möchte.

Zusatzmaterial online

Die Originaldaten zu den Wirbelsäulen form- und Funktionsreferenzwerten stehen online zur Verfügung. Sie finden das Supplemental unter dx.doi.org/10.1007/s00132-014-2316-0.

Orthopäde 2014 DOI 10.1007/s00132-014-2316-0© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

1Der Orthopäde 2014  | 

Originalien

Page 2: Wirbelsäulenform- und Funktionsprofile; Spinal form and function profile;

Methoden

Stichprobe

Insgesamt wurden 103 Personen ohne Rückenbeschwerden (52 Frauen, 51 Män­ner) als Probanden zur Erstellung eines orientierunggebenden Referenzwertrah­mens akquiriert, die älter als 18 Jahre sein mussten und nicht älter als 40 Jahre sein sollten (Mitarbeiter und Studierende der Universität Hamburg: Alter 27,2±7,2 Jah­re, BMI 23,0±2,5 kg/m2). Eine ernsthafte Rückenschmerzvorgeschichte, eine dia­gnostizierte Störung (ICD­10: M) oder aktuelle Beschwerden galten als Aus­schlusskriterium. Die Probanden wie­sen zum Zeitpunkt der Untersuchung im CR10­Schmerzscore (Range 0–10 Punk­

te) einen Wert von 0,3±0,7 Punkten auf und im Funktionsfragebogen Oswestry Disability Index (ODI, Range 0–100%) einen Wert von 3,3±3,7% (. Tab. 1).

Darüber hinaus wurden 5 sehr unter­schiedliche Rückenschmerzpatienten im gleichen Altersspektrum wie die Refe­renzgruppen mit spezifischen oder un­spezifischen Beschwerdebildern unter­sucht, deren Problematik zuvor ortho­pädisch­fachärztlich diagnostiziert wur­de, um assoziierte Auffälligleiten in de­ren muskuloskelettalen Funktionsprofi­len exemplarisch herauszustellen:F  Patient 1: weiblich, 39 Jahre, Body

Mass Index (BMI) 22,0 kg/m2, CLBP, Oswestry Disability Index (ODI) 61%, massive klinische Beschwerden im Stehen, Sitzen und Liegen.

F  Patient 2: weiblich, 22 Jahre, BMI 25,4 kg/m2, Spondylodiszitis L3/L4, ODI 16%, massive Klinik insbesonde­re bei Oberkörperanteflexionsaufga­ben.

F  Patient 3: weiblich, 21 Jahre, BMI 20,1 kg/m2, Skoliose, ODI 2%, kaum Beschwerden im Alltag.

F  Patient 4: männlich, 40 Jahre, BMI 27,0 kg/m2, CLBP, ODI 40%, Klinik im Sitzen und Liegen.

F  Patient 5: männlich, 30 Jahre, BMI 29,6 kg/m2, Diskusprolaps, ODI 8%, kaum Beschwerden im Alltag.

Im Einklang mit der Deklaration von Helsinki wurden die Probanden über den nichtinvasiven Untersuchungsgang infor­miert und die Daten anonymisiert [27].

Messsysteme

KrafttestungDie Rumpfmuskelkraft in der komple­xen Rückenstreckung und der komple­xen Rumpfbeugung – jeweils unter Ein­beziehung aller Synergisten – wurde im Sitzen unter standardisierten Bedingun­gen mithilfe des Messsystems Myoline® (Fa. Diers, Schlangenbad, Deutschland) als isometrische Maximalkraft getes­tet (DMS­Kraftmessdose: 100 Hz, Filter: gleitendes Mittel über 0,3 s). Die interin­dividuell standardisierte Positionierung und Fixierung (Begrenzungsflächen, hö­henverstellbares Schulterelement sowie Hüft­ und Oberschenkelgurte) erlaubten

eine zuverlässige Ermittlung der Kräfte in Extension und Flexion (ICC >0,95), zu­mal vor jeder Testung maximale Übungs­kontraktionen durchgeführt wurden (. Abb. 1). Nach Müller [21] sollte bei Rückenschmerzsyndromen ergänzend zur Strukturdiagnostik auch eine Funk­tionsdiagnostik durchgeführt werden. Isometrische Krafttestungen wurden als angemessener Kompromiss für eine zu­verlässige und valide Testung der Rumpf­muskelkraft qualifiziert [22]. Die Kräf­te (N) und der Quotient (%) aus Exten­sion/Flexion (Ex/Flex) wurden der statis­tischen Analyse zugeführt.

WirbelsäulenformanalyseDie Wirbelsäulenform wurde nichtinvasiv rasterstereographisch analysiert (Forme­tric®, Fa. Diers, Schlangenbad, Deutsch­land). Die digitale Rekonstruktion der Rückenoberfläche basierte auf lichtop­tischen Rasterprojektionsmustern und den korrespondierenden Videokamera­bildern (10 frames/s, . Abb. 2). Video­rasterstereographisch konnten somit drei­dimensionale Formanalysen der Rücken­oberfläche vorgenommen werden, aus denen die Lage und geometrische Orien­tierung unter der Haut liegender knöcher­ner Strukturen errechnet wurden (Auflö­sung 10 Punkte/cm2, Rekonstruktions­fehler <0,2 mm). Das Messprinzip wur­de früher schon ausführlich beschrieben [6, 9]. Von großer Bedeutsamkeit war der berührungslose, strahlenfreie und auto­matisiert­digitalisierende Charakter der Datenerhebung, sodass die Ergebnisse na­hezu in Echtzeit zur Verfügung standen. Röntgenologische Validierungsstudien konnten hohe Zusammenhänge zwischen knöchernen Strukturen und den unter der Haut detektierten Prominenzen bzw. Ein­ziehungen ermitteln, sodass die Vermes­sung der Rückenoberfläche gültige Rück­schlüsse auf Skelettstrukturen ermöglicht [7, 8].

Die Parametrisierungen der Wirbel­säulenform und der Beckenstellung in der Sagittalebene (Rumpfneigung, Kyphose­winkel, Lordosewinkel, Beckenneigung, Beckentorsion), in der Frontalebene (Lot­abweichung, Beckenhochstand, Wirbel­körperseitabweichung) und in der axia­len Ebene (Wirbelrotation) wurden der statistischen Analyse unterworfen.

Abb. 1 8 Rumpfmuskelkrafttestung. Rumpf-muskelkrafttestgerät mit Standardisierungs-elementen (Oberschenkel-, Becken- und Schul-terfixierung), höhenverstellbarer Schultergürtel-einheit und Fußwiderlagerrollen (oben) und ex-emplarischen Testergebnissen für die Rücken-streckkraft (Extension) und die Rumpfbeuge-kraft (Flexion) mit Angaben zu Körperhöhe und -masse des jeweiligen Probanden (unten)

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Wirbelsäulenbeweg-lichkeitstestungDie Beweglichkeit der lumbalen Seg­mente in der Dorsalflexion (Hyperexten­sion) wurde videorasterstereographisch (Formetric®, Fa. Diers, Schlangenbad, Deutschland) mithilfe eines kürzlich ent­wickelten sportmotorischen Tests repro­duzierbar ermittelt (r=0,93, [29]). Wäh­rend in einem Finger­Boden­Abstands­test die Anteflexion des Oberkörpers – allerdings mit maßgeblichen Einflüs­sen der Dehnfähigkeit der ischiokrura­len Muskulatur [28] – metrisch zuverläs­sig erfasst werden kann, gibt es für die Re troflexion keinen quantitativen klini­schen Schnelltest, obwohl Zusammen­hänge mit klinischen Syndromen wie beispielsweise Facettengelenksyndro­men vorliegen [23]. Damit die maxima­le Dorsalflexion kinematisch erfasst wer­den konnte, wurde die Rückenoberfläche ausgehend von einer Ruheposition im freien bipedalen Stand, über eine Posi­tion zur Präsentation des Vertebra pro­minens bis hin zur Position der maxima­len Streckung in einer ruhigen Bewegung fortlaufend rekonstruiert (10 s Messwert­aufnahme), ohne dass die Lordosierung durch Ausweichbewegungen in den Kni­en oder der Hüfte beeinflusst wurde. Die Mobilität (°) wurde als Differenz des Lor­dosewinkels von der Ausgangsposition zur maximalen Hyperextension ermit­telt (. Abb. 3).

TestablaufDie gesamte Datenerhebung wurde in einem abzudunkelnden Raum jeweils an einem Tag innerhalb von etwa 20 min durchgeführt. Prozedere:F  Informationen zu Ablauf und Test­

verfahren;F  Beschwerdeanamnese (Lokalisa­

tionsschema, CR10, ODI);F  standardisierte Testfolge1 statische Wirbelsäulenformanaly­

se mit einer vorangehenden Probe­aufnahme zur Gewöhnung an die Testsituation,

1 dynamische Beweglichkeitstestung mit einer vorangehenden Lern­phase zur Beherrschung der Test­bewegung;

1 isometrische Krafttestung1Extension und

1 Flexion mit jeweils vorgeschal­teten Übungskontraktionen zur neuromuskulären Voraktivie­rung und zum Erlernen der Test­bewegung.

Statistik

Die Daten wurden tabellarisch durch Mit­telwert ± Standardabweichung (SD) und die korrespondierenden Perzentilvertei­lungen – zur dimensionsübergreifenden Illustration muskuloskelettaler Orientie­

Zusammenfassung · Abstract

Orthopäde 2014 · [jvn]:[afp]–[alp] DOI 10.1007/s00132-014-2316-0© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

J. Schröder · K.-M. Braumann · R. ReerWirbelsäulenform- und Funktionsprofile. Referenzwerte für die klinische Nutzung bei Rückenschmerzsyndromen

ZusammenfassungHintergrund. Bei Rückenbeschwerden ist eine ergänzende Funktionsdiagnostik hilf-reich zur Ableitung bewegungstherapeuti-scher Ziele und Inhalte, wie Mobilisierung und Kräftigung definierter Muskelfunktions-ketten und zur Qualitätssicherung im Thera-piemonitoring. Referenzdaten beschwerde-freier Personen können hilfreich sein zur Er-stellung von Funktionsprofilen klinisch auffäl-liger Einzelfälle.Methoden. Für 103 beschwerdefreie Pro-banden zwischen 18 und 40 Jahren (52 Frau-en, 51 Männer) wurden die Wirbelsäulenform und -mobilität in der Dorsalflexion (Videora-sterstereographie) und die Rumpfkraft (Iso-metrie) im Querschnitt analysiert.Ergebnisse. Basierend auf deskriptiven Per-zentilverteilungen wurden für die Wirbelsäu-lenform und -mobilität sowie die Rumpfkraft orientierunggebende „Referenzkorridore“ (5–95%) ermittelt. Geschlechtsspezifische Unter-schiede wurden naturgemäß für Kraftkenn-

werte und Formparameter des lumbosakra-len Übergangs gefunden (p<0,001), nicht je-doch für die Rumpfkraftrelation (Extension/Flexion), die lumbale Mobilität oder weitere Formkennziffern.Schlussfolgerungen. Trotz der Problematik einer „normalen“ Wirbelsäulenform wird vor-geschlagen, die Referenzwerte beschwerde-freier Personen heranzuziehen, um davon ab-weichende Funktionsprofile klinisch symp-tomatischer Einzelfälle einzuordnen. Ausge-hend von beschwerdeassoziierten Auffällig-keiten können für den Einzelfall Therapiein-halte begründet und zur Qualitätssicherung therapiebegleitend im Monitoring dokumen-tiert werden.

SchlüsselwörterFunktionsdiagnostik · Beweglichkeit · Rumpfkraft · Rasterstereographie · Qualitätssicherung

Spinal form and function profile. Reference values for clinical use in low back pain

AbstractBackground. Functional diagnostic ap-proaches are helpful in the treatment of low back pain (LBP) patients. Reference data of asymptomatic individuals might be helpful to understand individual case profiles of LBP pa-tients, to derive movement therapy goals and issues and to improve quality management in therapy monitoring.Methods. Spinal form and mobility in the dorsal flexion (static and dynamic rasterste-reography), as well as isometric peak forc-es (back extension/trunk flexion) were ana-lyzed in a cross-sectional study of 103 pain-free volunteers (52 females, 51 males) aged 18–40 years.Results. Reference data could be demon-strated based on percentiles (5–95%). There were significant differences between males and females for strength values and spinal

form parameters describing the lumbosacral transition (p<0.001), but not for the strength extension/flexion ratio (Ex/Flex), lumbar mo-bility (dorsiflexion) or any other spine shape parameter.Conclusion. Despite the problem of a nor-mal spinal alignment it is proposed to use ref-erence data percentiles of asymptomatic per-sons to construct a musculoskeletal function-al profile for individual LBP patients, which might emphasize the character of different LBP disorders and could be useful in screen-ing, therapy planning and monitoring.

KeywordsFunctional diagnosis · Mobility · Trunk muscle strength · Rasterstereography · Quality assurance

3Der Orthopäde 2014  | 

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Abb. 2 8 Videorasterstereographische Rückenoberflächenrekonstruktion. Rasterprojektionslinien auf der Rückenoberfläche (links), graphische Veranschaulichung der Wirbelsäulenkurvatur (blau gepunktet: errechnete Wirbelkörpermitte, grün durch-gezogen: Rückenoberfläche) in der Lateralprojektion mit angelegten Tangenten zur Berechnung des Kyphose- und Lordose-winkels (Mitte) und Animation der rekonstruierten Rückenoberflächenform mit markiertem Vertebra prominens (VP, grüner Punkt oben) und den Lumbalgrübchen (Dimples, gelbe Punkte) der Beckenachse (blaue Linie) und dem Sakrumpunkt (grüner Punkt unten, rechts). (Aus [39], mit freundl. Genehmigung durch Süddeutscher Verlag onpact GmbH, Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, http://www.zeitschrift-sportmedizin.de/)

Abb. 3 8 Videorasterstereographische Testung der lumbalen Hyperextension. Testbewegung mit freiem bipedalem Stand, Präsentation des Vertebra prominens und maximaler Hyperextension (links), graphische Veranschaulichung der Wirbelsäu-lenkurvatur (gepunktet errechnete Wirbelkörpermitte, durchgezogen Rückenoberfläche) in der Lateralprojektion (Mitte) und Kennwerte im habituellen aufrechten (rot) und maximal überstreckten (blau) Zustand (rechts). (Mod. nach [29], S. 12, mit freundl. Genehmigung von Pflaum-Verlag GmbH & Co KG)

4 |  Der Orthopäde 2014

Originalien

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rungswerte und individueller Profile – aufbereitet. Die Verteilungsform wurde mit dem Kolmogorof­Smirnof­Test und Stichprobenunterschiede mithilfe des t­Tests geprüft (SPSS, IBM V.20). Signifi­kanz wurde bei einer Irrtumswahrschein­lichkeit von p≤0,05 akzeptiert. Zusam­menhänge wurden mithilfe der Pearson­Korrelation (r) berechnet. Der Determi­nationskoeffizient r2 gab die gegenseitige Varianzaufklärung an.

Ergebnisse

Referenzwertestichproben

Für Wirbelsäulenform­ und Rumpf­muskelfunktionskennziffern wurden ge­schlechtsspezifisch signifikante Unter­schiede (p≤0,001) lediglich in den Maxi­malkraftkennwerten und in den Kenn­werten zur Beschreibung der Formcha­rakteristik des lumbosakralen Über­gangs gefunden. Männer waren naturge­mäß kräftiger. Unterschiede im Quotien­ten Ex/Flex waren jedoch nicht signifi­kant (p=0,054). Die relative Ausprägung

der Kraft der Rumpfbeuger in Relation zur Rückenstreckkraft war bei Männern nur tendenziell größer (Männer 36% vs. Frauen 32% (. Tab. 2).

Frauen wiesen naturgemäß ein flache­res Becken und eine ausgeprägtere Len­denlordose auf, waren jedoch in der ma­ximalen Dorsalflexion nicht beweglicher als Männer (p=0,257, . Tab. 2), wobei die Ausprägung der Mobilität bei Frauen zu 13% und bei Männern zu 15% durch die individuelle Charakteristik (Flachrü­cken bis Hyperlordose) des Lordosewin­kels determiniert wurde. Die Beweglich­keit war umso größer, je flacher die Lor­dose war (rFrauen =−0,360; r2=13%; rMän­

ner =−0,388; r2=15%). Korrelationen zwi­schen den Ausprägungen der Dorsal­flexionsmobilität und der Beckennei­gung (steiles oder flaches Becken) lagen für das beschwerdefreie Referenzklien­tel nicht vor (rFrauen =0,066; r2=0%; rMän­

ner =−0,153; r2=2%), wobei sich Ausprä­gungen des Lordosewinkels und der Be­ckenneigung zu etwa 33% gegenseitig er­klärten (rFrauen =0,582; r2=34%; rMänner =0,566; r2=32%).

Die tabellarische Aufbereitung der Perzentilgrenzwerte in Kraft­, Mobili­täts­ und Formkennwerte für beschwer­defreie Frauen (. Tab. 3) und Männer (. Tab. 4) im Alter von 18 bis 40 Jahren erlaubte eine dimensionsübergreifende – sozusagen multivariate – Darstellung von miteinander in Verbindung stehen­den Merkmalsausprägungen, wobei die jeweiligen Randbereiche als auffällig be­trachtet und für Einzelfallanalysen heran­gezogen wurden.

Die Originaldaten können eingesehen und weiterführend genutzt werden (s. Zu­satzmaterial online).

Kasuistiken klinischer Einzelfallbeispiele

Die Randbereiche – die Werte unterhalb der 5%­ und oberhalb der 95%­Perzenti­le – der Merkmalsverteilungen waren von besonderem Interesse, um Form­ und Funktionsprofile klinischer Einzelfälle für Patientinnen (. Abb. 4) bzw. Patien­ten (. Abb. 5) zu illustrieren:

Tab. 2 Funktions- und Formmerkmale für beschwerdefreie Frauen n=52), Männer (n=51) und die Gesamtstichprobe (n=103)

Wirbelsäulenfunktion und -form Frauen Männer p Total

Muskel-Liga-ment-Funktion

Mobilität Hyperextension (°) 24,6 (±10,5) 22,3 (±9,8) 0,257 23,5 (±10,2)

Maximalkraft Rückenstreckung (N) 874,6 (±251,0) 1343,0 (±246,4) 0,000 1114,7 (±341,4)

Bauchbeugung (N) 262,7 (±65,8) 469,9 (±123,0) 0,000 368,9 (±143,5)

Quotient Ex/Flex (%) 31,5 (±8,7) 35,9 (±11,3) 0,054 33,8 (±10,3)

Wirbelsäulen-form

Sagittal Rumpfneigung (°) 16,6 (±15,5) 20,8 (±15,2) 0,164 18,7 (±15,4)

Kyphosewinkel (°) 45,4 (±8,1) 47,2 (±7,3) 0,240 46,3 (±7,8)

Lordosewinkel (°) 44,0 (±9,4) 35,9 (±8,2) 0,000 40,0 (±9,6)

Beckenneigung (°) 23,1 (±4,3) 17,3 (±5,2) 0,000 20,2 (±5,6)

Frontal Beckenhochstand (mm)

3,5 (±3,0) 4,5 (±3,6) 0,111 4,0 (±3,3)

Beckentorsion (°) 1,6 (±1,3) 2,1 (±1,3) 0,077 1,9 (±1,3)

Lotabweichung (mm) 7,7 (±4,6) 6,9 (±4,6) 0,408 7,3 (±4,6)

Skoliose Seitabweichung rms (mm)

4,2 (±2,0) 4,5 (±2,1) 0,509 4,4 (±2,1)

Rotation rms (°) 3,4 (±1,7) 3,6 (±1,4) 0,665 3,5 (±1,5)Mittelwerte ± SD in Klammern.p Irrtumswahrscheinlichkeit Student’s t-Test, Ex/Flex Extension/Flexion.

Tab. 1 Kennwerte der „rückengesunden“ Referenzstichprobe

  Alter (Jahre) Höhe (m) Masse (kg) BMI (kg/m2) CR10 (Punkte) ODI (%)

Frauen (n=52) 26,1 (±6,9) 1,69 (±0,06) 62,4 (±7,4) 21,8 (±2,3) 0,3 (±0,7) 3,9 (±4,4)

Männer (n=51) 28,2 (±7,4) 1,83 (±0,07) 80,7 (±10,5) 24,1 (±2,2) 0,3 (±0,7) 2,8 (±2,9)

p 0,146 0,000 0,000 0,000 0,848 0,202

Total (n=103) 27,2 (±7,2) 1,76 (±0,09) 71,5 (±12,9) 23,0 (±2,5) 0,3 (±0,7) 3,3 (±3,7)Mittelwerte ± SD in Klammern.p Irrtumswahrscheinlichkeit Student’s t-Test, BMI Body Mass Index, ODI Oswestry Disability Index.

5Der Orthopäde 2014  | 

Page 6: Wirbelsäulenform- und Funktionsprofile; Spinal form and function profile;

F  Patient 1 (CLBP) hatte deutlich redu­zierte Werte in der Rumpfkraft und Mobilität sowie eine auffällig hohe Wirbelkörperseitabweichung in der Frontalebene (. Abb. 4, blau).

F  Patient 2 (Spondylodiszitis) wies ein auffällig steiles Becken auf und hatte eine deutlich reduzierte Kraft­entfaltung in der Rumpfbeugung (. Abb. 4, grün).

F  Patient 3 (Skoliose) hatte eine auffäl­lig hohe segmentale Wirbelrotation und ­seitabweichung sowie eine deut­liche Lotabweichung in der Frontal­ebene (. Abb. 4, rot).

F  Patient 4 (CLBP) wies ein auffällig steiles Becken und eine reduzierte

Rumpfbeugekraft auf (. Abb. 5, blau).

F  Patient 5 (Diskusprolaps) hatte eine reduzierte Rückenstreckkraft und ­mobilität (. Abb. 5, rot).

Diskussion

Wofür können biomechanische Kennwer­te einer Kraft­, Mobilitäts­ und Haltungs­analyse im diagnostischen Screening oder therapiebegleitenden Monitoring bei Rü­ckenbeschwerden nützlich sein?

Zusammenhänge zwischen Kraftfä­higkeiten und Haltungsmerkmalen wer­den kontrovers diskutiert [3]. Zusam­menhänge zwischen Rückenbeschwer­

den und Kraftdefiziten gelten als gesi­chert und werden auf eine Dekonditio­nierung zurückgeführt [5, 19]. Mobili­tätsdefizite, aber auch segmentale Hyper­mobilitäten sind mit Rückenschmerzsyn­dromen assoziiert [5, 14], und das Auf­treten von Schmerzepisoden und Rezi­diven kann plausibel über eine mangeln­de neuromuskuläre segmentale Stabilisie­rung erklärt werden [24].

Zusammenhänge zwischen Rücken­schmerzsyndromen und Haltungs­ oder Wirbelsäulenformmerkmalen werden weniger deutlich beschrieben, aber radio­logische Befunde deuten auf eine eher ab­geflachte Lordose bei Schmerzpatienten hin [11], wobei hier konfundiernde Ein­

Tab. 4 Wirbelsäulenform- und Funktionsreferenzwerte (Männer n=51) als Orientierungsgrundlage für Form- und Funktionsprofile von Rücken-patienten

  Perzentile (Männer „rückengesund“)

5% 10% 25% 50% 75% 90% 95%

Muskel-Ligament-Funktion

Mobilität Hyperextension (°) 9 11 16 21 29 37 42

Maximalkraft Rückenstreckung (N) 952 1071 1156 1331 1542 1603 1763

Bauchbeugung (N) 286 339 387 444 564 623 683

Quotient Ex/Flex (%) 21 25 28 34 40 50 53

Wirbelsäulenform Sagittal Rumpfneigung (°) −5 1 11 22 32 39 45

Kyphosewinkel (°) 36 39 43 47 52 58 60

Lordosewinkel (°) 24 26 30 36 41 44 49

Beckenneigung (°) 8 10 14 17 21 23 24

Frontal Beckenhochstand (mm) 0 0 3 3 6 9 11

Beckentorsion (°) 0 1 1 2 3 4 5

Lotabweichung (mm) 2 3 3 6 9 12 15

Skoliose Seitabweich. rms (mm) 2 2 3 4 6 7 8

Rotation rms (°) 2 2 3 3 4 5 6Ex/Flex Extension/Flexion.

Tab. 3 Wirbelsäulenform- und Funktionsreferenzwerte (Frauen n =52) als Orientierungsgrundlage für Form- und Funktionsprofile von Rücken-patienten

  Perzentile (Frauen „rückengesund“)

5% 10% 25% 50% 75% 90% 95%

Muskel-Ligament-Funktion Mobilität Hyperextension (°) 11 12 16 23 31 38 42

Maximalkraft Rückenstreckung (N) 502 543 726 904 979 1127 1362

Bauchbeugung (N) 148 172 220 270 306 337 356

Quotient Ex/Flex (%) 17 21 26 31 35 44 45

Wirbelsäulenform Sagittal Rumpfneigung (°) −8 2 8 18 24 37 39

Kyphosewinkel (°) 34 36 39 46 49 56 59

Lordosewinkel (°) 27 32 39 45 50 54 56

Beckenneigung (°) 16 17 21 23 26 29 30

Frontal Beckenhochstand (mm) 0 0 2 3 5 6 9

Beckentorsion (°) 0 0 1 1 2 3 4

Lotabweichung (mm) 2 2 5 8 9 15 17

Skoliose Seitabweichung rms (mm) 2 2 3 4 5 6 8

Rotation rms (°) 1 2 2 3 4 6 7Ex/Flex Extension/Flexion.

6 |  Der Orthopäde 2014

Originalien

Page 7: Wirbelsäulenform- und Funktionsprofile; Spinal form and function profile;

Abb. 4 9 Form- und Funk-tionsprofil beispielhafter Patienten (Frauen). Blauer Kurvenzug Patient 1, weib-lich, 39 Jahre, BMI 22,0 kg/m2, unspezifische Rücken-beschwerden, ODI 61%, massive klinische Be-schwerden im Stehen, Sit-zen und Liegen. Grüner Kur-venzug Patient 2, weiblich, 22 Jahre, BMI 25,4 kg/m2, Spondylodiszitis L3/L4, ODI 16%, massive Klinik ins-besondere bei Anteflexi-on. Roter Kurvenzug Pa-tient 3, weiblich, 21 Jahre, BMI 20,1 kg/m2, Skoliose, ODI 2%, kaum klinische Be-schwerden im Alltag. BMI Body Mass Index, ODI Os-westry Disability Index

Abb. 5 9 Form- und Funk-tionsprofil beispielhafter Patienten (Männer). Blauer Kurvenzug Patient 4, männ-lich, 45 Jahre, BMI 27,0 kg/m2, unspezifische Rücken-beschwerden, ODI 40%, kli-nische Beschwerden im Sit-zen und Liegen. Roter Kur-venzug Patient 5, männ-lich, 30 Jahre, BMI 29,6 kg/m2, Diskusprolaps, ODI 8%, kaum klinische Beschwer-den im Alltag. BMI Body Mass Index, ODI Oswestry Disability Index

7Der Orthopäde 2014  | 

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flüsse des Lebensalters berücksichtigen werden sollten [13, 31]. Die radiologisch beobachtete Steilheit des Beckens steht in Verbindung mit der relativen Häufigkeit radikulärer Syndrome in unterschiedli­chen lumbalen Segmenten [15]. Ultra­schalltopometrisch konnte ein positiver Zusammenhang zwischen trainingsindu­zierten Verbesserungen des neuromusku­lären Funktionszustandes bei Prolapspa­tienten mit einer Schmerzreduktion und einer funktionellen Wirbelsäulenaufrich­tung beobachtet werden [4], und photo­metrisch waren Rückenschmerzen mit von einer Neutralposition abweichenden sagittalen Wirbelsäulenkurvatur assozi­iert, sowohl im Sinne eines Flach­ als auch Hohlrundrückens [32].

Wirbelsäulendeformitäten – z. B. Hyperkyphosen, Skoliosen und Becken­schiefstände – können nichtinvasiv video­rasterstereographisch verlässlich erfasst werden [6]; dies wurde als strahlenfreie Methode im schulärztlichen Skoliose­screening eingesetzt [10] sowie im thera­piebegleitenden Monitoring von Skoliose­ und Hyperkyphosepatienten [35, 36]. Für unspezifische Rückenschmerzpatienten konnten im Querschnitt Asymmetrien in der Frontalebene und eine flache Kypho­se als LBP­Indikatoren diskriminiert wer­den sowie auffällige Beckenstellungspara­meter als Hinweis auf eine iliosakrale Be­teiligung [30, 31]. Problematisch bei allen Wirbelsäulenformanalysen sind einer­seits die Festlegung physiologischer Nor­men und andererseits die Interdependenz der metrisch erfassten Formkennziffern.F  Bislang liegen keine Morbiditätsraten

für Extremwerte vor, die eine Formu­lierung einer Idealnorm für eine „physiologische“ Wirbelsäulenform rechtfertigen würden, sodass behelfs­weise nur eine Majoritätsnorm vorge­schlagen werden kann, wo die Rand­bereiche der Verteilung als auffällig interpretiert werden [38].

F  Um beschwerdeassoziierte Auffällig­keiten bei voneinander nicht unab­hängigen Wirbelsäulenformmerkma­len identifizieren zu können, muss in gruppenstatistischen Analysen auf multivariate Verfahren – z. B. Fakto­ren­, Diskriminanz­ und Regressions­analysen – zurückgegriffen werden [31].

Biomechanische Kennwerte

Die in dieser Arbeit vorgestellten Pro­file biomechanischer Kennwerte stellen eine Möglichkeit dar, den notwendigen multivariaten Ansatz auch für den klini­schen Einzelfall zu berücksichtigen, was dem Praktiker ansonsten Probleme be­reitet. Die graphische Darstellung auf­fälliger Merkmalsausprägungen in „Wir­belsäulenform­ und Funktionsprofilen“ in Anlehnung an Denner [5] – hier aktu­ell jedoch basierend auf Perzentilgrenz­werten – war geeignet, inhaltlich assozi­ierte Auffälligkeiten für definierte Ein­zelfälle zu illustrieren, um Assoziationen zum Beschwerdebild zu dokumentieren (. Abb. 4 und 5).

So war beispielsweise auf einen Blick zu erkennen, dass Patient 3 mit manifester aber klinisch unproblematischer Skoliose (. Abb. 4, rot) naturgemäß auffällig ho­he Werte in den Skolioseparametern Wir­belrotation, ­seitabweichung und Lotab­weichung aufwies, und gleichzeitig, dass die skoliotische Deformation einherging mit einer tendenziell flachen Kyphose und ausgeprägten Rumpfvorneigung. Diese Symptome waren zudem assoziiert mit einer tendenziellen Hypermobilität und Schwäche der Rumpfbeuger – Funktions­kennwerte, die in das Schema von Panja­bi’s Instabilitätshypothese [24] fallen und therapeutisch eine muskuläre Stabilisie­rung erfordern.

Für Patient 5 (. Abb. 5, rot) war dem Profil auf einen Blick zu entnehmen, dass die Bandscheibenproblematik mit einer Rückenstreckerschwäche, einer Hypomo­bilität und mit einer tendenziell verstärk­ten Kyphosierung einherging, wie von Miyakoshi et al. [20] als zusammenhän­gendes Muster beschrieben. Ein Training zur aufrichtenden Kräftigung und Mobi­lisierung könnte im Verlauf dokumentiert werden.

Beckenstellung und Lordosierung

Ein steiles Assimilationsbecken [15] wurde geschlechterübergreifend für beide CLBP­Patienten (Patient 1, weiblich, ODI 61%; Patient 4, männlich, ODI 40%) zusam­men mit funktionellen Mobilitäts­ und Kraftdefiziten gefunden (. Abb. 4 und 5, jeweils blau), ohne dass der Lordosewin­

kel auffällig war. Der Grad der Lordo­sierung muss nicht zwingend durch die Ausprägung der Beckenneigung determi­niert sein. In der vorliegenden Untersu­chung konnte zwar ein mittelstarker Zu­sammenhang mit einer gegenseitigen Va­rianzaufklärung von rund 33% zwischen Beckenstellung und Lordosierung für be­schwerdefreie Personen ermittelt wer­den, die CLBP­Patienten zeichneten sich jedoch in dieser Hinsicht durch eher in­kongruente Verhältnisse im lumbosakra­len Übergang aus [13].

Kraft-, Mobilitäts- und Haltungsdefizite

Zusammenhängende Muster (Kraft­, Mo­bilitäts­ und Haltungsdefizite) wurden nicht durchgängig beobachtet. Für die Patient 2 mit Spondylodiszitis (. Abb. 4, grün), mit literaturkonform veränderten Bewegungsmustern beim Setzen und Auf­stehen (Anteflexion [25]) und Kraftdefi­ziten in der Rumpfbeugung [5] wurde in der Dorsalflexion und Wirbelsäulenform kein auffälliger Status ermittelt – außer für die Lotabweichung. Frontalebenen­asymmetrien (Lotabweichung ≥15 mm) wurden bei allen Patientinnen beobach­tet (. Abb. 4; [31]). Systematische Auf­fälligkeiten in der Sagittalebene – im Sin­ne einer abgeflachten Lordose [1, 11] oder einer deutlich von einer Neutralposition abweichenden Kurvatur [32] – wurden nicht ermittelt.

Fazit für die Praxis

F  Die Perzentile und insbesondere die Schwellenwerte an den 5- und 95%-Grenzen für Wirbelsäulenform- und Funktionskennziffern beschwer-defreier Personen werden als geeig-neter Orientierungsrahmen zur Ein-ordnung klinischer Einzelfälle mit unterschiedlichen Rückenschmerz-syndromen im diagnostischen Scree-ning und zur Dokumentation im The-rapiemonitoring vorgeschlagen.

F  Kraftkennwerte können aufgrund gerätespezifischer Hebelverhältnis-se nicht direkt mit anderenorts pu-blizierten Daten verglichen werden.

8 |  Der Orthopäde 2014

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F  Der Einfluss der individuellen Lordo-seform sollte bei der Mobilitätsinter-pretation berücksichtigt werden.

Korrespondenzadresse

Dr. J. SchröderBewegungswissenschaft, Abteilung Sport- und Bewegungsmedizin, Universität HamburgMollerstr. 10, 20148 [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt. J. Schröder, K.-M. Braumann, R. Reer geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

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9Der Orthopäde 2014  | 


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