Update Unfallchirurgie · Wirbelsäule (Rückenschmerz)
764 | Der Unfallchirurg 9 · 2014
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. Marcus SchiltenwolfUniversitätsklinikum Heidelberg Stiftung Orthopädische Universitätsklinik Schlierbacher Landstraße 200a 69118 Heidelberg E-Mail: [email protected]
Interessenkonflikt. Der korrespondie-rende Autor gibt an, dass kein Interessen-konflikt besteht.
Behandlung mit Opioiden bei Nichttumorschmerzen
Die Behandlung mit Opioiden bei Nicht tumorschmerzen nimmt zu. Kenntnisse über Langzeitfolgen z.B. bei Rücken-schmerz (RS)-Patienten sind ge-ring.Der Zusammenhang zwischen Opioidverschreibung und Beein-trächtigung nach 6 Monaten
wurde an 715 britischen RS-Pa-tienten untersucht [1]. Bei Stu-dienbeginn erhielten 234 Patien-ten (32,7 %) Opioide. Diese Pa-tienten waren signifikant stärker beeinträchtigt nach 6 Monaten (P < 0,022), unabhängig von sonstigen Parametern wie soziale Schicht, Bildung und Beschäfti-gungsstatus, Depressivität und Angst, Schmerzdauer und Inten-sität, Coping und Selbstwirksam-keit sowie sonstige Medikatio-nen.Eine Cochrane-Bewertung zur Opioidbehandlung von RS über zumindest vier Wochen (15 RCTs mit 5.540 Patienten) sieht geringe Evidenz bei geringer bis modera-ter Studienqualität für Kurzzeit-effekte auf Schmerz und Funk-tion gegenüber Plazebo [2]. Zwi-schen Opioiden und NSAR-Prä-paraten sowie Antidepressiva konnten keine Unterschiede fest-gestellt werden.
Kommentar: Langzeitbehand-lungen (6 Monate) von RS mit Opioiden haben keine Evidenz. Sie dürfen nur unter erheblicher Vorsicht und intensiver Bewer-tung der Effekte sowie der Nebenwirkungen durchgeführt werden. Es gibt keine plazebo-kontrollierten Studien, die eine solche Therapie begründen kön-nen.
Originalpublikation
1. Julie Ashworth J, Green DJ, Dunn KM et al (2013) Opioid use among low back pain patients in primary care: Is opioid prescription associa-ted with disability at 6-month fol-low-up? Pain 154:1038–1044
2. Chaparro LE, Furlan AD, Deshpande A et al (2013) Opioids compared to placebo or other treatments for chronic low-back pain. Cochrane Database Syst Rev. 10.1002/14651858.CD004959.pub4
Die Beiträge stammen aus dem Handbuch Orthopädie/Unfallchirur-gie 2014 und entsprechen den Semi-narunterlagen des 6. Ortho Trauma Update 2014 der medupdate GmbH.
Unfallchirurg 2014 · 117:764–765
DOI 10.1007/s00113-014-2588-1 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
Spontanverlauf motorischer Ausfälle bei Ischialgie
Originalpublikation
Overdevest GM, Vleggeert-Lan-kamp CL, Jacobs WC et al (2013) Recovery of motor deficit accompanying sciatica-subgroup analysis of a randomized control-led trial. Spine J 14:1817-1824
Der Spontanverlauf motorischer Ausfälle bei Ischialgie wurde durch eine Subgruppenanalyse eines früher durchgeführten RCTs analysiert. 150 Patienten wurden einbezogen; sie wurden randomisiert entweder frühzeiti-ger Operation oder fortgesetzt operativer Therapie unterzogen. Zu Studienbeginn wurden 84 % der motorischen Ausfälle als mo-derat und 16 % als schwerwie-gend eingestuft. Die Nachkon-trollen fanden nach 8, 26 und 52 Wochen statt.10 % der Ausfälle der operativen Gruppe erholten sich vor der
Operation; 32 Patienten (40 %) der konservativen Patienten wur-den operativ behandelt wegen unerträgl icher Schmerzen. Schwach signifikant erholten sich die motorischen Ausfälle der operativ behandelten Patienten schneller (p=0.1), jedoch war nach 26 und nach 52 Wochen dieser Unterschied nicht mehr festzustellen. Nach einem Jahr hatten sich 81 % der Ausfälle der operierten und 50 % der fortge-setzt konservativ behandelten Patienten vollständig erholt. Zwi-schen der Gesamterholung der Ischialgie und der Erholung der
motorischen Ausfälle bestand ein direkter Zusammenhang. Schwe-re motorische Ausfälle bei Stu-dienbeginn und ein Bandschei-benvorfall, der mehr als 25 % des Spinalkanals erfasst, waren die wesentlichen Risikofaktoren für fortbestehende Defizite nach einem Jahr (OR 5.4 bzw. 6.4).Kommentar: Schwerwiegende motorische Ausfälle sollten zur beschleunigten Diagnose eines Bandscheibenvorfalls führen, während moderate Ausfälle eine gute Rückbildungstendenz unter konservativer Therapie aufwei-sen.
Ticker
▶ Arbeitsunfähigkeit durch Rückenschmerz – was bringt Bewegung?
Eine Längsschnittuntersuchung ging auf die Auswirkung von körper-licher Aktivität in der Freizeit auf Arbeitsunfähigkeit durch Rücken-schmerz (RS) ein. 8.655 dänische Krankenschwestern wurden über ein Jahr prospektiv verfolgt. Alle Teilnehmerinnen, die zu Beginn der Studie keine oder keine chronischen RS beklagten, hatten ein signifikant niedrigeres Risiko einer RS-beding-ten Arbeitsunfähigkeit von mehr als 30 Tagen, wenn sie intensiv in der Freizeit körperlich aktiv waren (zu-mindest mehr als 4 Stunden leichte körperliche Aktivität oder 2 bis 4 Stunden intensive körperliche Akti-vität pro Woche). Dieser Zusammen-hang galt nicht für Teilnehmerinnen, die zu Studienbeginn bereits unter chronischen RS litten.
Holtermann A et al (2014) Eur J Pain 18:575-581
▶ Nukleusmaterial bebrütet
Bei 61 Patienten (46,7 Jahre +/- 9,7), die sich erstmals einer Bandschei-benoperation unterzogen und zuvor nicht mit Kortison behandelt wur-den, wurde Nukleusmaterial bebrü-tet. Bei 28 Patienten (46 %) gelang ein Keimnachweis, nahezu immer mit anaeroben Keimen. 80 % der Pa-tienten, bei denen ein anaerober Keimnachweis gelang, entwickelten im weiteren eine Modic-1-Verände-rung in diesem Segment, bei kei-nem mit einem aeroben Keimnach-weis, nur bei 44 % mit negativer Kul-tur. Modic-1-Veränderungen kön-nen Folge einer wenig virulenten Diszitis sein.
Albert HB et al (2013) Eur Spine J 22: 690-696
▶ Interventionelle Therapie
Eine Autorengruppe der Internatio-nal Association for the Study of Pain (IASP) hat zu verschiedenen peri-pheren und zentralen Neuropathien, u.a. zu Radikulopathien und Postdis-kektomiesyndrom RCTs, systemati-sche Reviews und Leitlinien bewer-tet. Schon wegen der geringen Stu-dienqualität war es nicht möglich, starke Empfehlungen auszuspre-chen.
Dworkin RH et al (2013) Pain 154:2249-2261
765Der Unfallchirurg 9 · 2014 |
D Veranstaltungshinweis
Mainz, 27.-28.02.2015Ortho Trauma Update 20157. Orthopädie-Unfallchirurgie-Udpate-SeminarUnter der Schirmherrschaft der DGOU/DGSP
MRT und Bandscheibenoperation
MRT-Aufnahmen von 142 Pa-tienten einer randomisierten kontrollierten Studie (RCT, ran-domized controlled trial) [1] wurden analysiert, um aus der Bildmorphologie Aufschlüsse ab-zuleiten, wer später einer OP be-dürfe und wer nicht [2].55 Patienten (33 %) der konserva-tiven Gruppen wurden verzögert wegen nicht erträglicher Schmer-zen operativ behandelt. 71 % die-ser Patienten zeigten im MRT eine Kompression neuraler
Originalpublikation
1. Overdevest GM, Vleggeert-Lan-kamp CL, Jacobs WC et al (2013) Recovery of motor deficit accompanying sciatica-subgroup analysis of a randomized control-led trial. Spine J 14:1817-1824
2. el Barzouhi A, Vleggeert-Lan-kamp CL, Lycklama à Nijeholt GJ et al (2013) Magnetic resonance imaging in follow-up assessment of sciatica. N Engl J Med 368:999-1007
Strukturen verglichen mit 72 % derer, die nicht operiert wurden. Große Bandscheibenvorfälle (> 50 % des Spinalkanals) waren in beiden Gruppen gleich verteilt (25 % vs. 21 %). Auch die Größe des Duralsacks konnte zwischen beiden Gruppen nicht unter-scheiden.Kommentar: MRT-Befunde kön-nen zwischen operierten und nicht operierten Patienten mit Bandscheibenvorfall nicht unter-scheiden helfen.
Operative Behandlungen bei Rückenschmerz und wirbelsäulenbedingten Beinschmerzen
Eine niederländische Autoren-gruppe bewertete die Effekte operativer Behandlungen von RS und wirbelsäulenbedingter Bein-schmerzen anhand von Cochra-ne-Datenbanken und der Pub-med-Datenbank bis Juni 2013. Einbezogen wurden systemati-sche Reviews und RCTs zu Ver-gleichen zwischen verschiedenen operativen Techniken und zwi-schen operativer und konservati-ver Therapie. Zwanzig systemati-sche Reviews wurden einge-schlossen, nämlich zu Band-scheibenvorfall (n=9), Spondy-lolisthesis (n=2), spinale Stenose (n=3), Bandscheibenverschleiß (n=4) und zu Kombinationen verschiedener Diagnosen (n=2). Die meisten Vergleiche erbrach-ten keine signifikanten oder kli-
Originalpublikation
Jacobs WC, Rubinstein SM, Koes B et al (2013) Evidence for surgery in degenerative lumbar spine disor-ders. Best Pract Res Clin Rheumatol 27:673-684
nisch bedeutsamen Unterschie-de. Die Autoren schlussfolgerten, dass operative Behandlung an der Wirbelsäule nur indiziert ist zur Linderung von Beinschmerz bei:• Bandscheibenvorfall: kurzzeitig
besser als konservativ (unab-hängig von der operativen Technik), nach einem Jahr kein Unterschied mehr,
• Spondylolisthesis (mit Überle-genheit der Fusion gegenüber Dekompression, aber unabhän-gig von einer Instrumentation),
• spinaler Stenose (ohne Überle-genheit der Fusion bei älteren Patienten wegen erheblich zu-nehmender Kosten und Kom-plikationen),
• höhere Fusionsraten bei Instru-mentation.
• Dagegen fehlen Belege der Überlegenheit für
• operative Behandlung für den lokalen RS
• Bandscheibenprothesen gegen-über der Fusion.
Kommentar: Wie schon nach früheren Übersichtsarbeiten zu Reviews und Metaanalysen muss festgestellt werden, dass nur we-nige gute Indikationen für die operative Behandlung der Ver-schleißerkrankungen der Len-denwirbelsäule bestehen: nur zu-ordnungsfähige radikuläre Stö-rungen sind gute Indikationen, aber nicht operativer Therapie nur moderat überlegen. Die er-heblichen Fallzahlsteigerungen in Deutschland sind wissen-schaftlich nicht zu begründen.