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„Wir machen doch eigentlich alle EbM!“ – Vorstellungen und Haltungen deutscher Hausärzte zu...

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Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) (2013) 107, 410—417 Online verfügbar unter www.sciencedirect.com journal homepage: http://journals.elsevier.de/zefq IM BLICKPUNKT ,,Wir machen doch eigentlich alle EbM!‘‘ Vorstellungen und Haltungen deutscher Hausärzte zu Evidenzbasierter Medizin und Leitlinien im Praxisalltag: Eine qualitative Studie ‘‘All of us actually practice EBM!’’ — Attitudes of German GPs towards evidence-based medicine and clinical guidelines in daily practice: a focus group study Bettina Bücker 1,2,, Marcus Redaèlli 2,3 , Dusan Simic 1 , Stefan Wilm 2 1 Institut für Allgemeinmedizin und Familienmedizin, Fakultät für Gesundheit, Universität Witten/Herdecke, Witten 2 Institut für Allgemeinmedizin (ifam), Medizinische Fakultät, Heinrich Heine-Universität, Düsseldorf 3 Institut für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie, Universität zu Köln, Köln Eingegangen/submitted 28. Juni 2011; überarbeitet/revised 13. Juni 2013; akzeptiert/accepted 19. Juni 2013 SCHLÜSSELWÖRTER Allgemeinmedizin; Evidenzbasierte Medizin; Leitlinien; Haltungen; Fokusgruppen Zusammenfassung Hintergrund: Die nachhaltige Implementierung von Leitlinien in Hausarztpraxen ist schwierig. Liegt es daran, dass Evidenzbasierte Medizin (EbM) an sich abgelehnt wird? Welche Haltungen haben deutsche Hausärzte zur EbM und zu Leitlinien, und welchen Stellenwert messen sie der EbM in ihrem Praxisalltag zu? Methoden: Wir führten bundesweit fünf Fokusgruppen mit 53 Hausärzten aus Bayern, Sachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen und Hamburg durch. Die Auswahl der Teilnehmer richtete sich nach Versorgungsgebiet (ländlich/städtisch), Region (Norden/Süden, Osten/Westen) und Pro- fessionalisierungsgrad. Die Gruppendiskussionen wurden aufgezeichnet und vollständig trans- kribiert. Die inhaltsanalytische Auswertung erfolgte durch ein multiprofessionelles Team. Ergebnisse: EbM wird von den Hausärzten insgesamt positiv gesehen. Jedoch wird auf die mangelnde Praktikabilität im Praxisalltag deutlich hingewiesen: Hier wird zwischen einer ,,praktizierten‘‘ und einer ,,wahren‘‘ EbM unterschieden. EbM in Form von Leitlinien wird häufig Korrespondenzadresse: Dr. med. Bettina Bücker, Institut für Allgemeinmedizin und Familienmedizin, Fakultät für Gesundheit, Universität Witten/Herdecke, Alfred-Herrhausen-Str. 50, 58448 Witten. Tel.: +02302-926-741; Fax: +02302-926-745. E-Mail: [email protected] (B. Bücker). 1865-9217/$ – see front matter http://dx.doi.org/10.1016/j.zefq.2013.06.004
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,Wir machen doch eigentlich alle EbM!‘‘ —orstellungen und Haltungen deutscherausärzte zu Evidenzbasierter Medizin undeitlinien im Praxisalltag: Eine qualitativetudie

‘All of us actually practice EBM!’’ — Attitudes of German GPsowards evidence-based medicine and clinical guidelines in dailyractice: a focus group study

ettina Bücker1,2,∗, Marcus Redaèlli 2,3, Dusan Simic1,tefan Wilm2

Institut für Allgemeinmedizin und Familienmedizin, Fakultät für Gesundheit,niversität Witten/Herdecke, WittenInstitut für Allgemeinmedizin (ifam), Medizinische Fakultät, Heinrich Heine-Universität, DüsseldorfInstitut für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie, Universität zu Köln, Köln

ingegangen/submitted 28. Juni 2011; überarbeitet/revised 13. Juni 2013; akzeptiert/accepted 19. Juni 2013

SCHLÜSSELWÖRTERAllgemeinmedizin;EvidenzbasierteMedizin;Leitlinien;Haltungen;Fokusgruppen

ZusammenfassungHintergrund: Die nachhaltige Implementierung von Leitlinien in Hausarztpraxen ist schwierig.Liegt es daran, dass Evidenzbasierte Medizin (EbM) an sich abgelehnt wird? Welche Haltungenhaben deutsche Hausärzte zur EbM und zu Leitlinien, und welchen Stellenwert messen sie derEbM in ihrem Praxisalltag zu?Methoden: Wir führten bundesweit fünf Fokusgruppen mit 53 Hausärzten aus Bayern, Sachsen,Nordrhein-Westfalen, Hessen und Hamburg durch. Die Auswahl der Teilnehmer richtete sichnach Versorgungsgebiet (ländlich/städtisch), Region (Norden/Süden, Osten/Westen) und Pro-fessionalisierungsgrad. Die Gruppendiskussionen wurden aufgezeichnet und vollständig trans-

kribiert. Die inhaltsanalytische Auswertung erfolgte durch ein multiprofessionelles Team.Ergebnisse: EbM wird von den Hausärzten insgesamt positiv gesehen. Jedoch wird auf diemangelnde Praktikabilität im Praxisalltag deutlich hingewiesen: Hier wird zwischen einer,,praktizierten‘‘ und einer ,,wahren‘‘ EbM unterschieden. EbM in Form von Leitlinien wird häufig

∗ Korrespondenzadresse: Dr. med. Bettina Bücker, Institut für Allgemeinmedizin und Familienmedizin, Fakultät für Gesundheit, UniversitätWitten/Herdecke, Alfred-Herrhausen-Str. 50, 58448 Witten. Tel.: +02302-926-741; Fax: +02302-926-745.E-Mail: [email protected] (B. Bücker).

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als an den Realitäten der hausärztlichen Versorgung vorbeigehend erlebt. Die Hausärzte sindaber überzeugt, dass sie in ihrem Alltag evidenzbasiert (be)handeln.Schlussfolgerung: Die Haltung deutscher Hausärzte zu EbM ist im Vergleich zu früheren Erhe-bungen zunehmend positiv. Bei der Implementierung von EbM und Leitlinien in der Praxis müssenaber ihre Haltungen und ihre Vorstellungen von ihrem Alltagshandeln einbezogen werden, umhandlungsändernd wirken zu können.

KEYWORDSGeneral practice;evidence-basedmedicine (EBM);guideline;attitude;focus groups

SummaryBackground: Implementation of guidelines in general practice is difficult. Do general practi-tioners (GPs) reject evidence-based medicine (EBM) in general? Which attitudes do GPs havetowards EBM and guidelines, and which value do they attach to EBM in daily routine?Methods: We conducted a qualitative study using five focus groups with 53 GPs. The studywas set in the German federal states of Bavaria, Saxony, North Rhine-Westphalia, Hesse andHamburg. Participants were selected according to area (rural/urban), region (North/South,East/West) and grade of professionalisation. Focus groups were digitally recorded and fullytranscribed. Data were analysed in a multidisciplinary team using qualitative content analysis.Results: Most participants felt positive towards EBM. Lack of feasibility was explicitly men-tioned: the participants distinguished between ‘‘practised’’ and ‘‘true’’ EBM. Guidelines areoften considered unsuitable for general practice. The GPs felt confident that their treatmentof patients was evidence-based.Conclusions: Compared to older studies, German GPs have an increasingly favourable opinionabout EBM. In order to enhance the practical application of EBM and guidelines the attitudesof GPs need to be considered.

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Einleitung

Die Diskussion um und über Evidenzbasierte Medizin (EbM)und eines ihrer wichtigsten Instrumente, die Leitlinie, warund ist in Deutschland intensiv und kontrovers, und EbMals eine wichtige Grundlage ärztlichen Denkens und Han-delns verbreitet sich unerwartet langsam im gelebten Alltagdes Gesundheitswesens, sowohl im stationären als auch imambulanten Setting. Während international Meinungsführereher sachlich diskutierten, wurde national eine erregte Dis-kussion über Sinn und Unsinn von EbM geführt (siehe z.B[1,2]), was bei den Ärztinnen und Ärzten, besonders imambulanten Sektor, zu Verunsicherungen, Misstrauen undAblehnung führte [3]. Vor allem die Angst um den Verlust derärztlichen Autonomie durch ,,Kochbuchmedizin‘‘ bestimmtedie damalige Auseinandersetzung [4]. Daher wurden auchevidenzbasierte Leitlinien sehr kritisch gesehen. Zeitgleichwurde der EbM unterstellt, dass sie zur Ökonomisierung derMedizin beitragen solle [5]. Der Begriff ,,evidenzbasiert‘‘war also in der Anfangszeit von EbM in Deutschland oft nega-tiv besetzt. Mit der Zeit hat sich die Auseinandersetzung umEbM beruhigt [5—7] und die Akzeptanz stieg, was allerdingsnicht automatisch zur Anwendung von Leitlinien führte [8].In Studien konnten zahlreiche Barrieren und Einflussfaktorenbei der Implementierung von Leitlinien in den Praxisalltagnachgewiesen werden [9—13].

Quantitative Auswertungen nationaler Ärzte-Befragungen in Deutschland zu EbM [14,15] aus denJahren 2003-2006 machen z.B. die Diskrepanz deutlich,dass zwar die überwiegende Mehrheit der niedergelassenen

Ärzte (80%) EbM befürwortete, zugleich aber ein Drittel derteilnehmenden Ärzte die Anwendung von Leitlinien in derPatientenversorgung grundsätzlich ablehnte [14]. Doch wieerleben praktisch tätige Hausärzte mittlerweile EbM und

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eitlinien? Welche Relevanz hat EbM in ihrem Praxisalltag?aben sich die zugrundeliegenden, das Alltagshandeln oftnbewusst prägenden Haltungen erhalten oder haben sieich geändert?

Neuere Untersuchungen zur differenzierten Analyse vonausärztlichen Haltungen zu EbM sind rar. Wir wählteneshalb ausdrücklich einen qualitativen Ansatz zur Beant-ortung der skizzierten Fragestellung, da dieser es durchie Offenheit des Vorgehens erlaubt, den Fokus auf für dieeilnehmer relevante Bereiche zu legen und damit neue,isher unbekannte Sachverhalte aufzudecken. So ergibtich ein ausführliches, sehr differenziertes und nicht —eispielsweise durch quantifizierbare Fragebogenfragen —orbestimmtes Bild der Einstellungen und Meinungen derausärzte.

Die vorliegende Untersuchung wurde als Teilprojektm Rahmen der Studie ,,Wissen, Vorstellungen und Hal-ungen deutscher Hausärzte zum Institut für Qualitätnd Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), zumemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und zum Stellen-ert evidenzbasierter Medizin (EbM) im Versorgungsalltag‘‘urchgeführt [16].

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ie qualitative Methode der Fokusgruppendiskussion [17]urde gewählt, da sie besonders zur offenen Ermittlungon Meinungen und Einstellungen einzelner Teilnehmer derruppendiskussion, der ganzen Gruppe als auch von Verhal-

en und Erfahrungen in konkret erlebten Situationen sowieur Erhebung von kollektiven Einstellungen und Ideolo-ien geeignet ist [18,19]. Meinungen und Haltungen könnenm besten in einer sozialen Situation (Gruppe) erforscht
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erden, da sie in soziale Zusammenhänge eingebunden sind19]. In Gruppendiskussionen können psychische Sperrennd Rationalisierungen durchbrochen werden. Die Beteilig-en legen dann Einstellungen offen, die auch im Alltag ihrenken, Fühlen und Handeln bestimmen und die mit Frage-ogeninstrumenten nicht sichtbar werden [19].

Bezogen auf die Fragestellung wurde als Orientie-ung für Triggerfragen an die Fokusgruppen auf frühereationale quantitative Untersuchungen zu EbM sowie aufnternationale qualitative und quantitative Studien zurück-egriffen [8,10,14,15,20,21]. Anschließend wurden in einerultidisziplinären Forschergruppe durch das Brainstorming-

erfahren nach Helfferich Fragen für den Leitfadenesammelt: Die so genannte SPSS-Methode beinhaltet, mög-iche Fragen zu sammeln, zu prüfen, zu sortieren undn den Leitfaden zu subsumieren [22]. Daraus wurde derndgültige Diskussionsleitfaden mit Triggerfragen für dieurchführung der Fokusgruppen entwickelt [23]. Eröff-et wurden die Fokusgruppen jeweils mit einer offenenrage, um einen Erzählimpuls zu setzen. Im späteren Ver-auf jeder Diskussionen wurden dann strukturiert alle nochicht ausreichend spontan angesprochenen Bereiche mitonkreten Fragen aus dem Leitfaden abgedeckt. Die Mode-ation der Gruppen erfolgte durch zwei geschulte Ärzte,ie mit den Teilnehmern nicht bekannt waren, aber mitiner vertrauenswürdigen Institution (universitäres Institutür Allgemeinmedizin) identifiziert wurden.

Als Minimum wurde eine Zahl von fünf Fokusgrup-en festgelegt. Nach jeder Fokusgruppendiskussion wurdeberprüft, ob noch neue Erkenntnisse erhoben werdenonnten. Nach fünf durchgeführten Fokusgruppen wieder-olten sich die Aussagen und deckten sich die Argumenteit denen der vorhergehenden Gruppen, sodass zu die-

em Zeitpunkt von einer Sättigung ausgegangen werdenonnte und keine weiteren Fokusgruppen mehr durchge-ührt wurden. Die Zahl der Teilnehmer pro Gruppe wurdeuf mindestens fünf festgelegt [19]. Alle Teilnehmer muss-en als niedergelassener Hausarzt tätig sein. Um dierößtmögliche Varianz an Aussagen zu gewinnen, solltenei der Auswahl der Teilnehmer(-gruppen) möglichst vieleimensionen erwarteter Einflussfaktoren (soziodemografi-che, berufsbiografische, Setting-Aspekte u.a.) einbezogenerden (,,gezieltes‘‘ (purposive) Sampling) [17,24]. Die Teil-ahme war freiwillig. Es gab kein Geld oder geldwertencentives für die Teilnahme.

Für die Fokusgruppen wurden Hausärzte über persönli-he Kontakte, postalische, elektronische und telefonischenfragen bei einzelnen Ärzten und Ärztenetzen aus denegionen der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) Bayern,amburg, Hessen, Westfalen-Lippe und Sachsen angespro-hen. Die Auswahl der Gruppen aus diesen Regionen sollteie Vielfalt der bundesdeutschen Versorgungslandschaftbbilden (Flächenstaat — Stadtstaat; Ost- — West-, Nord-Süddeutschland; städtische — ländliche Region; ohne/mit

eteiligung an studentischer Ausbildung).Alle Interviews wurden digital auf MP3-Playern audio-

okumentiert. Zusätzlich erfolgte eine Protokollierung dernteraktionen der Teilnehmer untereinander vor, während

nd nach dem Interview.

Die aufgezeichneten Interviews wurden innerhalb eineroche nach Durchführung anonymisiert transkribiert. Zurualitätssicherung wurden stichprobenartige Kontrollen der

las

B. Bücker et al.

ranskripte und Vergleiche mit den Audiodokumentenurchgeführt. Die anschließende qualitative, inhaltsanaly-ische Auswertung wurde unter der Kodierfrage ,,Welcheorstellungen und Einstellungen haben Hausärzte iminblick auf EbM?‘‘ in einer multidisziplinären Auswer-ergruppe durch vier unabhängige Auswerter (Hausarzt,rzt und Gesundheitsökonom, Wirtschaftswissenschaftler,rztin) durchgeführt. Im Rahmen einer Selbstreflexionurden die Vorannahmen der Auswerter vor Beginn deruswertung schriftlich festgehalten, um diese im Auswer-ungsprozess kritisch hinterfragen zu können und ihrenöglichen Einfluss auf das Projekt bei der späteren Aus-ertung transparent zu halten (Positionierung) [25]. Durcherfassen von schriftlichen ,,Memos‘‘ zu Stimmungsbil-ern und eigenen Haltungen zum Forschungsthema vornd während des Auswertungsprozesses sowie Diskus-ion dieser im oben genannten Forscherteam konntenlle Analysepunkte unter Einbeziehung unterschiedlichsteriografischer und fachlicher Positionierungen bearbeiteterden. Durch induktive Codeentwicklung mit anschlie-ender Generalisierung und Reduktion nach den Regelner zusammenfassenden Inhaltsanalyse nach Mayring wurdem Material ein Kategoriensystem aufgebaut [19,26]. Dieualitative Inhaltsanalyse eignet sich besonders zur metho-isch kontrollierten Auswertung größerer Textmengen beiingegrenzten Fragestellungen an das Material [26]. Dieranskripte wurden erst einzeln und dann gemeinsam bear-eitet, die Analysen anschließend zusammengeführt undchrittweise verdichtet. Bei unterschiedlichen Ergebnis-en blieben verschiedene Lesarten möglich. Die Codesurden mit Hilfe von MAXQDA, einem computergestütz-

en Programm für qualitative Inhaltsanalyse [27], erfasst.ie relevanten Aspekte des Datenschutzes (u.a. Anonymi-ierung, Schutz der Aufzeichnungen und Datenlisten vornbefugtem Zugriff) wurden erfüllt.

rgebnisse

wei hausärztliche Qualitätszirkel und drei Gruppen vonehrärzten/Lehrbeauftragten für Allgemeinmedizin ausllen fünf geplanten KV-Regionen wurden zur Teilnahme aner Studie gewonnen. Im Zeitraum März bis Juli 2008 wur-en mit ihnen sukzessive fünf Fokusgruppen mit insgesamt3 Teilnehmern durchgeführt. Die Anzahl der Teilnehmer beien jeweiligen Fokusgruppen betrug minimal 6 bis maxi-al 22 (Median 10). Die Dauer der Interviews betrug 1,5-2,5

tunden.In Tabelle 1 sind die Charakteristika der Fokusgruppen

argestellt.Die jüngsten Teilnehmer waren 30 bzw. 36 Jahre (w/m)

lt, die ältesten 63 bzw. 61 Jahre (w/m). Die durchschnitt-iche Niederlassungsdauer betrug ca. 23 Jahre (Minimum 1ahr / Maximum 32, Median 21 Jahre). Das Durchschnitts-lter betrug 57,4 Jahre. Männer und Frauen waren je etwaälftig vertreten. Etwa die Hälfte der Teilnehmer stand alsehrarzt/Lehrbeauftragter im Kontakt mit einer universi-ären Einrichtung für Allgemeinmedizin.

Die Diskussionen verliefen bei drei Gruppen in freund-icher und erwartungsvoller Atmosphäre. Eine Gruppe warnfangs sehr zurückhaltend und erst im Verlauf der Diskus-ion ließ die Zurückhaltung nach. In einer Gruppe zeichneten

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Tabelle 1 Charakteristika der Fokusgruppen.

Anzahl Teilnehmer Geschlecht (w/m) Universitätsanschluss(Lehrärzte/Lehrbeauftragte fürAllgemeinmedizin)

Bayern (Kirchberg im Wald) 22 8/14 neinHessen (Marburg) 7 1/6 jaSachsen (Dresden) 10 9/1 teilweiseStadtstaat Hamburg 8 4/4 teilweise

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Westfalen-Lippe (Witten) 6

sich Teilnehmer durch eine durchweg negative Grundhal-tung gegenüber dem Gesundheitswesen im Allgemeinen undgegenüber Entscheidungsgremien im Besonderen aus.

Insgesamt waren die Diskussionen offen und angeregt.Alle Teilnehmer konnten — in unterschiedlichem Umfang —in die Diskussion eingebunden werden. Die Einstiegsfragebezog sich auf Haltungen von Hausärzten zur EbM und auf

ihre Erfahrungen mit EbM im Versorgungsalltag. Aus denAussagen der Teilnehmer ergab sich in vielfältiger Weise,dass die Hausärzte nicht scharf zwischen EbM und Leitlinienunterschieden und die Begriffe oft synonym verwendeten.

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Abbildung 1 Kategorien

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enn im weiteren Text von EbM die Rede ist, sind vonen Befragten sowohl EbM allgemein als auch Leitlinienemeint.

nhaltsanalysen

ie Verdichtung der durch die Kodierfrage identifiziertenodes führte letztendlich zu 3 Hauptkategorien mit je 5-6nterkategorien (Abbildung 1). Exemplarisch werden im Fol-enden einige Aussagen zu den Kategorien aufgeführt.

nach Inhaltsanalyse.

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raktikabiliät

ie Teilnehmer der Diskussionen nennen als Hauptproblemon EbM die mangelnde Praktikabilität von Leitlinien, insbe-ondere fehlende Hausarztzentrierung: ,,Und viele Fragen,ie man in der Hausarztpraxis hat, da gibt’s auch keineeitlinien.‘‘ (TW, 163-163), und die begrenzte Praxiskompa-ibilität: ,,. . . jede zweite Frage mindestens, die ich hab imlinischen Alltag, lässt sich nicht wirklich gut klären, weils da nix gibt. . .‘‘ (TH, 135-135).

Für viele Hausärzte ist Zeitintensivität bzw. Zeitman-el zur Nutzung von EbM ein vorrangiges Thema: ,,EbM istas für Leute mit Zeit. Hausärzte haben keine Zeit.‘‘ (TD,3-73). Generell kommt EbM deshalb eher selten zur Anwen-ung: ,,Ich guck schon manchmal auch bei AWMF nach, . . .

ber jetzt nicht täglich.‘‘ (TH, 135-135).EbM-Theorie wird von einigen Teilnehmern zwar als

rlernbar, aber komplex und kompliziert empfunden: ,,Alsoch habe auch so einen Kurs gemacht und fand das alleschrecklich kompliziert.‘‘ (TD, 80-80). EbM wird in diesemusammenhang auch als aus dem Elfenbeinturm stammendrlebt: ,,Ich habe mal so einen Kurs belegt und war schonach zehn Minuten hoffnungslos überfordert. Ich sag nur:lfenbeinturm.‘‘ (TM, 103-103).

Von vielen Teilnehmern wird eine Trennung von,praktizierter‘‘ und ,,wahrer‘‘ EbM vorgenommen, die sichuch in dem Gegensatz von Alltag versus Theorie ausdrückt:,RCTs hin, Qualität her. Aber das sind alles idealisierteituationen.‘‘ (TM, 98-98). ,,(Person F): Jeder verantwor-ungsvolle Arzt praktiziert tagtäglich EbM. (Person J): Alsoach klassischem EbM-Muster vielleicht einmal im Monat.n der Regel bei schwierigen Fällen.‘‘ (TD, 84-85).

Die Teilnehmer der Fokusgruppen machen deutlich, dassuch die Patientenpräferenz eine Rolle bei der Umsetzungzw. Anwendung von EbM spielt. Meist wird der Patient alsin erschwerender Umstand empfunden, EbM umzusetzen:,Ist schon wichtig, dass es die Studien und die Leitlinienibt. Aber die Patienten machen nicht mit.‘‘ (TB, 60-60).uch der Wunsch nach einer gemeinsamen Entscheidungsfin-ung ist hierbei von Bedeutung: ,,Ich glaub auch, man mussas auch mit dem Patienten aushandeln, was der wirklichill. . .‘‘ (TW, 165-165).

ualitätsmanagement

bM wird von den Teilnehmern mit Qualität und Quali-ätszirkeln in Verbindung gebracht. Auf die Frage, ob EbMie Qualitätszirkelarbeit und umgekehrt befruchtet habe,ird von einigen Teilnehmern eine gewisse Unterstützungeiderseits gesehen: ,,Wobei die Gründung [der QZ] mög-icherweise auch initiiert wurde, . . . das ist . . . so eineeitgleiche Entwicklung. EbM und Qualitätssicherung in deredizin. Sonst hätte es diesen Qualitätszirkel möglicher-eise nicht gegeben.‘‘ (TH, 145-145). Andere Teilnehmermpfinden die Qualitätszirkelarbeit eher als Vorläufer desbM-Gedankens. Zumindest achtet man dank EbM mehr aufualität: ,,Man achtet da halt mehr auf die Qualität der

nformationen, würd ich sagen, ne?‘‘.EbM fördert eine gezielte Informationssuche und

ritische Denkweise, indem man ,,. . .darauf achtet zuucken, wo hole ich mir die Informationen und ist das

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B. Bücker et al.

ertrauenswürdig‘‘ (TH, 135-135). ,,. . . Ich habe meinensätze kritischer überprüft bzw. heute suche ich schon malezielter nach Informationen.‘‘ (TD, 72-72). Es herrscht aufer anderen Seite auch die Einschätzung, dass die kritischeenkweise bereits vorher vorhanden war: ,,Der Qualitäts-irkel war immer kritisch . . . als diese EbM-Geschichte daufkam, . . . das ähnelte sehr dem, was wir gemacht haben.‘‘TH, 138-138).

Im Zusammenhang mit EbM wird von den Teilnehmernft von Standard gesprochen: ,,Leitlinien sind für michbM-Standard.‘‘ (TD, 75-75). Oft wird von den Teilnehmernas eigene Handeln mit EbM und Standard in Verbindungebracht: ,,Allerdings, wenn ich mir dann die Leitliniennschaue, stelle ich fest, dass ich gar nicht so weit entferntin vom Standard.‘‘ (TD, 74-74), oder noch zugespitzter:,Aber da steht meine Kompetenz, mit der ich die Beur-eilung vornehme und entscheide. Meine Patienten werdenach EbM behandelt.‘‘ (TM, 93-93).

Für die Diskussionsteilnehmer bedeutet EbM auch,entscheiden‘‘, ,,praktizieren‘‘, ,,prüfen‘‘ und vor allem,therapieren‘‘.

ertrauen

erantwortung und Vertrauen spielen bei den Hausärztenm Zusammenhang mit EbM eine wichtige Rolle. EbM wirdls vertrauenswürdig eingestuft: ,,. . .ich achte schon darauf,u gucken, wo hole ich mir die Informationen und ist dasertrauenswürdig. Das muss jetzt keine Leitlinie sein, abers kann eine Leitlinie sein.‘‘ (TH, 135-135). Die Teilnehmeretonten, dass ,,jeder verantwortungsvolle Arzt . . . tagtäg-ich EbM [praktiziert].‘‘ (TD, 84-84). Der Gedanke, dass manls verantwortungsvoller Hausarzt ,,schon immer evidenz-asiert therapiert‘‘ (TD, 71-71) hat und es auch jetzt tut,ieht sich durch die Gruppen wie ein roter Faden: ,,Also ichnde EbM vom Grundgedanken gut . . .. Wir machen dochigentlich alle EbM.‘‘ (TD, 86-86).

Von den Diskussionsteilnehmern wird EbM ein Nutzenugeschrieben, und sie wird als Orientierungsmöglichkeitmpfunden: ,,Also ich glaube, das ist teilweise ganz hilf-eich, weil das aus evidenzbasierten Vorschlägen dochiemlich logisch und eher gefestigt [ist]. Man kann sich teil-eise daran ganz gut orientieren.‘‘ (TH, 132-132). Genutztird EbM vor allem, wenn eigene Ansätze nicht weiterhel-

en, und bei schwierigen Fällen: ,,Aber immer dann, wenneine Ansätze nicht packen, dann nehme ich die Zeit für

bM.‘‘ (TM, 96-96).Als Barrieren für den Einsatz von EbM wird vor allem der

urch Leitlinien im Praxisalltag verursachte Stress und dieusätzliche Arbeit empfunden: ,,. . . hab eineinhalb Jahreiele Diskussionen geführt und bin das dann leid einfach,iese Diskussionen zu führen, wenn dann nachher die Praxisoll ist. . .,‘‘ (TH, 133-133) sowie das Fehlen von Leitlinienu bestimmten Themen (siehe ,Praktikabilität‘).

Viele Teilnehmer betonten den Evidenzmangel, beson-ers bei komplexen Sachverhalten in der Hausarztpraxis,ls hindernden Faktor für die Nutzung von EbM. Bemängelt

ird, dass es ,,. . . zu vielen Sachen ja dann leider auch keineeitlinie [gibt]). Oder keine Evidenz.‘‘ (TH, 135-135), z.B.u Multimorbidität, und dass die Recherche dazu entspre-hend zeitaufwendig und frustran verläuft: ,,Also insofern,
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„Wir machen doch eigentlich alle EbM!‘‘ — Vorstellungen und

was soll man da recherchieren? Da hat man einen halbenTag verschenkt und ist am Ende so klug wie vorher.‘‘ (TH,140-140).

EbM wird mit Wissenschaftlichkeit und Studien gleichge-setzt. Einerseits wird ,,das aus evidenzbasierten Vorschlägendoch [als] ziemlich logisch und eher gefestigt‘‘ (TH, 132-132) empfunden. Andererseits wird im Zusammenhangmit EbM auch von Unwissenschaftlichkeit, Manipulationund fehlender Unabhängigkeit bei der Leitlinien-Erstellunggesprochen: ,,. . .da gibt es . . . Leitlinien. . ., wo man . . . denVerdacht haben muss, dass das . . . gesponsert ist. Gespon-serte Aussage.‘‘ (TW, 158-160).

Insgesamt wird aus den Diskussionen eine positiveGrundhaltung gegenüber EbM im Allgemeinen deutlich.Die Hausärzte erleben aber eine mangelnde Praktikabili-tät von Leitlinien in ihrem Alltag. Hier wird zwischen einer,,praktizierten‘‘ und einer ,,wahren‘‘ EbM unterschieden;als verantwortungsvolle Hausärzte praktizieren sie EbM mitihren Patienten, die ,,wahre‘‘ EbM ist in ihrer Theorielastig-keit aber eher sperrig in ihrem Alltag.

Limitationen

Das verwendete Forschungsdesign der Fokusgruppen sollteein breit gefächertes Meinungsspektrum erfassen, wobeikein Anspruch auf Repräsentativität erhoben wird. Für dieFokusgruppen wurden Realgruppen gewählt, damit die Dis-kussion vertrauensvoller und schneller in Gang kommt [19]und die Teilnehmer von Anfang an alle ein mehr oder wenigergleiches Bezugssystem und eine gemeinsame Erfahrungsba-sis haben [18]. Das schränkte die theoretische Auswahl dereinzelnen Teilnehmer allerdings ein.

Das Durchschnittsalter der Teilnehmer der Fokusgrup-pen lag mit 57 Jahren über dem Durchschnittsalter allerVertragsärzte in Deutschland im Jahr 2008 (51,6 Jahre)[28]. Der Prozentsatz weiblicher Hausärzte lag mit 50% inder vorliegenden Studie über dem Wert aller berufstäti-gen Hausärztinnen (ca. 41%) [28]. Ärztinnen und jüngereÄrzte sind eher positiver gegenüber Leitlinien eingestellt[29]. Etwa die Hälfte der teilnehmenden Hausärzte hatteals Lehrarzt/Lehrbeauftragter eine Beziehung zu einer uni-versitären Einrichtung für Allgemeinmedizin; bundesweitsind dies geschätzt nur 10%. Es kann davon ausgegangenwerden, dass die Lehrärzte tendenziell EbM aufgeschlosse-ner gegenüberstehen. Da in den Fokusgruppen aber beideGeschlechter, unterschiedliche Alters- und Arztgruppen ver-treten waren, konnten verschiedenste Haltungen abgebildetwerden.

Der Aspekt der sozialen Erwünschtheit als Verzerrungder Antworten lässt sich auch in einer Gruppendiskussionnicht ganz verhindern, sowohl im Sinne positiver Aussagenbezüglich EbM als auch im Rahmen einer allgemein nega-tiven Gruppenmeinung. Angesichts vieler offener, positiverwie negativer Aussagen in jeder einzelnen Diskussion scheintdieser Effekt aber vernachlässigbar klein.

Eine weitere Einschränkung ergibt sich durch den Kon-text der Diskussionen. Bevor der Diskussionsreiz zum Thema

EbM gegeben wurde, hatten alle Teilnehmer über Bekannt-heitsgrad und Einstellungen im Hinblick auf das IQWiG undden GB-A diskutiert, was möglicherweise die Grundstim-mung der Teilnehmer beeinflusst haben könnte. Der Eindruck

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ltungen deutscher Hausärzte 415

er Moderatoren war jedoch, dass das Thema EbM in deriskussion mit den vorhergegangenen Themen nicht geprägtorden ist.

iskussion

ie vorliegende Studie liefert Einblicke in Vorstellun-en, Haltungen und Erfahrungen von deutschen Hausärztenezüglich EbM und Leitlinien in ihrem Praxisalltag. Dieseshemengebiet wurde bereits in älteren Fragebogenstu-ien untersucht (z.B. [14,15,20,30]), aber im deutschenprachraum in neuerer Zeit nicht im Rahmen eines qua-itativen Designs, welches ein tiefergehendes Verständnison Haltungen ermöglicht, als es ein Fragebogendesign ver-ag. Mayer et al. fanden 1999 in einer vergleichbarenualitativen Studie aus Australien mit Fokusgruppen beiausärzten eine insgesamt positive Grundhaltung gegenüberbM in Verbindung mit Kritik beispielsweise an der fehlen-en Hausarztzentrierung und Evidenz sowie der fehlendenerücksichtigung der Komplexität der Konsultation [21].

In den Fokusgruppen der vorliegenden Studie wurdensgesamt ebenfalls eine positive Einstellung der Teilneh-er gegenüber EbM im Allgemeinen deutlich, die sich

n Begriffen wie ,Qualität‘ und ,Vertrauen‘ widerspie-elt. Gegenüber früheren Erhebungen scheint, soweit beinterschiedlicher Methodik ein Vergleich möglich ist, dieositive Grundhaltung gegenüber EbM zugenommen zuaben [14,15]. Der große Zeitaufwand allerdings, der mitecherche und Bewertung verbunden ist, und die erlebteomplexität und Kompliziertheit von EbM machten vieleneilnehmern zu schaffen, was auch in anderen Untersu-hungen als der Hauptgrund für eine Nicht-Nutzung vonbM angesehen wurde [10—12,20,31]. Die fehlende Haus-rztzentrierung, die begrenzte Praxiskompatibilität voneitlinien und die schwierige Übertragung der Ergebnisseuf den einzelnen Patienten wird auch andernorts thema-isiert [12,14,15,21,32]. In den Fokusgruppen fand kaumrwähnung, dass Leitlinien auch als Steuerungsinstrumentm Gesundheitswesen empfunden werden können [33]. Dasrüher von Hausärzten vorgebrachte Argument der Autono-ieeinschränkung durch EbM [13] und die Reduktion von

eitlinien auf ,Kochbuchmedizin‘ wurden in der vorliegen-en Studie nicht mehr gefunden.

Neu konnte in dieser Studie herausgearbeitet wer-en, dass die befragten Hausärzte zwischen einer,praktizierten‘‘ und einer ,,wahren‘‘ EbM unterschieden,as einen Teil der Diskrepanz zwischen der gefundenenrundsätzlichen Befürwortung von EbM und der kriti-chen Haltung gegenüber Leitlinien erklärt. Die Hausärzteeschrieben, dass sie verantwortungsvoll in ihrem Praxis-lltag EbM mit ihren Patienten praktizieren und dies auchrüher schon getan haben. Davon grenzten sie eine ,,wahre‘‘bM ab, die sie in ihrer Theorielastigkeit und mangelndenraktikabilität aber eher sperrig erleben.

chlussfolgerungen

ie grundsätzliche Haltung deutscher Hausärzte zu EbM ist,m Vergleich zu früheren Untersuchungen, zunehmend posi-iv, aber von einer Trennung zwischen ,,praktizierter‘‘ und,wahrer‘‘ Evidenz geprägt.

Page 7: „Wir machen doch eigentlich alle EbM!“ – Vorstellungen und Haltungen deutscher Hausärzte zu Evidenzbasierter Medizin und Leitlinien im Praxisalltag: Eine qualitative Studie

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Zur Überwindung der immer noch bestehenden Imple-entierungsschwierigkeiten von EbM und Leitlinien in den

raxisalltag sollten daher folgende, aus den Diskussionen miten Hausärzten abgeleitete Punkte bedacht werden:

Bei der Leitlinienerstellung sollte darauf geachtet wer-en, (noch) mehr hausärztlich relevante Themen zuearbeiten. Die Leitlinien sollten alltagsnäher gestaltet wer-en, damit sie in kürzerer Zeit genutzt werden können,.B. als alltagstaugliche, handlungsrelevante und -leitendeurzfassungen, ggf. auch als in Praxissysteme integrierteersionen. Die Unabhängigkeit und Evidenzbasierung dereitlinien muss transparent erkennbar sein.

Das Selbstbild der Hausärzte von ihrem Alltagshandelnnd ihre Haltung zu evidenzbasierter Medizin müssen stärkerei der Implementierung von EbM und Leitlinien in der Pra-is berücksichtigt werden, um die Hausärzte in ihrem Alltagabzuholen‘ und damit handlungsändernd wirken zu können.

anksagung

ir danken allen beteiligten Hausärzten für Ihre Kooperati-nsbereitschaft und die ausführlichen Diskussionen.

nteressenkonflikte

ettina Bücker und Stefan Wilm sind auf mehreren Ebenen inie Entwicklung und Verbreitung (haus-) ärztlicher Leitlinieningebunden.

Das Projekt wurde gefördert vom Institut für Qualitätnd Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Eininfluss auf Design der Studie, Durchführung, Auswertung,rgebnisdarstellung und -publikation bestand nicht.

iteratur

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ZEFQ-SERVICE: TIPP„Morbus Osler — mehr als nur Nasenbluten‘‘ — neueKurzinformation für Patienten erschienen

Morbus Osler ist eine seltene, erb-liche Erkrankung, die oft auch alshereditäre hämorrhagische Telean-giektasie (HHT) bezeichnet wird.Nach Schätzungen ist etwa einer von5000 Menschen daran erkrankt. BeiMorbus Osler sind manche Blutgefäßekrankhaft erweitert und sehr ver-letzlich. Es kommt bei mehr als 90von 100 Betroffenen zu wiederkeh-rendem Nasenbluten. Dies kann sobeeinträchtigend sein, dass Erkrankteihren Alltag nicht bewältigen odernachts nicht schlafen können. Beivielen sind Gefäßfehlbildungen auchin inneren Organen wie etwa Magen-Darm-Trakt, Lunge, Leber oderGehirn vorhanden. Diese können zuFunktionsstörungen und inneren Blu-tungen führen. Doch wenn Betroffenerechtzeitig behandelt werden, lebensie in der Regel genauso lange wieandere Menschen. [1,2]Auf zwei Seiten informiert dieneu erschienene Kurzinformation,,Morbus Osler — mehr als nur Nasen-bluten‘‘ über Krankheitszeichen,Untersuchungs- und Behandlungs-möglichkeiten. Patienten findenhier wichtige Fakten und praktischeTipps zum besseren Umgang mit derErkrankung.

im Auftrag von KassenärztlicherBundesvereinigung (KBV) undBundesärztekammer (BÄK) Kurzin-formationen für Patienten. In einemKooperationsprojekt erstellt das ÄZQgemeinsam mit der Allianz Chroni-scher Seltener Erkrankungen (ACHSE)e. V. zehn Kurzinformationen fürPatienten zu ausgewählten seltenenErkrankungen, um die Aufmerksam-keit für dieses Thema zu erhöhen.Die Informationen stehen allenniedergelassenen Ärzten zum Aus-drucken kostenlos zur Verfügung,um sie bei Bedarf Patienten persön-lich auszuhändigen. Zu ausgewähltenThemen liegen Übersetzungen inArabisch, Englisch, Französisch,Spanisch, Russisch und Türkischvor.Die Kurzinformation ,,Morbus Osler‘‘sowie Informationen zu über 30 wei-teren Themen können Sie abrufenunter:

• Kurzinformation „Morbus Osler‘‘www.patienten-information.de/mdb/downloads/kip/aezq-version-kip-morbus-osler.pdf

• Methodik und Quellenwww.patienten-information.de/

Korrespondenzadresse:Svenja Siegertwissenschaftliche Mitarbeiterin,ÄrztinPatientenbeteiligung/PatienteninformationÄrztliches Zentrum für Qualität inder Medizin (ÄZQ)Gemeinsames Institut von BÄK undKBVTiergartenTower, Straße des 17. Juni106-10810623 BerlinTel: 030-4005-2527Fax: 030-4005-2555Email: [email protected]

Literatur

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Das Ärztliche Zentrum für Quali-tät in der Medizin (ÄZQ) entwickelt

kurzinformation-fuemorbus-osler/quell

r-patienten/en

http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/21523625


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