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Wien

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K L E I N E B I B L I O T H E K D E S W I S S E N S

LUX-LESEBOGEN NATUR- U N D K U L T U R K U N D L I C H E HEFTE

O T T O Z I E R E R

WIEN

L E B E N S B I L D E I N E R W E L T S T A D T

V E R L A G S E B A S T I A N L U X

M U R N A U - M Ü N C H E N - I N N S B R U C K B A S E L

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Als Wien noch Vindobona war . . .

Im Jahre 16 vor Chr. wurde auf Befehl des Kaisers Augustu die Grenze des Römerreiches weit nach Norden verlegt. Fast kämpf los besetzten die römischen Legionen das östliche Alpengebiet un das Alpenvorland und sicherten den neugewonnenen Raum, inde sie die Donau zur natürlichen Grenze machten und sie zu befest' gen begannen.

Hier bot sich nahe der Mündung der March in die Donau die alt Keltensiedlung Carnuntum als Stützpunkt an. Seit Urzeiten führt hier ein Handelspfad vorüber, der vom Adriatischen Meer herkam bei Carnuntum die Donau überquerte und weiter zur Weichsel un Ostsee strebte. Es war die sogenannte „Bernsteinstraße", ein seh alter Völkerpfad. Viele Kaufleute befuhren ihn mit Zweiräderkar ren oder trieben ihre Saumtierkolonnen entlang. Auf dem Brauns berg, dem Höhenzug über Carnuntum, errichteten die Römer ei Marschlager und im Jahre 15 n. Chr. ein festgebautes Militärlage Die Fünfzehnte Legion wurde von ihrem bisherigen Garnisonsor Laibach in die neue Grenzfeste an der Donau vorverlegt.

Aber nicht lange blieb das Standlager der Fünfzehnten Legio auf dem Braunsberg. Während eines Aufstandes zur Zeit des Kai sers Tiberius erkannte man, daß das nahe Donauhochufer noch ge eigneter war als die Berghöhe. Die Römer verlegten das Legions-lager ans Ufer. Die Lagerstadt wuchs bald zum blühenden Stapel-und Marktplatz heran, wo sich aus der Vermischung altansässiger Kelten, ausgedienter Legionäre, der Neusiedler aus Italien und spä­ter auch zugewanderter germanischer Markomannen vom anderen Donauufer ein ansehnliches städtisches Gemeinwesen ausbreitete.

Wöchentlich erfolgten Ausmärsche der Legion in die Umgebung. Sie führten oft auch zu dem vierzig Kilometer stromauf gelegenen Keltendorf Vindobona — Wien — mit einem Holzkastell, wo tausend eingeborene Reiter im römischen Grenzschutz Dienst taten.

Auch dieses Vindobona war uralter Siedlungsboden. Ausgrabun gen deuten darauf hin, daß schon im 3. Jahrtausend vor Christ Menschen hier wohnten, die Tongefäße und Tonfiguren zu formen später die Bronze zu gießen und das Eisen zu schmieden verstan den. Auch jetzt noch war Vindobona ein wichtiger Platz für kera mische Erzeugnisse, denn hier gab es etwas, das bei Carnuntum fehlte: reichliche und gute Tonvorkommen. Neben den Handelsleu­ten brachte die Tausendmann-Garnison der berittenen Hilfstruppe" viel Leben nach Vindobona, im übrigen jedoch lebte es im Schat­ten des größeren und bedeutenderen Carnuntum.

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Das änderte sich erst, als mit der Zunahme der Germanenan­griffe Kaiser Trajan die Grenzsicherungen verstärkte. Die Fünf­zehnte Legion in Carnuntum wurde gegen die Vierzehnte ausge­tauscht. In den Donauhafen zog die römische Strompolizei mit ihren Schiffen ein. Auch Vindobona wurde jetzt Legionsstadt; die Zehnte wurde hierhin verlegt. Da der römische Legionär nicht nur mit Wachdienst, Marschübungen und häufigen Manövern beschäftigt wurde, sondern zugleich auch Pionier, Baumeister und Handwerker sein mußte, begann auch in Vindobona mit dem Einzug der sechs­tausend Mann starken Zehnten Legion ein gewaltiges Leben. Der Ort verwandelte sich in einen einzigen Bauplatz

Heute zeigt in Wien der Bereich der Ringstraße an, wo das ge­mauerte Vindobonenser Standlager errichtet wurde. Es wurde nach altbewährter Weise als Rechteck von ungefähr 400 zu 470 Metern hinter einer vier Meter hohen Steinmauer und einem 14 Meter breiten Wassergraben angelegt. Im Zug der Hauptlagerstraße wurde in Richtung Carnuntum das „Rechte Tor", stromauf das „Linke Tor" gebaut. Innerhalb des Lagers wuchsen ein Bad, Kasernen­bauten, ein Generalspalast, eine Kommandantur, Offiziersquartiere und ein Spital empor. Es gab Werkstätten, Magazine, Stallungen, Appellplätze und ein kleines, säulengeschmücktes Lagerheiligtum. Durch die Soldaten wurde auch die Bürgerstadt, etwa eine römische Meile südostwärts des Lagers, angelegt und im Laufe der Zeit präch­tig ausgebaut. Viele ausgediente Veteranen nahmen hier ihr Ent­lassungsgeld und blieben als Bürger in der liebgewordenen Sied­lung, betrieben Ackerbau oder ein Handwerk; die Kinder der ehe­maligen Legionäre heirateten keltische Einwohner, Zuwanderer kamen aus allen Provinzen des weiten Römischen Reiches: aus Grie­chenland, Syrien, ja selbst aus Afrika und nicht zuletzt von der Germanengrenze.

So rasch blühte das regsame, tüchtige Vindobona-Wien empor, daß Kaiser Hadrian den Bewohnern in den dreißiger Jahren des 2. nachchristlichen Jahrhunderts das römische Bürgerrecht verlieh.

Dunkle Jahrhunderte Die Zeit der Blüte und des Gedeihens Vindobona-Wiens war ver­

hältnismäßig kurz. Das Schicksal der Stadt war eng mit dem Ge­schick des Imperiums verbunden und bekam die heraufkommende Veränderung der Lage als Grenzstadt sogar früher und gründlicher zu spüren als andere, besser geschützte römische Grenzstädte.

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Völkerbewegungen in Innergermanien und in der südrussischen Steppe lösten im Jahre 171 n. Chr. die erste Katastrophe an der Donau aus. Während im Reich die durch persische Gefangene ein­geschleppte Pest wütete und Erdbeben, Hungersnöte und wachsende religiöse und soziale Unruhen die innere Unsicherheit vergrößerten, brachen die Markomannen, Quaden und andere Stämme in wilden Massen über die Donau, stießen an den festen Lagern Carnuntum 1 und Wien vorbei weit ins Land vor und erschienen in Oberitalien. Mit einem Schlag war alles unsicher geworden. Die Römerstädte an der Donau sahen sich aus ruhigen Märkten und fleißigen Garni­sonen plötzlich in umkämpfte Abwehrforts verwandelt. Zwar er­schien der römische Kaiser — es war Marc Aurel, der „Philosoph auf dem Thron" — mit einem rasch zusammengestellten Ersatzheer, ;

warf die Barbaren unter wuchtigen Schlägen zurück und schaffte eine sieben Meilen breite Zone verbrannter Erde — aber es war wie ein letztes Aufraffen. Die schleichende Pest war den Legions­adlern Marc Aureis nachgefolgt und holte sein Heer an der Donau • ein. Auch der Kaiser erkrankte und wurde, vom Tode gezeichnet, in das Standlager Wien gebracht. Als er hier dem Schwarzen Tod erlegen war, begnügte sich sein Sohn und Nachfolger Commodus mit der reinen Verteidigung. Fortan blieb Vindobona-Wien ein ewig bedrohter und umstürmter Grenzplatz.

Was sich im 2. nachchristlichen Jahrhundert angekündigt hatte, er­füllte sich im letzten Viertel des 4. Jahrhunderts. Nach langen Grenzkämpfen, Bauernunruhen, Kaisermorden und Legionsaufstän­den fiel im Jahre 375 der erschütternde Schlag gegen die Städte an der Grenze: Die Völkerwanderung hob an. Gestoßen von den Hunnen, überschritten die Westgoten die Donau, und alle Stämme und Völker am Strom gerieten in Bewegung. Das Quadenvolk, die Ostgoten und endlich die Westgoten Alarichs erschienen bei Carnun­tum und Wien. Im Jahre 407 verhandelte der Westgotenkönig Alarich mit Kaiser Honorius bereits über die Abtretung der gesam­ten Donauprovinz.

Viele Einwohner Vindobonas warteten diese ausweglose Lage nicht ab und zogen, Familie um Familie, mit Sack und Pack nach Süden. Wer noch Verwandte oder Freunde in Italien oder Dalma tien hatte, war meist noch früher aus dem gefährlichen Grenzlan fortgegangen.

Vergessen waren die schönen Zeiten am blauen Strom, an de; sen sanften, besonnten Hügeln Kaiser Probus, wie an Rhein un Mosel, den Rebenanbau angeregt haben soll. Nichts war mehr ge blieben vom blühenden Handelsverkehr auf dem von der Flußpo-

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lizei geschützten Strom oder auf der Straße, die ins nord- und nord­ostdeutsche Bernsteinland führte. Das Handelsgeschäft brach auch in Vindobona zusammen, das bisher entgegen einem ausdrücklichen Reichsbefehl den Barbaren die guten steirischen Stahlwaffen ver-höckert hatte. Jetzt herrschten wandernde, räuberische Bauernvöl­ker am Strom. Das halbzerstörte Vindobona wurde Grenzstadt der Rugier und Ostgoten. Als Rom die schützende Nachbarprovinz Pan-nonien an Attila abtrat, drangen die Hunnen ein; die letzte, noch verbliebene römische Bevölkerung floh aus den Donaustädten. Vin­dobona wurde Tummelplatz neuer Völker. Hinter den Hunnen kamen die Langobarden, hinter diesen die Awaren und die Slawen. Eine Zeitlang verlor Vindobona-Wien sogar seinen alten Namen und nannte sich Bec.

Dann ließen sich die Bayern in Süddeutschland und im Donau­raum nieder. Germanien gewann eine neue staatliche Ordnung im Frankenreich, die Welt wurde christlich. Bonifatius gründete 739

Mittelteil des Kaiserschlosses Schönbrunn (vgl. den Text Seite 18).

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das Bistum Salzburg, die Mission drang donauabwärts vor, und die christlich gewordenen Bayern breiteten sich weiter in den öster­reichischen Landen aus, um gegen Slawen und Awaren zu streiten.

Noch lag Vindobona-Wien am Rande der Schlachtfelder. Aber es ist kein Zufall, daß der Name Wien zum erstenmal in einer bayeri­schen Handschrift aus dem Jahre 1030 erscheint; denn auch für Wien nahte das Schicksal von Bayern her.

Der Hof der Babenberger Als nach dem Tode Karls des Großen die Karolinger sich in Bru­

derkämpfen zerfleischten und die Grenzmark an der Donau, die Ostmark, erneut bedroht wurde, griffen im Wiener Land die bayerischen Stämme ein.

Es war das wilde, heidnische Reitervolk der Ungarn, denen sich die Bayern entgegenwarfen. Bayern kämpften und fielen an Enns und Donau, bis endlich im Jahre 955 das sich wieder sammelnde Deutsche Reich unter König Otto dem Großen die Ungarn auf dem Lechfelde vernichtend schlug und auch die Ostmark freikämpfte.

Nun ergossen sich in das befreite Land die Züge deutscher, vor­nehmlich bayrischer Siedler und Missionare. So rasch und wunderbar blühte das neue Land der Ostmark wieder empor, daß es stark ge­nug befunden wurde, zum selbständigen Herzogtum zu werden. Die herzogliche Familie, die nun als Wächter des Reiches an die ewig umkämpfte Ostmarkgrenze gesetzt wurde, betrat unter dem Namen Babenberger die Bühne der Geschichte.

Zunächst fanden die Babenberger von den einstigen Römerstädten mehr Ruinen und Brandtrümmer als bewohnbare Orte vor. Und so ist es kein Wunder, daß in der ersten Zeit der Babenberger das herabgekommene Vindobona-Wien völlig hinter anderen österrei­chischen Orten wie Tulln, Mautern oder Klosterneuburg, zurücktrat. Erst um die Mitte des 12, Jahrhunderts entwickelte sich der so gün­stig und hübsch gelegene Platz Wien wieder zu hoher Geltung; der Babenberger Heinrich IL errichtete an der Stelle des altrömi­schen Generalshauses von Vindobona seine herzogliche Hofburg. Nach beinahe tausend fahren war Wien wieder Stadtgemeinde ge­worden

Heinrich II. schenkte im Jahre 1137 einen großen Bauplatz außer­halb der römischen Westmauer den schottischen Benediktinern. Einige Wirtschaftsgebäude und Bauhütten wurden errichtet, und im Jahre 1161 kamen Mönche aus dem Regensburger Schottenkloster herüber und übernahmen das Anwesen.

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Man baute in jenen Tagen noch in dem wuchtigen, festungsartigen spätromanischen Rundbogenstil, der schon mit einigen gotischen Baugliedern versehen war. Das neuerriditete Schottenkloster be­stand zu Anfang nur aus der Kirche, den Klosterbauten und dem das Herzstück bildenden Kreuzgang.

Als Herzogsresidenz nahm Wien einen raschen Aufschwung, so daß Leopold VI. der Stadt am 18. Mai 1221 das Stapelrecht verlieh. Dieses Recht bedeutete, daß die auf der Donau oder auf den Han­delsstraßen durch Wien passierenden Kaufleute ihre Waren wenig­stens acht Wochen lang auf dem städtischen Markt anzubieten ver­pflichtet wurden. Das Stapelrecht belebte Handel, Handwerk und gab allen Gewerben Auftrieb. Die Stadt sprengte ihre engen Grenzen und durchbrach endgültig die schmale Gürtellinie der alten Mauern. Das große Rechteck des „Neuen Marktes" entstand, die Burg wurde an jene Stelle verlegt, die heute noch diesen Namen trägt; weitere schöne kirchliche und weltliche Bauten kamen hinzu, unter ihnen die berühmte Michaelskirche mit ihren romanischen Kapitellen und den Bildwerken aus Fabelwesen und kämpfenden Tieren.

Die Herzöge blieben auch weiterhin die großen Förderer ihrer Residenzstadt. Um 1220 riefen sie flandrische Weber und Färber herbei und verliehen ihren Zünften besondere Vorrechte und Frei­heiten. Die Vorstädte dehnten sich aus, die Urkunden der Zeit er­wähnen zahlreiche wohlhabende Bürgerfamilien, die in der Umge­bung Wiens befestigte Höfe oder Burgen bewohnten. Sie waren Gefolgsleute der Herzöge und besaßen auch innerhalb der Stadt festgemauerte Häuser. Den aufblühenden Reichtum beweisen meh­rere wohltätige Stiftungen, wie das aus dieser Zeit stammende Hei­ligengeistspital, das nach dem Brauch der Zeit zugleich Krankenhaus und Altersheim war. Bald folgte der Bau des Wiener Bürgerspi­tals, des Siechenhauses bei St. Marx auf der Wieden und eines wei­teren Siechenhauses in der Alsenvorstadt. Seit dem Laterankonzil von 1215 gab es die Bettelorden, schon 1237 bauten die Domini­kaner ihre erste Kirche auf Wiener Boden.

All diese rege Tätigkeit vollzog sich inmitten einer bürgerlich­höfischen Gesellschaft, die so sehr an Bedeutung gewonnen hatte, daß eine Urkunde der Zeit Wien hinter Köln die bedeutendste Stadt Deutschlands nennt. Das alte Regensburg, von dem die Stadt so viel Anregung erfahren hatte, war längst überflügelt. Gold­schmiede, Weber und andere Gewerbetreibende hatten sich nieder­gelassen; die Richtung des Handels führte von Flandern über den

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Rhein-Main-Donauweg nach Wien und von dort nach Byzanz. Im herzoglichen Münzamt wurden Silberstücke geprägt.

Am Hofe der Babenberger fanden glänzende Turniere und prunk­volle Feste statt. Der als „Frau Venus" verkleidete Minnesänger Ulrich von Liechtenstein weilte lange am Hofe, Walther von der Vogelweide vergleicht in einem seiner Lieder den Wiener Hof mit dem des Königs Artus. Dichtung und Sangeskunst feierten Triumphe. In Wien wirkte der Dichter Neidhart von Reuenthal, das Nibelungenlied wurde um 1200 durch einen Passauer Kleriker, der in der Wiener Kanzlei tätig war, in seine letzte Form gebracht, im Schottenkloster malten und schrieben fleißige Mönche an Chro­niken und geschichtlichen Jahrbüchern. Die Babenberger übernah­men die Pfarrei St. Stephan, die bis dahin noch den Passauer Bischö­fen unterstanden hatte, und ließen in der östlichen Vorstadt eine neue, schöne St. Stephanskirche errichten.

So schien sich alles auf das hoffnungsvollste zu entwickeln, als es zu einem Streit zwischen dem selbstbewußt gewordenen Bürger­tum und Herzog Friedrich dem Streitbaren kam. Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen griff ein, schlug sich auf die Seite der Bürger­schaft und verlieh Wien die Rechte einer Freien Reichsstadt. Der Kaiser gründete eine lateinische Schule in der Stadt, die Keimzelle der späteren Universität.

Der Herzog eroberte Wien schon bald durch Aushungerung zu­rück, aber er war vernünftig genug, die Bürger durch ein neues, besseres Stadtrecht zu versöhnen. Wenige Jahre später •— 1246 — starben die Babenberger aus, und Wien wurde abermals Freie Reichsstadt.

In dem nun ausbrechenden Kampf um das Herzogtum, der zwi­schen König Ottokar von Böhmen und dem Habsburger Rudolf I. ausgefochten wurde, wechselte die Stadt einigemale den Herrn. Sie gewann zwar — von beiden Parteien umworben und hofiert — im­mer neue Freiheiten; aber schon im Jahre 1290 — unter dem Habs­burger Herzog Albrecht I. — mußte sie ihren Widerstand aufgeben und wurde abermals Residenz — nunmehr der Habsburger.

Wien trat in einen neuen, den längsten und bedeutendsten Ab­schnitt seiner Geschichte.

Das Wahrzeichen Alt-Wiens Zu Beginn des 14. Jahrhunderts war jener himmelstürmende, alle

Schwerkraft scheinbar aufhebende, den Stein zum Blühen bringende Bau- und Kunststil, der nachmals „Gotik" genannt wurde, schon fast hundertfünfzig Jahre alt. In der Mitte des 12. Jahrhunderts in

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der Gegend von Paris und in Paris zum erstenmal voll entfaltet, hatte er sich zunächst in Frankreich, am Rhein und in den nor­mannischen Landen verbreitet. Jetzt unter den Habsburgern er­faßte die Gotik auch Österreich und die Residenzstadt Wien. Den großen Auftrag, mit dem die Hochgotik festlichen Einzug in Wien hielt, gaben die Herzöge Albrecht I. und Albrecht II. zwischen 1304 und 1340. Sie begannen den Umbau und Neubau von St. Stephan.

Von der Westfront der ersten Stephanskirche ließen die Bau­herren nur das „Riesentor" stehen, der weitere Bau begann mit der Errichtung des sogenannten „Albertinischen Chores". In dieser Zeit bestand eine starke Konkurrenz, zwischen den Königen Böh­mens und den Habsburger Herzögen in Wien. Die Böhmen, die rege kulturelle Beziehungen zu Frankreich und Westdeutschland unter­hielten, hatten bedeutende französische und deutsche Architekten, Maler, Bildhauer, Steinmetze und Kunsthandwerker in ganzen Ge­werkschaften nach Prag verpflichtet und diese Stadt mit Werken der Gotik geschmückt. Diese Leistungen trieben die Habsburger zur Eile an. Es entstanden außer dem „Albertinischen Chor" die hochge­mauerten Außenwände des künftigen Langhauses von St. Stephan, die Fürstenportale und die für den späteren Schmuck der Kathe­drale bestimmten Herrscherfiguren, in Stein gehauene Herzöge und fürstliche Freunde der Habsburger.

In die religiös und politisch hocherregte Zeit aber fiel erneut der schreckliche Schatten des Schwarzen Todes. 1348 wurde die Pest aus dem Osten eingeschleppt und schwang ihre vernichtende Sense über Europa. Ganze Landstriche verödeten, Städte verloren mehr als die Hälfte ihrer Einwohnerschaft. Auch in Wien wütete die Seuche, so daß täglich fünfhundert bis siebenhundert Tote zu Grabe getragen werden mußten, manchmal waren es in einer Nacht und an einem Tag mehr als zwölfhundert Pestopfer.

In Wien war in dieser Zeit die Herzogswürde an Rudolf IV. über­gegangen, einen energischen, von hochfliegenden Plänen erfüllten jungen Mann. Um die Wunden der Pestzeit zu heilen, verfügte er, daß neue Geldquellen erschlossen wurden, von denen eine zehn-prozentige Getränkesteuer die ergiebigste war. Die Trinkfreudig­keit der Wiener brachte dem Herzog jährlich 12 000 Gulden ein, auch aus der Weinausfuhr donauabwärts zog er beträchtliche Ge­winne. Dieser nun wieder herbeiströmende Reichtum gab Herzog Rudolf die Kraft, den Wettlauf mit den Böhmen und ihrer Haupt­stadt Prag wieder aufzunehmen. Die Katastrophe der Pest hatte alle Baupläne zum Erliegen gebracht.

Als der unterdessen zur Kaiserwürde aufgestiegene Böhme Karl

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IV. 1348 in Prag eine Universität gründete, legte Rudolf 1365 in Wien den Grundstein zu der Rudolfinisdien Universität; als Kaiser Karl in Prag die Bauhütte des berühmten Peter Parier von Gmünd an sich zog und eifrig am Prager Veitsdom baute, befahl Herzog Rudolf, das begonnene Werk seiner Vorgänger wieder aufzuneh­men: den unterbrodicnen Neubau des Domes.

Eine Bauhütte mit all ihren Rüstwagen, Maultieren und Pack­pferden, begleitet von Meistern, Gesellen und Knappen, Leuten aus Frankreich, Bayern, Burgund und vom Rhein, kam donau-abwärts. Die durch Schwüre, Bräuche und Zunftzwang verbundene Bauhütten-Bruderschaft erregte überall Aufsehen. Die Männer rit­ten und wanderten in kurzen Leibröcken, mit Kragen und Kapuze oder Gugel, mit ledernem Schuhzeug, Filzhüten und kurzen Mes­sern am Gürtel — jeder Einzelne ein Könner in seinem Fach: Leute, die das Geheimnis beherrsditen, die Schwere der Steinquadern durch hohe Bogen, Streben und Rippen zu überwinden, Meister im Aus­kehlen des Hausteins, Steinmetzen, die Maßwerk, Kapitelle, Por­tale, Wimperge und Turmhelme, Figuren, Rosetten und Steinblu­men aus dem toten Stein zu zaubern vermochten. Das Bauleute-Ge­werbe besaß seit Kaiser Rudolf seine eigene Gerichtsbarkeit, es hatte eine eigene soziale Fürsorge für Invaliden, Kranke und Hin­terbliebene, eine strenge Lebens- und Handwerksregel und eifer­süchtig gehütete Geheimnisse im Gebrauch von Winkelmaß, Wasser­waage und Zirkel. Obermeister war ein Mathematiker, Statiker und Künstler von höchsten Graden.

Die Bauhütte schlug in Wien ihre Bretterbuden vor St. Stephan auf, später entstand aus der Siedlung der Dombauhof. Nicht nur der Herzog sorgte für die notwendigen Geldmittel — die religiöse Begeisterung der Zeit entflammte Adel, Bürger und die umwoh­nende Bauernschaft zu heiligem Eifer. Stiftungen flössen von allen Seiten, es galt -als Ehre und gottgefälliges Werk, selber Hand anzu­legen bei den Hilfsdiensten der Kathedrale. Bauernfuhrwerke I schafften die großen Quadern stromab, Scharwerker arbeiteten mit Spitzhacke und Schaufel, Bürger und Adelige griffen zu, soweit I und wo sie es vermochten.

Der Bau des Stephansdomes wurde zum editen Gemeinschaftswerk der Wiener. Nach dem Tode Herzog Rudolfs führten die Bürger fort, was der Habsburger begonnen hatte: Das Langhaus wurde eingewölbt, die Türme zu beiden Seiten des Querschiffs errichtet.

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Der 1433 vollendete Südturm wurde eines der vollendetsten Werke der Spätgotik im Abendland. Sein hochgetürmtes Maßwerk, die Bal­dachine aus Stein, die Strebepfeiler und Fialen wurden trotz aller Größe in reinster Harmonie emporgeführt.

Nach dem Abklingen des Wettstreites mit den Böhmen nahm sich die Wiener Bürgerschaft den fast gleichzeitigen Dombau zu Ulm zum Vorbild und vollendete den „Steffi", den Südturm, in fünfund­zwanzig Jahren Bauzeit. Nur in der Höhe, die in Ulm 161 Meter beträgt, blieben die Wiener mit 139 Metern hinter ihren Konkur­renten zurück.

Einer Stadt, die zu solchen Anstrengungen und solcher Vollen­dung fähig war, versagte die Geschichte auch nicht länger die er­strebte Anerkennung. 1480 endlich gelang die Lösung vom Passauer Bistum, und Wien wurde selbständige Diözese. Unter Kaiser Fried­rich III. übernahm die Stadt als kostbarsten Besitz die Kaiser­krone. Auch bei der Reichsteilung durch Kaiser Karl V. blieb die Krone Wien zur ständigen Bewahrung überlassen, und im Zeichen der Krone machten die Habsburger Wien zur Hauptstadt des Reiches. Von nun an war Wien die Kaiserstadt.

Des Reiches Kanzleistube Kaiser Karl V. war Europäer der Abstammung nach, er hatte

ebenso deutsches, wie spanisches, französisches und burgundisches Blut in den Adern. Der in Spanien und den Niederlanden geprägte Karl führte das spanisch-burgundische Hofzeremoniell ein, ordnete die Ämter der Reichsverwaltung neu, legte die Rangordnung der Stände und die Organisation des Hofkanzleramtes und der Hofkanz­lei fest und bestimmte damit die Zukunft der Verwaltung, der Ständeordnung und des Kanzleiwesens. Der beamtete Wiener lebte seitdem jahrhundertelang in einer festgefügten willig anerkannten Ranglisten- und Titelordnung — so daß eben am Ende ein Mensch ohne Titel kein Mensch mehr war. Da stand etwa der promovierte Magister, der „Herr Doktor", auf der gleichen Rangliste wie ein Reichsbaron; aber der nichtadelige Jäger saß um drei Plätze höher an der Hofleutetafel als ein Hofmusikus, und sollte dieser hundert­mal Wolfgang Amadeus Mozart heißen oder sonst ein künstlerisches Genie sein. Karl V., der Wien, Österreich, ja ganz Deutschland mit dieser Rangordnung im Ämterwesen und mit formulargefüllten Dienststuben versah, glaubte selbst seine Strafexpedition nach Tunis nicht bewältigen zu können, ohne eine ganze Galeere voll mit Formularen, Kanzleipapieren und Schreibern mitzunehmen. So

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Das alte Burgtheater am Michaelerplatz, 1776 von Kaiser Joseph H als österreichisches Nationaltheater entworfen, galt lange Zeit als die fuhrende Schauspielbühne des deutschen Sprachraumes, Leiter des Burgtheaters waren u. a, die Dichter bzw. Schauspieler Heinrieh Laube, Franz v. Dingelsteflt, Adolf Willbrandt, Hermann Bahr Max Devnent, Anton Wildgans (Aquarell von R. v. Alt, vgl. Text Seite 27)

kam es, daß die Wiener ihre Vorliebe für Rang, Titel, Orden, aka­demische oder adelige Prädikate weit herüber in die neue Zeit tru­gen, so daß etwa heute noch mancher Ober im Wiener Kaffee je nach dem .Trinkgeld, den vornehmen Gast mit „Herr Doktor" oder „Herr Baron" tituliert und die Gattinnen der niedrigen Beamtenschaft sich gegenseitig mit „Frau Oberexpeditionssekretär" oder mit „Frau Zollkontrolleur" ansprechen.

Trotzdem waren jene Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts keines­wegs gemächlich. Überall gärte es: Der Bauernkrieg trug die aus­laufenden Wellen der Rebellion bis unter die Wälle Wiens, die Re­formation zerriß die religiöse Einheit, das Verlangen nach bürger­licher Freiheit suchte Ausdruck in einer neuen Stilform der Kunst.

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Die Formen und Gestalten der Architektur, Plastik und Malerei wurden erdgebundener, die Himmelstürmerei und Frömmigkeit der gotischen Zeit verebbte, alles wurde nüchterner, kühler. Statt Kathedralen baute man Rathäuser, Hofburgen, Paläste. Die Renais­sance hielt Einzug in Wien. Niemand störte es, als bei der immer noch fortschreitenden Innenausstattung des Stephansdomes der selbstbewußte Meister der Dombauhütte, der Schwabe Anton Pil-gram, sein wirklichkeitsgetreues Porträt allen sichtbar unter die Kanzelbrüstung, ein andermal an den Orgelfuß setzte. Der Meister hielt es als Mensch der Renaissance für wichtig, sein eigenes Bild realistisch der Nachwelt zu überliefern. Die namenlose gotische Künstlerschaft, die sich einzig Gott verpflichtet fühlte, war von einer mehr diesseitig empfindenden Generation von Kunstschaffenden abgelöst.

In vielen Werken des 16. Jahrhunderts spiegelt sich der fort­dauernde Kampf zwischen altem und neuem Geist. So etwa in dem großen, für St. Stephan geschaffenen Töpferaltar, der seit dem 18. Jh. in Baden bei Wien steht, oder in dem Portal der Salvatorka-pelle. Der Durchbruch des jungen Kunststils der Renaissance war bereits voll erfolgt, als man 1552 daranging, für den künftigen Kaisersitz die „Neue Hofburg" zu errichten. Es entstanden der schlichte und feierliche Amalienflügel des Kaiserschlosses und der Schweizerflügel mit dem hochfestlichen Tor.

Renaissance bedeutete für das wachsende und sich mit neuen, breit hingelagerten Palästen und Bürgerhäusern schmückende kai­serliche Wien aber nicht nur Großzügigkeit, sondern vor allem Kampf mit den Gewalten und Mächten der neuen Zeit, die von vielen Seiten her in Bewegung gekommen waren. Als Kaiserresi­denz wurde Wien zu einem Zentrum der beginnenden Gegenrefor­mation, zum Stützpunkt des bedrängten Katholizismus und zur er­sten Abwehrbastion gegen rebellierende Böhmen, protestierende Ungarn und vordringende Türken.

Wien wurde zum Hauptquartier eines welterschütternden Rin­gens. Die Stadt erlebte zum erstenmal die Türkengefahr.

Wiener Heldenzeit Als die Habsburger auch Ungarn für sich beanspruchten, rief der

ungarische Adel unter Johann Zapolya die Türken zu Hilfe — jene im Osten rasch emporgestiegene mohammedanische Großmacht. Vom 22. September bis zum 15. Oktober 1529 stand Sultan Suleiman der Prächtige mit einem gut ausgerüsteten Heer von 120 000 Mann vor

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Wien. Unter Führung von Graf Nikolaus Salm verteidigten 16 000 Söldner und 5000 Bürger die Mauern Wiens so tapfer, daß Suleiman sich zum Abzug gezwungen sah.

Ruhe für die Stadt bedeutete der Abwehrsieg nicht. Denn Un­garn- und Türkenkriege schwelten in die kommenden Jahrhun­derte hinüber und neue Konfliktstoffe hatten sich angehäuft. Re­formation und Gegenreformation schickten sich zur letzten Kraft­probe in Mitteleuropa an. In Wien wurden die Bündnisse ge­schlossen, die dem Katholizismus die Übermacht geben sollten.

Mit dem Aufstand der protestantischen und nationaltschechischen Böhmen beginnt 1618 das verhängnisvolle Geschehen des Dreißig­jährigen Krieges. Im Frühjahr 1619 steht der böhmische Graf Matthias von Thurn mit einer tschechischen Armee vor Wien und belagert die Kaiserresidenz. Erst als die Truppen des Bayernher­zogs Maximilian heranrücken, löst sich die Umklammerung der Stadt. Aber das diplomatische Spiel geht weiter, Kriegslärm, Hungersnöte und Pest greifen in den folgenden Jahrzehnten verheerend in das Leben der Wiener ein.

Man ist heimlich für oder gegen den kaiserlichen Feldherrn Wal­lenstein, für oder gegen die gegenreformatorische Partei am Hofe; verängstigt oder beglückt erlebt man den Aufstieg Wallensteins, seinen Zweikampf mit Gustav Adolf von Schweden und den rasch aufeinanderfolgenden Tod der beiden Kriegshelden. Man atmet auf und wird von neuen Sorgen bedrückt — es ist Krieg, endlose drei­ßig Jahre lang. Fremde Truppen erobern die Stadt, werden von andern abgelöst, und jede Besatzung bringt neue Not und neue Qual.

Erst im Jahre 1648 läuten die Glocken einem halbverhungerten, I verelendeten, herabgekommenen Geschlecht den nicht mehr geglaub­ten Frieden ein. Die Menschen dieser Zeit wissen längst nicht mehr, weshalb ihre Väter vor dreißig Jahren den großen Krieg begonnen haben.

Kaum hat sich die Stadt von den ärgsten Kriegsnöten erholt, da überfällt im Jahre 1679 die Pest erneut die Wiener Bevölkerung.

Während Tausende in den engen Gassen Wiens umfallen und ster­ben, sitzt der Wiener Volkssänger Max Augustin mit seinem Dudel­sack in den Heurigenkneipen und ertränkt seinen Kummer über so viel verlorene Kundschaft. Da er seinen Humor nicht eingebüßt hat, schreibt er den Gassenhauer der Pestzeit „O du lieber Augustin —

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alles ist bin" nieder und erledigt den Rest, indem er den Wein­vorräten der Kneipe „Zum roten Dachl" zuspricht. Spät abends wankt er über den Stephansplatz heimwärts, aber zwischen der Kaiserlichen Hofburg und St. Ulrich übermannt ihn der Geist des Weines und wirft ihn zu Boden. So finden ihn die Pestknechte und laden ihn kurzerhand auf den Totenkarren.

Der Bestimmungsort der Fracht ist das Massengrab. Da aber die Totengräber nicht eher die deckende Erde aufschütten, bevor die Grube nicht mit Pesttoten gefüllt ist, kann Augustin friedlich sei­nen Rausch zwischen den stummen Kameraden ausschlafen. Mit dem ersten Sonnenstrahl wacht er auf, und da es keinen Ausweg aus der Grube gab, finden ihn die Totenknechte zu ihrem nicht ge­ringen Schrecken am Morgen, als sie neue Pestopfer zu Grabe fah­ren. Augustin klettert mit ihrer Hilfe ans Licht des neuen Tages und trollt sich zur nächsten Kneipe. Die Nacht unter den Pestlei­chen hat ihm nicht im mindesten geschadet, und er freut sich noch bis zum Jahre 1705 seines Daseins.

So erlebt er auch jene zweite, schrecklichere Belagerung durch die Türken mit, die in der zweiten Julihälfte 1683 den Ring um Wien geschlossen haben. Kara Mustafa, der ehrgeizige Großwesir des Sultans, übernimmt persönlich die Führung der ungeheueren Streitmacht.

In Wien haben sich die Verteidiger dem Grafen Rüdiger von Star-hemberg unterstellt. Von den 60 000 Bürgern sind viele in die frei­willigen Korps des Bürgermeisters Andreas Liebenberg eingetreten und verstärken die Besatzung hinter den Mauern und Wällen, in den Vorwerken und Schanzen.

Wochenlang tobt der Krieg der Mineure und Sturmtrupps, das Schottenkloster und die ungeschützten Vorstädte gehen in Flammen auf, Hungersnot, Krankheit, Bombardement und die Brände im Kern der Kaiserstadt stellen das Durchhaltevermögen der Menschen auf eine harte Probe.

Nach zwei Monaten endlich, am 12. September, erscheint das Ent­satzheer eines beinahe vereinten Europa unter dem Polenkönig Johann Sobieski. Der linke Flügel des heranrückenden christlichen Heeres unter Karl von Lothringen stößt auf die türkische Haupt­macht; das Zentrum dringt gegen Wien vor, während die Polen über Hüttelsdorf und Dornbach nach Gersthof vorrücken und ins türkische Lager mit seiner ungeheuren Beute gelangen.

Bei den kühnen Vortrupps des Dragonerregiments Kuefstein ist ein blutjunger Obristleutnant, der als erster in Nußdorf einreitet

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und sich mit den nachstürmenden Gefährten sogleich wider die tür­kischen Schanzen wirft. Sein Name ist Prinz Eugen von Savoycn.

Ihn stellt Prinz Louis von Baden nach dem endgültigen Siege am Kahlenberg und der Befreiung Wiens dem Kaiser Leopold vor und sagt: „Dieser junge Mann ist aus dem Holze, aus dem man große Feldherren schnitzt!"

Er sollte recht behalten. Das nun anbrechende Zeitalter Wiens und des Donauraumes wird das des Prinzen Eugen, seiner Siege und seiner Politik sein.

Prinz Eugen von Savoyen Das Kriegsgedröhn folgt nach der Befreiung Wiens den abziehen­

den Völkern nach Ungarn und auf den Balkan. 1686 nehmen die Kaiserlichen Budapest, 1688 steigen die bayerischen Truppen unter dem „blauen Kurfürsten" Max Emanuel über die Wälle Belgrads. Das Kaiserhaus verfügt glücklicherweise in jenen Tagen über eine Anzahl ausgezeichneter Feldherrn, unter denen immer heller der Name Prinz Eugens, des „edlen Ritters", aufstrahlt. 1697 gewinnt Prinz Eugen die Entscheidungsschlacht von Zenta, 1699 folgt der für Österreich triumphale Friede zu Karlowitz.

Nach der Befreiung Ungarns zeichnet sich das künftige Großreich Österreich-Ungarn ab. Durch das bevorstehende Aussterben der spanischen Habsburger rückt zudem die Wahrscheinlichkeit näher, daß Österreich auch die spanischen Besitzungen gewinnt und zur Weltmacht wird.

Wien steht unter dem Eindruck des großen Feldherrn und Staats­mannes Prinz Eugen von Savoyen, den der Himmel gerade im rech­ten Augenblick Österreich geschenkt hat. In ihm, den das Volk flü­sternd den „heimlichen Kaiser des Reiches" nennt, erwächst der Wienerstadt neben den Kaisern der größte Kulturförderer und Bau­herr der Zeit.

Denn dieser hochbegabte, unermüdliche und einfallsreiche Savoyer, der zum Österreicher und Wiener geworden ist, gefällt sich nicht nur als Auftraggeber und Finanzier seiner Bauten, er wählt auch die Plätze aus, an denen sie stehen sollen, und er regt die Baupläne an, die von den bedeutendsten Architekten des anhebenden 18. Jahrhunderts in die Wirklichkeit übersetzt werden.

Der neue Kunststil des Barock, der von Italien ausgegangen ist, hat bisher nur Spanien, Frankreich und die Niederlande erfaßt, erst lange nach dem Dreißigjährigen Krieg greift der Hochbarock auch auf die deutschen Länder über. Der Barock wird der Stil der „Heldenzeit".

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Der schönste Bibliotheksraum der Welt: Haviptteil der Wiener Natio­nalbibliothek, im österreichischen Barock entworfen von J. B. Fischer von Erlach d. Älteren, ausgebaut von seinem Sohn J. E. Fischer von

Erlach (seit 1723).

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Bewegung, Hochstimmung, überschäumende Pracht, Glanz und Helligkeit, ausschwingende Formen kennzeichnen diesen Kunststil. Der ungeheure Lebens- und Herrschaftsanspruch der Barockmen­schen — vornehmlich der Herrschenden — drückt sich im Bauwillen des Jahrhunderts aus.

Der „Sonnenkönig" Ludwig XIV. hat in dem neuen Stil sein Prunkschloß Versailles gebaut und damit allen Fürsten Europas den Schlaf geraubt. Der Kaiser in Wien ist gewillt, dieses Versailles zu übertreffen. So läßt er 1691 durch seinen Hofarchitekten Johann Bernhard Fischer von Erlach für eine Anhöhe vor Wien, auf der heute das Ruhmestempelchen, die „Gloriette", steht, eine gigan­tische Schloßanlage entwerfen, die sich in Terrassen zum Wienufer herabsenkt. Das Schloß soll dem -baulichen Vorbild des Versailler Schlosses folgen, es jedoch an Großräumigkeit und Ausstattung weit in den Schatten stellen.

Die kaiserliche Majestät denkt an eine fast hundertachsige Anlage des Hauptgebäudes mit ausladenden Flügelbauten. Den Mittelbau soll eine Kuppel krönen und dem ganzen sollen nach dem Vor­bild von St. Peter in Rom weitausgreifende Säulenhallen vorge­lagert werden. Unter dem Hauptportal des Schlosses soll eine bron­zene Viergespanngruppe stehen, die Kaiser Joseph I. zeigt, wie er als Triumphator und wahrer „Sonnenkönig" die Rosse lenkt. St. Peter und Versailles — beides würden die Symbole sein für den doppelten Anspruch der habsburgischen Kaiser auf die weltliche und geistliche Führerschaft im Abendland. Freilich gelangt dieser allzu­hoch gespannte Plan, da die notwendigen Mittel nicht aufgebracht werden können, nicht in den gedachten Maßen zur Ausführung, aber man baut drei Generationen lang weiter an Schönbrunn und schafft endlich das Kaiserschloß am Ufer der Wien mit seinen großartigen Parkanlagen (vgl. Abb. Seite 5).

Auch der Sieger der Türkenkriege, Prinz Eugen, hat um diese Zeit bereits in Wien zu bauen begonnen. Noch vor 1700 entsteht das wundervolle Stadtpalais in der Himmelspfortengasse, ebenfalls von Fischer von .Erlach entworfen. In der Stadt errichten die Bürger zur gleichen Zeit die barock geschwungene, reich mit Figuren ge­schmückte Pestsäule am Graben als Dank für das Erlöschen der Seuche von 1679, und wieder ist es Fischer von Erlach, der die Zeich­nungen liefert. 1713 hat Kaiser Karl VI. anläßlich der wiederauf­flammenden Pest eine große Kirche gelobt, deren Bau Fischer von Erlach beginnt und 1737 vollendet. Es ist die äußerlich an klassische Vorbilder anknüpfende, innen jedoch mit aller Pracht des Hoch­barock erblühende Kirche Karl Borromäus (vgl. Umschlagseite 2)

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Der gleiche Architekt führt eine Reihe von Adelspalästen auf, von denen das am Rande des Festungsvorfeldes gelegene, einst von freien Rasenflächen umgebene Palais Trautsohn hervorragt. Der jün­gere Fischer von Erlach vollendet den schönsten Bibliothekssaal der Welt in der von ihm geschaffenen Nationalbibliothek, und der Fresko­maler Daniel Gran schmückt den Bau mit herrlichen Deckenge­mälden (vgl. Abb. Seite 17).

Prinz Eugen ist inzwischen reich und mächtig genug geworden, um sich ein wahres Königsschloß, das Belvedere, vor den Toren Wiens zu erbauen. Von 1721 an wird dieses leicht und spielerisch wirkende Lustschloß errichtet. Die reichgegliederten Kupferdächer, der hervortretende Mittelteil, die Kuppeln an den vier Eckbauten und der vielfältige Barockschmuck geben der Anlage eine beglük-kend malerische Note, die durch den Rahmen der Rasenflächen, Blu­menterrassen, geschwungenen Teiche und kühnen Auffahrten noch verstärkt wird. Diesmal ist der andere der großen Barockbaumei­ster Wiens, Lukas von Hildebrandt, der Schöpfer.

Feierlichkeit und Würde sind im Wiener Barock mit vielen mensch­lichen Zügen verbunden; so großartig und streng manche dieser Bauten von außen wirken, so warm, lichterfüllt und persönlich atmen sie im Innern.

Dieses wiedererwachte Wien fühlt sich als Weltstadt. Die Jesuiten haben begonnen, in großartigen Theateraufführungen den Sieg der Kirche zu feiern; jetzt verpflichtet der kaiserliche Hof eine Reihe von bedeutenden italienischen Theaterleuten, um durch Aufführun­gen barocker Opern und Allegorien auch den Triumph der weltlichen Macht zu begehen. Ort der Aufführungen ist entweder der Innere Burghof, in den man Tribünen und große Maschinerien für die Kulissen und den Szenenwechsel eingebaut hat, oder aber man versammelt sich auf der „Cortina", wo Bühne und Zuschauerraum des Komödienhauses Tausende von Personen fassen.

Pferdedressuren, Turniere, Prunkaufzüge und Balletts mit vielen hundert Mitwirkenden lassen selbst die verwöhnten fremden Gäste aufschauen und dem Satz zustimmen, den Kaiser Leopold zu Recht ausspricht: „a seculis (von Anbeginn an) ist dergleichen niemalen gesehen worden!"

Doch Theaterprunk, Baulust und höfische Pracht enden jäh, als beim Regierungsantritt Maria Theresias 1740 die Monarchie gegen Bayern, Ungarn, Franzosen und die hartnäckigen Preußen aber­mals um ihren Bestand kämpfen muß.

Die große Barockoper ist dahin, Maria Theresia hat andere Sor­gen. Erst als die großen Kämpfe mit Preußen zu Ende gegangen

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sind, beginnt Wien wieder zu singen und zu klingen. 1762 wird hier Christoph Willibald Glucks erste große Reformoper „Orpheus und Eurydike" uraufgeführt, die auf äußeren Prunk verzichtet, um die innere seelische Handlung hervortreten zu lassen. Zurückhal­tender sind auch die baukünstlerischen Anstrengungen jener Spät­zeit. Sie verwendet ihre Talente mehr auf Innenausstattung und Kleinkunst. So entstehen unter der Kaiserin einige der wunder­vollsten Innenräume in Schönbrunn. Ziervolle Uhren, formschöne Vasen, eingelegte Schränke, Tische und Wandverkleidungen, kristal­lene Leuchtergehänge, zarte Stuckarbeiten und wundervolle, pastell-farbene Gemälde steuert die Zeit Maria Theresias zur Fülle der Wiener Kultur bei. Auch der geistige Fortschritt des 18. Jahrhunderts wird spürbar. Gerard van Swieten, der Leibarzt Maria Theresias, erneuert den Studienpian der Wiener Universität; Joseph von Son­nenfels wirkt in Wien als Professor der Staatswissenschaften und wird zum Vorkämpfer eines humaneren Strafrechtes. Heeres-, Ver-waltungs- und Finanzwesen und die Volkserziehung erneuern sich, und aus den Tiefen des Volkes bricht unablässig das Licht neuer Talente. Von überall her strebt man in dieser Zeit nach Wien, dem Zentrum eines vielfältigen kulturellen Lebens.

Durch Vermittlung einiger Hofbeamter kommen im Jahr 1762 kleine Leute aus Salzburg in die Wiener Hofburg. Ein gewisser Mu­sikus Leopold Mozart ist es, der seine beiden Wunderkinder den Majestäten in einem Flauskonzert vorstellt.

Der winzige, kaum sechsjährige „Meister Wolferl" spielt aufs ar­tigste auf dem Clavicembalo, springt alsdann vom Hocker und der alten Kaiserin auf den Schoß, um sie herzhaft abzuküssen. Der kleine Schelm ist überhaupt von erfrischender Ungeniertheit. Dem ihn begleitenden Hofpianisten, Herrn Wagenseil, ruft er zu: „Gut hat Ers gemacht!", und der hochaufgeschossenen rotblonden Prinzes­sin Marie Antoinette, die dabeisteht, sagt er, indem er ihre Hand ergreift: „Sie sind brav! Sie werd' ich heiraten!"

Damals ahnt Mozart noch nicht, daß er kaum dreißig Jahre später im gleichen Wien, in der alten Rauhensteingasse, verlassen und bei­nahe vergessen sterben und daß man ihn bei Sturm und Schnee am Rande des Friedhofs St. Marx verscharren wird, so daß die Nach­welt nicht einmal sein Grab findet.

Aber auch die zarte, hübsche Marie Antoinette ahnt noch nicht, daß sie dreißig Jahre später im Gefängnis von Paris auf Hochgericht und schändlichen Tod warten wird.

Wieder zieht eine dunkle Zeit herauf . . .

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Kanonendonner und unsterbliche Klänge Das Schicksal naht dieses Mal von Westen, in den blitzeschweren

Gewitterwolken der Französischen Revolution. Erschreckt starren die Wiener nach Paris, wo die Tochter Maria

Theresias, die Königin Frankreichs, 1793 das Haupt aufs Schafott legt und wo die revolutionierenden Massen den Kronen ganz Euro­pas den Kampf angesagt haben. Bald schon bedroht der Dämon der Revolution in Gestalt Bonapartes auch den Lebensraum des Habs­burgerreiches. Zum erstenmal sehen sich die Wiener 1797 den Volks­armeen einer neuen Zeit gegenüber, als Bonaparte das österrei­chische Heer in Oberitalien niederwirft und sich rasch der Straße nä­hert, die nach Wien führt. Noch einmal vermögen die österreichischen Diplomaten den Eroberer durch Verhandlungen vom Äußersten zu­rückzuhalten — es sind schwere Verhandlungen: Jähzornig schleu­dert Bonaparte ein kostbares Service zu Boden und schreit dem Be­vollmächtigten Seiner Kaiserlichen Majestät zu: „Noch vor Ende Herbst wird Ihr Reich wie dieses Porzellan in Scherben liegen!"

Paris ist das neue europäische Machtzentrum geworden. Eine schreckliche Faust hat alle holden Illusionen zerrissen. Das Gefühl des Bedrohtseins inmitten der überkommenen Wiener Pracht und Kaisermacht schwingt auch in Mozarts letztem, großem Opernwerk mit, im „Don Giovanni".

Napoleon kehrt als gepanzerter Kriegsgott wieder. Nach wuchti­gen Schlägen rückt die französische Armee am 13. November 1805 in Wien ein, der Kaiser der neuen Zeit hält Hof in Schloß Schön­brunn.

Während Schlag um Schlag Österreichs Reichsgebilde zusammen­stürzt, erobert sich der Genius Beethoven in Wien ein anderes, höheres Reich, das alle Zeiten überdauert: das unangreifbare und unzerstör­bare Reich der Musik.

Kündigte sich in Mozarts Oper „Don Giovanni" nahendes Unheil an, so erwartet Ludwig van Beethoven, der seit 1794 in Wien eine zweite Heimat gefunden hat, eine schönere Zeit. Er, der sich als freier Genius fühlt, glaubt, daß die Überwindung der Revolution durch Napoleon menschlichere und gerechtere Tage heraufführen werde. Als aber das Jahr 1804 die Kaiserkrönung Napoleons bringt, weiß er, daß der Korse die Idee der Freiheit verraten hat. Beethoven hatte seine D-dur-Symphonie dem Befreier Napoleon gewidmet,

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Wiener „Musiksalon" des 18. Jahrhunderts. Hier wohnte Mozart, hier besuchte ihn der berühmte Haydn, hier bat Ludwig van Beethoven den Dreißigjährigen um Cembalo-Unterricht. In diesem Raum ent­

stand Mozarts „Hochzeit' des Figaro".

jetzt, da er die Freiheit mit Füßen tritt, zerreißt der Komponist das Widmungsblatt und schreibt „Eroica, dem Andenken eines Helden" darüber. Auch Beethoven empfindet nun das Verhängnis der Zeit. Seine C-moll-Symphonie von 1807 wird nicht umsonst „Schicksals­symphonie" genannt, sie stellt den vergeblichen Kampf des Men­schen wider unheilvolle Gewalten dar.

Neben Beethoven lebt in Wien immer noch der greise Senior der großen Komponisten, Joseph Haydn, der nach einem Leben voller Ruhm, nach Vollendung glanzvoller Symphonien, Oratorien, Opern, Sonaten und Konzerten in sein Haus im Wiener Vorort Gumpendorf zurückgekehrt ist. Er schreibt als Ausdruck seiner Treue zur Heimat und zum Herrscherhaus in jenen Tagen sein großes „Kaiser­quartett".

Wenige Jahre nach der ersten Besetzung Wiens durch die Franzo­sen kehren die Truppen Napoleons wieder. Vergeblich ist alles Auf­bäumen, am 10. Mai 1809 rollen die Räder der Flecreswagen die Straßen vom Wiener Wald herab, Geschützfeuer fällt auf die Vor-

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Städte und die veralteten Festungswerke Wiens. Auch durch Gum-pendorf traben die Rosse der französischen Kavallerie.

Die Legende erzählt, daß sich der todkranke, siebenundsiebzig-jährige Haydn während des Einmarsches der Franzosen ans Clavi-ccmbalo geschleppt habe, um mit letzter Kraft und unter Tränen sein unsterbliches: „Gott erhalte Franz den Kaiser" zu spielen. We­nige Tage später schließt er für immer die Augen.

Der Geist der Musik, der in den stürmischen und spannungsgela­denen Jahren sich Wien zur Heimstatt erkoren hat, lebt erneut auf, als sich die tiefste Niederlage in Sieg, die Demütigung in neue Reichsherrlichkeit, das verlorene deutsche Kaisertum in das neue österreichische Kaisertum gewandelt hat.

Zeitgenosse Beethovens ist Franz Schubert, der romantische Fort­führer der klassischen Symphonik, der Schöpfer herrlicher lyrischer Lieder. Später kommt Johannes Brahms in die Donaustadt. Sein Gegenspieler Anton Brückner, der die Kunst der Symphonie fort­führt, wird 1867 Hof Organist und Professor in Wien, und der Mäh­rer Gustav Mahler führt die Entwicklung zur äußerst möglichen Grenze fort. Als die Grenzen erreicht sind und eine völlige Neube­sinnung und ein kühner Wandel notwendig werden, ist es wieder der Geist Wiens, der die Musik bereit macht für ein neues Jahrhun­dert: Es ist der Wiener Komponist Arnold Schönberg, dem die Welt diesen Wandel verdankt.

In der gleichen Zeit, in der sich die große Musik in Wien aufs höchste entfaltet, singen, spielen und tanzen die Wiener nach den Klängen der leichteren Muse und jubeln Johann Strauß, Vater und Sohn, Joseph Lanner, Carl Michael Ziehrer und dem ganzen Chor der Operettenkomponisten eines Jahrhunderts zu: einem Franz von Suppe, Emmerich Kaiman, Millöcker, Karl Zeller, Richard Heuber-ger, Joseph Hellmesberger, einem Franz Lehar, Leo Fall und Oscar Strauß.

Wien ist die Welthauptstadt der Musik geworden.

Der Kongreß tanzt Nach dem Sieg über Napoleon vereinbaren die europäischen Sie­

germächte, daß ihre führenden Männer sich im September 1814 zu einem Kongreß in Wien versammeln. Wien war Herz und Haupt des Widerstandes gegen die Gewaltherrschaft der Revolution und die Eroberungspolitik Napoleons gewesen, jetzt soll Wien der Ort sein, wo das neue Europa einer besseren Ordnung entgegengeführt wird.

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Die Stadt hat um diese Zeit etwa 200 000 Einwohner, Krieg und Notzeiten haben ihr schwere Schäden zugefügt. Noch liegen zwischen dem Kärtnertor und der Elendbastei die von den abziehenden fran­zösischen Truppen gesprengten Befestigungswerke in den Gräben. Es ist keine dreieinhalb Jahre her, daß Österreich den Staatsbank­rott erlebt hat. Nun regen sich die Lebensgeister wieder. Man darf sich endlich wieder als Mittelpunkt der Weltpolitik und der Weltge­schichte fühlen. Die Kongreßstadt wird zum „internationalen Par­kett". Aber leider stellt sich heraus, daß auf diesem Parkett •— nach einem Wort des Grafen de Ligne — lieber getanzt, als diplo­matisch gearbeitet wird. Wien schmückt sich mit wehenden Fahnen, mit den Blumen des Herbstes und Girlanden an den Einzugsstra­ßen; die Wiener Damen, die Bürgersfrauen bis herab zu den ,,Wa-schermadeln", stolzieren in ihrem schönsten Putz: mit Schutenhut, langen, fließenden Kleidern und flatternden Bändern. Die Kavaliere, Hofherren und Offiziere tragen ihre bunten Uniformen und Ordens­sterne spazieren. Die Wege sind angefüllt mit stolzen Reitern aller Nationen. Kutschen mit seltsam livrierten Lakaien und nie gesehe­nen Wappenschildern rollen über die Auffahrten der Paläste, Hotels und Schlösser, hinter deren kerzenerleuchteten Fenstern um die Zukunft der europäischen Völker und Staaten gewürfelt wird.

Der Kongreß wird zu einer Aufeinanderfolge von Festen, Bällen und Empfängen. Fürst Metternich, der österreichische Staatskanzler, veranstaltet allein neunzehn große Staatsempfänge. In Schönbrunn, im Belvedere, in Schloß Laxenburg oder in der Hofburg lärmen und lachen die Diplomaten, ärgern sich die internationalen Beobachter, schachert das höfische Gefolge, rühmen sich die siegreichen Generäle und intrigieren die Fürsten wider einander. Es ist ein großer Rausch, ein Schwelgen im Siegestaumel. Und nur wenige denken an die Härte der Zeit, an das Elend der vom Krieg schwer getroffenen Länder und die Unzahl ungelöster Probleme.

Das Wiener Volk selber freut sich an den Theateraufführungen oder tummelt sich im Pratergarten, wenn es nicht dichtgedrängt seine 'Neugierde- bei der Auffahrt der hohen Herrschaften befrie­digt.

Für nur wenige Wochen ist der Kongreß geplant — neun Monate dauert er an; denn niemand will sich von dem bezaubernden, fe­stesfrohen Wien losreißen. Ein spöttisches Flugblatt der Zeit, das die versammelten Häupter Europas darstellt, trägt die bezeichnende Unterschrift: „Dei König von Bayern trinkt für alle, der König von Dänemark spricht für alle, der König von Württemberg ißt für alle, der Zar liebt für alle, Kaiser Franz zahlt für alle, der König von

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Wie der „Steffi" Wahrzeichen des mittelalterlichen Wiens ist, so ist das „Riesenrad" im Prater-Park das Wahrzeichen des industriell emporstrebenden Wien des 19. Jahrhunderts. Das Riesenrad mit seinen waggongroßen Kabinen wurde zur Wiener Weltausstellung 1873

errichtet.

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Preußen denkt für alle und Talleyrand (der Vertreter des besieg­ten Frankreich) beschwindelt alle!"

Die politischen Ergebnisse des Kongresses sind dementsprechend mager und fragwürdig. Man erzählt in Wien die hübsch erfundene Anekdote, wie die gekrönten Häupter Europas samt ihren Ministem nachdenklich und wieder einmal tief zerstritten um den Verhand­lungstisch sitzen, weil sie keine gemeinsame Lösung für die Vertei­lung von Land und Leuten finden können. Da schlägt der öster­reichische Kaiser Franz jäh den Atlas zu und ruft triumphierend: „Ah! I* hab's!"

Alles atmet erleichtert auf, die Konferenz scheint gerettet, die neuen Grenzen Europas abgesteckt. Man bestürmt die Majestät, die Patentlösung preiszugeben, aber Kaiser Franz staunt und sagt:

„Was denn? Die Flieg'n hab' i — sonst nix!" Als man in Wien auseinandergeht, ist die Heilige Allianz — ein

Bündnis aller rückschrittlichen Gewalten und Mächte zur Aufrechter­haltung überlebter Formen — gegründet, ist ein deutscher Bundes­staat aus achtunddreißig lose zusammengekitteten Staaten geschaf­fen, die drängendsten Probleme Europas aber sind ungelöst, so daß für Konfliktstoffe, Revolutionen, kriegerische Verwicklungen und Katastrophen im kommenden Jahrhundert gesorgt ist. Vergebens warten die Völker, die die Last des Befreiungskampfes gegen den Diktator Napoleon getragen haben, auf die ihnen versprochenen staatsbürgerlichen Freiheiten.

Lanner und Johann Strauß, die während des Kongresses ihre Walzer spielten, haben entschieden mehr für Europa getan, als alle Anmaßung der Diplomaten und alle „Weisheit" der Fürsten.

Dem Kongreß folgt in Europa die „Ära Metternich", die mit Strenge darauf achtet, daß alles beim Alten bleibt. Auch in Wien ändern sich die Dinge nur wenig. Der oberste Wiener Polizeichef jener Tage ist Graf Sedlnitzky, ein engherziger, von ständigem po­litischem Mißtrauen erfüllter Mann, der sich ein System von Spit­zeln und geheimen politischen Zuträgern schafft. Da Kaiser Franz lieber gehorsame Untertanen als vorwärtsstrebende Gelehrte um sich hat, erstarrt auch das geistige Leben.

Man flüchtet in behagliche Genußfreudigkeit und bürgerliches Ver­gnügen. Die Zeit des „Biedermeier" bricht an, Wien wird nach einem Wort des Dichters Nestroy zur „Stadt der Phäaken", zur Stadt der sorglosen Genießer. Der Schriftsteller Bauernfeind notiert:

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„Was Regierung, was Verwaltung? Wiener Schlagwort: Unterhal­tung!"

Das kulturelle Leben zieht sich in die Häuslichkeit oder in die zahlreichen Theater zurück. Die Hausmusik, das gemeinsame Musi­zieren im kleinen Kreise, wird Mode. Die Vornehmeren und An­spruchsvolleren besuchen die „Burg" — das Burgtheater — wo auch die Werke des großen einheimischen Dichters Grillparzer aufgeführt werden. Das im klassizistischen Stil erbaute und am Michaelerplatz gelegene Burgtheater, das Joseph II. 1776 zum Nationaltheater er­hoben hatte, sieht viele Triumphe der dramatischen Kunst: Schrey-vogel und später der Dichter-Intendant Laube erheben es zu einem der ersten Theater der damaligen Welt (vgl. Abb. Seite 12).

Aber auch die kleinen Leute finden, was ihrem Geschmack ent­spricht. Da bietet das Carlstheater nach Laubes Wort „Vergnügen ohne Ende"; das Theaterchen ist 1781 in der Leopoldstadt erbaut worden und wird 1847 durch einen Neubau ersetzt. In der Traut­sohngasse findet man das Theater der Josephsvorstadt. Diese Vor­stadtunternehmungen spielen Werke der leichtgeschürzten Muse: Hier kommen die Volkstheaterdichter zu Wort, unter denen der Stückeschreiber und Theaterdirektor Ferdinand Raimund mit seinen Volkspossen, Märchenspielen und ernst-heiteren Schauspielen die größten Wirkungen erzielt. 1822 tritt am Kärtnertortheater der Opernsänger Johann Nestroy in Mozarts „Zauberflöte" auf. Er wird der zweite und noch berühmtere Dichter des Wiener Volkstheaters der Biedermeierzeit, der Schöpfer unsterblicher Komödien und Zau­berspiele.

Oder das Volk läuft zum Meister Strauß, dem „österreichischen Napoleon", der beim „Sperl" in der Leopoldstadt oder beim „Dom­mayer" in Hietzing spielt. Es ist eine Zeit, in der auch die vielge­lobten, behaglichen Wiener Kaffeehäuser ihre Blüte erleben; hier sitzt man rauchend, plaudernd, Billard spielend und Zeitungen lesend beisammen, schimpft auf das „System", freut sich und spricht von Musik, Vergnügen und Kunst.

Das „Biedermeier" schafft sich auch im Wohnstil jene Atmosphäre, die zu Verweilen, Beschaulichkeit und Heimseligkeit auffordert. Die Maler der Wiener Schule — ein Fendi, Danhauser oder Waldmüller — überliefern solche Zeitbilder. Überall lebt ein heiteres Künstler­völkchen, das am Sonntag mit dem Wagen hinaus ins Grüne zu Picknick und heiterem Getändel fährt.

Und doch ist auch das nur die eine Seite des damaligen Wien. Denn hinter der romantisch-bürgerlichen Fassade lebt viel echtes

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Elend, wird viel seelisches Leid durchlitten. Als man Grillparzer nach dem Mißerfolg seines Schauspiels „Weh dem, der lügt" fragt, wie es ihm gehe, antwortet er düster: ,,So lausig wie möglich!". Schubert siecht schließlich armselig, hungernd und von der Tuberkulose ge­zeichnet dahin, der junge Künstler Amerling malt lange Zeit Por­träts für zwei Gulden das Stück, um leben zu können, und der Dichter Athanasius Grün schreibt stachelige Verse wider den Geist eines Bürgertums, in dem nur gilt, wer Geld, Rang oder Titel hat. Und der Wiener Schriftsteller Hermann Bahr schreibt: „Wer Wien gut kennen will, muß wissen, wie Beethoven dort gestorben ist. . ."

Es ist das singende, klingende, weinende, flüsternde und seufzende Wien des Vormärz, der Ära Metternich, des Polizeistaates. In den Gefängnissen der Festung „Spielberg" von Brunn verküm­mern viele, die kühn für die Freiheit eingetreten sind, hier ver­elenden die Fortschrittlichen und Unbequemen, die ihre Gedanken zu laut in die Öffentlichkeit getragen haben.

Barrikaden am Ballhausplatz Im Sommer 1830 horchen die freiheitlich gesinnten Kreise auf,

als die demokratische Pariser Julirevolution die schwüle Stille des Metternichschen Systems aufrührt. Doch noch sind die Kräfte der alten Zeit stark genug, solche Krisen zu überwinden. Es dauert abermals fast zwei Jahrzehnte, bis die Dinge auch in Wien in Be­wegung geraten.

Erst die Revolution vom 24. Februar 1848, die dem französischen Bürgerkönigtum ein jähes Ende bereitet, bringt die lang ange­staute Spannung zur Entladung. Zwei Wogen überstürzen sich nun: Der Welle der bürgerlich-freiheitlichen und demokratischen Bewe­gung folgt die Brandung sozialer Unruhen, die von der Arbeiter­schaft des anbrechenden Industriezeitalters ausgeht.

In Wien treten am 13. März die österreichischen Stände zusam­men. Bürgerwehr und Studentenschaft bewaffnen sich und fordern ein Ende des polizeistaatlichen Systems. In der Nähe des Wiener „Landhauses" fließt Blut. Die Arbeiterschaft der Vororte, der man den Marsch in die mauerumgürtete Stadt verwehrt, macht sich Luft. Fa­brikgebäude gehen in Flammen auf.

In der Herrengasse stauen sich die bewaffneten Demonstrations­züge. Die kaiserliche Hofburg ist vom Militär abgeriegelt, die Furcht vor der Übertragung der Pariser Ereignisse auf Wien erfaßt die Machthabenden.

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Die Wiener erzwingen zuerst die Aufhebung der Zensur und am 15. März 1848 den Rücktritt des verhaßten Metternich. Die neue Regierung verspricht eine Verfassung. Als sie verzögert wird, fül­len sich die Gassen und Straßen Wiens erneut mit bewaffnetem Volk: Bürger, Nationalgardisten und Studenten reihen sich in die Kolonnen der Arbeiter, die unter schwarz-rot-goldenen Bannern mit dem Ruf „Ordnung und Sicherheit" zur Innenstadt ziehen. Als es zu Barrikadenkämpfen kommt, erhalten die regierungstreuen Regi­menter den Rückzugsbefehl. Einem Arbeiterkomitee gelingt es, den Zehnstundentag, Lohnerhöhung und die Erlaubnis zur Gründung von Arbeitervereinen durchzusetzen; die Bauernbefreiung wird erreicht, man spricht erneut von Verfassung, Parlament und Reichseinheit. Der verängstigte kaiserliche Hof verläßt Wien und begibt sich nach Innsbruck. Von Stephansdom und Hofburg wehen die Fahnen der Freiheit.

In der ersten Julihälfte versammelt sich in der Wiener Hofreit­schule der verfassunggebende Reichstag, der am 22. durch den Reichsverweser Erzherzog Johann feierlich eröffnet wird. Die Ver­sammlung zählt 383 Deputierte, darunter zum erstenmal 94 Bauern. Auch der Frankfurter Bundestag in der Paulskirche hat mit Robert Blum einen Vertreter entsandt. Die Revolution scheint überall ge­siegt zu haben.

Als aber die revolutionären Ungarn im September den kaiserli­chen Kommissar Graf Lamberg auf der Budapester Brücke nie­dermachen und der Hof den Ausmarsch der Wiener Regimenter nach Ungarn befiehlt, kommt es abermals zu Unruhen. Die Wiener ver­hindern den Auszug der Truppen. Wütende Volkshaufen dringen ins Kriegsministerium ein, bemächtigen sich der Person des Ministers Latour und erhängen ihn vor seinem Amtssitz.

Regierungstruppen ziehen gegen Wien. Kaiser Ferdinand läßt die rebellische Hauptstadt zur Übergabe auffordern. Die außer Rand und Band geratenen Wiener nehmen den Kampf mit den regulären Truppen auf.

Am 28. Oktober 1848 erstürmen die Truppen der Regierung die Marxer Befestigungen, die von Bürgerwehr, Studenten und Arbei­tern verteidigt werden. Tags darauf rücken die Truppen in die aus­gestorbene Stadt. Mitleidslos setzt die Abrechnung ein. Tagelang knattern die Salven der Exekutionskommandos, unter den Gerichte­ten ist auch der Frankfurter Delegierte Robert Blum.

Auf den unbeliebten und starren Kaiser Ferdinand folgt der jugendliche Franz Joseph, der im März 1849 in. Wien eine Verfas-

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sung für die Gesamtmonarchie erläßt und zugleich den Reichstag auflöst. Die Revolution ist gescheitert. Kaiser Franz Joseph ist der letzte große Kaiser in Wien. Als er die Augen schließt, endet eine sechshundertjährige Zeit habsburgischer Reichsherrlichkeit.

Ausstrahlung in alle Welt Am 20. Dezember 1857 erscheint ein kaiserlicher Erlaß über die

Schleifung der Befestigungen Wiens. Nach dem Willen des Hofes soll an Stelle des aufgelassenen Festungsgürtels — ähnlich wie im gleich­zeitigen Paris, wo Napoleon III. die Boulevards anlegen läßt — eine von breiten Alleen eingefaßte Prachtstraße entstehen und mit präch­tigen Bauten geschmückt werden. Dieser Ring umfaßt im Halbkreis das alte Wien von der Donau wieder zur Donau.

Als nächstes wird der Bau eines neuen Opernhauses begonnen, das 1861—69 durch die beiden Architekten Eduard van der Null und August Siccard von Siccardsburg errichtet wird. Gegenüber der Oper baut der Däne Theophil Hansen den Heinrichshof. Der gleiche Baumeister schafft die Akademie der bildeten Künste, die Börse, das Parlament und das Musikvereinshaus. Ein Wiener Bau­meister, Heinrich Ferstl, schmückt die Ringstraße durch das groß­zügige Universitätsgebäude und die Votivkirche — in jenem an alte Formen sich anlehnenden Mischstil, wie er für die ganze Ringstraße eigentümlich ist. Auch das neue Rathaus, 1872—1883 im neugotischen Stil aufgeführt, ist ein Beispiel für diesen Nachahmungsstil. Die Krönung des neuen Wien aber soll die „Neue Hofburg" mit einem ihr vorgelagerten, gewaltigen Forum, dem Heldenplatz, werden. Diese Aufgabe löst der nach Wien berufene Hamburger Architekt Gottfried Semper mit seinem Mitarbeiter Karl von Hasenauer. 1874 bis 1888 wird das neue Burgtheater gebaut.

Dieses neue, von Industrie- und Arbeitervierteln umgebene Wien ruft 1873 die Nationen der Welt zur Großen Weltausstellung, als deren Hauptanziehungspunkt das Riesenrad im Prater geschaffen wird.

Berühmt ist in. der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die me­dizinische Fakultät der Wiener Universität. Sie setzt große Tradi­tionen fort. Die Namen der böhmischen Professoren Karl Roki­tansky und Joseph Skoda leuchten als helle Sterne am Himmel des medizinischen Fortschritts. Von allen Seiten strömen junge Medizi­ner in das Mekka der Arzneikunde an der Donau. So kommt auch der große Theodor Billroth von Rügen nach Wien und wird zu einem der bewundertsten Chirurgen seiner Zeit. Viele andere be­deutende Männer folgen ihm. Weltberühmtheit erlangen der „See-

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lenarzt" Richard Krafft-Ebbing und Professor Julius Wagner-Jau-regg, der Vorstand der Wiener Nervenklinik und Nobelpreisträger. Alle überstrahlt an Wirkung und Ruhm der Wiener Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, der Erforschung geheimer See­lenvorgänge, der von 1885 bis 1938 an der Universität lehrt.

Gleichzeitig strahlt der Glanz der Wiener Oper weit über Öster­reich und Wien hinaus, das Burgtheater wird zu einem Begriff für die Welt. Die Literatur glänzt nach dem Tode Grillparzers und Friedrich Hebbels, der in Wien seine zweite Heimat gefunden hat, mit Namen wie Stifter, Halm, Anzengruber, Ebner-Eschenbach und Peter Rosegger. Hermann Bahr lebt in der Stadt und der große Hugo von Hofmannsthal gehört dem Dichterkreis der „Wiener Mo­derne" an, ebenso wie der Dichter Rainer Maria Rilke. Arthur Schnitzler feiert Triumphe als Bühnenautor, auch die Namen Werfel und Stefan Zweig verknüpfen sich mit Wien. Fünf Wochen vor Aus­bruch des Ersten Weltkrieges stirbt in Wien Bertha von Suttner, Nobelpreisträgerin und Verfasserin des warnenden Buches „Die Waffen nieder!"

Weder Wien noch die Welt haben auf sie gehört. 1914 endet alles in Krieg, Mord und Zerstörung.

Das neue Wien Der Rest ist mit dem gesamteuropäischen Schicksal verknüpft, das

hier in Wien besonders tragische Züge trägt. Als das Ungewitter der Selbstzerstörung Europas verübergezogen

ist und der Friedensvertrag von St. Germain die Donaumonarchie in viele Teile zerschlägt, erwacht die alte Kaiserstadt wie aus einem bösen Alptraum. Die Hauptstadt eines Vielvölkerstaates ist plötzlich ein Haupt ohne Körper. Von den übriggebliebenen sieben Millionen Österreichern leben zwei Millionen in Wien, das zu groß ist für das amputierte Land.

Die junge Republik hungert und friert, alle Krisen wirken sich in der Hauptstadt besonders schwer aus. Wien geht in eine graue und freudlose Ära hinüber. Zwischen den beiden Weltkriegen wird sein Geschick bestimmt durch Parteienzwist, Hungerdemonstrationen der Industriearbeiterschaft, Unruhen in den Proletariervierteln und durch nationalsozialistische und kommunistische Aufstandsversuche. Das verzweifelte Wien jubelt deshalb im Jahre 1938 auf dem Hel­denplatz der Vereinigung mit dem größeren Deutschland zu. Noch ahnt es nicht, wie sein neuer Herr sein wird. Nur einige Betroffene

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wissen, wem sie ausgeliefert sind. Viele der Besten gehen ins Exil. Adolf Hitler zieht in die Neue Hofburg ein.

Ein Jahr später führt er den Krieg herauf — den Zweiten Welt­krieg.

Gegen Ende dieses Völkerringens wird Wien zur umkämpften Frontstadt. Zerbombt, zerschossen, aus tausend Wunden blutend, liegt die gequälte Stadt vor der einrückenden Roten Armee. Wie Berlin, seine einstige große Konkurrentin, wird Wien von den Siegern in vier Sektoren zerrissen. Es ist die Zeit, wie sie in dem Film „Der Dritte Mann" geschildert wird. Wien wird zum Spielfeld von Schmugglern, Spionen und Agenten.

*

Als dann der Staatsvertrag von 1955 endlich die Befreiung bringt, erhebt sich die Stadt wie ein Phönix aus der Asche.

Wien hat viele Stürme erlebt: die Einfälle der Markomannen, Hunnen, Awaren, Ungarn, Türken und der Napoleonischen Trup­pen — es hat sie alle überlebt. Es überlebte auch Adolf Hitler und Stalin.

Die abgeklärte Weisheit des Lebens, die dem Menschen aus einer langen Geschichte zuwächst, die dieser Stadt und ihrem Volk an­haftende Heiterkeit und stille Unbeugsamkeit überwinden alle Schicksalsschläge. Aus den Ruinen hebt Wien sein zerzaustes Haupt und macht neue Pläne. Unsterblich scheint der Charme dieser Stadt, die zu feiern, zu arbeiten, sich zu freuen und zu beharren versteht wie kaum eine andere.

Mit Mut und ungebrochener Lebenskraft tritt Wien in eine neue Epoche seiner Geschichte.

Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky. Bilder: Bavaria-Bilder-Dienst. Foto auf der Umsehlagseite 2: eine der

""Bildersäulen vor der Karlskirche, Erinnerung an die Pestjahre.

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Natur- und kulturkundliche Hefte. — Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1,80) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt. — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sinct in jeder guten Buchhandlung vor­rätig. — Druck: Hieronymus Mühlberger, Augsburg. — Verlag: Sebastian Lux. Murnau vor München — Herausgeber: Antonius Lux.

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