Institut für Strategisches Management, Marketing und Tourismus – Universität Innsbruck
Wie lässt sich das innovative Potenzial von Online-
Communities nutzen? – Vorstellung der Netnographie-
Methode
1. Einleitung
Online-Communities stellen für Unternehmen eine einzigartige Wissens- und
Innovationsquelle dar. Interessierte Konsumenten treffen sich zu tausend in Online-
Communities, um ihre Erfahrungen im Umgang mit Produkten auszutauschen,
Möglichkeiten zur Lösung erlebter Probleme und Schwierigkeiten zu erörtern und
gemeinsam an Produktmodifikationen und Neuproduktideen zu arbeiten. In der
Online-Community „outdoorseiten.net“ zum Beispiel entwickeln begeisterte Alpinisten
und Wanderer ihr eigenes Equipment. Koch-Enthusiasten treffen sich in der
Community „chefkoch.de“ und überlegen, wie Küchengeräte und Kochutensilien
verbessert werden können. Mitglieder der „ilounge.com” Community haben sich dem
Apple iPod verschrieben. Sie diskutieren Probleme und Schwachstellen, wie z.B. die
kurze Lebensdauer der iPod-Batterie, und entwerfen neuartige Designs.
Wie lassen sich diese Aktivitäten für die Neuproduktentwicklung von Unternehmen
nutzen?
Dieser Beitrag stellt die Netnographie-Methode vor. Diese ermöglicht es
Unternehmen, sich das Wissen und die Kreativität von Online-Communities zu Nutze
zu machen.
2. Netnographie-Methode
Netnographie (Kozinets 2002) basiert auf den Grundzügen der Ethnographie, also
der Beobachtung des Verhaltens von Gruppen und ihrer einzelnen Mitglieder durch
die direkte Beteiligung des Forschers selbst. Nicht die einzelnen Personen selbst
sind Untersuchungsgegenstand, sondern die im Internet beobachtbare Konversation
und soziale Interaktion. Netnographie erlaubt das Konsumentenverhalten
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unaufdringlich und unbeeinflussend zu erforschen. Mit der Methode lässt sich
herausfinden, wie einzelne Online-Communities und deren Mitglieder über bestimmte
Themen denken, was sie von einzelnen Produkten und Marken halten bzw. welche
Themen der Community wichtig sind.
Die von Kozinets vorgestellte Netnographie-Methode teilt sich in vier Bestandteile: (1)
making cultural entree (2) gathering and analyzing data (3) ensuring trustworthy
interpretation und (4) research ethics. Sie beschreibt, wie sich Communities
identifizieren lassen, was bei der Kontaktaufnahme mit Communities zu
berücksichtigen ist, wie die Beobachtung und Informationsgewinnung erfolgen kann,
wie sich die Vertrauenswürdigkeit der gewonnenen Ergebnisse überprüfen lässt und
welche ethischen Richtlinien bei der Netnographie-Forschung berücksichtigt werden
müssen. Zwei Dinge sind zur Vorbereitung der Durchführung eines Nethographie-
Projektes von Bedeutung: das Definieren einer konkreten Fragestellung sowie das
Identifizieren geeigneter Online-Communities. Möchte ein Unternehmen die
gewonnen Community-Erkenntnisse verallgemeinern, empfiehlt es sich, die
Ergebnisse mittels anderer Marktforschungsmethoden, wie zum Beispiel mittels
Fokusgruppen oder persönlichen Interviews, zu „triangulieren“.
Für die Produkt- und Serviceentwicklung in Kooperation mit Online-Communities hat
sich eine leicht modifizierte Vorgehensweise der Netnographie-Methode
herauskristallisiert (Füller et al. 2006). Die netnographie-basierte Analyse innovativer
Online-Communities erfolgt in vier Schritten: (1) Bestimmung des Teilnehmerprofils
(2) Identifikation geeigneter Online-Communities (3) Observation und
Datengewinnung und (4) Analyse und Interpretation.
3. Anwendung der netnographie-basierten Methode
Die praktische Verwendung der netnographie-basierten Methode lässt sich am
Beispiel innovativer Online-Basketball-Communities zeigen. Ein führender
Sportartikelhersteller wollte künftige Konsumentenanforderungen identifizieren und
konkrete Ideen für Produktverbesserungen und Neuprodukte im Bereich
Basketballschuhe identifizieren.
1. Bestimmung des Teilnehmerprofils: Zunächst machte sich der Hersteller
Gedanken über die Eigenschaften der Community-Mitglieder die gesucht
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wurden – enthusiastische und kreative Basketballspieler mit umfangreichem
Produktwissen.
2. Identifikation geeigneter Online-Communities: Ein Internetscreening mittels
Google lieferte mehr als 500 Online-Basketball-Communities. Basierend auf
der Mitgliederanzahl, den Umgangsformen und der Anzahl und Qualität der
Beiträge kristallisierten sich „Niketalk“, „Basketballboards“, „Instyleshoes“,
„Kickz101“ und „Kicksology“ als die 5 vielversprechendsten Communities für
die Aufgabenstellung heraus. Die Niketalk Community beispielsweise zählt
derzeit rund 46.000 Mitglieder, die sich ausschließlich Basketballschuhen
widmen. Sie gehört hinsichtlich Qualität und Quantität anzutreffender
Innovationen zu den besten Informationsquellen im Internet. Gegründet und
betrieben wird die Community von privaten Basketballfans und, obwohl man
angesichts des Namens anderes vermuten könnte, besteht keine direkte
Verbindung zur Firma Nike. In den ausgewählten Communities treffen sich
enthusiastische Basketballspieler aus der ganzen Welt, um sich über
Erfahrungen in Zusammenhang mit ihren Sportschuhen zu unterhalten und
gemeinsam Verbesserungsvorschläge zu entwickeln.
3. Observation und Datengewinnung: Alle 5 Communities wurden über einen
Zeitraum von 6 Monaten beobachtet. Zur Identifikation innovativer Ideen und
möglicher Trends wurden zunächst insgesamt 240.000 Posts (Beiträge)
überflogen. Mit Hilfe von Informationsfiltern (Relevanz und Länge der Themen)
konnten 9.000 innovations-relevante Posts identifiziert und gespeichert
werden. Die durchgeführte softwareunterstützte Inhaltsanalyse dieser
Mitteilungen lieferte sowohl Einblick in die Innovationsfähigkeit der
Communities als auch zahlreiche innovative Ideen.
4. Analyse und Interpretation: Die Analyseergebnisse zeigten, dass die
Community-Mitglieder nicht nur Ideen zur Verbesserung und Modifikation
bestehender Basketballschuhe entwickeln, sondern auch gänzlich neue
Technologien und Designs entwerfen (Abb. 1 und 2). Zu mehr als 24
Einzelkomponenten eines Basketballschuhes, wie z.B. Dämpfung und
Schnürsystem, können genaue Anforderungsspezifikationen und innovative
Ideen gefunden werden. Manche Community-Mitglieder beschreiben ihre
Ideen nicht nur verbal, sondern visualisieren sie auch in Form von eigenen
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handgezeichneten Designs oder dreidimensionalen Computergrafiken. Diese
Vorschläge werden von den anderen Mitgliedern der Community kommentiert
und weiterentwickelt. Die Netnographie-Ergebnisse lieferten wertvollen Input
für die Entwicklung neuer Basketballschuhe.
Für den Sportartikelhersteller, der diese Studie veranlasste, steht fest, dass
Online-Communities wie Niketalk eine wertvolle Innovationsquelle darstellen.
Zudem bestätigt die Tatsache, dass bereits zwei innovative Community-Mitglieder
von Basketballfirmen entdeckt und als Designer für Basketballschuhe eingestellt
wurden, das Innovationspotenzial der Communities.
4. Zusammenfassung
Netnographie kann sowohl für konkrete Aufgabenstellungen im Rahmen eines
einmaligen Innovationsprojekts als auch permanent erfolgen. Ein wesentlicher Vorteil
besteht im Zugang zu ungefilterten und von Forscher und Forschungssituation
unbeeinflussten Informationen von erfahrenen und hoch involvierten Anwendern. Die
im Internet vorfindbare ausführliche Diskussion erlaubt Innovationsmanagern, tiefen
Einblick in die von Konsumenten erlebten Probleme und vorgeschlagenen Lösungen
zu nehmen. Aufgrund der Vielzahl und des Detaillierungsgrades der codierten
Beiträge pro spezifischem Leistungsmerkmal oder geschildertem Problem erhalten
Unternehmen neben dem Inhalt erste Hinweise auf die Wichtigkeit und Dringlichkeit
der identifizierten Themen. Die durchgeführten Projekte zeigen jedoch auch, dass die
Anwendung der netnographie-basierten Methode zeitaufwändig ist und hohe
Anforderungen an die Fertigkeiten der Forscher stellt. Falls es gelingt,
leistungsfähige Software-Tools zur Unterstützung der netnographie-basierten
Methode zu entwickeln, die in der Lage sind, die Datensammlung und die
Datenanalyse zu (teil-)automatisieren, steht der Verbreitung dieser Methode zur
Nutzung von Online-Communities für die Produktentwicklung nichts im Wege.
Autor: Johann Füller
Literatur
Institut für Strategisches Management, Marketing und Tourismus – Universität Innsbruck
Füller, J., Bartl, M., Ernst, H., Mühlbacher, H. (2006), "Community Based Innovation:
How to Integrate Members of Virtual Communities into New Product Development,"
Electronic Commerce Research Journal, 6 (1), 57-73.
Kozinets, Robert (2002), "The Field Behind the Screen: Using Netnography for
Marketing Research in Online Communications," Journal of Marketing Research, 39
(1), 61-72.
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BILDER
Abb. 1: Schuh-Design von Community-Mitglied Edgar Vergara (Quelle: Kicksguide
2006) und Mitglied Iron Tong (Quelle: Niketalk 2005)
Abb. 2: Konzept für neuartigen Basketballschuh namens „Odonata” von Community-
Mitglied Vocaldigital23 (Quelle: Niketalk 2004)