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Wie Kinder sprechen lernen - mk.niedersachsen.de · bieten Kindern viele Anlässe zum Sprechen....

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Kinder- und Jugendpolitik in Niedersachsen Engagiert Wie Kinder sprechen lernen Entwicklung und Förderung der Sprache im Elementarbereich Niedersächsisches Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales
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Wie Kinder sprechen lernenEntwicklung und Förderungder Sprache im Elementarbereich

Niedersächsisches Ministeriumfür Frauen, Arbeit und Soziales

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Wie Kinder sprechen lernenEntwicklung und Förderungder Sprache im Elementarbereich

Niedersächsisches Ministeriumfür Frauen, Arbeit und Soziales

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V o r w o r t _

„Kindergarten bildet“, das wissen Eltern,und die meisten nutzen diese Bildungs-chance. „Kindergarten bildet“ heißt auchdas Programm der Landesregierung zurWeiterentwicklung und Qualitätssteige-rung des Erziehungs- und Bildungsauftragsin Kindertagesstätten. Einer der zentralenBausteine ist die gezielte Sprachförderung.

Sprechen lernen ist eine der wichtigstenLernleistungen kleiner Kinder, Sprach- undSprechkompetenz der entscheidende Fak-tor zu Bildungserwerb und Bildungserfolg –und damit für die Chancengleichheit. Einesichere Beherrschung der deutschen Spra-che ist der Schlüssel zum Verstehen undGestalten unserer Welt. Das günstigste‚Zeitfenster‘ für ein erfolgreiches Erlernender (Verkehrs-)Sprache liegt vor der Ein-schulung. Die Sprach- und Sprechförde-rung ist daher eine zentrale Aufgabe derKindertagesstätten. Die Landesregierungunterstützt die Sprach- und Sprechbildungunserer Kinder mit zahlreichen Maß-nahmen.

Kinder brauchen zum Lernen eine kindge-rechte Umgebung und vielfältige Anregun-gen. Erzieherinnen und Erzieher müssenmit einem bewussten und gezieltenSprechverhalten auf das einzelne Kind ein-gehen. Vor allem muss die Sprach- und

Sprechförderung in den Kindergartenalltagintegriert werden, wenn sie erfolgreich seinsoll. Dinge, die sie begreifen können, Erleb-nisse, die sie beschäftigen und über die siesich mitteilen und austauschen wollen,bieten Kindern viele Anlässe zum Sprechen.Ständiges Erleben und Auswerten, wie esKinder unbewusst tun, hat als ganzheitli-ches Lernen einen nachhaltigen Effekt -auch auf ihr Sprachvermögen.

Für die Fachkräfte in den Tagesstätten heißtdas: viel beobachten und im richtigen Mo-ment (re-)agieren. Sprachförderung im Kin-dergarten soll nicht als zusätzliche Aufgabeund damit als Belastung für die Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter aufgefasst werden,sondern Bestandteil des pädagogischenKonzepts sein.

Wie eine solche Sprachförderung aussehenkann, dafür bietet diese Broschüre fundier-te Informationen und zahlreiche Beispiele.Der erste Teil stellt Erkenntnisse und Überle-gungen zum Spracherwerb und zur mehr-sprachigen Erziehung vor, der zweite Teilbeschreibt grundlegende Aspekte derSprachförderung und gibt praktische Tipps.Pädagogische Fachkräfte und interessierteEltern werden hier viele Anregungen für dieSprachförderung im Alltag finden. Profitie-ren werden davon die Kinder: Denn je bes-ser sie lernen, die Sprache als Schlüssel zurWelt zu gebrauchen, desto besser werdensie ihr Leben in dieser Welt meistern.

Dr. Gitta TrauernichtNiedersächsische Ministerin für Frauen,Arbeit und Soziales

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8 Einleitung

11 Theoretische Grundlagen

12 1. Voraussetzungen fürden Spracherwerb

14 1.1 Die Wurzeln des „Sprachbaums“

17 1.2 Der Stamm des „Sprachbaums“

18 1.3 Die Krone des „Sprachbaums“

19 1.4 Die Sonne: Zuneigung und Wertschätzung als Voraus-setzung

19 1.5 Die Gießkanne: Fördernde Aspekte beim Sprechenlernen

20 1.6 Die Erde: Die Bedeutung der Lebensumwelt

21 2. Die Entwicklung der Sprache

22 2.1 Der Spracherwerb

24 2.2 Vorstufen des Spracherwerbs

27 2.3 Stadien des Spracherwerbs

32 3. Mehrsprachigkeit im Elementarbereich

33 3.1 Erstsprache und Identitätsentwicklung

36 3.2 Die Bedeutung der Erstsprache

40 3.3 Wesentliche Aspektebeim Erwerb der deutschen Sprache

48 3.4 Überlegungen zur zweisprachigen Erziehung

51 Sprachförderung – als Teil der Gesamtkonzeption

52 1. Die Grundlagen der Sprachförderung

53 1.1 Die Lebenssituation von Kindern – ein Wegweiser füreine am Kind orientierte Sprachförderung

55 1.2 Die Sprachsituation in der Familie – Ausgangspunkt fürweitere Lernerfahrungen

60 1.3 Verknüpfung von Handeln und Sprache

64 2. Vier Schritte zu einer bewussten Sprachförderung

64 2.1 „Dass wir sprechen können, heißt noch lange nicht, dass wir auch etwas sagen“

_ I n h a l t

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I n h a l t _

67 2.2 Vier Schritte

68 2.3 Erster Schritt: Eine Situation als geeignet für Sprachförde-rung erkennen

70 2.4 Zweiter Schritt: Einen „öffnenden“ Kontakt zumKind herstellen

74 2.5 Dritter Schritt: Sprache bewusst und situationsorien-tiert fördern

77 2.6 Vierter Schritt: Die Situation tabellarisch dokumentieren

80 3. Sprachförderung im pädagogischen Alltag

81 3.1 Offenheit und Orientierung im Tagesablauf

83 3.2 Räume regen zumSprechen an

86 3.3 Die Vielfalt von Materialien und Medien nutzen

99 3.4 Durch Öffnung zumStadtteil neue Sprachräume erschließen

104 4. Die Rolle dersozialpädagogischen Fachkraft

104 4.1 Beobachtung als Voraus- setzung für Sprachförderung

111 4.2 Die sozialpädagogische Fachkraft als Sprachvorbild – eine Orientierungshilfe für die Sprachentwicklung des Kindes

115 4.3 Die muttersprachliche sozialpädagogische Fachkraftim pädagogischen Alltag

119 5. Zusammenarbeit mit Eltern

119 5.1 Die Sprachwelt der Kinder kennenlernen

120 5.2 Auf Eltern kann nicht verzichtet werden

126 5.3 Voraussetzungen zur Zusammenarbeit: Wertschät-zung und Anerkennung

128 Literatur

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_ E i n l e i t u n g

Die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeitenvon Kindern zu entwickeln und zu pflegen,ist eine der zentralen Aufgaben des Kinder-gartens. Dabei kommt die Förderung dersprachlichen Fähigkeiten allen Kindernzugute und nicht nur solchen, deren Aus-drucksvermögen Anlass zur Sorge gibt.

Sprachförderung im Rahmen des situati-onsbezogenen Ansatzes ist eingebettet indie alltägliche Arbeit der sozialpädagogi-schen Fachkräfte (im Folgenden sozpäd.Fachkräfte) und Teil der Konzeption von Ta-geseinrichtungen. Sie setzt eine differen-zierte Vorgehensweise voraus, die individu-elle Unterschiede berücksichtigt und dieverschiedenen Lebenswelten von Kindernin Betracht zieht. Dies bedeutet für die päd-agogische Arbeit, dass den unterschiedli-chen Sprachniveaus der Kinder Rechnunggetragen wird und die Ansatzpunkte zurSprachförderung von Kind zu Kind unter-schiedlich sein können. Damit verbietensich gleichzeitig „pauschale Förderungs-programme“, die sich in gleicher Weise analle Kinder einer Gruppe wenden.

Wenn im situationsbezogenen Ansatz dieaktuellen Lebenssituationen der Kinderden Ausgangspunkt für die Planung undGestaltung der pädagogischen Arbeitbilden, heißt dies zudem, die mehr-sprachige Lebenssituation von Kindern auszugewanderten Familien zu berücksich-tigen. Für die Sprachförderung ergibt sichdaraus die Aufgabe, neben der Unterstüt-zung der deutschen Sprache als Zweit-sprache auch der Erstsprache mit ihreridentitätsstützenden Funktion in der Ent-wicklung von Kindern einen Platz in derArbeit einzuräumen. Dies gewährleistet,dass Kinder aus zugewanderten Familien

ebenso am Leben ihrer ethnischen Gruppewie am Leben der deutschen Gesellschaftteilhaben können. Damit sind gleichzeitigwesentliche Aspekte einer interkulturellenErziehung angesprochen.

Entwicklungspsychologische Erkenntnisse,wie das Wissen darum, dass Kinder ihreEntwicklung in wechselseitigen Anpas-sungsprozessen mit der Umwelt vorantrei-ben, spielen im situationsbezogenen An-satz eine wichtige Rolle. Kinder erschließensich ihre Umwelt, indem sie selbst tätigwerden.

Auch der Spracherwerb ist ein Lernprozess,der durch die aktive Auseinandersetzungdes Kindes mit seiner Umwelt getragenwird. Wesentlich für den Erwerb sprach-licher Fähigkeiten sind hierbei die Erfahrun-gen, die das Kind im handelnden Umgangmit Personen und Dingen seiner Umweltmacht.

Sprachförderung erfordert von der sozpäd.Fachkraft ein fundiertes Wissen über denSpracherwerb als einen Teilaspekt entwick-lungspsychologischer Abläufe. Bei Anwe-senheit von Kindern aus zugewandertenFamilien stellen sowohl Erkenntnisse zurBedeutung der Erstsprache für die Entwick-lungvon Kindern als auch Hintergrundwis-sen zum Erlernen einer zweiten Sprache dieBasis für eine professionelle Gestaltungsprachfördernder Situationen im Kinder-garten dar. In diesem Zusammenhang sindÜberlegungen, die eine Annäherung vonKindern unterstützen, zu beachten.

Die Reflexion des eigenen Sprachverhal-tens und der eigenen Sprachverwendunggibt der sozpäd. Fachkraft Hinweise auf

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E i n l e i t u n g _

persönliche Entwicklungsnotwendigkeitenund -möglichkeiten.

Zur Förderung einer zweisprachigen Erzie-hung bei Kindern mit Migrationshinter-grund will das Land Niedersachsen die Ent-wicklung von Modellen unterstützen, dieeine Förderung der sprachlichen Kompe-tenz der Kinder in den Kindertageseinrich-tungen mit Angeboten für Eltern in derErwachsenen- und Familienbildung verzah-nen, damit Eltern aktiv den Spracherwerbihrer Kinder fördern können.

Sprachförderung – wie sie hier beschriebenwird – ist ein kreativer Prozess, der nacheiner flexiblen Zeit- und Raumnutzung ver-langt. Situationen der Sprachförderungbrauchen häufig Zeit. Sie gelingen leichterin Räumen, in denen sich Kinder und soz-päd. Fachkräfte wohl fühlen. Auch kanndie sozpäd. Fachkraft in ihrem Alltag aufeine Vielfalt an Materialien und Medienzurückgreifen, die zum Zuhören, Fragenund Erzählen herausfordern. Über eine Öff-nung zum Stadtteil lassen sich neue Lebens-und Sprachräume für Kinder entdecken.

Die Zusammenarbeit mit Eltern kann zueiner Bereicherung im Sinne einer Erweite-rung der sprachlichen Lern- und Erfah-rungsräume von Kindern beitragen. Siekann zudem zu einem Austausch überwesentliche Informationen zum Sprach-verhalten in den Familien führen.

Die Analyse der familiären Sprach- undSprechgewohnheiten bietet der sozpäd.Fachkraft darüber hinaus Anhaltspunktefür die Planung und Gestaltung ihrerArbeit.

In der Zusammenarbeit mit Eltern ergebensich genügend Anlässe, die sprachlicheSituation der Kinder mit den Eltern zu the-matisieren, sie in die Arbeit einzubeziehenund ihre sprachlichen Kompetenzen füreine Sprachförderung zu nutzen.

Diese verschiedenen Ansatzpunkte erge-ben ein Bild, das die Verknüpfung dersprachlichen Förderung mit recht unter-schiedlichen Aspekten einer pädagogi-schen Arbeit im Elementarbereich wider-spiegelt, die sich an interkulturellenÜberlegungen orientiert. Damit wird dieKomplexität von Sprachförderung aufge-zeigt, aber auch deutlich, wie viele andereBereiche der pädagogischen Arbeit für eineSprachförderung genutzt werden können.

Die folgenden Ausführungen bauen aufder Broschüre der Beauftragten der Bun-desregierung für Ausländerfragen „Hallo,Hola, Ola“ auf, werden um verschiedeneAspekte erweitert und führen damit weiterin das Thema ein.

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_ E i n l e i t u n g

Zusammen-arbeit

mit Eltern

Integration

Orientierung an

Lebenssituation Bedürfnissen Erfahrungen

Kultur

Identität

Zweisprachigkeit fördern

Offene Planung

Eigenaktivität von Kindern unterstützen

Rolle der Erzieherin

mit und ohneMigrations-hintergrund

Öffnung zum

Gemeinwesen

Situations-bezogener Ansatz und

interkulturelleErziehung

Verknüpfung von situationsbezoge-nem Ansatz und interkulturellerErziehung unter dem Aspekt:Zweisprachigkeit fördern

Aspekte einer interkul-turellen Erziehung

Aspekte des situations-bezogenen Ansatzes

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Theoretische Grundlagen

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_ T h e o r e t i s c h e G r u n d l a g e n

Bei der Geburt verfügen Kinder über Augenzum Sehen, Ohren zum Hören und eineStimme zum Schreien und Sprechen. Spre-chen ist eine Fertigkeit, die wie alle anderenFertigkeiten im Verlauf der Entwicklunggelernt werden muss. Allerdings bringenKinder eine angeborene Bereitschaft mit,Sprache zu erlernen.

Welche Voraussetzungen gegeben seinmüssen, damit Sprache erlernen möglich istund Ergebnis einer positiven Gesamtent-wicklung sein kann, soll mit Hilfe desSprachbaumes1 verdeutlicht werden.

Ein Baum ist mit seinen Wurzeln mit der Er-de verbunden. Die Wurzeln geben ihm Haltund Standfestigkeit und ermöglichen dieAufnahme von Nährstoffen aus der Erde.

Der Stamm gibt dem Baum Standfestigkeit.Hier werden die Nährstoffe, die der Baumüber seine Wurzeln aus dem Boden oderüber Licht und Luft aufnimmt, transportiertund dem Baum zur Verfügung gestellt.

Die Krone des Baumes besteht aus einerimmer feiner werdenden Unterteilung vonÄsten und Zweigen, einem dichten Blatt-werk und schließlich aus Knospen undFrüchten, die die Vermehrung des Baumesübernehmen.

Der Baum kann sich nur entfalten, wenngenügend Licht vorhanden ist und wenndas lebensnotwendige Wasser genügendNährstoffe enthält.

Wenn wir dieses Bild auf die Sprach-entwicklung von Kindern übertragen,stehen die Wurzeln für unterschiedlicheEntwicklungsprozesse, die das Kind erfolg-reich durchlaufen muss. Dabei erwirbt esgrundlegende Fähigkeiten in unterschiedli-chen Bereichen, die für die Sprachentwick-lung von Bedeutung sind.

Der Stamm verweist auf die Sprechfreudeund das Sprachverständnis des Kindes unddie Krone auf die ausgebildete Sprache mitihren Aspekten Artikulation, Wortschatzund Grammatik.

Um Sprache entwickeln zu können, mussdas Kind Akzeptanz, Wärme und Liebe vonseinen Bezugspersonen erfahren und aus-reichende Sprachanregungen erhalten.

1. Voraussetzungen für den Spracherwerb

1 Wendlandt, 1992, S. 9

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V o r a u s s e t z u n g e n f ü r d e n S p r a c h e r w e r b _

Mama Milch haben

Mama tomm

Mama!

Weil

ich

Milch

tomm

Mama

haben

sch

kr

k m

o

äa

Artiku-lation

Wort-schatz

Gram-matik

Sprachverständnis

Sprechfreude

WärmeLiebe

Akzeptanz

sensomotorischeIntegration

Schreien/Lallen

Hören

Sehen

Tasten BewegungGrob-, Feinmotorik

sozialemotionale Entwicklung

geistige Entwicklung

Hirnreifung

Kommuni-kation

Blickkontakt

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rechen la

ssen

zuhö

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L e b e n s u m w e l t _ K u l t u r _ G e s e l l s c h a f t

Der Sprachbaum

tr ich will Milch haben

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_ T h e o r e t i s c h e G r u n d l a g e n

Sensomotorische Entwicklung

Bei der Geburt des Kindes sind alle für dieSprache wichtigen Organe und Muskelnausgebildet: das Zwerchfell, der Rachen,die Stimmbänder, die Lippen, die Zungeund das Gehör. Über das Ohr nimmt dasKind Schalleindrücke und Sprachlaute auf.Diese akustischen Signale der Umweltwerden von den Gehörnerven zur Ent-schlüsselung dem Hör- und Sprachzentrumzugeleitet. Das Gehör ist die Voraussetzungfür die Entwicklung von Sprache.

Bereits im Mutterleib kann der EmbryoGeräusche wahrnehmen: den Herzschlagder Mutter, ihren Atemrhythmus, ihre Ver-

dauungsgeräusche, ihre Stimme, aber auchGeräusche aus der Umgebung. Nach derGeburt ist das Gehör gut entwickelt undUnterschiede in Dauer und Intensität vonTönen werden vom Säugling registriert.

Notwendige Anregungen für die Sprach-entwicklung sind das Wahrnehmenvon Lauten aus der Umgebung des Kindesund das „Sich-selbst-hören-können“.

Viele Eindrücke erhält das Kind überdas visuelle System, über das Auge. MitHilfe der Augen nimmt es optische Ein-drücke auf und verarbeitet sie, d.h. es lernt

1.1 Die Wurzeln des „Sprachbaums“

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V o r a u s s e t z u n g e n f ü r d e n S p r a c h e r w e r b _

Formen und Farben erkennen, Muster zuunterscheiden, nimmt Informationen, z.B.über Räume und bewegliche Objekte, auf.

Kurz nach der Geburt können SäuglingeObjekte, die sich langsam bewegen, mitden Augen verfolgen. Zudem sind sie in derLage, verschiedene Muster wahrzuneh-men, wobei sie gesichtsähnliche Musterbevorzugen. Kinder entdecken mit ihrenAugen ihre nähere und weitere Umwelt.

Für die Sprachentwicklung ist das Sehendeshalb von Bedeutung, weil Kinder aufden Mund des Erwachsenen, auf seineLippenbewegungen achten und versuchen,diese nachzuahmen. Das „Ablesen-können“ der richtigen Mundstellung istnotwendig, um eine altersgemäße Artikula-tion entwickeln zu können.

„Die taktile Kommunikation ist die ersteSprache des Kindes, auf der die verbaleSprache aufbaut.“2

Für den Säugling ist die Haut ein wichtigesKommunikationsmittel. Über sie nimmt erKontakt zu seiner Umwelt auf. So erfährt erz.B. über die Art, wie er gestreichelt odergehalten wird, ob er angenommen ist odereher auf Ablehnung stößt.

Über den Tastsinn lernt das Kind zuneh-mend den Berührungen durch andereMenschen eine Bedeutung zuzuordnen,z.B. die Bedeutung von Wärme, Nähe, Trostoder Zuversicht, aber auch von unangehmund schmerzhaft. Taktile Berührungen sind

„eine Grundlage der sozialen Existenz“,d.h. sie sind für die Entwicklung lebens-notwendig. 3

Um sprechen zu können, muss das Kind be-stimmte Mund- und Zungenbewegungenausführen, was eine Feinabstimmung un-terschiedlicher Muskelgruppen verlangt.

Das Kind lernt allmählich, seinen Sprech-apparat zu steuern und zu koordinieren.Lippen, Zunge und Gaumensegel werdenzunächst bei der Nahrungsaufnahmebenötigt. Somit sind Saugen, Schlucken,Lecken und Kauen Vorübungen für dasSprechen. Zunehmend lernt das Kind auchdie an der Lautbildung beteiligten Organezu beherrschen, nämlich die Zwerchfell-muskulatur und die Muskulatur der Stimm-bänder.

Lange bevor Kinder ihr erstes Wort spre-chen, krabbeln sie, richten sich auf, ma-chen Gehversuche, d.h. sie trainieren ihregesamte Muskulatur und die Beweglichkeitder Gelenke.

Zunehmende Koordination der Tast-, Mus-kel- und Gelenkwahrnehmungen sowiedes Sehens führen dazu, dass Kinder gezieltnach Gegenständen greifen, d.h. hier ent-wickelt sich die Feinmotorik.

Aber nicht nur mit ihren Händen erforschenKinder ihre Umwelt, sondern auch, indemsie Gegenstände in den Mund stecken, siemit dem Mund „begreifen“.

2 Zimmer,1995, S. 106 3 Zimmer,a.a.O, S. 106

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_ T h e o r e t i s c h e G r u n d l a g e n

Sie lernen immer mehr, Bewegungen feinaufeinander abzustimmen, die Kraft, diefür Bewegungen notwendig sind, richtig zudosieren und die für die Aussprache richti-gen Mundstellungen und Spannungszu-stände der Mundmuskulatur herzustellen.

Sozialemotionale Entwicklung

Die Art und Weise, wie der Säugling ge-pflegt und versorgt wird, wie seine Bedürf-nisse aufgegriffen und erfüllt werden, wiebefriedigend die Beziehungen zwischenihm und seinen Bezugspersonen sind,entscheidet über seine Grundhaltung zuMenschen und Umwelt. Das Kind wirdMenschen Vertrauen entgegenbringen undseine Umwelt aktiv mit gestalten, wenn esselbst erfährt, dass es angenommen ist undVertrauen und Geborgenheit erlebt.

Sprechen heißt, in Beziehung zu anderenMenschen zu treten und sich aktiv der Um-welt zuzuwenden.

Kinder, die nicht ausreichend mitmenschli-che Zuwendung erfahren, bleiben – wieUntersuchungen belegen – in ihrer sprachli-chen Entwicklung zurück, da ihnen Anre-gung und Motivation fehlen, sich sprach-lich zu äußern.4

Geistige Entwicklung

In den ersten Wochen und Monaten nachder Geburt wächst das Gehirn des Kindesweiter, und es vollziehen sich noch wichtigeReifungsprozesse in den entsprechendenHirnzentren sowie in den die Sprachwerk-

zeuge betätigenden und steuernden Ner-venbahnen. Das Gehirn besitzt unter-schiedliche Areale, denen bestimmte Funk-tionen zugeordnet werden. So gibt es„motorische Zentren“, mit deren Hilfe alleBewegungen, wie Gehen oder Greifen, ge-steuert werden. Über die „sensorischenZentren“ werden Berührungsreize der Hautsowie die Stellungsreize aus den Gelenkenund der Muskulatur wahrgenommen. Dar-über hinaus gibt es „Seh- und Hörzentren“.Bei 90 - 95% aller Menschen liegt das„aktive Sprachzentrum“ in der linken Hirn-hälfte und das „passive Sprachzentrum“, indem das gesprochene Wort aufgenommenwird, in der rechten Hirnhälfte.

Mit dem Wachstum des Gehirns entfaltensich die geistigen Fähigkeiten des Kindes.Es lernt, wahrgenommene Dinge wiederzu-erkennen oder zu unterscheiden, bestimm-ten Begriffen bestimmte Dinge zuzu-ordnen, Bedeutungen zu erfassen.

Während der Spracherwerb zunächst rela-tiv unabhängig von der kognitiven Entwick-lung zu verlaufen scheint, treffen sich dieEntwicklungslinien für das Denken und dieSprache nach dem ersten Lebensjahr. Indieser Zeit bemerkt das Kind, dass einGegenstand, z.B. ein Ball, auch dann exi-stiert, wenn es ihn nicht mehr sehen kann.Es sucht nach sprachlichen Bezeichnungen,mit denen es auf die An- oder Abwesenheitdes Gegenstandes reagieren kann. DasKind erkennt nun, dass jedes Ding einenNamen hat. Der enge Zusammenhang zwi-schen geistiger und sprachlicher Entwick-lung wird im so genannten Fragealter be-sonders deutlich, wenn sich das Kind seineUmwelt mit ihren vielfältigen Erscheinun-gen über Sprache erschließt.4 Vgl. Merten und Klann-Delius

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V o r a u s s e t z u n g e n f ü r d e n S p r a c h e r w e r b _

Schreien und Lallen

In den ersten Lebenstagen und -wochenkann sich der Säugling nur über das Schrei-en artikulieren. Schon bald lassen sich je-doch Unterschiede beim Schreien feststel-len. Das Schreien gewinnt an Informa-tionsgehalt für die Bezugspersonen des Kin-des. Sie erkennen, ob der Säugling Hungerhat, ob ihn Bauchschmerzen quälen oder ober schreit, weil er allein ist. Der Säugling wie-derum lernt, dass sein Schreien bestimmte

Reaktionen in seiner Umwelt auslöst, dassz.B. die Mutter kommt, ihn hochhebt, strei-chelt, stillt, zu ihm spricht. Hier entwickeltsich zwischen beiden eine erste stimmlicheKommunikation und damit einhergehenddie zwischenmenschliche Beziehung.

Etwa vom zweiten bis dritten Monat fängtdas Kind, das sich wohlfühlt, an zu lallen.Lalläußerungen sind rhythmische Lautket-ten, die unterschiedlich lang sein können:„mamama, dada, gegegege ...“

1.2 Der Stamm des „Sprachbaums“

Sprechfreude und Sprachverständnis

Kinder sind neugierig und wollen ihre Um-welt entdecken. Der Säugling plaudert vielund gern, ahmt einzelne Laute und Geräu-sche nach, zunächst noch ohne den Sinn zuverstehen. Es macht dem Kind Freude, sichanderen „mitteilen“ zu können. Die Kom-munikationsfähigkeiten entwickeln sich zu-nehmend, wenn sich die Bezugspersonen

auf die „Sprechabsichten“ des Kindes ein-lassen und freudig aufgreifen, d.h. in einenDialog mit dem Kind eintreten, und seineSprechversuche Erfolg haben.

Zu erwähnen ist, dass die Fähigkeit, Spra-che zu verstehen, eher vorhanden ist als dieFähigkeit zu sprechen. Das Kind begreiftdie Bedeutung einzelner Wörter eher undhandelt entsprechend, noch bevor es z.B.selbst sagen kann: „Hol den Ball!“

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_ T h e o r e t i s c h e G r u n d l a g e n

Die drei Aspekte „Artikulation, Wortschatzund Grammatik“ entfalten sich nebeneinan-der und meist in einem beachtlichen Tempo.

In seiner Artikulation gelingt es dem Kindimmer besser, die verschiedenen Laute rich-tig zu bilden. Beim Erwerb von Lautenscheint es eine bestimmte Reihenfolge zugeben. So werden zuerst die Laute erwor-ben, die im vorderen Mundbereich gebildetwerden, wie „m,a,b“, danach folgen dieje-nigen, die im mittleren, wie „l,n,t“ undschließlich diejenigen, die im hinterenMund- und Rachenbereich entstehen, wie „kr, gl“.

Im Wortschatz des Kindes sind zunächstBegriffe für solche Dinge vorzufinden, diedas Kind anfassen kann und täglich wahr-nimmt. Es schließen sich in der Regel Be-griffe für Dinge an, die sich außerhalbseiner unmittelbaren Umgebung befinden,die es nicht anfassen kann oder abstrakteBezeichnungen sind.

Die Entwicklung der grammatikalischenStrukturen erfolgt von der Einwortphaseüber die Zweiwortphase zu komplexenSätzen mit Nebensatzkonstruktionen.

1.3 Die Krone des „Sprachbaums“

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V o r a u s s e t z u n g e n f ü r d e n S p r a c h e r w e r b _

Um sich entwickeln zu können, muss sichdas Kind angenommen fühlen, Liebe undZuneigung erfahren. Bei Störungen in dersprachlichen Entwicklung gilt es herauszu-finden, „welches Klima“ in der Familie bzw.

in der Kindertageseinrichtung vorherrscht:ist hier ein ständig „verhangener Himmel“bestimmend oder kommen die Entwick-lungsmöglichkeiten des Kindes aufgrund ei-ner Überbehütung – zuviel Sonne – zu kurz?

Zuhören: Für das, was Kinder mitteilenmöchten, sollte immer genügend Zeit vor-handen sein, auch wenn die Mitteilungendes Kindes aus der Sicht des Erwachsenennoch sehr ungeschickt sind.

Aussprechen lassen: Es ist wichtig, Kindernzuzuhören und sie aussprechen zu lassenund nicht Verständnis zu signalisieren, be-vor Kinder ihre Mitteilung beendet haben.

Sprachanregungen: Erwachsene solltendeutlich und verständlich mit Kindernsprechen, in einer Art, die ihnen signalisiert,dass sie ernst genommen werden. Gesprä-che mit Kindern sind eine gute Möglichkeit,Kinder zum Sprechen anzuregen.

1.4 Die Sonne: Zuneigung und Wertschätzungals Voraussetzung

1.5 Die Gießkanne: Fördernde Aspektebeim Sprechen lernen

Kinder lernen sprechen über die Kommuni-kation mit Erwachsenen. Erst über das täg-liche Gespräch mit dem Kind können sichseine kommunikativen Fähigkeiten entfal-ten. Die „Gießkanne“ steht für das sprach-fördernde Verhalten der Eltern bzw. dersozpäd. Fachkraft. Um die Sprechfreudeder Kinder zu erhalten und zu unterstützen,sind folgende Aspekte zu berücksichtigen:

Blickkontakt: Über den Blickkontakt zwi-schen Eltern/sozpäd. Fachkraft und Kindkann emotionale Nähe und Zuwendungentstehen. Außerdem hat das Kind dieMöglichkeit, auf die Mund- und Lippenbe-wegungen zu achten, und erhält dadurchAnregungen für die eigene Lautbildung.

Nicht nachsprechen lassen: Lässt man Kin-der bei Fehlern oder Abweichungen vonder Normsprache der Erwachsenen„richtig“ nachsprechen, können dieSprechfreude der Kinder gemindert und

Hemmungen aufgebaut werden. Wichtigerals die richtige Form sollte der Inhalt derMitteilung genommen werden.

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_ T h e o r e t i s c h e G r u n d l a g e n

So wie der Baum in der Erde verwurzeltist und Halt und lebensnotwendige Nähr-stoffe in ihr vorfindet, so ist auch das Kindin seine soziale Umgebung eingebettet.Über die Erziehung in der Familie werdendem Kind kulturelle und gesellschaftlicheAspekte vermittelt, findet es seinen Stand-ort, von dem aus es die Welt wahrnimmtund sich in ihr zurechtfindet. Einflüsse ausder sozialen Umgebung wirken sich somitauch auf den Gebrauch der Sprache – alsTeil der Kultur – und ihre Ausgestaltungdurch das Kind aus.

So wie kein Baum dem anderen gleicht,sind auch in der sprachlichen Entwicklung

von Kindern Unterschiede festzustellen.Obwohl die Abläufe in der sprachlichenEntwicklung ähnlich sind, lassen sich großeindividuelle Unterschiede beobachten.Auch wechseln sich Zeiten schnellen mitZeiten langsameren Fortschritts ab.

Wenn Unterschiede in der sprachlichenEntwicklung von Kindern deutlich werden,wenn Kinder Lautverbindungen nicht aus-sprechen können oder Wörter noch nichtbeherrschen, wenn sie nur langsam spre-chen lernen, ist es wichtig zu überlegen,welches „Menü“ an SprachanregungenKinder benötigen, das die individuellenFähigkeiten berücksichtigt.

1.6 Die Erde: Die Bedeutungder Lebensumwelt

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D i e E n t w i c k l u n g d e r S p r a c h e _

Sprache ist die wichtigste Grundlage derKommunikation mit anderen Menschen,durch die Gedanken und Gefühle zum Aus-druck gebracht, Bedeutungen vermittelt,Erlebnisse verarbeitet, Erfahrungen ausge-tauscht, Wünsche und Begehren kundge-tan, Zusammenhänge verstanden undHandlungen geplant werden.

Sprache und Sprechen helfen dem Kind,Erscheinungen und Vorgänge der Umweltzu verarbeiten, d.h. Dinge und Vorgänge –zunächst die unmittelbaren, später auch dieweiter entfernten – zu erkennen und zu un-terscheiden. Erscheinungen und Vorgängeder Umwelt werden durch Sprache verfüg-bar. Dadurch erweitert sich gleichzeitig dieBegriffswelt des Kindes. Die Differenzie-rung der Umwelt und die Umsetzung inSprache helfen ihm, sich die Umwelt anzu-eignen, sie zu verstehen, Erlebnisse undWahrnehmungen zu speichern und Erfah-rungen zu strukturieren.

Sprache ermöglicht ihm die geistige Über-brückung von Zeit und Raum, sich aus dem„Jetzt und Hier“ zu lösen, Vergangenheitund Zukunft ins Blickfeld zu rücken. Erfah-rungen des Kindes bleiben durch Sprachegegenwärtig, auch wenn sich Personenund Dinge nicht in unmittelbarem Sicht-kontakt befinden.

Durch Sprechen und Sprache nimmt dasKind Kontakt zu seiner Umwelt auf, stellt esBeziehungen zu anderen Menschen her.Zuerst über Laute, dann über Sätze ver-sucht es, Verbindung zu seiner Umwelt auf-zunehmen. Dabei nehmen im Kleinkind-alter Mimik, Gestik und Intonation noch ei-nen großen Platz im Kommunikations-system des Kindes ein. Erst das ältere Kin-dergartenkind achtet mehr auf den Infor-mationsgehalt des Gesprochenen, da kör-persprachliche Äußerungen wie Mimik undGestik als Verständigungsmittel nicht mehrausreichen, zumal sie Ursache für

2. Die Entwicklung der Sprache

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vielfältige Missverständnisse sein können.Über die Sprache wird das Kind mit denSichtweisen seiner Umwelt, den Normenund Werten seines Kulturkreises vertrautgemacht. Dadurch werden sein Selbstbildwie auch sein Bild von der Welt entschei-dend beeinflusst. Grundlegend für die Ver-mittlung von sprachlichen Fähigkeiten istdie Familie mit ihrem jeweiligen kulturellenHintergrund. Das in seiner Familie üblicheKommunikationsverhalten hat wesentli-chen Einfluss auf die sprachlichen Fähig-keiten des Kindes.

Durch Sprechen und Sprache äußert, er-kennt und verarbeitet das Kind seine Ge-fühle, Wünsche, Bedürfnisse und Vorstel-lungen. Gefühle und Denken, Denken undSprechen bilden bei ihm eine Einheit, auchwenn es zunächst noch nicht genügendausdrücken kann, was es empfindet oder

denkt. Für das Kind ist es wichtig zu erfah-ren, dass es seine Gefühle, Wünsche undBedürfnisse ausdrücken kann und darf,aber auch, dass es mit Hilfe der Sprachelernt, mit seinen Gefühlen umzugehen, siezu verarbeiten und sich in sein soziales Um-feld einzuordnen.

Sprache gibt Kindern über Literatur, Mär-chen, Bilderbücher und Erzählungen einenEinblick in eine Welt der Phantasie, die ihreErlebnis- und Wahrnehmungsfähigkeiterweitert. Hier werden Gefühle, Gedankenund Erlebnisse anderer Menschen beschrie-ben. Hier können Kinder Spannungen mit-erleben, Gefahren überwinden und Pro-bleme lösen. Sie können sich mit den Inhal-ten der Geschichten auseinandersetzen,sich mit den Gestalten identifizieren undevtl. Lösungsmöglichkeiten für eigeneProbleme finden.

2.1 Der Spracherwerb

5 Grimm,1987, S. 5996 Zimmer,1992, S. 527 Hurlock,1971, S. 157

„Sprachentwicklung ist stets als ein Vor-gang der Vermittlung einer vorhandenenSprache als Symbolsystem einer bestehen-den Gesellschaft anzusehen. Spracherwerbist ein Prozess der Sprachvermittlung,“ d.h.Sprache wird in einem lang anhaltenden,dialogischen Prozess zwischen dem Kindund seinen Bezugspersonen erworben.5

Dabei ist Sprache nicht nur „eine Produk-tion von Lauten, sondern ein komplexerund vielgestaltiger Prozess der Kommuni-kation, bei dem über den Einsatz derSprechorgane und Sprachwerkzeuge hinaus

der ganze Mensch mit all seinen unteschied-lichen Ausdrucksmitteln beteiligt ist.“6

Sprechen besteht nach HURLOCK darin,„dass ein Kind die Bedeutung der Wörter,die es gebraucht, auch kennen muss undsie mit den Gegenständen, die sie bezeich-nen, in Verbindung bringt“ und dass es sei-ne Wörter so ausspricht, „dass sie fürandere Mitglieder der Gesellschaft leichtverständlich sind.“7

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Jedes Kind hat eine angeborene Bereit-schaft, Sprache zu erlernen. Der Erwerb derErst- oder Muttersprache vollzieht sich inbestimmten aufeinander folgenden Pha-sen, die vermutlich für alle Kinder gleichsind. Alle Kinder verfügen zunächst übereinen gemeinsamen Lautbereich.

In allen Sprachen basieren die ersten Wör-ter auf den frühen Kinderlauten, z.B. ma-ma, dada, baba, papa. Die für die jeweiligeSprache spezifischen Laute muss das Kindlernen.

Im Verlauf der Sprachentwicklung sindgroße individuelle Unterschiede zwischenden Kindern zu beobachten, und zwar hin-sichtlich der Geschwindigkeit der Entwick-lung des Wortschatzes, der Aussprache-und Satzbildungsfähigkeit. Bei fast allenKindern sind außerdem Zeiten schnellenund langsameren Fortschritts auszumachen.

Das Kind übernimmt das Sprachsystem derSprache seiner Umwelt u.a. durch Nach-ahmung beim Erwerb von Lauten und Wör-tern und durch Wiederholung. Dabei spieltauch die Häufigkeit des Auftretens eineRolle, d.h. je öfter eine bestimmte Satz-struktur oder Wortklasse auftritt, destoeher kann sie vom Kind übernommen undverarbeitet werden.

Ein grundlegendes Prinzip des Spracher-werbs ist aber, so FELIX, das Zerlegen vonStrukturen der Zielsprache bzw. der einzel-nen sprachlichen Bereiche in verschiedeneSchritte, die sich das Kind nacheinander an-eignet. Bei dieser systematischen Annähe-rung an die Sprache der Umwelt treten

Phasen auf, die als Abweichungen vomErwachsenenmodell, als Rückschritte odergrammatische Fehler erscheinen. Diese inden sprachlichen Äußerungen des Kindesvorkommenden Abweichungen vomErwachsenenmodell sind jedoch keines-wegs beliebig oder willkürlich. Das Kindbildet vielmehr seine Äußerungen nachbestimmten Prinzipien, die in sich ein logi-sches System darstellen.

Beim Sprechen auftretende Fehler oder Ab-weichungen sind also – so ZIMMER – nurFehler aus der Sicht des Erwachsenen. Ausder Sicht des Kindes handelt es sich dage-gen keineswegs um Fehler, da es Regeln,die es erfasst hat, konsequent anwendet,die aber eben nicht immer mit der Sprach-norm der Erwachsenen übereinstimmt, z.B.„der Osterhase hat mir ein Ei gebrungen“(gebrungen – gesungen).

Der Spracherwerb vollzieht sich nur schein-bar wie von selbst. Für die sprachliche Ent-wicklung des Kindes sind die Sprachanre-gungen durch das Umfeld von besondererBedeutung. Es ist wichtig, dass Kinder Spra-che hören und anwenden können. Dabeischeint das sprachliche Vorbild des Erwach-senen einen weit wirksameren Einfluss aufdie sprachlichen Fähigkeiten des Kindes zuhaben als das Vorbild von Kindern, dadurch das Gespräch mit Erwachsenen Kin-der zu größerer sprachlicher Aktivität ange-regt werden.

Mit zunehmendem Alter gewinnen dieKontakte zu Kindern jedoch an Bedeutungund sprachliches Lernen findet auch imAustausch der Kinder untereinander statt.

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Die vorsprachliche Phase umfasst den Zeit-raum von der Geburt bis zum ersten Wortdes Kindes. Schreien, Gurrlaute und Lallensind Phasen, die sich teilweise ergänzenoder einander ablösen und einen wichtigenSchritt auf dem Weg zur Sprache darstellen.

Schreien

Die Sprachentwicklung des Kindes beginntmit dem Schreien, das bei der Geburt dieLungenatmung in Gang setzt.

In den ersten Wochen des Kindes wechselnlange Schlafzeiten mit kurzen Wachzeitenab, in denen seine Bedürfnisse nach Nah-rung und körperlichem Wohlbefindenbefriedigt werden. In diesen Wochen istSchreien ein Signal – zunächst noch undif-ferenziert –, das den Bezugspersonen dieWachzeiten ankündigt und zugleich zurBefriedigung der Bedürfnisse nach Nah-rung und körperlichem Wohlbefindenauffordert.

Schon nach wenigen Wochen sind Unter-schiede beim Schreien zu bemerken, undzwar in der Intensität und in der Tonhöhe,später auch in der Klangqualität und imRhythmus des Schreiens. Das Schreien wirdalso zunehmend differenzierter. Es gewinntan Informationsgehalt, so dass man allmäh-lich das Schreien aus Hunger von demdurch andere Störungen wie Blähungenund Magenbeschwerden verursachtenSchreien unterscheiden kann. Die Verände-rung der Schreilaute und ihr Einsatz kom-men zunächst rein instinktiv zustande. Sie

wirken aber auf die mit der Pflege des Kin-des beschäftigten Personen wie ein auslö-sendes Signal, d.h. diese Laute haben denCharakter einer Mitteilung. Voraussetzung,um die Schreilaute richtig interpretieren zukönnen, ist, dass die Erwachsenen das Kindbeobachten und es kennen. Bevor das Kinddrei Monate alt ist, hat es gelernt, Schreienals Mittel der Aufmerksamkeitserregungeinzusetzen.

Je kleiner das Kind ist, desto stärker ist derganze Körper beim Schreien in Bewegung.Etwa ab der zehnten Woche treten auchSchreilaute lustvoller Art auf, die so ge-nannten Kreischlaute.

Explosivlaute oder Gurren

Neben dem Schreien äußern Säuglingein den ersten Wochen und Monaten aucheine Reihe anderer einfacher Laute: Vokal-laute, wie „a, ä“, die häufig mit „h“ ver-bunden werden, „ähä, hä“ sowie Gurr-und Explosivlaute: so genannte rrr-Ketten,Kehllaute, wie „ech, gu, gr, ng“. Diese Lau-te werden oft durch rein zufällige Bewe-gungen des Stimmmechanismus hervorge-rufen. Sie haben explosivartigen Charakter,werden von allen Säuglingen gleicherma-ßen geäußert und brauchen nicht erlerntzu werden. Sie sind überwiegend abhängigvon der Mundform und vom Luftstrom, deraus den Lungen ausgestoßen wird und anden Stimmbändern vorbeigeht. Das Kindstößt diese Laute nicht absichtlich aus; siesind lediglich Begleiterscheinungen und Re-aktionen auf körperliche Bedürfnisse und

2.2 Vorstufen des Spracherwerbs

Die ersten Wochen

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Aktivitäten. Demnach sind solche Äußerun-gen kein Mittel der Verständigung, sondernlediglich eine Art spielerischer Beschäfti-gung. Meist verschwindet der größte Teildieser frühen Laute wieder, wenn sich derStimmmechanismus weiterentwickelt.

Mit den allmählich länger werdendenWachzeiten werden die Lautäußerungendes Kindes immer häufiger.

Neben Schrei- und Kreischlauten tretenweitere Laute auf, die als Quietschen be-zeichnet werden, als Ausdruck von Fröh-lichkeit, wie es z.B. beim Baden des Kindesoft zu beobachten ist.

Als Ausdruck der Freude ist das Juchzendes Kindes zu interpretieren. Juchzen istgekennzeichnet durch kurze, hervorbre-chende Laute mit plötzlichem Stimmlagen-wechsel.

Ferner äußert das Kind Blasreiblaute, wie„f, w oder s“, indem es die Luft zwischenden geschlossenen Lippen durchpresst.

Zunehmend sind auch rasch wechselndeLautgebilde zu beobachten, die den Über-gang zur Lallphase kennzeichnen.

Lallen

Etwa vom zweiten bis dritten Monat sindbeim Kind, das sich wohl fühlt, die erstenBehaglichkeitsäußerungen wahrzuneh-men. Damit erreicht es die Phase des Lal-lens, die eine Vorbereitung auf die eigentli-chen Sprachleistungen des Kindes darstellt.Bei diesen Lautäußerungen handelt es sichum rhythmische Lautketten, die unter-schiedlich lang sein können, die einfach

oder mehrfach wiederholt werden und dieden Charakter von Silben haben, die sichaus Vokalen und Konsonanten zusammen-setzen, z.B. „ma-ma, da-da, ra-ra, de-de,ge-ge...“

Kennzeichen dieser Phase ist, dass es sichum spontane Lautproduktionen handelt,die ständig wechseln können.

Im Laufe des ersten Lebensjahres nimmtdie Anzahl der Laute, die ein Kind erzeugenkann, ständig zu, wobei Kinder im Laufeder Lallphase individuelle Vorlieben fürbestimmte Lautkomplexe entwickeln. Diein dieser Zeit gebildeten Lalläußerungenkönnen fremdartig klingen, weil sie nichtnur Laute der Erst- oder Mutterspracheenthalten.

Das Lallen ist nicht an bestimmte Gegen-stände, Menschen oder Situationen gebun-den; es ist kein Sprechen im eigentlichenSinne. Obwohl manche LalläußerungenWörtern gleichen, verbindet das Kind nochkeinerlei Bedeutung damit, „ma ma“ –steht in dieser Phase noch nicht für Mutter.Der Wert des Lallens besteht in der Übung.Dennoch hat das Lallen für den später ein-setzenden Spracherwerb eine wichtigeFunktion: „Das Kind hört seine eigenenLaute und freut sich über die hörbar wer-denden Fähigkeiten.“8

Das Kind übt in dieser Zeit vielfältige Laut-verbindungen ein, die von Veränderungenin der Tonhöhe und in der Modulation be-gleitet werden.

Die ersten Monate

8 Gipper,1985, S. 40

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Im weiteren Verlauf steht die Weiterent-wicklung der Laute im Vordergrund. DasKind „erzählt“ viel und gern, z.B. Konso-nant-Vokal-Verbindungen: „nana, aga, ata,laalaa“, rrr-Ketten. Dabei wechselt es Laut-stärke und Tonhöhe.

Das Kind fängt an, seine Lautäußerungenzu wiederholen bzw. sich selbst nachzuah-men. Es stellt eine Verbindung zwischenHören und Sprechen her: es hört, wie dasklingt, was es sagt, und spricht, was es hö-ren möchte. Damit ist der erste Schritt voneiner spontanen Lautäußerung hin zu einergezielten Artikulation getan, und die Laut-äußerungen des Kindes nähern sich mehrund mehr der Erwachsenensprache an.Dies führt häufig dazu, „dass die Familiediese Lautungen aufnimmt und dem Kindwieder vorspricht, so dass sich in einemhäufig wiederholenden Dialog einzelneLautgebilde verfestigen können.“9

Mit etwa acht bis neun Monaten beginntdas Kind zu flüstern und hört sich dabeiaufmerksam zu.

In den letzten Monaten des ersten Lebens-jahres ist ein erstes Sprachverständnis zubeobachten, d.h. das Kind versteht denInhalt einiger Worte. So wendet es z.B. denKopf dem entsprechenden Gegenstandoder der Person zu, wenn man es fragt:„Wo ist ...?“, oder reagiert auf Verbote,wie „nein“, indem es seine Tätigkeit kurzunterbricht.

Häufig auftretende Lautäußerungen inVerbindung mit einer Reduzierung der Viel-falt der Laute kündigen nach BOVING denBeginn einer neuen Phase an, nämlich denGebrauch von Sprachlauten. Kennzeichenfür diese Vorstufe des Sprechens ist, dassdas Kind den Sinngehalt einiger Worteerfasst und die mehrsilbigen Äußerungenauf Doppelsilben reduziert und phonetischstabile Formen benutzt. Diese Lautäuße-rungen werden von allen Kindern in für siebesonders wichtigen Bereichen eingesetzt.Hierunter fallen die Lautäußerungen, dieFreude, Zufriedenheit oder Unzufriedenheitausdrücken, die zur Bedürfnisbefriedigungauffordern oder Lautäußerungen, die aufetwas hinweisen, wie „da, da“, die durcheine Zeigegebärde unterstützt werden.

Schon in den ersten Monaten wirken sichEinflüsse aus der Umwelt des Kindes auf dieArt und Häufigkeit der Lautbildung aus.Wesentlich für die sprachliche Entwicklungist, dass die Mutter bzw. die Bezugsperso-nen und das Kind von Anfang an miteinan-der kommunizieren und über den Dialogeine gemeinsame Erfahrungswelt aufbau-en. Indem sie das Verhalten des Kindes in-terpretieren und ihm Bedeutungen zuwei-sen, leiten sie das Kind an, selbst solcheKonzepte und Regeln zu entwickeln, diedie Grundlage für den Spracherwerb sind.Dabei kommt es häufig vor, dass die Be-zugspersonen die Laute des Kindes aufneh-men und vorsprechen, so dass sich „imDialog“ einzelne Lautgebilde verfestigenkönnen, d.h. Mutter und Kind führen„Wechsel-Gespräche“. Das Kind ist dabeiaktiv an der Interaktion beteiligt. SeineLautäußerungen differenzieren sich imLaufe der Zeit immer stärker aus.

9 Boving. In: Gipper,1985, S. 91

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Etwa gegen Ende des ersten Lebensjahresbildet das Kind erste sinnvolle Wörter.Wenn es in der Lage ist, Lautäußerungenmit bestimmten Inhalten/Bedeutungen zuverbinden, setzt das eigentliche Sprechenein. Aus dem Lallen wird Sprache, wenndas Kind eine Verbindung zwischen Wortund Inhalt herstellt. Um diesen Entwick-lungsschritt von den bedeutungslosenLautäußerungen hin zum ersten sinnvollenWort machen zu können, bedarf es desErwachsenen, der dem Kind hilft, für Perso-nen oder Gegenstände, die es wahrnimmt,Worte zu finden.

Einwortphase

Beim Übergang von der Lallphase zu denersten Sprachlauten verlieren Kinder dieFähigkeit, vielfältige Laute zu erzeugen. Siebeginnen meist mit nur wenigen Sprach-lauten aus ihrer Sprache.

Die ersten Sprachlaute werden im Vorder-mund artikuliert, z.B. „mam, ada, dada“.Dagegen werden Laute, wie „f, s, sch, ch,l und r, pf und tsch sowie st und sp“, sofernsie zum phonologischen System der Mut-tersprache gehören, meist später vonKindern geäußert. Das Erlernen der Sprach-laute scheint in einer bestimmten Reihen-folge stattzufinden. Gewisse Laute undLautverbindungen lernen die meistenKinder früher als andere Laute.

In der ersten Phase des Spracherwerbsspricht das Kind einige wenige Worte – voneinigen Autoren als „Einwortsätze oderHolophrasen“ bezeichnet.

Diese Einwortäußerungen beziehen sichimmer auf die Gesamtsituation und könnenWünsche, Bedürfnisse, Behagen oder Un-behagen, Gefühle ausdrücken oder Benen-nungsfunktion (Namen) haben. Sie sindTeile eines komplexen Handlungsschemas.

2.3 Stadien des Spracherwerbs

Das erste Jahr

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So kann „mama“ z.B. bedeuten; „ichmöchte etwas zu essen“ oder „Mama,komm bitte her“ oder „ich möchte nachdraußen“...

Das Kind drückt also mit einem Wort ver-schiedene Bedürfnisse aus, bei denen es oftGesten zur Hilfe nimmt, z.B. „da“, verbun-den mit einer Zeigegeste.

Die ersten Wörter bestehen häufig auseinem Wechsel von Vokalen und Konso-nanten, z.B. „ba-ba“. In dieser Phase be-vorzugt das Kind Substantive.

Es ahmt jetzt häufig die Laute der Erwach-senen nach, ohne den Sinn zu verstehen.

In dieser Phase treten auch Lautmalereienauf. Dabei handelt es sich um Wörter, diedie Beschaffenheit eines Gegenstandesin einer bestimmten Weise wiedergeben,z.B. „wauwau“ (Hund), „puffpuff“ (Eisen-bahn).

Zunächst vertauscht das einjährige Kind dieBezeichnungen für Personen, Gegenständeund Situationen noch beliebig.

Von entscheidender Bedeutung für diesprachliche Entwicklung ist die gesamtekörperliche Entwicklung des Kindes, die esihm erlaubt, verschiedene Eindrücke wahr-zunehmen und zu koordinieren. Um Lauteoder sprachliche Äußerungen verstehenzu können, müssen Kinder zuerst einmalverstehen, worauf sich denn diese Lauteoder Äußerungen überhaupt beziehen.Dies erreichen Eltern dadurch, dass sie dieAufmerksamkeit des Kindes z.B. auf denGegenstand lenken, d.h. sie achten darauf,dass ihre Kinder den Gegenstand ansehen,

über den sie gerade sprechen. Solche Situa-tionen „(gemeinsam auf etwas achten undentsprechende Äußerungen hören) erleich-tern dem Kind (...) die Zuordnung des Aus-drucks zu einem bestimmten Inhalt.“10

Unterstützend wirken die Reaktionen derBezugspersonen auch, wenn sie die Laut-äußerungen des Kindes aufgreifen, wieder-holen und so in einen „Dialog“ mit demKind treten. Dabei ist wiederum häufig dieSituation, in der die Wiederholung stattfin-det, ausschlaggebend dafür, dass das Laut-gebilde des Kindes nicht nur stabil wird,sondern auch einen Sinngehalt erhält. DasKind lernt, seine Lautgebilde mit Personen,Gegenständen und Situationen allmählicheng zu verbinden, so dass sie zu derenSymbolen werden können.

Wesentlich bei den Dialogen ist, dass sichdie Bezugspersonen dem kindlichenSprachverständnis anpassen, d.h. sie ver-wenden einfache Satzstrukturen, eine lang-same Sprechweise und einen gedehntenTonfall. „Die Funktion dieser Anpassungenist offensichtlich eine kommunikative: DieBezugspersonen bemühen sich darum, sichdem Kind verständlich zu machen undorientieren sich dabei am kindlichenSprachverständnis.“11 Mit zunehmendemSprachverständnis erhöht sich die Komple-xität des Sprachstils.

10 Kolonko,1996, S. 4511 Apeltauer,1997, S. 37

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D i e E n t w i c k l u n g d e r S p r a c h e _

Zweiwortphase

Zwischen eineinhalb und zwei Jahren tre-ten zunehmend Zweiwortäußerungen auf.Bei den ersten Zweiwortäußerungen wirdjedes Wort einzeln gesprochen und durcheine Pause gegen das andere abgesetzt,d.h. die ersten Zweiwortäußerungen beste-hen aus einer Aneinanderreihung zweierEinwortäußerungen, z.B. „ata – Puppe“.Bald werden diese Äußerungen über dieBetonung als zusammengehörig ausge-drückt. Damit entstehen „echte“ zweiwor-tige Äußerungen. Die Zweiwortäußerun-gen, die durch die existenziellen Bedürfnissedes Kindes beeinflusst werden, erfüllen u.a.folgende Funktionen: Feststellung: „wawatun“, (ich tue sie wieder ins Wasser), Ver-langen, Wunsch: „mama ahm“, (Mama,ich will auf deinen Arm), Verneinung: „heianein!“, (ich will nicht ins Bett), Fragen: „woBall“, Ortsbestimmung: „Ball da“ oder Be-zeichnung einer Eigenschaft: „Milch heiß“.Bei den Zweiwortäußerungen variiert dieWortfolge noch sehr stark, da das Kind dasGefühlsbetonte und das Anschauliche vor-anstellt.

Charakteristisch für diese Phase ist der tele-grammartige Stil der Äußerungen: das Kindverwendet Substantive im Singular, Verbenim Infinitiv und einzelne Adjektive. Es feh-len die unbestimmten (einer, eine, ein) undbestimmten Artikel (der, die das), die Kon-junktionen (und, oder, aber), die Hilfszeit-wörter (sein, haben) und die Flexions-endungen bei der Pluralbildung (Puppe –Puppen).

Das zweijährige Kind probiert verschiedeneVerbindungen von Lautkomplexen undInhalten. Diese Versuche werden von den

Erfahrungen, die das Kind macht, beein-flusst und gesteuert.

Allmählich wird es in seinen Bezeichnungensicherer, und der Wortschatz des Kindeswächst stark an. Es entwickeln sich Sub-stantive, Verben, Adjektive und Pronomen(Beziehungswörter).

Das erste Fragealter setzt ein: Das Kindfragt nach dem Namen der Dinge: „Istdas?“. Es entdeckt, dass zu jedem Gegen-stand ein Lautkomplex gehört, der ihn be-zeichnet, dass jedes Ding einen Namen hat.Es erwacht das Bewusstsein von der Bedeu-tung der Sprache.

Mit dem Übergang zu den Zweiwortäuße-rungen treten auch die ersten Flexionsver-suche auf, z.B. Puralbildungen beim Sub-stantiv. Nun lernt das Kind die Formender Wortabwandlungen, nämlich die Beu-gung des Verbs (Konjugation), des Substan-tivs (Deklination) und die Steigungsformender Adjektive (Komparation) ziemlichgleichzeitig.

Allgemein werden dabei die schwächerflektierten und regelmäßigen Formen leich-ter erlernt als die stark flektierten und unre-gelmäßigen, die oftmals durch Formen derersten Art ersetzt werden, z.B. „gut –güter“ wie „groß – größer“ statt „gut –besser“, ich habe „getrinkt“ wie ich habe„gemalt“.

In dieser Zeit wird das Sprachverständnisimmer differenzierter. Das Kind versteht all-mählich Aufforderungen, die zwei verschie-dene Handlungen enthalten, z.B. „ Hol denBall und gib ihn ...“

Das 2. Jahr

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Das Kind versteht schon sehr viel, es kannSprache besser verstehen als produzieren,d.h. das Verstehen von Sprache geht demeigentlichen Sprechen voraus.

Mehrwortsätze

Etwa im dritten Lebensjahr spricht das KindMehrwortsätze mit drei oder mehr Wör-tern. Auch hierbei werden die für dasVerstehen wichtigen Wörter geäußert, dieunwichtigen fallen weg, d.h. in der Sprachedes Kindes überwiegen die Inhaltswörter.Die sog. Funktionswörter, wie Konjunktio-nen (und, oder), Präpositionen (in, an), Arti-kel (ein, eine) fehlen weitgehend. Die Spra-che erscheint noch immer telegramm-stilartig. Die Äußerungen des Kindes sindoftmals nur vor dem Hintergrund der ge-samten Situation zu verstehen und zu inter-pretieren. Solche Interpretationen werden –wie Untersuchungen belegen – von derMutter häufig vorgenommen, indem sie dieÄußerungen des Kindes in grammatischrichtiger Form wiedergibt und abwartet, obes gegen ihre Interpretation „protestiert“.

Mit dem Auftreten der Mehrwortsätzekann von grammatikalischen Strukturengesprochen werden. So wird z.B. aus„Mama Ball, Mama holen, Ball holen“ nun„Mama Ball holen“ (Subjekt – Prädikat –Objekt, hier: S – O - P).

Die Wortstellung im Satz weicht noch häu-fig von der Erwachsenensprache ab, da dasKind Wörter voranstellt, die ihm wichtigsind „Ball, gib mir“.

Oftmals werden auch Wörter zusammen-gezogen, „bin gangen“ statt „ich bingegangen“.

Nun äußert das Kind auch Adverbien „da,hier“, später Possessivpronomen „mein,dein“ und Präpositionen (Verhältniswörter)„auf, in“. Beim Erwerb der Verhältniswör-ter werden Ortsbestimmungen „in, auf“vor Zeitbestimmungen, wie „jetzt, heute,gestern“ erlernt. Das Kind benutzt zu-nächst den unbestimmten, später denbestimmten Artikel.

In Verbindung mit der geistigen Entwi-cklung und dem Vertrautwerden mit derUmwelt ist der Erwerb von Fragewörtern zusehen. Zunächst treten die Fragewörter„wo oder was“ auf, später folgen „wer,wie, wieviel?“ Das Kind fragt nach dem Na-men, es vergewissert sich.

Das Kind verwendet vorwiegend Hauptsät-ze, aber schon auf verschiedene Arten, z.B.als Ausrufe-, Frage- und Aussagesätze.

Es entwickelt verschiedene Nebensätzeund lernt, durch Über- und UnterordnungGedanken wiederzugeben. Die erstenNebensätze werden häufig nicht erkannt,weil sie durch einen undefinierbaren Uni-versallaut, wie „ä“ oder „mm“ eingeleitetwerden. Bald folgen Verknüpfungen mit„und“ oder „dann“, später erst mit „weil,darum, wenn“... Gegen Ende des drittenLebensjahres treten auch die ersten Relativ-sätze auf.

Das dritte Jahr

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Es fragt nach dem „warum, wann undwie lange“.

Etwa ab der zweiten Hälfte des drittenLebensjahres bezeichnet das Kind Gegen-stände und Objekte seiner Umgebung rich-tig. Es fragt nach dem Namen unbekannterDinge. Der Wortschatz nimmt zu.

Durch Ableitungen und Zusammensetzun-gen bildet das Kind neue Wörter, entspre-chend zu „Dunkelheit“ gibt es eine„Hellheit“, zu „Nachthemd“ das „Tag-hemd“, ein unbekanntes Geräusch führtezu der Frage „Oma, was hat dageräuscht?“12

Die Aussprache verbessert sich zuneh-mend. Es lernt auch die schwierigen Laute,wie „r und s“ richtig auszusprechen.

Kindestümliche Sprachbildungen gehenzurück, und die Kindersprache nähert sichder Erwachsenensprache an.

Zu den Strukturen, die das Kind erst späterfasst, gehören die Passivkonstruktionen.Das Verstehen und Bilden der richtigenPassivkonstruktion fällt dem Kind am leich-testen, wenn Handelnder und Leidenderlogisch nicht umkehrbar sind, wie: „DieMaus wird von der Katze gejagt“, d.h. dasKind weiß, dass die Katze die Maus jagtund nicht umgekehrt. Der eigentlicheErwerb der Passivkonstruktionen erfolgterst im Schulalter.

Mit etwa vier Jahren hat das Kind diewesentlichen Strukturen seiner Erstspracheerworben. Es spricht überwiegend in voll-ständigen Sätzen. In der Regel sind alleWortklassen vorhanden. Das Kind kann

seine Wünsche, Gedanken und Absichtenmitteilen. In der Sprache des Kindes herr-schen bis zur Einschulung im allgemeineneinfache und kurze Sätze vor, die vorwie-gend durch „und“ und „dann“ verbundenwerden. Der Wortschatz wird weiter ange-reichert.

Der Erwerb von Bedeutungen, der sehr engmit der kognitiven Entwicklung verbundenist, setzt sich bis ins Schulalter fort. Auchdas Verständnis für Passivkonstruktionennimmt im Schulalter weiter zu. Relativsätzewerden ebenfalls erst im Schulalter wirklichbeherrscht.

12 Gipper, a.a.O., 1985, S. 143

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Seit einigen Jahrzehnten wird das Leben inder Bundesrepublik durch den Zuzug vonMigrantinnen und Migranten, Aussiedlerin-nen und Aussiedlern sowie Flüchtlingengeprägt. Diese durch Migration entstande-ne multikulturelle Gesellschaft ist zugleichauch eine mehrsprachige Gesellschaft,wie u.a. in Kindertagesstätten und Schulendeutlich wird. Zwei- und Mehrsprachigkeitist allerdings kein Phänomen, das nur auf-grund von Migrationsbewegungen zustan-dekommt. Da die meisten Menschen inKontakt mit mehreren Sprachen aufwach-sen und es Zwei- und Mehrsprachigkeit inso unterschiedlichen Facetten und Formengibt, wird in der Literatur darauf hingewie-sen, dass Zweisprachigkeit in fast jedemLand der Erde vorkommt, z.B. in derSchweiz, in Belgien, in Grenzgebieten,und somit das Normale sei.

Dabei wurde Zweisprachigkeit über einelange Zeit als schädlich für die Entwicklungvon Kindern angesehen und nur „hochbe-gabten“ Kindern zugebilligt. Man war derAnsicht, dass Zweisprachigkeit zu schlech-teren Schulleistungen und zu geringerer In-telligenz führe, und die „sprachlicheHeimatlosigkeit“ Kinder seelisch instabilmache. Erst ab Anfang der 60er-Jahre setz-te sich die Auffassung durch, dass einezweisprachige Erziehung positive Auswir-kungen auf die soziale wie kognitive Ent-wicklung habe. An eine vollkommeneBeherrschung von zwei Sprachen in allenBereichen menschlichen Lebens ist dabeinicht gedacht. Zu welcher Art von Zwei-

sprachigkeit ein Kind gelangt, hängt haupt-sächlich von den Bedingungen ab, unterdenen zweisprachiges Lernen stattfindet.

Politische, ökonomische und soziale Aspek-te führten dazu, dass Menschen ihre Hei-matländer verlassen und sich u.a. in derBundesrepublik Deutschland niedergelas-sen haben. Wenn sie hier gesellschaftlichhandlungsfähig sein wollen, müssen sie ihrLeben in der Bundesrepublik zweisprachigorganisieren und gestalten. In diese zwei-sprachig organisierte Lebenswelt wachsendie Kinder hinein. Für Kinder aus zugewan-derten Familien bedeutet dies, dass sie auf-grund ihrer Lebenssituation, in ihrerEntwicklung und Persönlichkeitsbildungauf Zweisprachigkeit angewiesen sind.

In manchen Familien ist die sprachlicheSituation bereits durch mehr als zwei Spra-chen geprägt, weil Dialekte oder Regional-sprachen des Herkunftslandes gesprochenwerden. In anderen Familien gewinnt auchdie deutsche Sprache an Bedeutung.

3. Mehrsprachigkeit im Elementarbereich

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3.1 Erstsprache und Identitätsentwicklung

14 Vgl. Erikson

Schon ab der Geburt beeinflusst die Inter-aktion zwischen Eltern und Kind die Identi-tätsentwicklung des Kindes in entscheiden-der Weise. Neben dem Körperkontaktbieten Eltern dem Kind auch über die Spra-che Impulse zur Verständigung an. Gleich-zeitig erfährt es nach und nach, dass dieZeichen seiner Bedürfnisse wie Schreienoder Lächeln verstanden oder auch miss-verstanden werden. Nach Erkenntnissender modernen Säuglingsforschung entwi-ckeln sich dabei erste rudimentäre Vorstel-lungen vom eigenen „auftauchendenSelbst“.13 Reagieren die Eltern verlässlichund wiederholend auf die Interaktions-angebote des Kindes, helfen sie ihm, sichmehr und mehr als Subjekt zu erfahren, dasdie Reaktionen seiner Bezugspersonen

selbst beeinflussen kann. Indem das Kinderfährt, dass es Beziehungen mitgestaltenkann, lernt es, sich selbst von den Elternzu unterscheiden.

Bereits in diesen frühen Dialogen mit denEltern macht das Kind also Erfahrungen,die für den weiteren Verlauf der Identitäts-entwicklung von Bedeutung sind: In einerverlässlichen Interaktion mit Mutter undVater erlebt es Geborgenheit und Sicher-heit und entwickelt dadurch Urvertrauen.14

Dies hilft ihm, ein positives Selbstbild aufzu-bauen. Der Dialog mit der Umwelt istdamit ein Beitrag zur Entstehung, Entwick-lung und Stabilisierung der Ich-Identität desKindes.

13 Vgl. Stern

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15 Brazelton, Cramer, 1991, S. 76f16 Condon, Sander, 1975. In: Brazelton, Cramer, 199117 Brazelton, Cramer, a.a.O., S. 77f 18 Oerter, Montada, 1987, S. 607

Dabei begleitet die Sprache der Elternschon ab der Geburt die Interaktion mitdem Kind. Sie reagieren mit ihrer Körper-sprache, Wörtern und Lauten auf die Kom-munikationsangebote des Kindes. Klangund Stimmführung transportieren Gefühleund Stimmungen, die das Kind versteht,schon lange bevor es selbst sprechen kann.

Im Kontakt mit dem Kind erfahren Elternund andere wichtige Bezugspersonen rechtschnell, wie sie mit ihrer Stimme spezifischeKlangfarben, Melodien und Modulationenerzeugen, die dem Kind Geborgenheit undSicherheit vermitteln oder Aufmerksamkeitbeim Kind hervorrufen können. „Die ElternNeugeborener lernen rasch, welche Ton-höhe die Aufmerksamkeit ihres Babys zuwecken vermag. ... Aufmerksame Elternwerden überdies früher oder später fest-stellen, dass die Babys ihre Bewegungendem Rhythmus der elterlichen Stimmen an-passen und sie selbst, umgekehrt, das Glei-che tun.“15 Nach einer Untersuchung vonCONDON und SANDER16 gleichen Neuge-borene bereits unmittelbar nach der Geburtihre Bewegungen dem Rhythmus der Stim-me ihrer Mutter an. „Dies ist ein Beispiel fürdie große, wechselseitige Anpassungsfä-higkeit in der frühen Kindheit. Die Bewe-gungen des Babys stimmen mit denen derMutter überein, die ihrerseits ihren Sprach-rhythmus den Bewegungen des Babysanpasst.“17 Hieran wird deutlich, welcheBedeutung der Erstsprache in der Entwick-lung des Kindes zukommt.

Es ist die Sprache, die mit ihrem spezifi-schen Rhythmus und Klang dem Kind ersteErfahrungen des gemeinsamen Verstehensermöglicht und damit die Bindung zwi-schen Eltern und Kind festigen kann. DieSprache der Eltern ist durch erste Bindungs-erfahrungen stark emotional besetzt undhat damit eine „Intimität stiftende Funkti-on: Durch die besondere Sprechweise stelltdie Mutter eine positive affektive Bezie-hung zu ihrem Kind her und sichert diegegenseitige Verständigung.“18

Auch der Aufbau von Beziehungen zumVater, zu den Geschwistern und den Groß-eltern, die dem Kind helfen können, einSelbstbild in Abgrenzung zu ihnen aufzu-bauen, wird durch die Erstsprache beglei-tet. Somit ist die Erstsprache wichtiger Be-standteil des familiären Bindungsgefüges.Wird dem Kind zu einem späteren Zeit-punkt verwehrt, seine Erstsprache zu spre-chen, kann sich dies auch auf die Beziehun-gen zu Familienangehörigen auswirken.

Da sich die Identitätsentwicklung des Kin-des in sozialen Bezügen seines direkten undspäter auch erweiterten familiären Umfel-des vollzieht, werden mit der Erstsprachezugleich spezifische soziale Regeln, Nor-men und Werte vermittelt, die dem KindOrientierungspunkte für den Aufbau seinerIdentität bieten. „In der Mutter-Kind-Dyadevermittelt, ist Sprache das Produkt gemein-samer Teilnahme an gesellschaftlicherPraxis. ... Das Kind lernt also die Regeln der

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19 Oerter, Montada, a.a.O., S. 599f20 Peukert,1979, S. 121f21 Peukert, 1985, S. 326; vgl. auch Auwärter, Kirsch, Schröter 1976

Sprache nicht isoliert, sondern sie habenihren Ursprung in Strukturen des sozialenHandelns.“19 Im weiteren Verlauf seinesSpracherwerbs lernt das Kind mit dengrammatikalischen Regeln „zugleich dieihnen zugrunde liegenden sozialen Kon-ventionen, die in einem gesellschaftlichenSystem anerkannten und definiertenRollen und Positionen.“20

Im Verlauf der Identitätsentwicklung desKindes stellt der Spracherwerb also einewichtige Errungenschaft dar. Mit Hilfe derErstsprache kann das Kind seinen Gefüh-len, Bedürfnissen und Interessen einensprachlichen Ausdruck geben. Diese Fähig-keit unterstützt es dabei, sich von seinenBezugspersonen abzugrenzen und dabeisein Selbstbild zu festigen.

Für den Zusammenhang von Identitätund Sprache ist von Bedeutung, dass dieSprachentwicklung des Kindes eingebettetist in ein Wechselspiel von kognitiverund interaktiver Entwicklung.21 Dabeibeeinflussen sich alle drei Entwicklungs-stränge wechselseitig. Sie fördern gegen-seitig ihre Weiterentwicklung und sind Mo-tor für die Identitätsentwicklung.

Wenn ein Kind „merkt“, dass seine Fähig-keit, sich mit Gestik und Mimik non-verbalauszudrücken (interaktive Kompetenz),nicht mehr ausreicht, um verstanden zuwerden, so wird es sich bemühen, seinesprachlichen Kompetenzen voranzutreiben.

Ähnlich verhält es sich mit seinen kogniti-ven Kompetenzen. Neue Entdeckungenund Erfahrungen will ein Kind meist auchseinen Eltern oder anderen Bezugsperso-nen mitteilen. Oft kann beobachtet wer-den, wie Kinder um Worte ringen, um an-deren verständlich zu machen, wovon sieso begeistert sind (s. Beispiel).

Die Entwicklung sprachlicher, kognitiverund interaktiver Kompetenzen stärkt dasKind zugleich darin, seine Identität in Kom-munikation mit anderen zu erweitern unddabei auch zu stabilisieren.

Identitätsent-wicklung

kognitiveEntwicklung

sprachlicheEntwicklung

interaktiveEntwicklung

= Weiterentwicklung in den einzelnen Bereichen

Beispiel:

Kezan hat zusammen mit anderen Kin-dern aus ihrer Gruppe ein naturkundli-ches Museum besucht. Ulrike, die Er-zieherin, fragt Kezan, welches Tier ihram besten gefallen habe. „Das...“, siehält inne und schüttelt den Kopf. „Fälltdir das Wort nicht ein?“, fragt Ulrikezurück. Kezan schüttelt den Kopf. Ulri-ke: „Dann spiel mir doch dein Tier vor,und ich versuche es zu erraten.“ Kezannickt eifrig. Sie breitet ihre Hände wieFlügel aus und beginnt hin- und herzu-fliegen. „Ah, du meinst sicher einenVogel?“ „Nein, nicht Vogel, kleiner,ein...“ Ulrike: „Wie groß ist denn dasTier?“ Kezan zeigt den Abstand zwi-schen Daumen und Zeigefinger: „Klein“.Ulrike: „Und was für ein Geräuschmacht das Tier?“ Kezan produziert eindeutliches „ssss“ und fliegt summendum Ulrike herum. „Vielleicht eine Bie-ne?“„Bie..ne?“ fragt Kezan. Ulrike:„Ja, die sind von außen in das Museumhinein geflogen“. Kezan: „Ja, so – ( siespielt wieder eine Biene) – und dann...in das... (sie überlegt) Loch sss unddann sss... hinter dem Fenster unddann so mit den...“, Kezan zeigt aufihre Arme. „Meinst du vielleicht Flü-gel?“, fragt Ulrike. „Ja, Flügel, mit denFlügeln ganz schnell ssss und dann warda eine Bie..ne..., andere Biene...“Kezan ist kaum noch zu stoppen.

Die Erzieherin hatte im Museum beob-achtet, wie Kezan mit leuchtendenAugen vor dem Bienenstock stand, dereinsichtig war. Nach und nach holte Ke-zan ihre Freundinnen dazu, um ihnen diefür sie wichtige Entdeckung zu zeigen.

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Weiterhin wird in den frühen Interaktionenmit den Bezugspersonen die Basis für diespäteren sprachlichen Kompetenzen desKindes geschaffen. Aber auch im weiterenVerlauf des Spracherwerbs kommt denBezugspersonen eine bedeutende Rolle zu,denn „ihr sprachliches Handeln legt denGrund für das eigene sprachliche Handelndes Kindes; ihre Sicht von Welt ist es, durchdie das Kind seine ersten eigenen Einsich-ten gewinnt.“22

So werden die Alltagssituationen in zuge-wanderten Familien durch die in der Familievorherrschende Sprache beeinflusst. Inihr machen Kinder ihre ersten wichtigen

Lebenserfahrungen. In dieser Erstsprachewerden die Kinder erzogen. Ihre Werte undNormen, ihr Wissen von der Welt, ihre Ein-stellungen und Vorstellungen werden hier-durch entscheidend geprägt. Mit Hilfe derSprache erobern sie sich ihre Umwelt, wirdihnen kulturspezifisches und gesellschaftli-ches Wissen vermittelt. Mit der Erstspracheeignen sich Kinder Gestik, Mimik, Sprech-rhythmus und Intonation (Sprechmelodie)an, erwerben sie sprachliche Handlungs-kompetenz.

Die Sprache dient der Verständigung inner-halb der Familie, wobei das kontinuierlicheGespräch zwischen Eltern und Kindern unddas Angenommensein in der Familie grund-legend für die emotionale Entwicklungder Kinder sind.

3.2 Die Bedeutung der Erstsprache

22 Gogolin, 1988, S. 21

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In diesem Zusammenhang ist anzumerken,dass die Erstsprache in zugewandertenFamilien nicht unbedingt mit der National-sprache des Herkunftslandes gleichgesetztwerden kann. So müssen Kinder aus derTürkei nicht türkisch, sondern können auchkurdisch als ihre Erstsprache angeben.Kinder aus Italien könnten in ihren Familiennicht italienisch, sondern sardisch, rätoro-manisch, deutsch oder friaulisch sprechen.Da sich die Frage nach der Erstsprache vonaußen nicht eindeutig beantworten lässt,ist es für die Erzieherin hilfreich, die Famili-en danach zu befragen.

Ferner ist zu berücksichtigen, dass dieErstsprache der zugewanderten Familien –als Sprache von Minderheiten – nicht mehrin allen Lebensbereichen funktional ist.Sie beschränkt sich oftmals auf die Kom-munikation in der Familie, innerhalb dereigenen ethnischen Gruppe oder auf Kon-takte zum Herkunftsland. In den Lebens-bereichen, in denen es um die Kontaktezwischen Minderheit und Mehrheit geht,kommt die Sprache der Mehrheit, nämlichdie deutsche Sprache zum Tragen, z.B. inBereichen der Arbeit, Ausbildung, Bildung,Verwaltung und Politik. Damit verlieren dieSprachen der Minderheiten wesentlicheFunktionen in der öffentlichen Kommuni-kation, was u.a. auch zu Veränderungen indiesen Sprachen führt. Neben Veränderun-gen in der syntaktischen Struktur und in derBedeutung einzelner Worte fließen Wörterund Redewendungen aus der deutschenSprache in die Erstsprachen der zugewan-derten Familien ein. Wörter, wie „Kinder-garten, Jugendamt, Arbeitsamt“ sind viel-fach den Gesprächen von zugewandertenFamilien zu entnehmen.

GOGOLIN weist darauf hin, dass Kinderaus zugewanderten Familien währendihres Spracherwerbs eine sprachlicheSituation vorfinden, in der ihre FamilienStrategien sprachlichen Verhaltens entwi-ckelt haben, die u.a. auch die genanntenVeränderungen in der Erstsprache bein-halten. Damit begegnen Kindern bereitsin dieser Phase ersten Facetten von Zwei-sprachigkeit.

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Mit dem Eintritt in den Kindergarten müs-sen Kinder oft auf der Grundlage einernoch wenig beherrschten Erstsprache dieZweitsprache Deutsch erlernen. Unter Hin-weis auf die bevorstehende Einschulungfordern manche Eltern eine ausschließlicheBetreuung in der deutschen Sprache. Aberauch viele sozpäd. Fachkräfte sind der Mei-nung, dass Eltern im Hinblick auf eine Inte-gration Gespräche mit ihren Kindern nurnoch in der Zweitsprache Deutsch führensollten, weil sie sich hierdurch Unterstüt-zung für die eigene Arbeit in den Gruppenerhoffen. Vielfach ist im Alltag zu beobach-ten, dass die Erstsprache der Kinder nichtzur Kenntnis genommen oder als Hindernisbeim Erwerb der Zweitsprache angesehenund als Familienangelegenheit abgetanwird.

Dieses Vorgehen kann sich jedoch – siehtman sich die vielfältigen Funktionen derErstsprache an – als problematisch für dieweitere Entwicklung der Kinder erweisen.

Das Kind hat seine ersten sprachlichenErfahrungen in der Sprache der Familiegemacht, es hat gelernt, seine Gefühle aus-zudrücken und seine Erfahrungen undErlebnisse mitzuteilen. Diese Erstsprache istalso Teil seiner selbst geworden. EineAblehnung oder Leugnung der Sprachekann beim Kind zu einer Beeinträchtigungseines Selbstverständnisses führen.

Die Ablehnung der Erstsprache ist eineganz umfassende Zurückweisung desKindes, „denn die Sprache steht für all das,was das Immigrantenkind ‘anders’ macht:seine Familie, seine Herkunft, sein Name,seine alltäglichen Gewohnheiten und seineWertvorstellungen.“23

Die Zurückweisung kann – nach WAGNER– zu einer starken Verunsicherung undAnspannung führen, denen das Kind aufunterschiedliche Art und Weise zu begeg-nen sucht, indem es sich von der eigenenFamilie oder von den deutschen Bezugsper-sonen mit ihren Vorstellungen distanziert.Eine Ablehnung kann den Aufbau einesSelbstbewusstseins erschweren, und zwar„im Sinne einer tiefen Sicherheit“, dass esüber Fähigkeiten verfügt, die von anderenMenschen anerkannt werden. DiesesSelbstbewusstsein wiederum ist Vorausset-zung für Interesse an und Offenheit gegen-über Lernprozessen und erleichtert demKind den Erwerb von Fähigkeiten und Fer-tigkeiten.

Eine fehlende Förderung der erstsprachi-gen Fähigkeiten des Kindes kann auch dieKommunikation zwischen Kindern undihren Bezugspersonen gefährden. DieMöglichkeit, Erfahrungen und Erlebnissevon außerhalb in der Familie mitzuteilenund dadurch die Verbindung zwischen zweioftmals recht unterschiedlichen Erfah-rungsbereichen herzustellen, wird dadurcherheblich eingeschränkt.

Eine fehlende Unterstützung führt letztlichdazu, dass das Kind in seinen individuellenEntwicklungsmöglichkeiten und seinenChancen auf selbstbestimmte und gleich-berechtigte Partizipation am Leben seinerethnischen Gruppe eingeschränkt wird.

Neben diesen emotionalen und sozialenBeeinträchtigungen kann eine Vernachläs-

23 Wagner, 1993, S. 170

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sigung der Erstsprache auch zu Problemenim kognitiven Bereich und zu schulischemVersagen führen. Aus der Spracherwerbs-forschung ist mittlerweile bekannt, dassKinder, die über eine gut entwickelte Erst-sprache verfügen, weniger Schwierigkeitenbeim Erwerb einer zweiten Sprache aufwei-sen, weil sie bereits in der Erstsprachegrundlegende sprachliche, kommunikative,soziale und kognitive Fähigkeiten erworbenhaben, die das Erlernen der zweiten Spra-che begünstigen. So „wissen“ sie, dasseine Sprache nach Regeln aufgebaut istund dass ein wesentlicher Teil der Kommu-nikation an Sprache gebunden ist. Unter-suchungen zur Zweisprachigkeit zeigen,dass es zu Schwierigkeiten in der Zweit-sprache kommen kann, wenn nur derZweitspracherwerb gefördert und die Erst-sprache vernachlässigt wird.

In Alltagssituationen ist zwar immer wiederzu beobachten, dass Kinder fließend undakzentfrei über alltägliche Dinge sprechen.Dies lässt sich nach MAIER aber damiterklären, dass sich die Ausdrucksfähigkeitder Kinder in der Regel auf die immer wie-derkehrenden Situationen beschränkt, diesich auf Grund eines relativ festgelegtenTagesablaufs und der geringen Anzahl vonSprechanlässen zwischen Erzieherin undKindern ergeben. Erst beim genauen Zuhö-ren und schließlich in der Schule wird deut-lich, wie unzureichend die sprachlichenFähigkeiten in der zweiten Sprache sind,wie gering der Wortschatz ist, welche Män-gel beim Satzbau und auf der abstraktenEbene der Begriffe vorliegen. Dadurch be-stehen erhebliche Lücken bei Aufgaben,die sprachliche und gedankliche Abstra-hierfähigkeit verlangen.

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Da es erfahrungsgemäß nicht ausreicht,wenn das Kind erst in der Schule einigeStunden muttersprachlichen Förderunter-richt erhält, sollte eine Förderung bereitsfrüher einsetzen.

Der besonderen Bedeutung, die die Erst-sprache für die Entwicklung von Kindernhat, wird auch in der UN – Kinderrechts-konvention Rechnung getragen, wenn esdort in Artikel 30 heißt:

„In Staaten, in denen es ethnische, religiöseoder sprachliche Minderheiten oder Urein-wohner gibt, darf einem Kind, das einersolchen Minderheit angehört oder Urein-wohner ist, nicht das Recht vorenthaltenwerden, in Gemeinschaft mit anderenAngehörigen seiner Gruppe seine eigeneKultur zu pflegen, sich zu seiner eigenenReligion zu bekennen und sie auszuübenoder seine eigene Sprache zu verwenden.“

3.3 Wesentliche Aspekte beim Erwerb der deutschen Sprache

Beim Besuch von Tageseinrichtungen oderSchulen, bei Kontakten zu Gleichaltrigenoder in Gesprächen mit älteren Geschwis-tern steht vielfach die deutsche Sprache imMittelpunkt. Um sich hier zurechtfindenund wohl fühlen zu können, um deutscheFreunde gewinnen oder um den Anforde-rungen außerhalb der Familie entsprechenzu können, ist das Kind auf die deutscheSprache angewiesen, d.h. ein wichtiger Teilseiner Entwicklung und seines Lebens spieltsich in dieser Sprache ab.

Der Besuch des Kindergartens bringt fürviele Kinder eine größere Umstellung undNeuorientierung mit sich. Sie müssen evtl.zum ersten Mal für eine längere Zeit aufvertraute Bezugspersonen verzichten, sichauf neue, unbekannte Situationen einstel-len und eine neue Rolle einnehmen. Eswerden Erwartungen an ihr Verhalten ge-stellt, die möglicherweise von denen inihren Familien abweichen. Sie werden mit

zum Teil noch fremden Lebensgewohnhei-ten und anderen Erziehungsvorstellungenkonfrontiert, müssen sich auf Regeln einlas-sen, die sie so nicht kennen. Die im Kinder-garten vorhandenen Spielmaterialien undderen Handhabung sind vielfach nicht be-kannt. Die Kinder können ihre Bedürfnisse,ihre Unsicherheiten und Ängste nicht mit-teilen, fühlen sich unverstanden, fremd, derneuen Situation nicht gewachsen und müs-sen dennoch immer wieder mit neuenSituationen zurechtkommen. Das Gefühlvon Fremdheit, das mit dieser Situation ver-bunden ist, wird umso größer, je mehr dasKind erfährt, dass es die Sprache der soz-päd. Fachkraft und anderer Kinder nichtversteht und dass es sich mit seiner Erst-sprache nicht verständlich machen kann.Diese Situation kann für Kinder sehr ver-wirrend und beängstigend sein.

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Das in diesen Situationen Unvertraute,Fremde kann dazu führen, dass einige vonihnen ihr Bedürfnis, sich mitzuteilen, aufge-ben und zu Beginn des Kindergartenbe-suchs „sprachlos“ werden. Kinder erfor-schen ihre Umwelt – so Maslow – gerne„aus einem sicheren Hafen heraus“. Unsi-cherheit und Angst können stärker sein alsNeugier und damit Lernbereitschaft beein-trächtigen. Andere Kinder ziehen sich zu-rück und ergreifen kaum Spielinitiativenoder versuchen, sich mit Gewalt durchzu-setzen, weil ihnen die sprachlichen Möglich-keiten fehlen, Wünsche und Bedürfnisse zuartikulieren. Solange Kinder aus zugewan-derten Familien aber über keine oder nurgeringfügige Kenntnisse in der deutschenSprache verfügen, können sie sich weder

mit der sozpäd. Fachkraft noch mit anderenKindern austauschen, Fragen stellen oderbeantworten. Zudem werden sie erfah-rungsgemäß selten von deutschen Kindernangesprochen. Auch können sich Kindermit Migrationshintergrund erst dann als in-tegriertes Mitglied einer Gruppe begreifen,wenn sie den Gruppenprozess verstehenund sich daran beteiligen können. Wenneine einigermaßen mühelose, altersent-sprechende Verständigung zwischen denKindern nicht möglich ist, sind Kontakte, dieüber den Kindergartenalltag hinausreichen,und ein kooperatives Spielen und Lernenschwerlich zu erreichen. Gemeinsame Spiel-aktivitäten können erst entstehen, wennsich alle Kinder bei der Planung und Abspra-che von Handlungen einbringen können.

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Spracherwerb – ein kreativer Prozess

Ein großer Teil der Kinder aus zugewander-ten Familien erwirbt die deutsche Spracheunter natürlichen Bedingungen, d.h. sieerlernen die zweite Sprache – wie beimErstspracherwerb – über die Kommunikati-on mit anderen. Dieser Prozess wird daherauch als natürlicher oder ungesteuerterZweitspracherwerb bezeichnet. Wesentlichist hierbei, dass Kinder eine sprachanregen-de Umwelt brauchen, in der sie Spracheanwenden können.

Das Erlernen einer zweiten Sprache ist einkreativer Prozess, d.h. Kinder sprechennicht nur einfach nach, was ihnen vorge-sprochen wird, sondern experimentierenmit der Sprache, erlernen die Sprache nachbestimmten Grundprinzipien.

So greifen sie einzelne Elemente aus denÄußerungen ihrer Umgebung auf und bil-den sich daraus ein Sprachgerüst, ein ei-genständiges grammatikalisches System,das sich in einigen Bereichen mit demErwachsenenmodell deckt, in anderen Be-

reichen von der zu erlernenden Spracheabweicht, z.B. „ich habe zweimal geneh-men“, und das sie – entsprechend derRückmeldung aus ihrer Umgebung – prü-fen, ergänzen und verändern. Das Aufneh-men, Überprüfen und Verarbeiten von In-formationen erfolgt dabei nicht willkürlich,sondern unterliegt bestimmten Gesetzmä-ßigkeiten, die dem Kind allerdings nicht be-wusst sind. „Ein entscheidendes Merkmaldes natürlichen Zweitspracherwerbsscheint (...) zu sein, dass das Kind dieZielstrukturen nicht in der vorgegebenenForm aufgreift und speichert, sondern sievielmehr in ihre Bestandteile auflöst, umdann aus diesen Bestandteilen nach festenRegeln Äußerungen zu bilden.“24

Erstsprachliche Vorkenntnisse

Der Erwerb der zweiten Sprache kann alsein Prozess beschrieben werden, der ähn-lich verläuft wie der Erwerb der erstenSprache. Dabei fließen das sprachliche

24 Felix, 1982, S. 63

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Vorwissen und die Vorerfahrungen ausdem Erstspracherwerb auf unterschiedlicheWeise bei der Lautbildung, beim Wort-schatz und Satzbau als auch bei den Phasendes Zweitspracherwerbs ein. Kindergarten-kinder verfügen über Erfahrungen mit derErstsprache und haben bereits sprachlicheFertigkeiten entwickelt, auf die sie beimErlernen der zweiten Sprache zurückgreifenkönnen. Aufgrund der erstsprachlichenVorkenntnisse sind Kinder im Stande, denSprach-Lernprozess in der ZweitspracheDeutsch effektiver zu gestalten.

Die Beeinflussung des Zweitspracherwerbsdurch die erste Sprache kann allerdingsauch negativ verlaufen, d.h. „die einmalgelernte sprachliche Struktur (wird) fälsch-lich auf die Zweitsprache übertragen,ohne dass vielleicht auch nur der Versuchunternommen wird, die der zweiten Spra-che eigenen Strukturen kennen zu ler-nen.“25 Solche Interferenzen lassen sich inverschiedenen Bereichen beobachten, z.B.bei der Aussprache und der Grammatik.

Interferenzen treten bei jüngeren Kindern –so APELTAUER – allerdings seltener auf alsbei älteren Sprachlernern, weil sie wederauf eine voll entwickelte Erstsprache zu-rückgreifen können noch über voll entwi-ckelte kognitive Fähigkeiten und das Wis-sen über Zusammenhänge eines älterenLerners verfügen.Verstehen von Sprachegeht dem eigentlichen Sprechen voran.

Hier sind oftmals große Unterschiede beiKindern zu beobachten. Einzelne Kindersprechen erst nach einigen Monaten, wenn

sie bereits vieles verstehen und sie sich eini-germaßen sicher fühlen. Andere Kinderversuchen sich bereits mit einigen wenigenWorten in der zweiten Sprache.

Für die Erzieherin ist es wichtig, die Kinderanzusprechen, ihnen Sprachmuster anzu-bieten, ohne eine Antwort zu erwarten.Es ist davon abzuraten, „das Kind verfrühtzum Nachsprechen aufzufordern. Nach-sprechen nützt in dieser Phase wenig, dasich das Kind die Bedeutung des Gespro-chenen erst noch erschließen muss.“26

Erschließen von Wortbedeutungen

Kinder, die über keine oder nur geringeKenntnisse in der deutschen Sprache verfü-gen, müssen lernen, auf eine für sie zu-nächst kaum analysierbare, große Anzahlvon Lauten angemessen zu reagieren.Wenn Kinder nicht wissen, was die Erziehe-rin oder der Erzieher z.B. meint, versuchensie, den Verhaltensweisen und Äußerungender sozpäd. Fachkraft eine Bedeutung zuzu-weisen. Um die Bedeutung von Wörtern,die Kinder nicht oder noch nicht ganzverstehen, zu erfassen, orientieren sie sichan der Mimik und Gestik ihrer Bezugs-personen und an prosodischen Merkmalen,wie Lautstärke, Tonhöhe und Dauer, diebewirken, dass bestimmte Silben oder Wör-ter stärker hervortreten als andere. Über dieArt der Betonung einzelner Wörter, die Ver-änderung der Tonhöhe und Zeigegestenversuchen Kinder, den gesamten Laut-schwall zu gliedern und zu strukturierenund so Zugang zur Sprache zu finden.

26 Müller, Rösch, 1985, S. 68f25 Schönpflug, 1977, S. 124

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Die Art der Betonung einzelner Wörter, dieTonführung bei Sätzen und begleitendeKörperbewegungen helfen Kindern, „densprachlichen Strom von Lauten zu gliedernund zu strukturieren und sich so allmählichdie Sprache zu erschließen.“ Sie lernen,„sich innerhalb eines Geflechts aus konven-tionalisierten, kulturspezifischen Zeichen(z.B. Wörter, Blickkontakt, Körperdistanz)und natürlichen Anzeichen (z.B. Körperhal-tung, Stimmqualität, Sprechgeschwindig-keit) zu orientieren.“27 Kinder müssen alsoherausfinden, welche Beziehung z.B. zwi-schen den sprachlichen Äußerungen dersozpäd. Fachkraft und deren Handlungenoder bestimmten Situationen bestehen.Dabei ist eine eindeutige Zuordnung einersprachlichen Äußerung zu einem Gegen-stand nicht immer leicht herzustellen(s. Beispiel).

Um sich eine fremde Sprache aneignen zukönnen, müssen Kinder beobachten, diein der Situation gewonnenen Eindrückeordnen, den Verhaltensweisen oder Äuße-rungen ihrer Bezugspersonen Bedeutungenzuweisen und schließlich überprüfen, obihre Annahmen, ihre Vermutungen richtigsind.

Die Kinder spielen draußen. Die soz-päd. Fachkraft wendet sich an Mirko:„Hol dir doch den Ball“ und zeigt aufden weiter entfernt liegenden Ball.Diese Hinweisgeste erleichtert zwarMirko die Zuordnung der sprachlichenÄußerung zum Gegenstand „Ball“,aber was er mit dem Ball tun soll, bleibtfür Mirko nach wie vor unklar, er kannhier nur Vermutungen anstellen, wasmit dem Ball geschehen soll.

27 Apeltauer, a.a.O., S. 42

Beispiel:

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Der Inhalt ist wichtiger als die Form

Kinder wollen sich anderen mitteilen undvon ihnen verstanden werden, d.h. im Mit-telpunkt ihres Interesses steht der Bedeu-tungsgehalt der Sprache. Bei ihrem Bemü-hen, sich sprachlich zu verständigen, gehtes ihnen zunächst weniger darum, ob siesich dabei auch „richtig“ ausdrücken.Beobachtungen im Rahmen der Sprachför-derung zeigen, dass manche Kinder sehrsensibel darauf reagieren, wenn sie bemer-ken, dass es ihrem Gesprächspartner eherum die korrekte Form geht und der Inhaltihrer Mitteilung zur Nebensache wird.Um die formale Korrektheit ihrer Sprachebemühen sich die Kinder, indem sie nach-fragen, wie etwas heißt, sich in Wiederho-lungen verbessern oder sich gegenseitigkorrigieren „Das heißt nicht Möbels, dasheißt Möbel“.

Orientierung an Regeln und Strukturen

Ein grundlegendes Merkmal des Zweit-spracherwerbs ist, dass er in bestimmtenEntwicklungssequenzen, in bestimmtenAbfolgen, verläuft. Diese Abfolgen in dersprachlichen Entwicklung können unter-schiedlich lang sein. Auch ein Überspringeneinzelner Stadien ist nicht auszuschließen.

Dabei treten bestimmte Strukturen erstdann auf, wenn das Kind zuvor andere be-stimmte Strukturen verwendet hat. So istz.B. eine „satzinterne Verneinung“ erstmöglich, wenn Formen der „satzexternenVerneinung“ bereits vorhanden sind (s. Bei-spiel 1).

Aufgrund ihrer Kenntnisse aus der Erstspra-che „wissen“ Kinder auch, dass sprachlicheÄußerungen in bestimmte Satzstrukturengekleidet werden, dass Fragen gestellt undBegründungen gegeben werden können.Sie scheinen zu wissen, dass sprachlicheMitteilungen nicht durch ein wahllosesAneinanderreihen von Wörtern gebildetwerden, sondern bestimmte Regeln undOrdnungsprinzipien angewendet werdenmüssen. Dazu müssen sie zuerst dasGrundverständnis für eine bestimmteStruktur erworben haben, bevor sie in derLage sind, diese von ihnen „erkannte“Struktur anzuwenden. Dabei beginnen siemit einem einfachen Satzbau und sog. Ko-pulasätzen, mit Sätzen, die mit dem Hilfs-verb „sein“ gebildet werden, z.B. „ich seinJunge“. Allmählich werden die Sätze längerund enthalten Verben, wie „essen, trinken“und Modalverben, wie „können, sollen“.Schließlich wird der Satzbau komplexer,und das Kind ist imstande, schwierige Sätzezu bilden und sich zu verständigen. Es bautseine Sätze zunehmend über verschiedeneStadien nach dem Erwachsenenmodell aus(s. Beispiel 2).

Beispiel 1:

Satzexterne Verneinung:F.: David, bist du in der Küche?D.: nein, ich komm doch.F.: das ist ja kaputt.D.: nein kaputt.

Satzinterne Verneinung:F.: was machst du denn da? Isst du deine Schokolade?D.: ich nein essen.

G.: Julie nicht spielt mit.

„er singt das Lied nicht“.28

Beispiel 2:

„du kannst blau (= du kannst den blau-en Stift nehmen)ich gemacht ein Hunddu kann kommendu kannst das sehen.“29

28 Felix, a.a.O., S. 24ff29 Felix, 1978, S. 108ff

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Im Bereich der Laute müssen Kinder nurnoch solche erwerben, die ihnen von derErstsprache her unbekannt sind. Mit demErwerb der Erstsprache bilden Kinder einen„Lautfilter“, der zunächst die in der Erst-sprache nicht vorkommenden Laute, d.h.also die neuen Laute aus der Zweitsprache,als nicht wichtig aussondert. Erst danachwerden die einzelnen Laute analysiert.

Der Erwerb von Lauten, von Ausspracheund Betonung geht mit dem Erlernen an-derer Bereiche der Zweitsprache einher,wobei jüngere Kinder meist wenig Ausspra-cheschwierigkeiten haben.

Beobachtungen im Alltag

Kinder im Kindergartenalter verfügen be-reits über bestimmte Alltagsbegriffe. Sie

wissen z.B., was Tisch, Brot, essen, schla-fen, warm oder kalt ist. Sie wissen jedochvielfach nicht, wie dies in der Zweitsprachegenannt wird. Es kann allerdings auch vor-kommen, dass Kinder im Kindergartenneue Alltagsbegriffe erlernen, die ihnen vonder Erstsprache her noch nicht bekannt sind.Außerdem haben sie in bestimmten Situa-tionen bereits kommunikative Fertigkeitenerworben. Sie kennen aus der ErstspracheSituationen, wie „sich begrüßen“, „sichverabschieden“, „sich bedanken“ und wis-sen, wann und wo sie angewendet werden.

Im Kindergarten wird das Kind über Spiel-und Handlungssituationen an die zweiteSprache herangeführt. Manchmal kann esdabei die Bedeutung des Gesprochenenaus dem nichtsprachlichen Teil der Situatio-nen entnehmen, z.B. bei der Begrüßungoder bei der Verabschiedung. Allerdings isthier zu berücksichtigen, dass Kinder mitMigrationshintergrund aus Kulturbereichenkommen, in denen sich Regeln des Begrü-ßens oder Verabschiedens von unserendeutlich unterscheiden können, z.B. Blick-kontakte aufnehmen, die Hand reichen.

Das Kind nimmt zunächst einzelne Wörter,oftmals Alltagsbegriffe, aus den gehörtenÄußerungen auf. Weiterhin greift es ausdiesen Äußerungen einzelne sprachlicheElemente, z.B. Regeln für die Wortstellung,Wortschatzregeln, Regeln für die Vernei-nung im Satz, auf und versucht, seineÄußerungen nach den von ihm erfasstenRegeln zu bilden. Dabei helfen ihm dieRückmeldungen aus seiner Umgebung.

Es erkennt allmählich, dass sich in denverschiedenen Äußerungen einzelne Teilewiederholen, und beginnt, diese Teile zu

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isolieren und in neuen Redewendungenanzuwenden. Auf diese Weise wird es ihmmöglich, sich in alltäglichen Situationenmehr und mehr sprachlich zu beteiligen.

Beim Erwerb der Zweitsprache ist zu beob-achten, dass Kinder im Satz solche Wörterauslassen, die wenig Informationen enthal-ten und deren Bedeutung aus der Situatio-nen heraus erfasst werden kann, z.B.„Puppenecke spielen“, statt „ich möchte inder Puppenecke spielen.“ Bei den Wörtern,die das Kind oftmals auslässt – die auchFunktionswörter genannt werden – handeltes sich um Pronomen (z.B. Personalprono-men: ich, du), Präpositionen (mit, in), Arti-kel (der, die, das), Konjunktionen (und,oder), Hilfsverben (können, wollen, sein,müssen) und Flexionsendungen (z.B. derWald – des Waldes). Dagegen werden In-haltswörter, wie Substantive (z.B. Puppen-ecke), Verben (z.B. spielen) und Adjektive(z.B. schnell, schön) beibehalten.

Zudem gibt es in der deutschen Spracheeine Vielfalt an Wortformen, die sich auf-grund von Pluralbildung (z.B. das Tier –die Tiere), Deklination (z.B. das Buch – desBuches) und Konjugation (z.B. ich male –ich habe gemalt) ergeben und durch Wort-endungen, Vorsilben, Artikel, Präpositio-nen, Pronomen oder durch Wortstellung imSatz gebildet werden.

Kinder reduzieren oft die Vielfalt in denWortformen auf einige wenige und erleich-tern sich auf diese Weise den Einstieg in dieneue Sprache. So verwenden sie z.B. beimEinsatz von Artikeln nur einen statt dreiArtikel, den sie dann in verschiedenenSituationen gebraucht (z.B. die Puppe,die Ball, die Haus).

Auch bei der Anwendung von Regeln tre-ten beim Erlernen der neuen Sprache Ab-weichungen auf, wenn das Kind z.B. sagt:„Der Vogel hat gesingt“. Das Kind hat hierein falsches Partizip gebildet. Wenn man al-lerdings bedenkt, wie regelmäßige Verbenihr Partizip bilden, hat es sich einer Formbedient, die möglich ist. Es hat z.B. gelernt,wie schwache Verben das Partizip bilden:malen – gemalt, machen – gemacht undüberträgt diese Form auch auf alle starkenVerben, wie singen – gesingt, trinken –getrinkt.

Ferner sind Abweichungen auch bei derPluralbildung zu beobachten, nämlichdann, wenn das Kind eine unveränderteSingularbildung beibehält, z.B. ein Haus –zwei Haus.

Mit Hilfe dieser Strategien nähert sich dasKind allmählich der korrekten Sprachform.Weil Kinder eigenen Regeln folgen, neh-men sie direkte Korrekturen von anderenauch seltener auf.

Wie wenig Korrekturen bewirken, mag einGespräch zwischen Mutter und Kind ver-deutlichen (s. Beispiel).

M e h r s p r a c h i g k e i t i m E l e m e n t a r b e r e i c h _

30 Zimmer, 1986, S. 21f

Beispiel:

„Kind: Keiner mögt mich nicht.Mutter: Nein, das heißt Keiner

mag mich.

Kind: Keiner mögt mich nicht.Mutter: Nein, das heißt Keiner

mag mich.

Kind: Keiner mögt mich nicht.Mutter: Nein, das heißt Keiner mag mich.

Fünf weitere Male der gleicheWortwechsel.Dann:

Mutter: Nein, nun hör mal genau zu – Keiner mag mich.

Kind: Achso. Keiner magt mich nicht.“30

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_ T h e o r e t i s c h e G r u n d l a g e n

Das Kind kann also nur Sprachformen auf-nehmen, die in sein momentanes Sprach-system hineinpassen. Darum braucht es ei-ne sprachanregende Umgebung, die ihmvermittelt, wie es seine Sprache ändernund weiterentwickeln muss. Mit direktenKorrekturen, wie „das ist falsch“ oder „soheißt das nicht“ verbunden mit einemNachsprechen lassen der korrekten Äuße-rung kann es oftmals nicht viel anfangen.Sie können sich sogar störend auf seine

Lernmotivation auswirken. Um die Sprech-freude und Unbefangenheit des Kindes zuerhalten, sollte die sozpäd. Fachkraft dasvom Kind Gesagte in korrekter Form wie-derholen, ohne das Kind zum Nachspre-chen aufzufordern: z.B. Kind: „Ich habe einLied gesingt“, Erzieherin: „Du hast ein Liedgesungen“ oder „Welches Lied hast du ge-sungen?“, über die Frage könnte sich hiersogar noch ein Gespräch ergeben.

Wesentlich für eine zweisprachige Erzie-hung ist, dass die beiden Sprachen anPersonen gebunden und nicht willkürlichgewechselt und benutzt werden. WennKinder von Geburt an zwei Sprachen gleich-berechtigt erwerben, weil ihre Eltern jeweilsüber eine andere Erstsprache verfügen, soll-ten Mutter und Vater nur in ihrer Sprachemit dem Kind kommunizieren. Das Kindlernt auf diese Weise, sich sicher zwischenzwei Sprachen zu bewegen. Diese Bindungder Sprachen ist ein Ordnungsprinzip, dasvom Kind problemlos übernommen werdenkann, das allerdings hohe Anforderungenan das Sprachverhalten der Eltern stellt,wenn es konsequent beibehalten wird.

Diese Sprachtrennung sollte auch Anwen-dung finden, wenn sich die Familienspra-che von der Umgebungssprache unter-scheidet, wie dies bei Kindern auszugewanderten Familien anzutreffen ist.Die Umgebungssprache wird mit zuneh-

mendem Alter immer wichtiger für die Kin-der, wenn sie Kontakte zu gleichaltrigendeutschen Kindern finden, Kindergartenoder Schule besuchen. Hierbei ist zu beob-achten, dass die Umgebungssprache einenbeträchtlichen Druck auf die Familienspra-che ausübt, so dass die Umgebungssprachezunehmend mehr zur „starken“ und dieSprache in der Familie zur „schwachen“Sprache wird.

Für eine erfolgreiche zweisprachige Erzie-hung erweist es sich jedoch als günstig,in der Familie weiterhin die Familiensprachezu sprechen, sich nicht dem Druck der Um-gebung anzupassen und die Umgebungs-sprache als Familiensprache zu überneh-men. Eltern sollten ermutigt werden,Gespräche mit ihren Kindern in der Famili-ensprache zu führen. Im Kindergarten hatdann die Förderung der deutschen Spracheihren Platz. Sind im Kindergarten sozpäd.Fachkräfte mit Migrationshintergrund an-

3.4 Überlegungen zur zweisprachigen Erziehung

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gestellt, lässt sich auch hier eine funktiona-le Sprachtrennung vornehmen, indem z.B.die griechische sozpäd. Fachkraft überwie-gend in der griechischen Sprache, die deut-sche sozpäd. Fachkraft in der deutschenSprache mit dem Kind spricht.

Damit eine zweisprachige Erziehung gelin-gen kann, ist eine ausreichende emotionaleund sprachliche Zuwendung Grundvoraus-setzung. Für eine erfolgreiche zweisprachi-ge Erziehung ist es notwendig, dass beideSprachen mit einer ähnlichen Intensität andas Kind heran getragen werden. Sonstbesteht die Gefahr, dass sich eine derbeiden Sprachen schneller entwickelt undzur „starken“ Sprache wird.

GOGOLIN bemerkt hierzu, dass Kinder, dienur über eingeschränkte Ausdrucksmittel ineiner der beiden Sprachen verfügen, „vonMöglichkeiten der aktiven Partizipation ander Kommunikation in einem Teil ihrerLebenswelt abgeschnitten“ sind.31

Mit dem Erwerb der deutschen Sprachekönnen Situationen auftreten, die dieMotivation des Kindes und damit auch sei-ne Lernprozesse beeinträchtigen können.

So treten in manchen Familien Konflikteauf, weil sich Eltern und Kinder aufgrundunterschiedlichen Sprachvermögens von-einander entfremden. Die Kinder erleben,dass sie von ihren Eltern nicht verstandenwerden und sie ihre Erlebnisse aus demKindergarten oder mit anderen Kindernnicht mitteilen können.

Zudem kann der vielfach vorhandene sprach-liche „Vorsprung“ von Migrantenkindern zueiner Verunsicherung der Eltern führen. Die-se Verunsicherung wiederum kann Unsicher-heiten und Konflikte bei den Kindern auslö-sen, die sich in einer Störung der Erstspracheoder beim Erlernen der deutschen Spracheäußern können. Allerdings kann der sprach-liche Vorsprung der Kinder auch zu einerÜberbewertung ihrer sprachlichen Kompe-tenzen durch die Eltern führen. In Folge kannes zu überhöhten Bildungserwartungen andie Kinder kommen.

Weiterhin kommt es vor, dass die mit derSprache der Kinder aus der deutschen Um-gebung in die Familie hinein getragenenWerte und Verhaltensweisen auf den Wider-stand der Eltern stoßen, die diese Einflüsseals eine Bedrohung des eigenen Selbstver-ständnisses empfinden und ablehnen.

Ferner können Störungen in der Beziehungzwischen Kind und Bezugspersonen dieUrsache dafür sein, dass das Kind Spracheverweigert, weil es einen bestimmtenErwachsenen ablehnt und ihn mit der Ver-weigerung „bestrafen“ will.

Aber auch der Wunsch, zu den anderenKindern dazu zugehören, so zu sein wie alleanderen Kinder, kann zu einer Verweigerungder Erstsprache führen.

Wesentlich für die zweisprachige Entwicklungist, dass die Umgebung des Kindes einer Zwei-sprachigkeit gegenüber positiv eingestellt ist.Hierbei sind die Einstellung der Familie gegen-über der zu erlernenden Sprache und die Er-fahrungen von Bedeutung, die das Kind imUmgang mit Gleichaltrigen und Erwachsenenmacht, die die Zweitsprache sprechen.31 Gogolin, a.a.O., S. 102

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Kinder aus zugewanderten Familien erfah-ren vielfach, dass ihre Erstsprache von Spre-chern der Zweitsprache abgewertet undihre kulturellen Orientierungen von derdeutschen Umwelt abgelehnt oder alsminderwertig angesehen werden. DieseZurückweisung kann von Kindern als per-sönliche Ablehnung erlebt werden undMinderwertigkeitsgefühle auslösen, derenFolge mangelhaftes Selbstvertrauen, einüberzogenes Bedürfnis nach Anpassungund Verweigerung oder Ablehnung derSprache sein kann. Solche Diskriminierun-gen können eine zunächst hohe Bereit-schaft zum sprachlichen Lernen erheblichbeeinträchtigen.

Hinzu kommt, dass Kindern mit Migrati-onshintergrund von ihrer Umgebung nurselten Anerkennung und Bewunderungwegen ihrer Zweisprachigkeit entgegen-gebracht wird. Sie werden meist nur unterdem Aspekt gesehen, erhebliche Defizite inBezug auf ihre sprachlichen Fähigkeitenaufzuweisen, d.h. im Alltag werden dieseKinder oft so wahrgenommen, dass sie dieeine Sprache „noch nicht“, die andereSprache „nicht mehr“ vollständig beherr-schen. Ein positives Selbstbild, ein Vertrau-en in die eigenen Fähigkeiten kann sichdabei kaum entwickeln.

Ferner ist für das Gelingen einer zweispra-chigen Erziehung auch das Ansehen einerSprache von Bedeutung. So wird z.B. eineenglisch-deutsche Zweisprachigkeit im all-gemeinen höher bewertet als eine türkisch-deutsche. Wenn eine der beiden Sprachenein geringeres Ansehen genießt, so führtdies – nach KIELHOFER/JONEKEIT – fastzwangsläufig zu einer negativen Einstel-lung gegenüber dieser Zweisprachigkeit

und in der Folgezeit oft zu einer Verweige-rung der Sprache. Das Kind geniert sich, dieSprache zu sprechen.

Sowohl ein geringes Ansehen der Erstspra-che als auch auftretende Sprachproblemeder Kinder tragen dazu bei, dass ihre Bemü-hungen um Zweisprachigkeit und der Wertihrer Zweisprachigkeit oft zu gering geach-tet werden.

Wie die verschiedenen Aspekte zeigen,sind Wertschätzung und Gleichberechti-gung der Erstsprache für ein positivesSelbstverständnis und damit auch für dieLernprozesse des Kindes von entscheiden-der Bedeutung. Kinder, die für ihre Erst-sprache Anerkennung erfahren, könnensich auf den Weg machen, um die deutscheSprache zu erlernen. Kinder, die wegenihrer sich entwickelnden Zweisprachigkeitpositive Rückmeldungen erhalten, sindstärker motiviert, sich auf die deutscheSprache einzulassen, als die Kinder, dievorwiegend mit ihren sprachlichen Defizi-ten wahrgenommen werden. Achtung undAnerkennung kommen – neben einerdirekten Förderung der Erstsprache durchdie muttersprachliche sozpäd. Fachkraft –im alltäglichen Umgang zum Ausdruck,wenn sich die sozpäd. Fachkraft bemüht,die Namen der Kinder richtig auszuspre-chen, mit den Kindern gemeinsam Wörteraus der Familiensprache lernt, Kindernnicht verbietet, in der Erstsprache miteinan-der zu sprechen, wenn sie Lieder, Spieleund Geschichten, die den Kindern bekanntsind, in ihre Arbeit einbezieht.

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Sprachförderung – als Teil derGesamtkonzeption

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Sprachförderung, wie sie hier vorgestelltwird, ist ein selbstverständlich in die alltäg-liche pädagogische Arbeit integriertesElement und kommt allen Kindern zugute,und nicht nur solchen, die noch einerweiteren Unterstützung ihres Sprachver-mögens bedürfen. Sie verlangt eine diffe-renzierte Vorgehensweise, die individuelleUnterschiede der Kinder berücksichtigt undBesonderheiten des Lebensumfeldes inRechnung stellt. Dies bedeutet, dass dieAnsatzpunkte zur Sprachförderung vonKind zu Kind unterschiedlich sein können.Damit verbieten sich pauschale Förder-programme, die sich an alle Kinder einerGruppe wenden.

Auch (Trainings-) Konzepte, wie sie fürSchulkinder konzipiert wurden, sind nichtohne weiteres auf Kindergartenkinderübertragbar. Diese Erkenntnis wird geradein Bezug auf die Sprachförderung häufigaußer Acht gelassen.

1. Die Grundlagen der Sprachförderung

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Ihr Wissen über die allgemeine und aktu-elle Lebenssituation eines Kindes gibt dersozpäd. Fachkraft einen Fundus an An-knüpfungspunkten für die Sprachförde-rung im gemeinsamen Alltag mit den Kin-dern. Erfahren Kinder ein echtes Interessean ihren Bedürfnissen, Fragen, Entdeckun-gen und Erfahrungen, werden auch sie sichmitteilen wollen und dabei zugleich Spra-che üben. Eine vertrauensvolle Beziehungzur Erzieherin oder zum Erzieher kannKinder motivieren, ihren Wortschatz zuerweitern, um noch besser verstanden zuwerden. Dabei ist es nicht immer ganzleicht herauszufinden, was Kinder wirklichinteressiert, was sie so fasziniert, dass siedarauf „brennen“, es anderen zu erzählen.

Angesichts der Vielfalt von Unterschiedennicht nur zwischen, sondern auch innerhalbvon Kulturen ist es notwendig, den Blickauf das einzelne Kind zu lenken. Wie Kin-der heutzutage aufwachsen, welche Erfah-rungen sie in ihrer Familie und in ihremsozialen Umfeld machen, welche familiärenLebensformen, Rituale und Regeln, Werteund Normen für sie jeweils „normal“ sind,ist allein auf Grund der Nationalität oderder Herkunftskultur nicht voraussagbar. Fürdie Erzieherin bedeutet dies, bei ihrer Arbeitund der Einschätzung der Lebenssituationeines Kindes sehr sensibel und kritisch mitangelesenem Hintergrundwissen über ver-schiedene Kulturen umzugehen. Denn oftzeigt sich, dass die individuelle Situationeines Kindes ganz anders aussehen kannals zunächst angenommen wurde.

Erst durch Beobachtungen im Alltag, dieAufschlüsse über die aktuelle Lebens-situation geben, durch Situationsanalysenund Gespräche mit den Eltern über ihrefamiliäre Situation kann sich die sozpäd.Fachkraft ein Bild davon machen, welcheThemen für das Kind im Moment anstehenund es motivieren könnten, sich sprachlichauszudrücken.

Um sich darüber hinaus ein Bild davon zumachen, welche Bedeutung die Sprache fürdie Lebenssituation von Kindern hat, sei aufdie folgenden Aspekte hingewiesen:

Identitätsentwicklung und Familien-sprache

Mit Hilfe seiner Erstsprache bewältigt dasKind wichtige „Meilensteine“ seiner Identi-tätsentwicklung. Es lernt seine Bedürfnissedeutlich zu artikulieren und grenzt sichdamit von seinen Bezugspersonen ab. Zu-gleich ist die Erstsprache für das Kind wich-tig, um sich in der Familie zu verständigen.Auch vermittelt sie ihm Sicherheit undGeborgenheit.

Vermittlung von kulturellen Normenund Werten

Über die Erstsprache werden zugleich Wer-te und Normen vermittelt, die dem Kinderste Orientierungspunkte beim Aufbauseiner Identität geben. Dabei lernt es sozu-sagen ganz nebenbei kulturspezifischeoder auch individuell familientypische Ver-

1.1 Die Lebenssituation von Kindern– ein Wegweiser für eine am Kind orientierte Sprachförderung

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haltensweisen. Allein beim Essen kann esvon Kultur zu Kultur, aber auch von Familiezu Familie unterschiedliche Rituale geben,sei es ein Gebet oder ein Spruch in Verbin-dung mit einer Geste.

Sprache – ein wichtiger Bestandteilder Familienkultur

Welche Bedeutung die Sprache für die Fa-milie eines Kindes hat, kann einen nicht zuunterschätzenden Einfluss auf die Sprech-freude des einzelnen Kindes haben. Spra-che zu pflegen, indem die Familienmitglie-der sich treffen und austauschen oder mitden Kindern spielen, ist nicht mehr selbst-verständlich. Oft ersetzt schon beim Mit-tagstisch oder beim Abendbrot der Fern-seher das gemeinsame Gespräch. Dadurchüben Kinder nicht nur ihre Sprache(n) weni-

ger, sondern auch der Stellenwert, selbst zusprechen, nimmt in der Erlebniswelt derKinder an Bedeutung ab.

Wert- oder Geringschätzungder Sprache

Die Lebenssituation eines Kindes wird auchdadurch beeinflusst, wie sein außer-familiäres Umfeld auf seine Sprache(n) rea-giert. Manche Kinder erleben, dass sie auf-grund ihrer Erstsprache von anderenMenschen gemieden werden, andere wie-derum, dass sie mit offenen Armen emp-fangen werden. Fast alle Kinder werdenschon ihre ganz persönlichen Erfahrungenmit der Bewertung ihrer Sprache und de-nen der anderen gemacht haben, wenn siein eine Kindertageseinrichtung kommen.Diese Erfahrungen können sie in ihrer Ein-stellung gegenüber der eigenen Erstspra-che und der deutschen Sprache beeinflus-sen und sollten daher bei der Sprach-förderung nicht unterschätzt werden.

Manch einem Kind muss vielleicht Mutund Anerkennung zugesprochen werden,sich auch in der Erstsprache auszudrücken.Andere scheuen sich, deutsch zu sprechen,vielleicht aus Angst, etwas falsch zu sagen.Möglicherweise fehlt ihnen auch einevertraute Bezugsperson im Kindergartenoder die Erwartungen der Erzieherinnenund Eltern sind so hoch, dass sie dem Kindsprichwörtlich den Mund verschließen.Welche Gründe ein Kind hemmen bzw.motivieren, seine Sprachkompetenzen aus-zubauen, kann von Kind zu Kind unter-schiedlich sein.

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1.2 Die Sprachsituation in der Familie– Ausgangspunkt für weitere Lernerfahrungen

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Auch aus diesem Grund ist es notwendig,sich der individuellen Lebenssituation einesKindes zuzuwenden. In der alltäglichen Ar-beit mit Kindern kann es hilfreich sein, sichzu vergegenwärtigen, mit welcher Spracheund welchen Sprachgewohnheiten Kinderin ihren Familien aufwachsen. Die Analyseder Sprachsituation in der Familie undim näheren sozialen Umfeld eröffnet der Er-zieherin die Möglichkeit, das Kind in seinemsprachlichen und sozialen Verhalten besserverstehen zu können, den Blick auf die Stär-ken des Kindes und der Eltern zu lenken so-wie Informationen aus dem Lebensumfeldder Familie zu erhalten. Damit kann sie beiihrer Sprachförderung auf Hintergrundin-formationen aufbauen, die das Verständnisfür die Lebenssituation der Familie erwei-tern und den Zugang zum einzelnen Kinderleichtern können. Sprachförderung – wiesie hier verstanden wird – setzt an den Er-fahrungen und Interessen des Kindes anund bietet ihm die Möglichkeit, aus einemeigenen Bedürfnis heraus für neue sprachli-che Lernfortschritte motiviert zu sein.

Die folgenden Abschnitte gehen daraufein, welche Chancen sich aus der Analyseder familiären Sprachsituation für diealltägliche Arbeit mit Kindern und Elterneröffnen.

Wertschätzung der Erstsprache –den Selbstwert der Kinder stärken

Nicht die Sprache des Umfeldes zu spre-chen, kann Kinder verunsichern. Dies

gilt nicht nur für Kinder aus zugewandertenFamilien, die eine andere als die deutscheSprache sprechen. Auch innerhalb derdeutschen Sprache gibt es regional-spezifische Unterschiede. So kann sich eindeutsches Kind bei einem Wohnortswech-sel von München nach Hamburg in derneuen Umgebung sehr fremd fühlen. Viel-leicht wird es sogar wegen seines Dialektesausgelacht. Da die Erstsprache sehr eng mitdem Identitätsgefühl eines Kindes zusam-menhängt, kann es sich dadurch in seinemSelbstwertgefühl herabgesetzt fühlen.Kinder mit ihrer individuellen Erstsprachewertzuschätzen und nach Wegen zu su-chen, ihnen und den anderen in der Grup-pe dies immer wieder deutlich zu machen,ist eine wichtige Aufgabe von sozpäd.Fachkräften. Das Vertrauen und der Selbst-wert, den Kinder aus dieser (Be-)Achtungentwickeln können, sind eine solide Basisfür neue Lernschritte, auch in der deut-schen Sprache.

Die Anerkennung der Kompetenzen in derErstsprache ist nicht nur für den Selbstwertund die Identitätsentwicklung des Kindesbedeutsam. Auch für den Zweitspracher-werb hat sie eine wichtige Funktion: Kinder,die bereits in ihrer Erstsprache erfahren ha-ben, dass es bestimmte Regeln gibt, wie ei-ne Sprache aufgebaut wird, haben es oftleichter, sich einen Weg durch den„Dschungel“ des Wortschatzes und derGrammatik einer neuen Sprache zubahnen.

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Respekt vor der Einzigartigkeit jedesKindes

Sich die familiäre Sprachsituation des Kin-des zu vergegenwärtigen, hat auch etwasmit dem Respekt vor der Einzigartigkeit ei-nes jeden Kindes zu tun. Dieser Respektzeigt sich in einer wertschätzenden offenenHaltung, eine Haltung, die einkalkuliert,dass die persönlichen Vorannahmen überein Kind nicht unbedingt mit der Realitätübereinstimmen müssen – auch nicht inHinsicht auf die Sprachgewohnheiten inden jeweiligen Familien (s. Beispiel).

Dieses Beispiel zeigt, dass die Nationalitätder Kinder nicht unbedingt etwas darüberaussagt, welche Sprache tatsächlich in derFamilie gesprochen wird. Leona und Enricohaben zwar die gleiche Nationalität, spre-chen jedoch unterschiedliche Sprachen.

Auch Kinder mit deutscher Staatsangehö-rigkeit müssen nicht unbedingt in ihrerFamilie deutsch sprechen. So dominiert inSpätaussiedlerfamilien oftmals die Spracheihres Herkunftslandes.

Eine offene Grundhaltung bei der Einschät-zung der familiären Sprachsituation istein fruchtbarer Boden für den Aufbau vonvertrauensvollen Beziehungen. Diese sindnötig, um sich auf das unsichere Terraineiner neuen Sprache zu wagen und sichdarauf zu bewegen.

Das Verständnis für dieLebenssituation des Kindes erweitern

Das Gespräch darüber, mit wem das Kind inwelcher Sprache spricht, kann zudemdarüber Aufschluss geben, welche Bezie-hungen für das Kind von Bedeutung sind.Dadurch entsteht ein dichteres Bild vonder Lebenssituation des Kindes. MancheErzählungen des Kindes aus seinem familiä-ren Umfeld können so u.U. besser verstan-den werden. Auch können sich wichtigeAnknüpfungspunkte für Gespräche mitKindern ergeben.

Beispiel:

Enrico, ein italienischer Junge, ist erstseit ein paar Tagen im Kindergarten.Meist sitzt er scheu auf der Fensterbank,wobei er sehr aufmerksam das Spielder anderen Kinder beobachtet. Leona,eine Erzieherin, deren ErstspracheItalienisch ist, versucht immer wieder,mit ihm Kontakt aufzunehmen. Siewundert sich, warum sie über ihreErstsprache keinen Zugang zu ihmfindet. Er wirkt eher so, als ob ihn diesnoch mehr verunsichere.

Im Gespräch mit Enricos Vater stelltsich heraus, daß die Eltern zwar mitder Erzieherin italienisch sprechen, dieFamiliensprache jedoch Sizilianisch ist.Nun versteht sie, warum es ihr bei die-sem Kind wahrscheinlich nicht gelang,mit Hilfe ihrer Erstsprache eine Atmo-sphäre von Vertrautheit undGeborgenheit zu vermitteln.

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Den Blick für die Vielfaltfamiliärer Sprachsituationen öffnen

Im Gespräch mit den Eltern und dem Kindkann die sozpäd. Fachkraft herausfinden,welche Sprache(n) in der Familie und im nä-heren sozialen Umfeld gesprochen werden.

Rachel wächst in einer bilingualen familiä-ren Sprachsituation auf: Mit dem Vaterspricht sie in der einen und mit der Mutterin der anderen Sprache (s. Beispiel 1). Wiebereits dargestellt, hilft es den Kindern,wenn sie den Sprachen jeweils unterschied-liche Personen zuordnen können. Dadurchfällt es ihnen leichter, die beiden unter-schiedlichen Regelsysteme, die den Spra-chen zugrunde liegen, trennen zu können.Für den Alltag in den Kindertageseinrich-tungen bedeutet dies: Wenn es sozpäd.Fachkräfte in der Einrichtung gibt, die je-weils eine der beiden Sprachen des Kindesbeherrschen, kann auch hier eine Auftei-lung der Sprachen der bilingualen Sprach-entwicklung der Kinder zugute kommen.

Özge wächst in einem zweisprachigenfamiliären und sozialen Umfeld auf: In derFamilie wird türkisch gesprochen, die Um-gebungssprache ist deutsch. Eine wichtigeMotivation, um deutsch zu lernen, ist dieinnige Beziehung zu ihrer Freundin Alina(s. Beispiel 2). Hier zeigt sich, wie entschei-dend die Beziehungen zu Freundinnen oderFreunden, aber auch zu den sozpäd. Fach-kräften sind: Sie können Motor und Antriebsein, um aus einem inneren Bedürfnisheraus eine zweite Sprache erlernen zuwollen. Darum ist es für die Förderung derErstsprache und der deutschen Sprache inder Einrichtung wichtig, sich um einenbehutsamen und vertrauensvollen Aufbau

Beispiel 1:

Rachels Vater ist US-Amerikaner undihre Mutter ist Deutsche. Schon seitder Geburt ist sie es gewohnt, dass derVater mit ihr nur amerikanisch und dieMutter nur deutsch spricht. Wenn allezusammen sind, sprechen sie amerika-nisch. Wenn sie sehr aufgeregt ist,kann es schon mal sein, dass ein ameri-kanisches Wort in ihren deutschen Sät-zen auftaucht oder umgekehrt.

Beispiel 2:

Özge spricht zu Hause mit ihren Elterntürkisch. Im Kindergarten und auf derStraße spricht sie sowohl deutsch alsauch türkisch. Özges liebste Freundinist Alina. Der hat sie auch schon einpaar türkische Wörter beigebracht.Hauptsächlich sprechen sie deutschmiteinander. Aber Alina ist auch stolz,schon ein bißchen türkisch zu können.

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der Beziehungen zu den Kindern zu bemü-hen. Sich ein paar wichtige Wörter in derErstsprache der Kinder anzueignen, kannhier hilfreich sein.

Auch kann ein vertrauter Gegenstand ausdem familiären Hintergrund als Anknüp-fungspunkt für Spiele und Gespräche mitKindern dienen und dabei die Angst, ineiner fremden Situation, mit fremden Men-schen und einer fremden Sprache zu sein,ein wenig zurücktreten lassen.

Sozpäd. Fachkräfte, die ihre Erstsprache mitden Kindern teilen, können die Kinder inihrer zweisprachigen Entwicklung unter-stützen, wenn sie mit ihnen in ihrer Sprachesprechen. Diese Empfehlung können sieauch den Eltern der Kinder weitergeben. Siehelfen den Kindern dabei, ihre Erstsprache

weiterzuentwickeln und zu differenzieren,

was zugleich eine gute Voraussetzung zumErlernen der Zweitsprache mit sich bringt.

Die muttersprachliche sozpäd. Fachkraftkann auch am besten einschätzen, wie weitein Kind in seinem Erstspracherwerb fort-geschritten ist. Sicher findet sie, orientiertan den Bedürfnissen des Kindes und mitdem Hintergrundwissen über seine familiä-re Situation, Anknüpfungspunkte für dieFörderung der Erstsprache.

Bei manchen Kindern und Eltern ist zu be-obachten, dass sie innerhalb eines Satzesvon einer Sprache in eine andere Sprachewechseln. Die Familiensprache, die dasKind in seiner Identitätsentwicklung beglei-tet, setzt sich aus einer Mischform von zweiSprachen zusammen (s. Beispiel).

Beispiel:

Samets Eltern sind in Deutschland auf-gewachsen. Zu Hause sprechen sie so-wohl deutsch als auch türkisch. MancheWörter gibt es auch einfach im Türki-schen oder im Deutschen nicht. Weiles Samet gewöhnt ist, so zu Hause mitseinen Eltern und Geschwistern zu spre-chen, fällt es ihm schwer, nur deutschoder mit der türkischen sozpäd. Fach-kraft nur türkisch zu sprechen.

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Es würde ziemlich sicher Samets Selbstwertangreifen, wenn seine Fähigkeit, sich mitHilfe einer Mischform von zwei Sprachenzu verständigen, nur defizitär bewertetwürde. Da der Selbstwert eines Kindesjedoch entscheidender Faktor für den Mutund Lernwillen beim Ausbau seiner Sprach-kompetenzen ist, kann es ihm helfen, wennsozpäd. Fachkräfte das Kind unter demBlickwinkel: „Was kann es schon? Was hates in den letzten Wochen dazu gelernt?“betrachten. Diese pädagogische Grundhal-tung wird das Kind bemerken und es fürden Kontakt zu den sozpäd. Fachkräftenöffnen.

Werden Kinder dagegen hauptsächlich un-ter der Perspektive „Was können sie (nochimmer) nicht“ betrachtet und behandelt, sowird es auch verständlich, warum mancheKinder sich neuen sprachlichen Lernerfah-rungen zu verweigern scheinen oder schonin frühen Jahren die Einstellung entwickeln„Das kann ich ja sowieso nicht“.

Ist diese Einstellung bereits vorhanden, soist es wichtig, die in jedem Kind innewoh-nende Lernfreude aufs Neue zu wecken.Dies wird am besten gelingen, wenn diesozpäd. Fachkräfte genau beobachten,welche Erlebnisse und Erfahrungen dasKind in den Bann ziehen, in welchen Spiel-situationen und bei welchen Themen essich besonders engagiert zeigt, kurz, wodie Interessen und Bedürfnisse des Kindesliegen. Sie sind die besten Ausgangspunk-te, um die Lernfreude der Kinder, auch insprachlicher Hinsicht, (wieder) zu wecken.

Wie ein Wechsel von einer Sprache in dieandere zu bewerten ist, ob ein Wechsel alsKompetenz anzusehen ist, weil das Kind

vorübergehend „Lücken“ in einem Sprach-system durch Äußerungen aus einem ande-ren sprachlichen System schließen kann,oder ob er negativ, als „Störfall“ in derzweisprachigen Entwicklung zu beurteilenist, ist bislang noch nicht endgültig geklärt.Wenn Kinder oder Erwachsene mit einerneuen Sprache konfrontiert werden, lassensich verschiedene Formen der Veränderungdes Sprachverhaltens wie Mischsprachen,Entlehnungen oder code switching (Kode-Wechsel) beobachten:

„Mischsprache“ meint, dass Kinder oderErwachsene Elemente der verschiedenenSprachen – scheinbar – wahllos mischen.

Bei „Entlehnungen“ werden einzelne Be-griffe aus der einen Sprache in eine andereübernommen, z.B. der Begriff „Team“ indie deutsche Sprache.

Unter „code switching“ wird verstanden,dass Kinder oder Erwachsene in einem Ge-spräch – mitten im Satz oder am Ende desSatzes – in eine andere Sprache überwech-seln. Dabei werden die einzelnen Abschnit-te aus der einen oder anderen Sprache klarvoneinander getrennt, nicht vermischt.

HEUCHERT weist darauf hin, dass verschie-dene Formen der Mischsprache sowie Ent-lehnungen bei kleineren Kindern seltenanzutreffen sind.

D i e G r u n d l a g e n d e r S p r a c h f ö r d e r u n g _

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Kinder erschließen sich ihre Umwelt, indemsie selbst tätig werden. In der Eigentätigkeitdes Kindes, in der Auseinandersetzung mitder dinglichen und sozialen Umwelt, wirdder zentrale Motor für kindliche Entwi-cklungsprozesse gesehen.

Entwicklungsschritte finden statt, wennKinder auf der Grundlage ihrer vorhande-nen Möglichkeiten selbstbestimmte Zieleerreichen wollen und sich dabei Heraus-forderungen stellen.

Auch der Spracherwerb ist ein Lernprozess,der durch die aktive Auseinandersetzungdes Kindes mit seiner Umwelt getragenwird. Wichtig für den Erwerb von Bedeu-tungen und den Aufbau von Begriffen sinddie Erfahrungen, die das Kind im handeln-den Umgang mit Dingen und Personenseiner Umwelt macht. „Dem Interesse amObjekt, an der gemeinsamen Handlungund der emotionalen Bewertung kommtdabei ein zentraler Stellenwert zu.“32 Indiesem Lernprozess werden die Regeln derSprache „aus konkreten Erfahrungen mitObjekten und Ereignissen, linguistischenStrukturen und interpersonalenInteraktionen“ aufgenommen.33

Um sprachliche Lernprozesse in Gang zubringen, brauchen Kinder also eine sozialeund dingliche Umwelt, die Anlässe zum

sprachlichen Austausch bereithält. Siebrauchen Ansprechpartner, denen sieetwas mitteilen können, wenn sie möch-ten, die ihre Art der Mitteilung ernst neh-men und verstehen wollen sowie ihreSprechfreude unterstützen, und Situatio-nen, die so gestaltet sind, dass sie sprachli-ches Lernen erleichtern und Kinder ermuti-gen, sich mit den ihnen zur Verfügungstehenden sprachlich-kommunikativen Mit-teln mitzuteilen. Kindliche Sprachprozessezu unterstützen, bedeutet für die Arbeit dersozpäd. Fachkraft, Kindern auf der Basisihrer individuellen Möglichkeiten die für sienotwendige Förderung zukommen zu las-sen, von den kindlichen Kompetenzen undMöglichkeiten auszugehen und an denErlebnissen und Lebensbereichen anzu-knüpfen, die für Kinder bedeutend sind.

Sprachliche Förderung sollte zudem Be-standteil einer ganzheitlich ausgerichtetenErziehung sein und nicht als ein von ande-ren Bereichen isoliertes Sprachtrainingangeboten werden.

Für die sozpäd. Fachkraft stellt sich daherdie Aufgabe, den Alltag in der Tageseinrich-tung „sprachfreundlich“ und „sprachan-regend“ zu gestalten und die vielfältigenMöglichkeiten, die sich in der Arbeit bieten,bewusst zu nutzen.

Da Kinder Sprache über die Orientierungan Sprachvorbildern und in Handlungszu-sammenhängen erwerben, ist es wichtig,den Zusammenhang von Handeln undSprechen, von Erfahrung und Begriff zu be-

1.3 Verknüpfung von Handeln und Sprache

32 Kolonko, a.a.O., S. 9433 Dannenbauer, 1987. In: Kolonko, 1996, S. 28

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rücksichtigen. Handeln meint das Umgehenmit realen Gegenständen, d.h. Kinder soll-ten über verschiedene Sinne (mit Ohren, Au-gen, Nase, Mund, Haut und Händen) Erfah-rungen mit den Gegenständen sammelnkönnen. Über den Umgang mit den Dingenlernen sie die Beschaffenheit und die Eigen-schaften von Dingen kennen. Sie erfahrenz.B., dass der Ball rund ist, dass er hoch-springt, wenn man ihn auf die Erde auf-schlägt. Tätigkeiten lassen sich über das Tun,Eigenschaften über das Schmecken, Tasten,Hören erfahren, abstrakte Begriffe, wieFreude oder Trauer, über konkrete Erfahrun-gen oder über bildliche oder mimisch-gestische Darstellungen vermitteln. DasHandeln des Kindes wird von der sozpäd.Fachkraft sprachlich begleitet, d.h. sie be-nennt den Gegenstand „Ball“, die Tätigkei-ten „laufen oder malen“, die Eigenschaften

„süß oder salzig“. Die durch das Handelngewonnenen Erfahrungen werden über dieVerbindung mit Sprache zu Begriffen. Dabeiwerden dem Kind Begriffsbildung undWortschatzerweiterung erleichtert, wennsie in für Kinder bedeutsamen Situationenstattfinden, d.h. in solchen Situationen, diean der Erfahrungswelt des Kindes anknüp-fen, in denen sie Erfahrungen sammeln undEntdeckungen machen können und indenen emotionale Erlebnisse möglich sind.Die Begriffe wiederum ermöglichen demKind „die innere Abbildung der Welt“.

Mit Hilfe der Sprache werden Dinge,Erscheinungen und Vorgänge für das Kindverfügbar. Sprache wird somit zu einemwichtigen Mittel zur Aneignung der Umwelt.Handeln und Tun bilden somit die Grundlagefür das Sprechen und Denken des Kindes.

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Beim anschließenden Spiel oder im Ge-spräch werden die neuen Begriffe einge-bracht und vertieft, über das Anschauenvon Bildern oder Fotos verfestigen sie sichallmählich. Das Kind lernt, die neuen Be-griffe in verschiedenen Zusammenhängeneinzusetzen, und wird zunehmend fähig,sich losgelöst vom konkreten Gegenstandan Begriffen zu orientieren.

Die sprachliche und gedankliche Verarbei-tung helfen ihm, seine Eindrücke undErfahrungen zu ordnen, zu vergleichen,Zusammenhänge herzustellen und so sichseine Umwelt zu erschließen. Da das Kindlernt, indem es tätig wird, ist es für diesprachliche Förderung wichtig, dass Kinderunmittelbare Erfahrungen mit den Gegen-ständen sammeln können und Sprachenicht nur abstrakt über das Anschauen vonBildern, z.B. beim Memory-Spiel, erwerben.

Wesentlich für das Gelingen sprachlicherProzesse sind außerdem sichere, stabileBeziehungen zwischen Kindern und Erzie-

herin oder Erzieher. Kinder müssen sich vonder sozpäd. Fachkraft und der Gruppeakzeptiert wissen und sich in der Gruppewohl fühlen können. In den alltäglichengemeinsamen Handlungs- und Kommuni-kationssituationen können sich Kinder mitihren sprachlichen Fähigkeiten einbringen.Über das gemeinsame Spiel, beim Tischdecken, bei Bilderbuchbetrachtungen oderbeim Basteln kann die Nähe zur sozpäd.Fachkraft dem Kind den Zugang zur (neu-en) Sprache erleichtern. Zudem kann sieKindern Erfahrungen ermöglichen, die ih-nen die „Nützlichkeit von Sprache für sich“entdecken lässt. Nach- und Rückfragen dersozpäd. Fachkraft regen Kinder an, ihreSprache weiter zu entwickeln. Über eineAnpassung ihrer sprachlichen und kommu-nikativen Fähigkeiten an die kindlichenMöglichkeiten kann sie Hilfestellung beimsprachlichen Lernen geben. Dies setzt vor-aus, dass sich die sozpäd. Fachkraft dersprachlichen Fähigkeiten und entwick-lungsbedingten Möglichkeiten der Kinderbewusst ist und über Beobachtung der

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kindlichen Gespräche Aufschluss über diesprachlichen Fähigkeiten der Kinder ge-winnt. Sprachliches Lernen findet auch inder Kindergruppe statt, wenn Kinder ge-meinsame Spielaktivitäten planen und ab-stimmen, Regeln klären oder Konflikte lö-sen. Dabei lernen sie, sich sprachlichmitzuteilen und Kontakte zu anderen Kin-dern aufzubauen.

Über gemeinsame Aktivitäten, Erlebnisseund Themen ergeben sich Sprechanlässe,die zu kommunikativen Gruppenprozessenführen.

Diese Überlegungen zur sprachlichen För-derung sind in der Arbeit mit deutschenund Kindern aus zugewanderten Familiengleichermaßen von Bedeutung. Damit Kin-der aus zugewanderten Familien selbstbe-stimmt am gesellschaftlichen Leben – ihrerethnischen Gruppe und der deutschen Ge-sellschaft – teilhaben können, sind sie aufZweisprachigkeit angewiesen. Für dieseKinder ist es wichtig, dass sie ihre Zweispra-

chigkeit im Alltag als wertvoll und bedeut-sam erfahren können. Anerkennung undWertschätzung der Zweisprachigkeit kom-men zum Tragen, wenn sich auch Kinderaus zugewanderten Familien mit ihrerLebenswelt und ihren Erfahrungen im Kin-dergarten, bei Themen, Aktivitäten undMaterialien, in der Raumgestaltung und imTagesablauf wieder finden und ihre zwei-sprachigen Fähigkeiten als positiv erlebenkönnen.

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Wir alle kennen Situationen, in denen wirganz selbstverständlich reden, „wie uns derSchnabel gewachsen ist“, z.B. im vertrau-ten Familien- oder Freundeskreis. Wir ken-nen aber auch Situationen, in denen wirmit Äußerungen sehr vorsichtig und zu-rückhaltend sind und schließlich solche, indenen wir blockiert sind, ins Stottern gera-ten oder im schlimmsten Fall in tiefesSchweigen versinken – meist dann, wennes völlig unangebracht ist, z.B. in Prüfungs-situationen, in denen wir unser Bestes ge-ben sollen und wollen.

Das heißt, zum Sprechen gehört nicht nurdie Kenntnis von Wörtern und Begriffen,das Verständnis einer Sprache, sondernauch Motivation und Mut, diese aktiv anzu-wenden, also zu sprechen. Dass wir eineSprache kennen und können, heißt nochlange nicht, dass wir auch etwas sagen. Dashängt mit der Tatsache zusammen, dassSprechen in der Regel mit einem Gegen-über stattfindet, also eine Wechselwirkungauslöst, die wir nur zum Teil überschauenund kontrollieren können.

SCHULZ von THUN35 hat dies mit den „vierSeiten einer Nachricht“36 sehr anschaulichvorgestellt: Neben der Sachinformation er-fährt mein Gegenüber eine Menge darüber„was ich für eine/einer bin“, „wie es ummich steht“. Beim Sprechen zeigen wiretwas von uns, geben etwas preis, das überdas hinaus geht, was wir dem anderen aufder Sachebene mitteilen. Und die Wortebewirken beim Gegenüber nicht seltenetwas anderes, als wir beabsichtigten. Ein(unbedachtes) Wort, einmal auf den Weggebracht, kann so schnell nicht mehr einge-fangen werden.

In ihrem Gedicht „Unaufhaltsam“ bringtDOMIN die Macht des Wortes auf eindring-liche Weise zum Ausdruck: Besser ein Mes-ser als ein Wort. Ein Messer kann stumpfsein,ein Messer trifft oft am Herzen vorbei.Nicht das Wort.

2. Vier Schritte zu einerbewussten Sprachförderung34

2.1 „Dass wir sprechen können,heißt noch lange nicht, dass wir auch etwas sagen“

35 Schulz von Thun, 1991, S. 25 ff36 Die „Vier Seiten einer Nachricht“ umfassen den Sachinhalt, den Appell (wenn einer etwas sagt, will er in der Regel auch etwas bewirken), die Beziehung (zum Mitmenschen) und die Selbstoffenbarung (wenn einer etwas sagt, gibt er auch et- was von sich, von seiner Persönlichkeit)

34 Entnommen aus: Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen (Hrsg.): Hallo, Hola, Ola. Sprachförderung in Kindertagesstätten. Berlin, Bonn, August 2000

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Sprechen ist also mit Risiko verbunden,je fremder die Situation, in der wir stehen,desto stärker empfinden wir dies. Kindererleben das vermutlich in noch stärkeremMaße als Erwachsene, denn ihnen sind dieFallstricke nicht so bekannt und sie verfü-gen noch nicht, wie später der Erwachsene,über unverfängliche Höflichkeitsfloskeln,mit denen man zunächst Zeit gewinnt, umdie Lage zu sondieren.

Unser Selbstwertgefühl entwickelt sich infrüher Kindheit und im weiteren Lebenslaufnicht durch simple Zuschreibung, sondernin Interaktion mit der Umwelt,37 ist alsostark an Kommunikation und Sprachegebunden. Es stellt im Gefüge unseresSelbstkonzeptes ein Postulat höchster Ord-nung dar und muss in besonderer Weisegeschützt werden. Kränkungen auf dersprachlichen Ebene (etwas „Dummes“sagen) gefährden das Selbstwertgefühl inhohem Maße.38

Wie sehen die ersten Erfahrungen einesKindes mit Reaktionen der Umwelt aufseine sprachlichen Äußerungen aus? DieReaktionen auf erste kindliche Äußerungenin der Familie werden sehr unterschiedlichsein. Sie können mehr oder weniger beach-tet, mit Freude oder Gleichgültigkeit aufge-nommen werden, es kann eine Atmosphä-re herrschen, in der das Kind eher ange-halten wird, „den Mund zu halten“, oderzum Sprechen ermuntert und ermutigtwird. Nicht selten findet sich die Situation,dass Erwachsene über „drollige“ Kinderäu-ßerungen lachen. Die Reaktion des Kindes

auf dieses Lachen zeigt häufig tiefe Verun-sicherung, denn es hat seine Äußerungernst gemeint, einen ernsthaften Beitraggeleistet.

Auch im günstigsten familiären Sprachkli-ma wird das Kind die Erfahrung machen,dass es Situationen gibt, in denen man leisesein muss, in denen man bestimmte Dingebesser nicht sagt (sonst ist die Oma belei-digt), oder bestimmte Kraftausdrücke ver-boten werden. Das Kind findet auch schnellheraus, dass in unterschiedlichen Settingsunterschiedliche Regeln gelten. Es beob-achtet sehr genau, dass auch die Elternunterschiedlich reden, je nachdem, ob siez.B. sich zu Hause unterhalten, beim Ein-kauf oder mit dem Nachbarn.

Wir können davon ausgehen, dass ein Kinddie Macht der Worte hautnah und ein-drücklich erlebt: sowohl der Worte, die anes selbst gerichtet sind (Worte, die wohltunoder wehtun), als auch der Worte, die esselbst äußert und die aus Sicht des Kindesoft erstaunliche Reaktionen – der Begeiste-rung oder der Ablehnung – hervorrufen.

V i e r S c h r i t t e z u e i n e r b e w u s s t e n S p r a c h f ö r d e r u n g _

37 Filipp, 1984, S. 131 f38 Seymor-Epstein, 1984, S. 19

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Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dassdie Sprechfreude, die Sprechbereitschaft,die ein Kind im Kindergarten an den Taglegt, nicht nur zu tun hat mit seiner Kennt-nis von Sprache, sondern auch mit Gefüh-len von Vertrautheit oder Fremdheit. Jemehr Anknüpfungspunkte, Verbindungs-linien das Kind findet, die ihm bereits ver-traut sind, desto unbefangener wird es sichsprachlich äußern. Je fremder es sich fühlt,desto höher erlebt es das Risiko, etwasFalsches, Unangebrachtes zu sagen, und eswird, zumindest erst einmal, schweigen. Inseinem Schweigen wird es jedoch ein auf-merksamer Beobachter der Kommunikati-onskultur in der Einrichtung sein: wie redetman hier miteinander, wie gehen die soz-päd. Fachkräfte mit meinem Schweigen um.

Es ist wichtig, dass die sozpäd. Fachkräftesich klar machen, welche Kinder besondersviel Fremdes vorfinden. Dabei sind es nichtnur die Kinder mit Migrationshintergrund,sondern auch Kinder, die aus einem ande-ren „Milieu“ stammen als die Mehrzahl derKinder. Es gilt dann, Verbindungen zuschaffen zwischen Elternhaus, familiäremLebensraum und der Tageseinrichtung, umvertraute Anknüpfungspunkte sichtbar zumachen, die das Kind wiedererkennt, andenen es mit seinen Erfahrungen anknüp-fen kann, die ihm das Gefühl vermitteln:„Hier bin ich richtig“ (s. Beispiel).

Das Beispiel verweist auf den bedeutsamenHandlungsspielraum, der sich hier der soz-päd. Fachkraft bietet: Sie kann eine Ver-trauensbasis schaffen, eine Atmosphärevon Akzeptanz und Sicherheit, in der dasKind sich traut, Neues zu erproben, auchauf das Risiko hin, Fehler zu machen.

Beispiel:

Murat, ein marokkanischer Junge, ge-hört zu den schweigsamen Kindern derEinrichtung. Dies ändert sich an demTag, als er in der Puppenecke etwasNeues entdeckt: „orientalische“ Pantöf-felchen aus verschiedenen glänzendenStoffen gearbeitet, in violett und lila,am Rand mit Goldfäden bestickt, dieSchuhspitzen hochgezogen. Eine soz-päd. Fachkraft hatte sie aus einemTunesienurlaub mitgebracht, mit derIdee, sie vielleicht mal für ein Theater-stück zu verwenden. Sie wurdenzunächst in der Puppenecke deponiert.Murats Freude war unbeschreiblich. Erzog sich die Pantöffelchen an, lief damitbegeistert durch die ganze Einrichtung,sang und plapperte munter und fröhlichmit jedem, der ihm begegnete und seinSchuhwerk bewunderte. Er wirkte wiebefreit, endlich etwas gefundenzu haben, das ihm vertraut war, einStück „Zuhause“.

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Sprachförderung findet im Kindergartenauf vielfältigen Ebenen statt: Zwischen soz-päd. Fachkraft und Kindern, z.B. bei dergemeinsamen Betrachtung von Bilderbü-chern, bei Aufforderungen, welche dieAlltagsorganisation betreffen, beim Aus-handeln von Regeln usw. Aber auch zwi-schen den Kindern: Im gemeinsamen Spielmüssen viele Dinge vereinbart, geklärt undbesprochen werden, um das Spiel in Gangzu bringen und aufrecht zu erhalten. Ältereoder sprachgewandtere Kinder verbessernihre Spielgefährten, wenn diese Dinge„falsch“ benennen oder auch bei nicht kor-rekter Grammatik: „Das heißt nicht Tigers,das heißt Tiger.“ Dabei lernen die Kindersowohl, indem sie unmittelbar in die Kom-munikation einbezogen sind als auch mit-telbar, indem sie beobachten, wie andereKinder und die sozpäd. Fachkräfte mitein-ander und untereinander reden.

In diesem Kapitel wollen wir einen Teilas-pekt zum Thema „Sprachförderung“ imKindergarten herausgreifen und weiterfüh-rende Gesichtspunkte dazu entwickeln. Esgeht um die Frage, inwieweit der situati-onsbezogene Ansatz eine gezielte, syste-matische Sprachförderung zulässt. Andersformuliert: Wie kann man die aktuellenInteressen, Bedürfnisse und Kompetenzender Kinder zum Bezugspunkt der Arbeiterklären und gleichzeitig eine bewussteund regelmäßige Sprachförderung für dieKinder sicherstellen? Steht die sozpäd.Fachkraft nicht vielmehr in einer Warteposi-tion, die richtige Situation abzupassen, dieSituation, in der das Kind von sich aus Be-

reitschaft und Bedürfnis nach verbalerKommunikation zeigt?

Im situationsbezogenen Ansatz „wartet“die Erzieherin in der Tat auf den richtigenAugenblick, auf das, was die Kinder vonsich aus einbringen. Aber dieses Warten istnicht in einem passiven Sinne zu verstehen,sondern vielmehr im Sinne eines aufmerk-samen, neugierigen „Erwartens“, etwa so,wie man liebe Gäste erwartet. Damit ver-bunden ist ein hohes Maß an Aufmerksam-keit, wachen Beobachtens, der Bereit-schaft, in Beziehung zum Kind zu tretenund Wissen um seine persönlichen Fähig-keiten und Defizite.

Dieses Wechselspiel zwischen pädagogi-scher Abstinenz und Aktivität findet sichin der hier vorgestellten Schrittfolge zurbewussten Sprachförderung wieder:

Erster Schritt: Eine Situation als geeignetfür Sprachförderung erkennen.

Zweiter Schritt: Einen „öffnenden“ Kon-takt zum Kind herstellen.

Dritter Schritt: Sprache bewusst undsituationsorientiert fördern.

Vierter Schritt: Die Situation schriftlich /tabellarisch dokumentieren / festhalten –im Sinne einer Selbstkontrolle.

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2.2 Vier Schritte

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Diese Vorgehensweise gewährleistet, dassStimmigkeit besteht zwischen der aktuellenSituation des Kindes und der Sprachförde-rung, denn die Impulse für Sprachförde-rung gehen in erster Linie vom Kind aus, diesozpäd. Fachkraft greift sie auf, führt sieweiter. Die Rahmenbedingungen (persönli-che Nähe, Zeit und Ort) sind jeweils aktuellauf das Kind abgestimmt.

Gleichzeitig ist der Anspruch bewussterFörderung gewährleistet, denn die sozpäd.Fachkraft verknüpft die aktuelle Situationmit Methoden zur Sprachförderung, dieauf das Kind – sein Alter, seinen Entwick-lungsstand, seinen familiären Hinter-

grund – passen. Sie überprüft ihre sprach-fördernden Aktivitäten mit Hilfe einer tabel-larischen Dokumentation und kann so gege-benenfalls ihre Aufmerksamkeit gezielt aufbestimmte Kinder lenken, um so geeigneteSituationen aufzuspüren und zu nutzen.

Das Bemerkenswerte und Neue an dieserSchrittfolge ist, dass die einzelnen Schrittebewusst vollzogen und für die Sprachförde-rung eingesetzt sowie schriftlich dokumen-tiert werden. In der Realität sind die einzel-nen Schritte nicht so deutlich voneinanderabgegrenzt, wie es hier in der schriftlichenDarstellung, aus Gründen der Verdeutli-chung geschieht.

2.3 Erster Schritt:Eine Situation als geeignet für Sprachförderung erkennen

Auf die Frage, welche Kindersituationensich für eine bewusste Sprachförderungeignen, könnte die spontane Antwort lau-ten: „eigentlich alle Situationen“. Erst beinäherer Betrachtung zeigt sich, dass esdurchaus Situationen gibt, in denen Zu-rückhaltung angesagt ist. Kindersituatio-nen führen oft ein starkes Eigenleben,stellen sich wie eine kleine abgeschlosseneWelt dar, aus der die Akteure hin undwieder „herausgucken“ oder in die sie sichwieder zurückziehen können. Begegnetman im Gruppengeschehen einem solchen„Raumschiff Enterprise“, spürt man förm-

lich, dass hier intensivste Lern- und Erfah-rungsprozesse stattfinden. Es ist eine Fragedes Taktes, inwieweit man die Intimität sol-cher Situationen stören darf und eine Frageder Ethik, inwieweit es erlaubt ist, solcheSituationen für andere Zwecke zu instru-mentalisieren, und seien sie aus Sicht derErwachsenen noch so bedeutsam. Dies giltebenfalls für Situationen, in denen KinderStille und Entspannung suchen, Situatio-nen, in denen sie fasziniert das Spiel ande-rer Kinder mit Aug‘ und Ohren verfolgenund dabei „von der Seite“ lernen, Situatio-nen des Tagträumens.

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Diese Überlegungen verweisen auf einenübergreifenden Aspekt der pädagogischenArbeit, nämlich auf die Frage, welchesMenschenbild der pädagogischen Arbeitzugrunde liegt und wo die Schnittstellen imPraxisalltag zu finden sind, an denen deut-lich wird, wie ernst es dem Einzelnen mitAchtung und Wertschätzung kindlicherEigenart ist.

Demgegenüber gibt es natürlich eine Füllean Situationen, die auch aus Sicht der Kin-der „Öffentlichkeitscharakter“ besitzen, indenen die Kinder auf vielfältige Weise ihreBereitschaft signalisieren, Verbindungen zuknüpfen, Kontakt zu anderen Kindern oderErwachsenen aufzunehmen, um neueinteressante Erfahrungen aufzutun: „Hörmal!“, „Guck mal!“, „Komm mal!“. Undes gibt Situationen des Alleinseins, derTraurigkeit, die als Bitte nach Zuwendungund Zuspruch verstanden werden können.

Neben den „klassischen“ sprachfördern-den Aktivitäten, wie z.B. der Bilderbuch-betrachtung, Fingerspielen, Reimen undLiedern, gibt es eine Vielzahl alltäglicherAnknüpfungspunkte, die in der Praxis eherselten zur bewussten Sprachförderunggenutzt werden. Zu denken ist z.B. an dieBring- und Abholsituation, bei der auch dieEltern als Ansprechpartner einbezogenwerden können, an die vielfältigen großenund kleinen Bitten oder Hilfsangebote imRahmen der Alltagsorganisation der Ein-richtung, an die Mahlzeiten, die Ruhe undZeit zur Kommunikation bieten. Entschei-dend ist hierbei, ein Gespür für den richti-gen Augenblick zu entwickeln, „richtig“aus Sicht der Kinder.

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„Öffnenden“ Kontakt herstellen, heißt indiesem Zusammenhang, eine Verbindungzum Kind herstellen, die für das Kind stim-mig ist, gegen die es sich nicht verschließenund abschotten muss.

Insofern kann „öffnender Kontakt“ auchheißen, die Verschlossenheit des Kindes zuakzeptieren. Das folgende Beispiel soll diesverdeutlichen.

2.4 Zweiter Schritt:Einen „öffnenden“ Kontakt zum Kind herstellen

Sabine hockt mit vier Kindern vor großenPapierbögen auf dem Boden. In der Mittesteht ein Korb mit dicken Buntstiften in vie-len verschiedenen Farben. Die Kinder wol-len aus einem alten, großen Pappkarton einKaspertheater bauen. Jetzt malen sie gera-de die Kulissen, entwickeln dabei gleich-zeitig und sehr lebhaft Ideen über denSpielverlauf. Sabine ist Erzieherin, es ist ihrzweiter Tag am neuen Arbeitsplatz. Sienutzt die Situation, um das Spiel der Kinderzu beobachten und sie auf diese Weisekennenzulernen.

Gestern hatte eine Kollegin sie in der Ein-richtung herumgeführt und ihr einige Hin-weise zu den Kindern ihrer Gruppe gege-ben: „Hier ist ein buntes Völkchenversammelt: türkische Kinder, Kinder ausMarokko, aus Sri Lanka, Aussiedlerkinderaus Weißrussland und deutsche Kinder. Dasist nicht so einfach, vor allem wegen derSprache. Das hier ist Tu gçe, sie ist jetztseit zwei Monaten in der Einrichtung. Siespricht gar nicht, da hab ich schon alles ver-sucht." Dieser Satz war bei Sabine hängen-geblieben, das hatte so resigniert und

endgültig geklungen, wie ein Urteilsspruch.Später hatte sie versucht, Tu gçe anzuspre-chen, aber das Mädchen zog nur die Schul-tern zusammen, senkte den Blick verlegenauf die Hände und wandte sich ab. Sabinebeschränkte sich dann darauf, Tu gçe auf-munternd zuzunicken, wenn sich „zufällig“ein Blickkontakt ergab.

Jetzt steht Tu gçe schräg hinter ihr, schonseit einer ganzen Weile. Sabine wendet sichihr hin und wieder mit einer freundlichenBemerkung zu, die keine Antwort erfor-dert: „Na, das wird eine prima Kaspervor-stellung, ich freu‘ mich schon.“ Tu gçerückt allmählich näher an Sabine heran,aber immer noch so, dass kein Blickkontaktentsteht, solange Sabine sich nicht um-dreht. Von den anderen Kindern nimmtniemand Notiz von Tu gçe. Nach 15 Minu-ten hockt Tu gçe schließlich neben Sabineauf dem Boden. Tu gçe nimmt sich denStift, der für sie am besten zu erreichen ist,stupst Sabine an und zeigt auf einen Apfel-baum, den Raissa gemalt hat. „Was möch-test du, Tu gçe? Kann ich dir helfen?“Tu gçe fuchtelt mit dem Stift durch die Luft.

Beispiel:

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„Möchtest du, dass ich dir einen Apfel-baum male?“ Tu gçe nickt. Sabine malt ei-nen Apfelbaum und sagt: „So, jetzt kannstdu die Äpfel reinmalen.“ Tu gçe schütteltden Kopf. „Versuch es doch mal.“ Tu gçemalt einen Haken in die Baumkrone undschüttelt ärgerlich den Kopf. „Komm, ver-such es noch mal!“ Jetzt kriegt sie schonbesser die „Kurve“. Sie freut sich, und Sabi-ne sagt mit strahlendem Gesicht: „Ja, ge-nau, ein schöner Apfel, lecker sieht deraus.“ Und dabei legt sie kurz den Arm umTu gçes Schulter. „Gut“, bemerkt auchMarkus, der auf einem kleinen Hocker ge-genüber sitzt und Eintrittskarten ausschnei-det. „Wie heißt die?“ „Das ist Tu gçe“, ant-wortet Sabine, „Und wie heißt du, ichkenne ja auch noch nicht alle Namen?“„Markus!“ Es folgt ein kurzer, aufmerksa-mer Blickkontakt zwischen Markus undTu gçe. Tu gçe malt noch mehr Äpfel in dieBaumkrone, sie gelingen unterschiedlichgut, aber insgesamt immer besser. Dannbeginnt Tu gçe, Stifte nach Farben zu sortie-ren. Sabine begleitet Tu gçes Spiel mit Wor-ten: „Jetzt hast du schon vier blaue Stiftegefunden.“ Markus: „Hier ist noch einer.“

Tu gçe nimmt den Stift von Markus und sagtleise: „Blau?“ „Ja, dieser Stift ist auchblau.“ Das Spiel geht eine ganze Weile aufdiese Weise weiter, der Dialog bleibt zwarauf Tu gçes Seite „einsilbig“, wirdaber zunehmend munterer und mutiger,was sich an der lauter und deutlicher wer-denden Stimme und ihrer Bereitschaft, kur-zen Blickkontakt zu halten, ablesen lässt.

Sabine erweitert nach einer Weile den Kon-text, indem sie Tu gçe zeigt, wo die Farbenan ihr zu finden sind. Tu gçe holt z.B. einenroten Stift aus dem Korb und sagt, wieschon zuvor mit einem kleinen Fragezei-chen: „Rot?“. Sabine antwortet: „Ja, rot.Guck mal, dein Pullover ist auch rot." Unddabei hält sie den Stift an Tu gçes Pullover.Tu gçe kehrt das Spiel um und sucht Stiftemit Farben, die sich in Sabines Kleidung fin-den. Zwischenzeitlich beteiligen sich auchdie anderen Kinder dieser Runde an demSpiel, dabei belehren sie Sabine darüber,daß es „pink“ heißt und nicht „rosa“. ImVerlauf einer dreiviertel (!) Stunde – die an-deren Kinder sind inzwischen mit dem Auf-bau des Kaspertheaters beschäftigt – hat

Tu gçe aus eigenem Antrieb alle Stiftenach Farben und Größe sortiert und dieFarben benannt. Durch das Gesprächmit Sabine wurde Tu gçe auch für dieanderen Kinder sichtbar. Tu gçe beendetschließlich das Spiel selbstständig, siewirkt zufrieden, räumt die Stifte wiederzurück in den Korb.

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Die Fähigkeit, „Beziehungen aufzubauen“,Kontakt zu Kindern herzustellen, KindernNähe zu ermöglichen, stellt eine Schlüssel-qualifikation für den Beruf der Erzieherinund des Erziehers dar, erscheint als nahezuselbstverständliche Voraussetzung. Dem-gegenüber zeigt unser Beispiel, dass dieFähigkeit, „Kontakt aufzunehmen“, kei-neswegs selbstverständlich und einfach ist.Sie erfordert persönliche Reife und grundle-gende kommunikative Kompetenzen, dieim Rahmen der Ausbildung und im Zugeberufsbiografischer Erfahrungen erworbenund weiterentwickelt werden müssen.

Sabines Kollegin sagt, sie habe schon „allesversucht“, um Tu gçe zum Sprechen zubringen, aber vergeblich. Und man ahnthinter dem „alles versucht“ viel Engage-ment, Energie und Aktivität. Die Erzieherinhat offenbar eine Menge Zeit und Kraftinvestiert, ehe sie schließlich, enttäuschtdurch Tu gçes Verhalten, aufgab. Wie dieseAktivitäten bei Tu gçe angekommen sind,darüber kann hier nur spekuliert werden:

Vielleicht hat Tu gçe das Verhalten derErzieherin als aufdringlich und bedrohlicherlebt, vielleicht hätte sie zunächst Zeitgebraucht, um innerlich in der neuen Um-gebung anzukommen, sich zurechtzufin-den, Vertrautes zu entdecken, das ihr einGefühl der Sicherheit und Geborgenheitvermittelte. Vielleicht brauchte sie auch einSignal, dass sie – so wie sie ist – angenom-men und anerkannt wird, ohne gleichbestimmte Leistungen und Erwartungenerfüllen zu müssen.

Sabine stellt in unserem Beispiel die Bedürf-nisse von Tu gçe in den Mittelpunkt, ohnedabei ihre pädagogischen Ziele – in diesemFall die Sprachförderung – aus dem Blick zuverlieren oder ad acta zu legen. Sie akzep-tiert die Nähe/Distanz, die Tu gçe von sichaus anbietet, und signalisiert ihre Wert-schätzung durch freundliche, unaufdring-liche Zuwendung und Aufmerksamkeit.Dadurch entsteht ein Freiraum, der Tu gçezu neuen Schritten ermutigt: Sie traut sich,„die Sache(n) einmal näher zu betrachten“,und sie traut sich schließlich auch, „denMund aufzumachen“.

Interessant und von großer Bedeutung fürdie pädagogische Arbeit ist das im Beispieldeutlich werdende Phänomen, dass Tu gçein dem Augenblick, in dem der Kontakt zuSabine hergestellt ist, auch für die anderenKinder sichtbar wird, so als hätte sie sicheiner Tarnkappe entledigt, weil sie diesesSchutzes nicht mehr bedarf.

Verhaltensweisen, die Kontakte und damittragfähige Beziehungen unterstützen, sindalso unterschiedlich, je nachdem, um wel-ches Kind es geht und in welcher aktuellenSituation das Kind jeweils steht. Es lassen

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sich jedoch einige allgemeine Gesichts-punkte benennen, die grundlegend sind fürden Aufbau öffnender Kontakte. Sie wur-den von sozpäd. Fachkräften vor dem Hin-tergrund ihrer Praxiserfahrung zusammen-gestellt:– dem Kind einen freundlichen Blick

schenken,– sich dem Kind zuwenden,– eine offene Körperhaltung einnehmen,– Rituale der Kinder aufgreifen als

Kontaktbrücken (z.B. „Eintrittskarten“),– Regeln mit abweisendem Charakter

freundlich erklären; es dürfen z.B. nur drei Kinder in der Puppenecke spielen,

– Körperkontakt anbieten, aber nichtaufdrängen,

– das Kind beachten,– Blickkontakt zum Kind suchen,– Ironie vermeiden,– nicht in Gegenwart des Kindes über das

Kind sprechen, sondern es direkt an-sprechen oder in das Gesprächeinbeziehen.

Sozpäd. Fachkräfte berichten aus ihremPraxisalltag, dass die genannten hilfreichenAspekte eigentlich eine Selbstverständlich-keit darstellen und trotzdem nicht seltenauf subtile Weise missachtet werden.

Kontakt aufzunehmen ist verbunden miteinem spezifischen Bedürfnis nach Näheoder Abstand zu einer Person. Das heißt,Kontakt hat auch zu tun mit den eigenenGrenzen, die ich ziehe und die mein Ge-genüber zieht. In jeder Begegnung wird der„richtige“ Abstand ausgehandelt, in derRegel ohne dass dies den Beteiligten be-wusst ist. Herauszufinden, welche Nähe fürdas Kind die richtige ist, welches „Tempo“sein Tempo ist, ist also nur eine Seite derMedaille. Die andere ist es zu fragen, wel-che Nähe ist für die sozpäd. Fachkraft dierichtige und wieviel Zeit braucht sie, um inKontakt zu treten. Fällt ihr dies bei einigenKindern leichter als bei anderen? Dieser Ge-danke – es mit einigen Kindern nicht zu„können“, – wird häufig tabuisiert.

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Die nach außen gezeigte Nähe oder Distanzmuss nicht immer mit dem inneren Bedürf-nis übereinstimmen. So verspürt die Erzie-herin z.B. den Wunsch, ein Kind zu tröstenund auf den Arm zu nehmen, belässt esaber aus pädagogischen Erwägungen beieiner verbalen Zuwendung. Oder sie nimmtein Kind auf den Schoß, weil das Kind die-sen Wunsch signalisiert, obwohl sie sichinnerlich eine größere Distanz wünscht,z.B. weil das Kind schlecht riecht oder siees aus anderen Gründen ablehnt.

Wichtig ist, sich über Diskrepanzen zwi-schen gezeigter und gewünschter Nähe/Distanz klar zu werden, weil diese in derBeziehung wirksam sind. Vor allem, wennder Wunsch nach Distanz größer ist als manihn vor dem Hintergrund des beruflichenSelbstverständnisses zulassen kann, besteht

die Gefahr, dass subtile Botschaften derAblehnung gesendet werden, die das Kindverunsichern und die Beziehung belasten.

Entscheidend für die Herstellung eines öff-nenden Kontaktes ist die Bereitschaft unddie Geduld, sich immer wieder neu auf dieKinder und ihre Eigenheiten einzulassen,die eigenen Einschätzungen, (Vor-)Urteilezurückzustellen. Damit erhält das Kind dieChance zu zeigen, dass es mehr zu bietenhat, als ein – wie auch immer geartetes –pädagogisches Raster vorgeben oder vor-hersagen kann. Entscheidungen, die aufder Grundlage dieser Haltung getroffenwerden, werden sehr nah an den Bedürf-nissen der Kinder orientiert sein. Das hatzur Folge, dass Kinder sich wohl fühlen,eine elementare Voraussetzung dafür, dasseffektives Lernen stattfinden kann.

2.5 Dritter Schritt:Sprache bewusst und situationsorientiert fördern

Wenn eine Situation als geeignet zurSprachförderung erkannt und aufgegriffen,ein öffnender Kontakt zum Kind hergestelltwurde, dann ist der Weg gut vorbereitetfür eine gezielte und wirksame Sprachför-derung. Diese erreicht das Kind vermutlichauf einem hohen Motivationsniveau, dennes wird nicht mit einem „Standard-programm“ konfrontiert, sondern findetsich selbst, seine Wünsche und Bedürfnisse,im Angebot der sozpäd. Fachkraft wieder.Es erlebt, dass seine Ideen wertgeschätztund weitergeführt werden. Diese Erfah-rung stärkt sein Selbstwertgefühl und

damit auch seinen Mut, sich auf Neues ein-zulassen, Neues auszuprobieren.

An dieser Stelle mag folgender Hinweiswichtig sein: Wenn die sozpäd. Fachkraftdafür sorgt, dass Kinder sich in der Einrich-tung wohl und geborgen fühlen, dannnicht einzig mit dem Ziel, kindliches Wohl-befinden zum Zwecke der Sprachförderungzu (be-)nutzen, sondern weil Kinder einRecht auf Wertschätzung und Achtunghaben, ein Recht auf Wohlbefinden an demOrt, an dem sie einen Großteil des Tagesverbringen. Dieses Recht besteht unabhän-

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gig von „Sprachförderung“ oder anderenBildungsinhalten.

Verschiedene Gesichtspunkte, die ganz un-terschiedliche Ebenen der pädagogischenArbeit betreffen, spielen beim drittenSchritt eine Rolle. Sie werden hier im Über-blick vorgestellt und an anderer Stelle aus-führlich erläutert.

(Weiter-)Entwicklung der pädagogisch-konzeptionellen Ausgangsbasis

Sprachförderung erfordert auf Seiten dersozpäd. Fachkraft ein fundiertes Wissenüber den Spracherwerb als einen Teilaspektentwicklungspsychologischer Abläufe. DieAneignung / Weiterführung von Hinter-grundwissen hierzu stellt die Basis dar füreine professionelle Gestaltung der aktuel-len sprachfördernden Situation.

Darüber hinaus ist es wichtig, Informatio-nen zu den Sprach- und Sprechgewohnhei-ten der Familien zu gewinnen: WelcheSprache oder welche Sprachen werden zuHause gesprochen, welche Sprache ist demKind – im Sinne einer Erstsprache – die ver-trauteste, wie gut beherrscht es diese be-reits, wieviel Erfahrung hat es im Umgangmit der (hoch-) deutschen Sprache, die imKindergarten „Verkehrssprache“ ist.

Solche Überlegungen mögen für Kindermit Migrationshintergrund eine besondereBedeutung haben, sie sind jedoch auchfür die deutschsprachigen Kinder hilfreichund wichtig. Ein Kind, das aus einer Regionstammt, in der der Dialekt noch selbstver-ständlich zum alltäglichen Sprachgebrauchgehört, wird sich am neuen Wohnort, indem überwiegend Hochdeutsch gespro-

chen wird, zunächst fremd und unsicherfühlen. Es versteht manche Wörter nicht,oder Wörter, die es selbst benutzt, werdennicht verstanden, so z.B. wenn aus derSemmel plötzlich ein „Brötchen“ oder eine„Schrippe“ wird. Auch bei Kindern mit ei-ner familiären Umgangssprache, die vonden Gewohnheiten der sozpäd. Fachkraftabweicht, entsteht Fremdheit: So könnenÄußerungen von Kindern als altklug undabgehoben oder als eingeschränkt, grob,aggressiv empfunden werden. Die Kindererfahren dann – anders als sie es in ihrenFamilien gewohnt sind – ironische („unserkleiner Einstein...“) oder ablehnende(„Nicht in diesem Ton!“) Reaktionen aufihre Äußerungen.

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Eine Reflexion des eigenen Sprachverhal-tens kann der sozpäd. Fachkraft Hinweiseauf persönliche Entwicklungsmöglichkeitenoder -notwendigkeiten geben: WelchesVerhältnis hat sie selbst zur „Sprache“, wel-che Erinnerungen aus der Schulzeit spielenhier eine unterstützende oder störende Rol-le, wieviel Wert legt sie auf vielfältigenWortgebrauch, wie deutlich und artikuliertist ihre Sprechweise, ist diese grammatika-lisch korrekt, verfügt sie über Sprechfreudeoder ist sie eher schweigsam. Wie ist ihreEinstellung zu Fremdsprachen, besteht dieBereitschaft, sich grundlegende Begriffeeiner fremden Sprache, die in der Einrich-tung stark vertreten ist, anzueignen? Ton-bandaufnahmen mit der eigenen Stimmekönnen in diesem Zusammenhang sehrerhellend und anregend sein.

Sprachförderung im hier beschriebenenSinne ist ein kreativer Prozess. Hierzubraucht die sozpäd. Fachkraft – ebenso wiedie Kinder es zur Entfaltung ihrer kreativenPotenziale brauchen – Spiel- und Freiräumehinsichtlich Raum- und Zeitnutzung, einenFundus anregender Materialien und dieMöglichkeit, flexible Absprachen mit Kolle-

ginnen und Kollegen zu treffen, in welchendie potentielle Bedeutung einer aktuellenSituation höher eingeschätzt wird als Routi-neabläufe und -zuständigkeiten. Situatio-nen der Sprachförderung brauchen häufigZeit, sie gelingen leichter in Räumen, indenen Kind und sozpäd. Fachkraft sichwohl fühlen, in denen auch Rückzug mög-lich ist, und sie werden unterstützt durchMaterialien, die nicht festgelegt sind aufeine bestimmte Funktion, sondern zum Fra-gen und Geschichten erzählen auffordern.

Um Situationen bewusster Sprachförderungmit der nötigen Aufmerksamkeit durchfüh-ren zu können, bedarf es eines beruflichenSelbstverständnisses, das abrückt von derVorstellung, ständig für alle (25!) Kinderansprechbar und verfügbar zu sein und stattdessen ein differenziertes, situationsbezo-genes pädagogisches Handeln in denVordergrund stellt. Wichtig ist auch, dassman sich mit dieser Haltung einig weiß mitden Kolleginnen und Kollegen, die sozpäd.Fachkraft also davon ausgehen kann, dasseine zeitlich begrenzte Konzentration auf eineinzelnes Kind oder eine kleine Gruppe imTeam akzeptiert und unterstützt wird.

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Informationen gewinnen im Praxis-alltag – längerfristig

Im Austausch mit den Eltern, – zum Beispielbeim Aufnahmegespräch –, durch Beob-achtung von Spiel- oder Alltagssituationen,in die das Kind einbezogen ist, und durchkritische Reflexion der eigenen Einstellunggegenüber dem Sprachverhalten des Kin-des erwirbt die sozpäd. Fachkraft eine Hy-pothese über die Sprachsituation des Kin-des. Eine solche vorläufige – d.h. immerwieder neu zu überprüfende – Einschät-zung der kindlichen Sprachkompetenz ist inder aktuellen Situation „abrufbar“. Siedient der Orientierung und der Abstim-mung des eigenen Förderkonzepts.

Pädagogisches Handeln in der aktuel-len Situation

In der aktuellen Situation dient die Hypo-these keinesfalls ihrer eigenen Bestätigung,sondern als Folie, um (auch kleine) Verän-

derungen zu bemerken und zu würdigen.Es ist ja wünschenswert, dass die Hypothe-se nicht mehr stimmt, denn das bedeutetdoch, dass Entwicklungsschritte stattge-funden haben. Wobei im Einzelfall natür-lich auch Stagnation oder Rückschritt sicht-bar werden können, doch auch das istwichtig zu realisieren, um mit geeignetenHandlungskonzepten darauf zu antworten.

Wichtig ist auch eine Einschätzung darüber,welches Sprechverhalten das Kind in deraktuellen Situation zeigt: Spricht es zö-gernd, langsam, leise, stockend, dannwerde ich es nicht mit lauter Stimme undvielen Worten zuschütten, sondern eherbehutsam und zurückhaltend vorgehen.Hier geht es möglicherweise erst einmaldarum, dem Kind aufmerksam zuzuhören.Spricht es dagegen bereits zügig, fließend,unbefangen, passe ich mich diesem Tempound Schwung an, wirke als Modell und Be-stätigung, als Partner seiner Sprechfreude.

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2.6 Vierter Schritt: Die Situation tabellarisch dokumentieren

Dieser Schritt stellt den Abschluss einerSituation bewusster Sprachförderung dar:Die sozpäd. Fachkraft markiert den Namendes Kindes und hält Tag und Uhrzeit sowieDauer der Situation fest. Ergänzend kannsie in der Rubrik „Bemerkungen“ nochstichwortartig eintragen, in welchem Rah-men die Situation stattfand oder was sieals besonders hilfreich und bemerkens-wert erlebte.

Situationen bewusster Sprach-förderung

Dieser Schritt kostet nur wenige Minutenund hat doch einen weitreichenden Effekt:Die sozpäd. Fachkraft erhält einen Über-blick über die Häufigkeit von Situationenbewusster Sprachförderung. Sie sieht, wel-che Kinder häufig in den Genuss kommen,welche weniger oder gar nicht. Sie kann inkritischen Gesprächen mit Eltern den Nach-weis „schwarz auf weiß“ erbringen, dass

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eine regelmäßige, gezielte Sprachförde-rung stattfindet. Sie gewinnt eine Einschät-zung darüber, welchen Raum, im Vergleichzu anderen pädagogischen Aktivitäten, derBereich der Sprachförderung einnimmt.Wenn die Spalte „Bemerkungen“ einbezo-gen wird, entsteht ein Methodenfundus,der das eigene Handlungsspektrum zurSprachförderung erweitert, und/oder esergeben sich Hinweise auf konzeptionelleMängel, die reflektiert und verändert wer-den müssen. Hilfreich ist die Dokumentati-on auch zur Information neuer Kolleginnenoder Kollegen, die sich nach Krankheit oderUrlaub wieder ins Gruppengeschehen ein-finden müssen.

Wichtig ist, dass die Checkliste unmittelbargreifbar, also im Gruppenraum verfügbarist. Sozpäd. Fachkräfte berichten, dass eshilfreich sei, wenn zunächst jede Kolleginund jeder Kollege die Liste für sich führe,dies erleichtere das Vertrautwerden mitdem Schema und ermögliche ein Experi-mentieren mit der äußeren Form, bis das„Richtige“ gefunden sei. Ein Vergleich derEintragungen unter Kolleginnen und Kolle-gen ermöglicht es, in gegenseitiger Ergän-zung und Unterstützung zu arbeiten (s. Bei-spiel).

Zeitraum: Woche vom 13. – 17. November Sozpäd. Fachkraft: Sabine Mais

Name Erstsprache Datum / Uhrzeit Dauer Bemerkungen

Sabrina K. Deutsch 14.11. 15 Min. Geschichte zu selbstgemaltem9.15 - 9.30 Uhr Bild erzählt

Betty P. Englisch 14.11. 10 Min. Unterstützung der Mutter-10.50 -11.00 Uhr sprache, engl. Lied

Okran T. Türkisch 15.11. 20 Min. Gemeinsamer Einkauf11.20 -11.40 Uhr

Aysha K. Türkisch 16.11. 10 Min. Handpuppe schaffte Kontakt!14.10 -14.20 Uhr Unterbrochen durch Turnstunde

Beispiel:

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Die hier vorgestellte Schrittfolge bewirkt,dass bewusste Sprachförderung nicht als„Extraaufgabe“ für sozpäd. Fachkräftedaherkommt, sondern ganz selbstverständ-lich zum Praxisalltag gehört: Sprachförde-rung wird hier nicht einseitig von außen andas Kind herangetragen, sondern entwi-ckelt sich aus Kindersituationen und istganzheitlich und stimmig mit dem Gesamt-geschehen verbunden. Im Idealfall wirkendie verschiedenen, hier vorgestelltenAspekte zusammen und verdichten sichzu einem maßgeschneiderten Sprachför-derkonzept für das jeweilige Kind.

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Kinder erschließen sich ihre Umwelt han-delnd und sind immer dann besondersengagiert, wenn sie aus einem eigenenBedürfnis heraus handeln. Dabei zeigt sich,„dass die Welt des Kindes nicht aus losge-lösten und abstrakten Objekten besteht,sondern aus Zusammenhängen, die durchdas spezifische Interesse des Kindes ge-knüpft sind.“39

Werden Kinder dagegen aus ihren (Spiel-)Zusammenhängen für eine Sprachübungherausgerissen, so besteht leicht die Ge-fahr, sie mit didaktisch aufbereiteten Mate-rialien zu konfrontieren, die in der momen-tanen Erfahrungswelt des Kindes keineBezüge finden. Folge einer solchen Vorge-hensweise ist in vielen Fällen die „Isolierungdes Denkens von Wahrnehmung und emo-tionalen Hintergründen. Wo Lernprozessenicht mehr von einem leidenschaftlichenInteresse an der Wahrnehmung der Wirk-lichkeit getragen werden, müssen sienotwendig träge und flach werden. Allen-falls wird Geschicklichkeit gelernt, die aberohne wirklich existenzielle Bedeutungbleibt.“40

Auch in der Spracherwerbsforschung wirdin diesem Zusammenhang darauf hinge-wiesen, dass "das Kind (...) solche Sprach-äußerungen aus der Umwelt (übernimmt),die es häufig hört, und die für seine Wün-sche und Bedürfnisse von Bedeutungsind."41

Für die Sprachförderung in Kindertagesein-richtungen ergibt sich daraus, Kinder mög-lichst im alltäglichen Miteinander in ihrerSprachentwicklung zu unterstützen. Es sindnämlich die alltäglichen Situationen, dieKinder aus einem eigenen Bedürfnis herausmotivieren, ihre Sprachkenntnisse voranzu-treiben. Dabei sollte der gesamte Alltag –also der Tagesablauf, die Raumgestaltung,Materialien/Spiele und auch die Öffnungzum Stadtteil hin – daraufhin überdachtwerden, wie er sprachfördernd gestaltetwerden kann.

Sprachförderung im Alltag ist also keineweitere Extraaufgabe, die die sozpäd. Fach-kraft neben allem anderen auch nochbewältigen muss. Vielmehr geht es darum,sensibler für sprachfördernde und sprach-hemmende Aspekte zu werden und dieArbeit dementsprechend Schritt für Schrittzu gestalten. In diesem Sinne kann sichSprachförderung wie ein roter Faden durchden gesamten Alltag der Einrichtung hin-durchziehen und nicht als ein vom Alltaglosgelöster Baustein empfunden werden.

3. Sprachförderungim pädagogischen Alltag

39 Schäfer, 1998, S. 4340 Schäfer, 1995, S. 290 41 Grimm, a.a.O., S. 635 f

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Damit Kinder motiviert sind, sich sprachlichzu äußern oder eine weitere Sprache zuerlernen, müssen sie sich wohl fühlen undein genügendes Maß an Sicherheit undVertrautheit entwickeln können. Vertrau-ensvolle Kontakte zu sozpäd. Fachkräftenund Kindern helfen, sprachliche Barrierenzu überwinden.

Hierzu kann auch der Tagesablauf entschei-dend beitragen. So können immer wieder-kehrende Orientierungspunkte im Tagesab-lauf neuen Kindern und Kindern mit wenigDeutschkenntnissen Sicherheit geben,wenn viel Neues und Unbekanntes auf sieeinstürmt.

Da nicht alle Kinder gleich sind und nichtalle zum gleichen Zeitpunkt neu in die Kin-dertagesstätte kommen, sind die von dersozpäd. Fachkraft gesetzten Orientierungs-und Strukturierungshilfen immer wiederdaraufhin zu überprüfen, für welche Kindersie notwendig und sinnvoll und für welchesie wann zu verändern sind.

Mehr Offenheit und Flexibilität ist beisolchen Kindern gefragt, die bereits mehrSelbstvertrauen gewonnen haben. Damitsich diese Kinder in der Einrichtung wohlfühlen können, brauchen sie Tagesabläufe,die ihnen genügend Zeit einräumen, ihreSpiele, Entdeckungen und Erfahrungennach eigenem Rhythmus aufzubauen undabzuschließen. Starre Tagesabläufe tragenhier eher dazu bei, dass sie aus ihren Spiel-

prozessen herausgerissen werden und damitauch das Engagement der Kinder gebremstwird, von ihren Erlebnissen zu erzählen.

In Kindergruppen ist immer wieder zubeobachten, dass manche Kinder in Stuhl-kreisen, an denen alle Kinder teilnehmenmüssen und die jeden Tag zu einer be-stimmten Uhrzeit stattfinden, Schwierigkei-ten haben, zuzuhören und etwas zu sagen.„Mit dem traditionellen Stuhlkreis, in demmit der ganzen Gruppe gesungen, gespielt,gesprochen oder ihr vorgelesen wird, habeich keine guten Erfahrungen gemacht. Sehrviele Kinder sind überfordert, über längereZeit still zu sitzen und sich zu konzentrie-ren. Viele ausländische Kinder fühlen sichim Stuhlkreis nicht wohl, weil sie wenigoder gar nichts verstehen können undtrotzdem gezwungen sind, über einengewissen Zeitraum still zu sitzen. Dadurchentsteht eine Unruhe, die allen das Vergnü-gen am Stuhlkreis verderben kann.“42

Auch sollten Angebote, die für die gesamteGruppe initiiert werden, daraufhin befragtwerden, ob tatsächlich alle Kinder daranteilnehmen müssen oder ob nicht auch hiereine flexible Handhabung möglich ist.

Die Flexibilität im Tagesablauf wird durcheine differenzierte Gruppenarbeit unter-stützt, d.h. Kinder können sich – ihrenjeweiligen Bedürfnissen und Spielinteressenentsprechend – zu Gruppen zusammenfin-

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3.1 Offenheit und Orientierung im Tagesablauf

42 Jakubeit, 1988, S. 99

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den oder zurückziehen. Dabei können sie –sowohl mit als auch ohne Unterstützungder sozpäd. Fachkraft – ihren Aktivitätenund Kontakten zu anderen Kindern nacheigenem Rhythmus nachgehen. Dies trägtdazu bei, dass sie sich in ihre Tätigkeitenvertiefen können, die sie im Moment oderauch über mehrere Tage hinweg besondersinteressieren. Gerade diese Qualität vonEngagement ist es, die Kinder dazu moti-viert, sich auch sprachlich mitteilen zu wol-len und die sie manche Hemmschwelle,sich in einer Zweitsprache ausdrücken zumüssen, vergessen lässt.

Auch bei einem scheinbaren Fixpunkt,wie dem Mitagessen, hat es sich bewährt,einmal neue Möglichkeiten auszuprobie-ren: So hat z.B. eine Einrichtung gute Erfah-rungen damit gemacht, den Kindern zweiZeiten im Abstand von 45 Minuten zumMittagessen anzubieten. Jeden Tag könnensich die Kinder entscheiden, ob sie lieberfrüher oder später essen wollen. Entschei-dungsgrundlage ist dabei sicher zum einender Hunger, aber auch, ob sich ein Kindmitten in einem wichtigen Spiel befindet.Je nach „Tagesform“ kann es auch sein,dass das eine oder andere Kind nochEntscheidungshilfen braucht.

Das Mittagessen wird sich viel eher als einsprachförderndes Ereignis im Alltag ent-puppen, wenn die Kinder selbst entschei-den können, wann sie kommen und dabeifür sie wichtige Spiele abschließen oder zueinem vorläufigen Ende bringen konnten.Es ist auch leicht vorstellbar, dass Kinder,die aus Spielprozessen herausgerissenwurden, eher missmutig am Mittagstischsitzen, ihren Ärger kundtun, indem sieunruhig werden und vielleicht andere stö-

ren, dass sie auf jeden Fall weniger mitSprachfreude von sich erzählen werden.

Sich an den Bedürfnissen von Kindern fürdie Sprachförderung zu orientieren bedeu-tet also, flexibel für die Gestaltung des Ta-gesablaufs zu werden. Kontinuierlichdurchgeführte Beobachtungen und Situati-onsanalysen helfen bei der Entscheidung,welche Unterstützung Kindern hinsicht-lich ihres Bedürfnisses nach Orientierungsowie Freiraum und Zeit für ihre Eigen-aktivitäten angeboten werden sollte.

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„Räume sprechen eine deutliche Sprache.Sie geben Auskunft über die Gestalter, dieBenutzer, über ihre Beziehungen zueinan-der und über das Geschehen, das ein Raumzulässt oder behindert.“43

Es gibt Räume, die auf Anhieb einladendund gemütlich wirken, auch einladen, mit-einander ins Gespräch zu kommen. In an-deren Räumen verschlägt es uns buchstäb-lich die Sprache, weil sie kalt und unper-sönlich wirken oder voll von Dingen sind,die uns fremd vorkommen, die uns aufDistanz gehen lassen. Wiederum andereRäume, wie Kirchen oder Museen, können

uns durch ihre Atmosphäre signalisieren, lei-se zu sprechen. Die Raumgestaltung wirktsich also auf die Sprache der Menschen aus,die sich darin bewegen. Sie kann Sprechge-wohnheiten verändern, zum Sprechen er-muntern, aber auch Sprache behindern.

Die Raumgestaltung kann in diesem Sinnedazu beitragen, dass sich Kinder mit ihrenunterschiedlichen Bedürfnissen nach Bewe-gung, Rückzug, Orientierung, Gestaltungs-freiheit und Experimentierfreude wiederfin-den können. Eine flexible Raumgestaltungkommt dabei der Veränderung von Bedürf-nissen der Kinder entgegen: „Räume ver-ändern sich, weil sich die Menschen undwas sie bewegt ändern. Räume haben eineGeschichte, Platz für persönliche Spuren

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3.2 Räume regen zum Sprechen an

43 Kazemi – Veisari, 1996, S. 37 f

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und lassen Inhalte erkennen, mit denenKinder aktuell beschäftigt sind.“44

Es gibt viele Möglichkeiten, damit dieRaumgestaltung „in Bewegung kommtund in Bewegung bleibt:“45

– „Regale und Kleinmöbel auf stand-festen Möbelrollen

– leichte, kleine Tische, die von Kinderngetragen werden können

– Wohnlandschaften aus Kisten undKartons...

– bereits montierte Wäscheleinen undKlammern, mit denen Kinder selbst-ständig Vorhänge auf- und ab-hängen können.“46

Räumliches Wohlbefinden –ein Motor für die Sprechfreude

Was als wohltuend und vertraut in Räumenerlebt wird, welche Möblierung, Farbge-staltungen, Lichtintensität, Größe undForm Wohlbefinden auslösen, kann sehrunterschiedlich sein. Mit der Vielfalt an Kul-turen, aber auch der Unterschiede inner-halb einer Kultur nimmt die Bandbreite anGestaltungsmöglichkeiten von Räumen, indenen Kinder heutzutage aufwachsen, zu.Es lohnt sich, den Blick auf das familiäreLebensumfeld des einzelnen Kindes zurichten, um herauszufinden, was Kindernin ihren eigenen vier Wänden lieb undvertraut ist.

Vielleicht lässt sich bei einem Hausbesuchein geeigneter Gegenstand finden, den dieKinder mitnehmen und für eine gewisseZeit ausleihen dürfen – z.B. ein Tuch, mitdem Räume geteilt oder Möbel verhängtwerden, ein Kleidungsstück, das die Elternnicht mehr brauchen und das nun zumRollenspiel zur Verfügung steht, vielleichtauch ein Bild oder ein typischer Gegen-stand aus dem Herkunftsland der Familie,zu dem ein besonderer emotionaler Bezugbesteht. Werden diese Gegenstände selbst-verständlich in die Raumgestaltung inte-griert, können sich daraus zahlreiche Anläs-se für Gespräche zwischen der sozpäd.Fachkraft und den Kindern bzw. der Kinderuntereinander ergeben.

Auch eine Puppenecke, die so geräumiggestaltet ist, dass Kinder mit Migrationshin-tergrund darin im Rollenspiel ihren Lebens-bereich aufgreifen können, kann zumWohlbefinden der Kinder beitragen undihre Sprechfreude unterstützen.

44 Lipp – Peetz, 1998, S. 2145 Demandewitz, 1999, S. 19646 Haucke, 1998, S. 151

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Neues entdecken – Neugierde wecken– ein Motor für das Mitteilungsbedürf-nis von Kindern

Kinder haben Spaß daran, Neues zu ent-decken und zu erforschen, wenn sie sichsicher fühlen und ein genügendes Maß anVertrauen entwickelt haben. Auch Räumekönnen so gestaltet werden, dass sieSicherheit geben und in ihnen immer wie-der Neues erforscht werden kann, indemeinzelne Ecken und Plätze mit den Kindernverändert werden oder neue Gegenständeaus den Familien der Kinder für eine gewis-se Zeit der Kindertageseinrichtung ausge-liehen werden. Was bei dem einen Kind einGefühl von Vertrautheit auslöst, weil ihmdiese Gegenstände bekannt vorkommen,kann bei einem anderen Kind ein Neugier-verhalten wecken. Immer dann, wennKinder besonders neugierig sind oder sichbesonders engagiert mit etwas befassen,werden sie sich mit ihrer neuen Entde-ckung auch mitteilen wollen.

Räume selbst gestalten -Kompetenz und Sprechfreude stärken

Wenn Kinder gefragt werden oder überBilder malen ausdrücken, wie sie sich ihre

Räume gestalten würden, spiegelt dies einStück ihrer Lebenswelt und ihrer persönli-chen Sichtweisen wider. Indem Kinderdarin unterstützt werden, ihre Vorstellun-gen von Raumgestaltung gemeinsam mitHilfe der sozpäd. Fachkraft umzusetzen,machen sie sich die Räume der Einrichtungzu eigen. Sie erhalten die Möglichkeit,sich ein Stück Zuhause zu schaffen – einenOrt zum Wohl fühlen, Vertrauen, Sicher-heit und Selbstwert finden. Auch nichtgestaltete Ecken innerhalb eines Raumeskönnen Kinder dazu einladen, selbst tätigzu werden.

Selbst gestaltete Räume sind eine solideBasis, um sich auf neue, auch sprachlicheLernschritte einzulassen.

Sich wohl fühlen, Neugierde wecken undselbst gestalten sind somit die Schlüssel-wörter für eine Raumgestaltung, dieKinder zum Sprechen ermuntern.

Die Raumgestaltung auf diese Aspekte hinimmer wieder neu zu befragen, bedeutet,den Kindern ein Sprachrohr für ihre Be-dürfnisse zu geben und sie dabei gleichzei-tig in ihrer Sprechfreude zu unterstützen.

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Nachdem die sozpäd. Fachkraft über Beob-achtungen und schriftliche Aufzeichnun-gen einen Überblick über die sprachlichenFähigkeiten gewonnen hat, stellt sich dieFrage, welche Art der Sprachanregung daseinzelne Kind in der Gruppe braucht.Sprachliche Förderung kann z.B. für Mirkobedeuten, dass er gezielte Sprachanregun-gen braucht, für Elena, dass sie mehr Zeit

für ihre sprachlichen Äußerungen benötigt,weil ihre Mitteilungen noch sehr unge-schickt sind, für Anna, dass sie bei ihrenÄußerungen weniger unterbrochen oderkorrigiert wird, und für Jens, dass er lernt,sich auch sprachlich auszudrücken, dennallzu oft reagieren Erwachsene auf seineMimik und Gestik, weil es dann schnellergeht.

Voraussetzung für eine konkrete Unter-stützung der sprachlichen Fähigkeiten vonKindern ist, über Beobachtung heraus-zufinden, auf welche verbalen und nonver-balen Mittel Kinder zurückgreifen, um sichanderen mitzuteilen.

Um ihre sprachlichen Fähigkeiten entwi-ckeln zu können, brauchen Kinder eineAtmosphäre, in der sie sich von der sozpäd.Fachkraft und den anderen Kindern akzep-tiert wissen und sich wohl fühlen können.Auch brauchen sie Situationen, in denenihre Sprechfreude aufgegriffen wird, indenen sie zum Sprechen ermutigt und An-lässe zum Sprechen über gemeinsamesSpiel und Tun hergestellt werden. Kinderkönnen sich über Singen, Tanzen, Bewe-gungsspiele und Rhythmik einbringen, wasihnen helfen kann, Selbstvertrauen aufzu-bauen. Kimspiele führen zu einer anschauli-chen Sprachvermittlung, weil Kinder erfah-ren, wie sich etwas anfühlt, wie etwasschmeckt oder riecht. Das Spiel mit Hand-puppen und Marionetten erleichtert dieKontaktaufnahme zu und zwischen Kin-dern. Des weiteren können Fingerspiele,Reime und einfache Lieder Kinder mit

diesem Thema beschäftigt. Ihre Werkehaben ihren Platz im Raum. Sie werdennicht aufgeräumt, sondern stehen denKindern zur Verfügung, um jeden Tag aufsNeue daran anzuknüpfen. Nach und nachmüssen hierbei ein Regal und ein Tischvon seinem üblichen Platz entfernt werden.Andere Kinder haben Spaß daran, dass hier-durch an anderen Orten des Raumes neueEcken entstehen. Die sozpäd. Fachkraft un-terstützt den Gestaltungseifer der Kinder,indem sie in passenden Momenten nach-fragt und sich erklären lässt, in welcher„Bauphase“ die Kinder gerade stecken.Die Phantasie und Experimentierfreude derKinder geben ihr jede Menge Anknüfungs-punkte, um mit den Kindern ins Gesprächzu kommen und dabei zugleich ihre sprach-lichen Fähigkeiten zu unterstützen.

Zwei Kinder haben im Gebüsch desAußengeländes eine Raupe gefunden.Besonders lustig finden sie, wie sie sichbewegt. Davon inspiriert, versuchen sie,die Bewegung nachzuahmen. Es ent-stehen u.a. Gespräche darüber, wie eineRaupe schläft, was sie isst und wo wohldie Eltern der Raupe sind, denn die Rau-pe sieht noch ganz jung aus. MancheKinder malen Bilder, mit denen sie ihreIdeen hierzu ausdrücken. Es entstehen„Schlafhöhlen“ für Raupen aus Kissenund Tüchern, die jeden Tag weiter aus-gebaut werden. Als ein Kind erklärt, wieaus einer Raupe ein Schmetterling ent-steht, bauen die Kinder aus Pappkartonsund Decken einen Ruheraum für„Schmetterlinge im Raupenbauch“.Über Tage hinweg sind einige Kinder mit

3.3 Die Vielfalt von Materialien und Medien nutzen

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geringen Deutschkenntnissen zum Mitma-chen motivieren.

In ihrer Arbeit findet die sozpäd. Fach-kraft also eine Vielfalt an Materialien undMedien, die in den Spielsituationen derKinder zur Förderung der sprachlichenFähigkeiten beitragen können.

Neben diesen sprachanregenden Situatio-nen und Gelegenheiten, die durch Bereit-stellen von Materialien, durch eine entspre-chende Gestaltung der Räume und desTagesablaufs ermöglicht werden, kann diesozpäd. Fachkraft im Rahmen differenzier-ter Gruppenarbeit Impulse und Angebotezur sprachlichen Förderung einbringen.Diese von ihr initiierten Angebote sollten inSpiel- und Handlungssituationen eingebun-den sein und ein ganzheitliches Vorgehenerkennen lassen, bei dem unterschiedlicheSinne und Bereiche angesprochen werden,z.B. Hören und Sprechen, Sprechen undSingen oder Singen und Sich-Bewegen.Über Beobachten, Nachfragen und Han-deln lernen Kinder die Eigenschaften vonDingen und Gegenständen kennen, neh-men Dinge und ihre Veränderungen wahrund erweitern ihren Wortschatz. Es ist alsowichtig, im Kindergarten „ein sprachanre-gendes Milieu zu schaffen und die vielfälti-gen Ansatzpunkte aufzugreifen, um dieSprachkenntnisse der Kinder, in lebendigeHandlungszusammenhänge eingebettet, inspielerischer Form, aber inhaltlich gezielt zuerweitern, zu vertiefen.“ 47

Wesentlich bei den Angeboten zur Sprach-förderung ist, dass die sozpäd. Fachkraftsolche Bereiche auswählt, die an den Erfah-rungen des Kindes anknüpfen und für dasKind bedeutsam sind. So ist es für dieOrientierung im Kindergarten wichtig, dassKinder sich in den verschiedenen Räumenzurechtfinden, dass sie mit den Spielmate-rialien vertraut werden und dass sie dieanderen Kinder in der Gruppe kennen ler-nen, bevor sie sich Bereiche außerhalb derEinrichtung erschließen.

Anlass zu einer sprachlichen Förderungkann jedes Spiel, jede Aktivität und Tätig-keit sein, soweit es die Situation der Kinderzulässt. Kinder entwickeln ihre sprachlichenFähigkeiten, wenn sie einerseits Spracheerleben und Erwachsenen beim Sprechenzuhören und wenn sie sich andererseitsmitteilen, Sprache erproben können. Wiejedes Lernen erfordert auch sprachlichesLernen eine bestimmte Regelmäßigkeit.Leider werden die vielfältigen Möglichkei-ten der sprachlichen Förderung, wie Beob-achtungen zeigen, in der Praxis allzu weniggenutzt. So wird u.a. das Gespräch mitKindern aus „zeitlichen Gründen“ in derRegel vernachlässigt, weil es anscheinendnicht als ein Element der Arbeit angesehenwird, sondern als etwas, das zu dem bisherGeforderten noch dazu kommt. Daher istes wenig verwunderlich, dass der Ruf nachSprachtrainingsprogrammen zur Behebungvon sprachlichen Defiziten zunimmt. Dabeiwird oftmals übersehen, dass Sprachförde-rung im Rahmen eines isolierten Sprachtrai-nings eine wenig effektive Methode ist unddass Kinder stärker motiviert sind, wennsprachliches Lernen im Kontext von Spiel-situationen stattfindet. Wenn man aberallen Kindern gleiche Chancen im Hinblick

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47 Akpinar, Zimmer, 1984, S. 63

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auf ihre schulische und berufliche Situationeröffnen will, ist es notwendig, die sprachli-che Förderung aus ihrer wenig beachteten,untergeordneten Rolle, die ihr in der Regelim pädagogischen Alltag zugewiesen wird,herauszuholen. ULICH verweist darauf,dass Sprache und Sprachförderung immerdann zum Thema werden, wenn Problemeauftreten. Notwendig sei aber, sprachanre-genden Aktivitäten einen entsprechendenStellenwert in der pädagogischen Praxiseinzuräumen. Dies sei vor allem im Hinblickauf die Kinder angebracht, die zu Hausewenig sprachliche Anregungen erfahrenund daher bei der Einschulung deutlichbenachteiligt seien.

Sprachförderung konkret

Im folgenden werden unterschiedlicheMöglichkeiten der Sprachförderung, die imKindergarten vorhanden sind, vorgestellt.Hierbei geht es darum, den Alltag in seinerVielfalt für eine „bewusste“ und regelmä-ßige Sprachförderung zu nutzen. Mit Hilfeder unterschiedlichen Spiele und Aktivitä-ten lassen sich Artikulation, Wortschatz,Wortformen, Begriffsbildung und Satzbauaneignen, differenzieren und erweitern.Wenn abzusehen ist, dass die im pädagogi-schen Alltag eingesetzten Materialien füreinzelne Kinder nicht ausreichen, ist esdie Aufgabe der Erzieherin, diesen Kindernweitere gezielte Angebote im Rahmendifferenzierter Gruppenarbeit zu unter-breiten. Bei den Überlegungen zur sprachli-chen Förderung kommt dem Gespräch mitKindern eine besondere Bedeutung zu. Da-bei meint „Gespräch“ mehr als nur ein Ab-fragen oder Ansprechen bzw. etwas anzu-ordnen. Anlässe für Gespräche miteinzelnen Kindern oder in kleinen Gruppenkönnen sehr vielfältig sein und sich bei un-terschiedlichen Situationen ergeben: beimFrühstück oder Mittagessen, beimWaschen oder Anziehen, beim Malen oderBasteln, beim Betrachten von Bildern oderBilderbüchern oder über Hand- und Tier-puppen in Gang gesetzt werden. Gesprä-che geben Kindern die Chance, bekannteSprachmuster zu verfestigen und neue zuerproben. Ein Raster kann der sozpäd.Fachkraft dabei helfen, ihre Gesprächs-kontakte mit Kindern zu reflektieren.

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Fragen zur Auswertung:

– Mit welchem Kind spricht die sozpäd. Fachkraft besonders wenig?

– Mit welchen Kindern besonders viel?– Sind die Gespräche vom Kind ausge-

gangen oder von der sozpäd. Fachkraftinitiiert?

– Welches Kind braucht nach Einschät-zung der sozpäd. Fachkraft eine geziel-te Sprachförderung?

– Werden diese Kinder in der alltäglichenArbeit ausreichend berücksichtigt?

– Bei welchen Kindern hat der Kontakt imLaufe der Woche/der letzten Wochen nachgelassen?

– Woran kann dies liegen?

Bei einem Vergleich der Aufzeichnungender Kolleginnen und Kollegen in einerGruppe ergeben sich noch folgendeFragen:

– Gibt es Kinder, die von beiden zu wenigoder gar nicht angesprochen werden.

– Woran kann dies liegen?– Wer wird sich im Hinblick auf sprachför-

dernde Situationen um welches Kind gezielt bemühen (s. Beispiel)?

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Woche vom:………………………………

Name des Kindes Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag

Zoe N. !! !! !!! !!

Sabine K. !! ! !!! !

Murat A. ! !! !! !

Umay Ö. ! !! !! !

Holger N. !! ! !

Ayse D. !! !! !! !!

Beispiel:

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Neben dem Sprechen erfahren Kinder überdas Zuhören, wie sie ihre Sprache weiter-entwickeln können. Über regelmäßigesVorlesen und Erzählen von Geschichtenund Märchen erhalten sie neue sprachlicheAnregungen, bereits bekannte Wörter undSatzmuster werden vertieft. Während imGespräch das Gesagte vielfach mit Hand-lungen verbunden ist oder in bestimmtenSituationen erfolgt, z.B. beim Anziehen,und Kinder oftmals ungefähr wissen,worum es geht, lernen sie beim Vorlesenund Erzählen, „sich auf eine rein sprachlichvermittelte Botschaft zu konzentrieren undzu entschlüsseln.“48 Beim Vorlesen undErzählen werden Inhalte vermittelt, die vonden Kindern verstanden und interpretiertwerden müssen. Studien zeigen, dassregelmäßiges Vorlesen und Erzählen inKleingruppen Kinder in ihrer Sprachent-wicklung deutlich fördern.49

Eine Möglichkeit mit Kindern ins Gesprächzu kommen, bieten Bilder und Bilder-bücher.

Bei den Bilderbüchern kommt es beimBetrachten und Zuhören zu einer Verknüp-fung von Gesehenem und Gehörtem. Auchwerden die Kinder zum Sprechen, Nachfra-gen und zu freien Assoziationen angeregt,indem die sozpäd. Fachkraft die Kinderdurch entsprechende Fragen anhält, dieBilder zu beschreiben, Einzelheiten zuerkennen und zu benennen.

Erfahrungsgemäß gibt es Geschichten, dieKinder immer wieder hören möchten, undzwar mit dem gleichen Text, der gleichenBetonung, Mimik und Gestik. Hier könnensich Sprache und Sprachmuster über Wie-derholung einprägen. Dabei ist allerdingsanzumerken, dass Bilderbücher konkreteErfahrungen in der realen Situation nichtersetzen sollen und können und dass dieKonzentrationsfähigkeit vor allem der Kin-der mit geringen Sprachkenntnissen sehrbeansprucht wird.

Bei der Auswahl von Bilderbüchern sind dieIllustrationen, die sprachliche Aufbereitungund der Inhalt zu beachten.

Die Bilder sollten realistisch dargestellt seinund die wesentlichen Merkmale der abge-bildeten Gegenstände enthalten, so dassdie Kinder ohne große Mühe die enthalte-nen Informationen entschlüsseln können.Dies gilt in besonderer Weise auch für dietextfreien und textarmen Bilderbücher. Beieiner Überfrachtung der Bilder kann dasInteresse des Kindes an einer genauenBeobachtung und sprachlichen Wieder-gabe sinken.

Um Kinder nicht zu über- oder zu unterfor-dern, sollte sich die sprachliche Darstellungan den Sprachkenntnissen der Kinder ori-entieren. In einer multikulturellen Gruppekann den unterschiedlichen Sprachkennt-nissen am ehesten Rechnung getragenwerden, wenn Bilderbücher in kleinenGruppen angesehen werden. Zudem soll-ten die Inhalte an den Erfahrungen der Kin-der anknüpfen. Dies bedeutet, dass auchBücher aus dem Erfahrungsbereich der Kin-der mit Migrationshintergrund in der Ein-richtung vorhanden sein sollten. Diese Bü-

48 Ulich, 1999, S. 2449 Vgl. Ulich

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cher können Kindern Vertrautheit in einerfremden Umwelt geben, lässt sie ein „Stückihrer Welt“ in den Büchern wiederfinden.Dadurch haben Kinder mit geringenDeutschkenntnissen auch die Möglichkeit,ihnen bereits Bekanntes, Vertrautes in derdeutschen Sprache zu benennen.

Dieses Ziel kann auch über das Erstellen ei-gener Bilderbücher erreicht werden. Grund-lage könnten Fotos aus den Heimatländernder Kinder sein, die die Eltern sicherlich aufNachfrage zur Verfügung stellen.

Es können aber auch Bilderbücher zu ande-ren Themen erarbeitet werden, wenn dieErzieherin mit den Kindern einen Besuch imZoo macht, auf den Wochenmarkt geht.Anlässe zum Gespräch ergeben sich sowohlbeim Erstellen der Bücher als auch beimspäteren Anschauen.

Auch sollten Kinder in multikulturellenGruppen zweisprachige Kinder- und Bilder-bücher, wie sie von verschiedenen Verlagenangeboten werden, im Kindergartenvorfinden.

Bei Liedern, Sing- und Tanzspielen werdenSingen und Sprechen mit Handlungen ver-bunden. Kinder können die Bedeutung vonWörtern über Augen, Ohren, Hände undBewegung des Körpers erfahren, wenn siesingend aufeinander zugehen, sich anfas-sen oder etwas miteinander tun. Auch Kin-der mit geringen Sprachkenntnissen kön-nen sich hier beteiligen, da sie zumindesteinen Teil der Bedeutung der Wörter derSituation entnehmen können. Die Textin-halte sollten sich auf Handlungen oderSituationen beziehen, die Kindern – wennes nötig ist – über Anschauungsmaterial,

Handlungen oder einfache Erklärungendeutlich gemacht werden. Um Missver-ständnisse auszuräumen, sollten unbe-kannte Wörter zunächst erklärt werden.

Für sprachgehemmte Kinder bietet dieGruppe den notwendigen Schutz, ihreSprachhemmungen zu überwinden.

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Über Wiederholung und Reihung vonTextstellen, wie sie in Liedern, Sing- undTanzspielen vorkommen, prägen sich demKind sprachliche Strukturen ein, die es auchin anderen Zusammenhängen einsetzenkann.

„Lieder schaffen eine angstfreie Situation,verbinden Sprache mit pantomimischenund rhythmischen Bewegungen und kön-nen mit immer neuen Handlungsvorschlä-gen variiert werden.“50

Bei Kindern, die über geringe oder keineDeutschkenntnisse verfügen, ist der musi-kalisch-rhythmische Bereich ein Zugang zurSprache, der Kindern in der Regel viel Freu-de bereitet. Kinder können sich hier beteili-gen, ohne auf Sprache angewiesen zu sein.

Der Einsatz von Medien für Kinder, insbe-sondere von Hörspielkassetten, kann dazubeitragen, der mehrsprachigen Situation inder Kindergruppe gerecht zu werden. Da eswohl den meisten deutschen sozpäd. Fach-kräften nicht möglich ist, auch nur eine derzahlreichen Erstsprachen der Kinder zusprechen, kann mit Hilfe von KassettenKindern vermittelt werden, dass ihre Erst-sprache ihren Platz in der Arbeit hat. Kinder-literatur und Kinderlieder in der Erstspracheder Kinder können eine anregende Ergän-zung für alle Kinder der Gruppe sein.

Spiele unterschiedlicher Art, wie Tisch-,Kreis- und Rollenspiele, sind Bestandteilkindlicher Aktivitäten. Das Spiel gibt Kin-dern die Möglichkeit, sprachliche, sozialeund sachliche Erfahrungen zu machen und

zu verarbeiten, neue Fertigkeiten zu erwer-ben. Da mit dem Spiel Sprache verknüpftist, ergeben sich hier zahlreiche Gelegen-heiten zur sprachlichen Förderung.

Fingerspiele gibt es für Kinder unterschied-licher Altersstufen und mit unterschied-lichen Sprachkenntnissen. Bei Fingerspielenwird Sprache über symbolische Mittel ver-deutlicht. So wird z.B. bei „Himpelchenund Pimpelchen“ das Klettern über dasKrabbeln der Finger angedeutet. Dieserleichtert Kindern mit geringen oderkeinen Sprachkenntnissen den Zugang zurSprache bzw. ermöglicht die Teilnahmeam Spiel.

50 Müller, Rösch, a.a.O., S. 118

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Bei Kreis- und Singspielen sind es die Wie-derholung von Textstellen, das gemeinsameSingen und Sprechen, Spieldialoge, derEinsatz akustischer Mittel wie laut undleise Sprechen, der Einsatz von Mimik undGestik, das Umsetzen in Bewegung, diezu einer Verbindung von Sprache undkonkreten Erfahrungen führen und Kinderndamit das Verstehen erleichtern.

Kimspiele führen zu einer anschaulichenSprachvermittlung. Die Kinder können füh-len, ob etwas hart oder weich, rauh oderglatt ist, wie etwas riecht oder ob etwassüß oder salzig schmeckt. Mit Hilfe vonKimspielen werden die verschiedenen Sin-ne von Kindern angeregt. Die Ausbildungund Differenzierung der sinnlichen Wahr-nehmung wiederum ist von Bedeutung fürdie geistige Entwicklung von Kindern.

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Wenn sich Kinder zunächst nicht am Erra-ten von verschwundenen Gegenständenoder verdeckt vorgeführten Geräuschenbeteiligen können, weil ihnen noch diejeweiligen Begriffe fehlen, kann ihnendie sozpäd. Fachkraft helfen, indem siedie Gegenstände vorstellt, die Geräuschevorführt und jeweils benennt.

Eine Erweiterung des Wortschatzes erreichtdie sozpäd. Fachkraft über Ratespiele, dienach dem Namen (Ich heiße...und wie heißtdu?), nach Kleidung und Farben (MeinRock ist gelb...und was ist rot? Ich sehewas, was du nicht siehst und das ist blau),nach Körperteilen (Das ist mein Kopf... Na-me des Kindes: Wo ist deine Nase?) oderauch nach grammatikalischen Elementenfragen (Wo sitzt der Teddybär? ...auf demStuhl, unter der Bank, neben dem Tischoder Ist die Puppe in diesem Raum? ...unterdem Tisch, auf dem Schrank).

Sprachspiele zeigen immer wieder, wiespielerisch Kinder mit der Sprache umge-hen, wenn sie Worte verdrehen, wenn sieversuchen herauszufinden, welche Wörtersich reimen, bzw. über welches kreativePotenzial Kinder verfügen, wenn sie sie ent-sprechend der eigenen Situation abändern.Mit solchen Sprachspielen, seien es Abzähl-verse oder Reime, üben Kinder ihre sprach-lichen Fertigkeiten. Bei Reimen sollte diesozpäd. Fachkraft nur solche auswählen,die von den Kindern verstanden werdenund die sie sprachlich bewältigen können.Nur solche Reime machen Kindern Spaß.

Tischspiele, wie Domino- und Memory-spiele, Bilderlotto oder Puzzles, werden vonKindern gerne gespielt. Diese Spiele müs-sen in der Regel schrittweise eingeführtund in multikulturellen Gruppen oftmalszunächst vereinfacht werden. Wenn sie zurSprachförderung genutzt werden sollen, istdarauf zu achten, dass die Kinder beim Zu-sammensuchen von Bildkarten, beim Paarelegen auch sprechen. Die Kinder benennen,z.B. beim Memoryspiel, was sie auf der auf-gedeckten Karte sehen.

Eine andere Möglichkeit ist, dass die soz-päd. Fachkraft bei der Einführung einesSpiels die Bilder mit den Kindern besprichtund anfangs auch die „Sprecherin“ imSpiel ist und benennt, was die Kinderaufgedeckt und zusammengelegt haben.

Wichtig erscheint hierbei, dass die Kinder –soweit es möglich ist – zunächst konkreteErfahrungen mit den auf den Karten abge-bildeten Gegenständen machen konntenund das Memoryspiel eher zur Verfestigungvon Begriffen eingesetzt wird. D.h. dasKind erfährt zunächst, wie sich eine Apfel-

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sine anfühlt, wie man sie schält, wie sieriecht, wie sie schmeckt, erst danach solltees das Bild einer Apfelsine auf der Memory-karte wiedererkennen und benennen.

Rollenspiele erfreuen sich im allgemeinengroßer Beliebtheit bei Kindern. Rollenspielein der Puppen- und Bauecke oder am Kauf-laden führen zu einer Erweiterung dersprachlichen Fähigkeiten von Kindern,wenn sie z.B. beim Kaufladenspiel die ein-zelnen Waren benennen und Sätze bilden,um ihre Wünsche auszudrücken. Im Rollen-spiel lernt das Kind, eine Situation zu erfas-sen, sich auf den Spielpartner einzustellen,dem Spielpartner zuzuhören und sich derSituation angemessen sprachlich auszu-drücken.

Die Spielaktivitäten der Kinder bei Rollen-spielen kann die Erzieherin erweitern,indem sie weiteres Spielmaterial zur Verfü-gung stellt oder Spielideen anbietet, z.B.Kartons als Ofen für eine Bäckerei, Locken-wickler für ein Friseurspiel bereitstellt, in dieVerkleidungskiste einzelne Kleidungsstückeaus den Heimatländern der Kinder auszugewanderten Familien hineinlegt odereinen offenen Kleiderschrank einrichtet,indem die einzelnen Kleidungsstücke fürdie Kinder sichtbar auf Kleiderbügeln auf-gehängt werden.

Bei der Erweiterung des Rollenspielmate-rials ist auch das Bereitstellen von zweiTelefonen empfehlenswert, weil die Kinderhierdurch angeregt werden, miteinander zusprechen. Hierbei kann es anfangs hilfreichsein, wenn die sozpäd. Fachkraft zunächstTelefonpartner für die Kinder ist. Mikrofonekönnen Kinder dazu anregen, „Reporter“zu spielen und sich dabei gegenseitig zu

interviewen. Werden diese Interviews aufTonband aufgenommen, können sie evtl.für Sprachstandsanalysen verwendetwerden.

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Das Spiel mit Handpuppen und Marionet-ten, eine Möglichkeit miteinander zu spre-chen, erleichtert gerade zur Anfangszeit dieKontaktaufnahme zu Kindern. Für das Kindist die Puppe der Ansprechpartner, und diesozpäd. Fachkraft tritt hinter der Puppe zu-rück.

Die Handpuppe oder Marionette begrüßtdie Kinder morgens, fragt nach ihremNamen, stellt sich und die Kinder vor bzw.die Kinder stellen sich selbst vor, die Hand-puppe telefoniert mit einem Kind undfragt nach, was es gemacht, womit es sichbeschäftigt hat.

Manchmal scheuen sich Kinder auch, diesozpäd. Fachkraft oder andere Kinderdirekt anzusprechen, weil sie sich unsicherfühlen oder evtl. Angst haben, ausgelachtund nicht verstanden zu werden. Ein Ge-spräch mit Handpuppen oder Marionetten

gibt Kindern die Möglichkeit, über diese„Vermittler“ ihre Ängste, Wünsche undErlebnisse zu erzählen. Dieser indirekteWeg baut Hemmungen ab, und das Kindkann sich sicherer fühlen.

Handpuppen und Marionetten eignen sichebenfalls dazu, Spielsituationen anzuregen,in denen sich Kinder ohne Zwang artikulie-ren können.

Um die sprachlichen Fähigkeiten von Kin-dern über den Kindergartenalltag hinaus zuerweitern und damit Kindern die Umweltzu erschließen, sind Besuche, z.B. in derPost, auf dem Wochenmarkt, im Zoo, imSchwimmbad, in kleinen Handwerksbetrie-ben und Ausflüge, z.B. in einen nahegele-genen Park oder Wald, zu einem Bauern-hof, zu empfehlen. Die Kinder erleben, z.B.welches Obst, Gemüse ... auf dem Wo-chenmarkt angeboten wird, dürfen viel-

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leicht Obst für einen Obstsalat einkaufen,den sie später im Kindergarten anrichtenund essen. Hierbei ergeben sich vielfältigeMöglichkeiten, Kinder mit verschiedenenObstsorten sprachlich bekannt zu machen.

In einem nächsten Schritt lassen sich dieseEindrücke der Kinder über Malen, z.B. einesBildes vom Wochenmarkt, über Basteln fürden Kaufladen sprachlich verfestigen undvertiefen.

Die von Kindern gemalten Bilder könnenzum Sprechanlass werden, wenn die soz-päd. Fachkraft sich das Bild vom Kind erklä-ren lässt. Auch beim Basteln gibt sie wert-volle Sprachanregungen, wenn sie denKindern nicht nur die einzelnen Arbeits-

Das bin ich und das bist du

Die Kinder sitzen im Kreis auf dem Boden.Die sozpäd. Fachkraft rollt einem Kind ei-nen Ball zu: „Ich heiße Jutta, und wie heißtdu?“Das Kind nimmt den Ball und rollt ihn ei-nem anderen Kind zu: „Ich heiße Maria,und wie heißt du?“

Die Kinder sitzen im Kreis. Ein Kind gehtaus dem Kreis heraus und stellt sich mitdem Gesicht zur Wand.Die sozpäd. Fach-kraft fragt dieses Kind: „Wie heiße ich?“Das Kind rät: „Du heißt Jutta.“ Ein anderesKind darf aus dem Kreis heraustreten. Ein imKreis sitzendes Kind fragt: „Wie heiße ich?“,das Kind rät: „Du heißt Mirko.“

schritte zeigt und vormacht, sondernsprachliche Anleitungen gibt oder dieKinder danach befragt, was sie gerademachen.

Weitere Anregungen

Hier werden einige Themenbereiche mitAnregungen vorgestellt, die im Alltag derKinder von Bedeutung sind. Beobachtun-gen von Kindern und schriftliche Aufzeich-nungen zum Sprachverhalten geben Auf-schluss darüber, welche Materialien, wieLieder, Spiele, Bücher, bei welchen Kindernwann eingesetzt werden sollten. Die im fol-genden aufgeführten Anregungen wurdenvon Erzieherinnen in der Arbeit mit Kinderneingesetzt.

Unser Körper

Die sozpäd. Fachkraft zeigt auf ihren Armund sagt: „Das ist mein Arm“. Sie wendetsich an das neben ihr sitzende Kind: „Anna,wo ist dein Mund?“ Anna zeigt auf ihrenMund. Anna zeigt auf ihren Fuß: „Das istmein Fuß“. Sie wendet sich an das nebenihr sitzende Kind: „Pedro, wo ist deineNase?“

Spiel: „Was tun wir denn so gerne hier imKreis?“ nicken, lachen, hüpfen, gehen,winken....

Fingerspiel: Zehn kleine Zappelmänner

Bilderbuch: Von Kopf bis Fuß, von E. Carle

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Kleidung

„Ich sehe ein Kind, das ihr nicht seht,das trägt einen blauen Rock.“ Wer eszuerst erraten hat, darf weitermachen.

Spiel: Koffer packen

Kleidungsstücke werden aus einemKatalog ausgeschnitten und in dieMitte des Tisches gelegt. Die sozpäd.Fachkraft nimmt eine Mütze und fragtein Kind: „Was ist das?“ Das Kind, dasdas Kleidungsstück richtig benennt,erhält es und darf weiterfragen. DasSpiel wird solange fortgesetzt, bis alleKleidungsstücke verteilt sind.

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Farben

„Mein Rock ist gelb, und was ist blau?“Die sozpäd. Fachkraft beginnt, das Kind,das das richtige Kleidungsstück genannthat, darf die nächste Frage stellen:„Meine Hose ist rot, und was istgrün?“....

Buch: Das kleine Gelb und das kleineBlau, von L. Lionni

Essen und Trinken

„Was hast du im Mund?“ Obst und/oder Gemüse werden in kleine Stückegeschnitten. Die Kinder sitzen im Kreis.Zunächst prüfen sie, wie die einzelnenStücke schmecken: süß, salzig, sauer.Dabei wird vorher benannt, um welchesObst oder Gemüse es sich handelt.Danach schließen sie die Augen. Sieerhalten ein Stück Obst oder Gemüseund sollen erraten, was es ist.

„Wir machen einen Obstsalat“. Obstgemeinsam einkaufen und einenObstsalat zubereiten.

Buch: Die kleine Raupe nimmersatt, vonE. Carle

Die Familie

Familienfotos ansehen und erzählen:„Das ist....“

Familienbilder malen

Räumliche Orientierung

„Wo ist die Puppe?“ Sie ist ...im Regal,unter dem Stuhl, auf dem Tisch, imPuppenwagen. Die sozpäd. Fachkraft setztdie Puppe irgendwohin und fragt ein Kind.Wenn das Kind richtig geantwortet hat,darf es sie irgendwohin setzen und einanderes Kind befragen.

„Mit geschlossenen Augen hören“. DieKinder sitzen im Kreis und schließen dieAugen. Die sozpäd. Fachkraft benenntleise, wohin die Kinder zeigen sollen: aufdie Füße, auf die Nase, auf denFußboden....

Spiel: „Mein rechter Platz ist frei, ichwünsche mir ....herbei.“

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Indem sich die Einrichtung zum Stadtteilhin öffnet, erweitert sie den Erfahrungs-raum und damit den Kontakt der Kinder zuunterschiedlichen Sprachen, was für ihreSprachförderung eine nicht zu unterschät-zende Funktion haben kann. Neue Lebens-und Sprachräume können entdeckt werden:Ausflüge in den Stadtteil machen Kinder mitGeschäften, mit Museen, mit Kirchen, Mo-scheen, Spielplätzen, Märkten und vielemmehr bekannt, die sie allein durch den All-tag im Kindergarten oder in den Familienvielleicht nicht kennen gelernt hätten.

Menschen im Stadtteil zu besuchen oder indie Einrichtung einzuladen, die die gleicheErstsprache sprechen wie eines oder meh-rere der Kinder, bedeutet den Selbstwertdieser Kinder zu stärken. Für die anderenKinder eröffnen sich durch Ausflüge neueOrte und neue Erfahrungen. Solche Erleb-nisse können die Kinder in ihrer Entdecker-freude stärken und die Sprechfreude derKinder anregen.

Lebensräume sind Sprachräume

Lebensräume haben eine Wirkung auf dieSprachgewohnheit der Menschen, die sichdarin bewegen. Sei es, dass unterschiedli-che Sprachen gesprochen werden, sei es,dass dort auf unterschiedliche Art und Wei-se geredet wird. Auf der Kirmes unterhal-ten sich manche Menschen wegen derGeräuschkulisse fast schon brüllend. InKirchen oder Kathedralen wird eher leisegesprochen oder geflüstert. Auf Märkten

werden oft laut die verschiedenen Warenangepriesen. Kinder können Marktfrauenerleben, die je nach Region ihre Ware ganzselbstverständlich sowohl auf Deutsch alsauch z.B. auf Türkisch anbieten. Damiterleben sie beide Sprachen als einen selbst-verständlichen Teil des Alltagslebens.

Durch die Öffnung nach außen erfahrenKinder eine Bandbreite von unterschiedli-chen Sprachen und Sprechweisen. DieseErlebnisse können in der Tageseinrichtungin Rollenspielen aufgegriffen werden. In-dem die sozpäd. Fachkräfte nachfragen, obsich die Kinder erinnern, wie die Menschenauf den verschiedenen Plätzen miteinandergesprochen haben, kann bei Kindern einGefühl für die unterschiedlichen Sprech-weisen entstehen. Sprache und Sprechenwerden so zum wichtigen Bestandteil imAlltag der Kindertageseinrichtung.

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3.4 Durch Öffnung zum Stadtteil neueSprachräume erschließen

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Öffnung zum Stadtteil: Ressourcen nut-zen für die Arbeit als Erzieherin undErzieher

Auch die sozpäd. Fachkraft kann für ihreArbeit aus den Ressourcen des Stadtteilsschöpfen. Öffnung nach außen bedeutetfür sie, den Blick zu öffnen für neue Mög-lichkeiten der Unterstützung bei ihrer all-täglichen Sprachförderung der Kinder.

In vielen Kindertageseinrichtungen gibt eskeine oder nur eine sozpäd. Fachkraft, dieeine Erstsprache der Kinder spricht. Durchdie Öffnung zum Stadtteil hin ermöglichtsie den Kindern, mit ihrer Erstsprache inKontakt zu kommen und signalisiert damitKindern und Eltern, dass sie mit ihren Erst-sprachen akzeptiert und ernst genommenwerden. Allein diese Erfahrung kann schonmanches Tor zur Zusammenarbeit mit denEltern und zur Lernfreude bei den Kindernöffnen.

Öffnung zum Stadtteil: Neue Liederund Spiele kennenlernen

Weiterhin kann die sozpäd. Fachkraft Kon-takte zu Menschen aus dem Stadtteil knüp-fen, die eine der Erstsprachen der Kindersprechen und sie in die Kindertageseinrich-tung einladen, um den Kindern z.B. einBilderbuch vorzulesen oder mit ihnenLieder in ihrer Erstsprache zu singen.

Vielleicht gibt es Eltern oder Verwandtevon ihnen, die ein Restaurant besitzen, dasdie Kinder mit ihrer sozpäd. Fachkraft besu-chen können, die den Kindern etwas ausihrer Kindheit erzählen, vielleicht fällt ihnennoch ein Lied ein, das sie früher immer ge-sungen haben oder das sie heute ihren Kin-

dern vorsingen? Bei einem solchen Besuchwerden die Kinder u.U. mit kulturell unter-schiedlichen Raumgestaltungen und Spei-sen vertraut gemacht, was zum Nachfragenoder Nachahmen anregt.

Menschen mit verschiedenem kulturellenHintergrund aus dem Stadtteil könnenauch gefragt werden, ob sie noch Bilder-bücher in ihrer Sprache haben, die sich derKindergarten ausleihen kann. Elternkönnen gebeten werden, bei der nächstenReise in ihr Herkunftsland oder in ein Ur-laubsland ein Bilderbuch mitzubringen.

Auch ist es für die Kinder eine spannendeSache, einmal selbst in einen Laden zugehen, in dem Speisen und Gegenständeaus einer anderen Kultur verkauft werden.Für manche wird es ein völlig neues Erlebnissein; anderen Kindern ist dieser Laden

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aufgrund des gleichen kulturellen Hinter-grundes bekannt. Sie können dann viel-leicht sogar das eine oder andere erklären,und fühlen sich dabei ernst und wichtiggenommen, was ihnen Mut und Selbst-vertrauen geben kann.

Öffnung zum Stadtteil: Anregungenfür die Raumgestaltung

Bei den Besuchen von Geschäften mit ver-schiedenem kulturellen Hintergrund kanndie Erzieherin auch Anregungen für dieRaumgestaltung erhalten. Vielleicht hat dieKinder ein bestimmter Gegenstand beson-ders fasziniert, der nicht allzu teuer ist undim Raum aufgestellt werden kann. DieserGegenstand ist ein ständiges Erinnerungs-stück an den Besuch im Geschäft und kannmanches Kind dazu motivieren, von seinenErlebnissen zu erzählen.

Auch haben sozpäd. Fachkräfte gute Erfah-rungen damit gemacht, die „Reise in denStadtteil“ fotografisch zu dokumentieren.Kinder schauen sich immer wieder gerndiese Fotos an und erzählen sich und densozpäd. Fachkräften, was sie erlebt haben.

Öffnung zum Stadtteil: Sprachkompe-tenzen der Eltern stärken

Öffnung zum Stadtteil bedeutet zum einen,neue Lebensräume für Kinder und sozpäd.Fachkräfte der Kindertageseinrichtung zuerschließen, zum anderen, die eigenenRäume für Gruppen aus dem Stadtteil zurVerfügung zu stellen.

So können z.B. Räume angeboten werden,in denen Sprachkurse für Eltern stattfinden.Erfahrungsgemäß wird für viele Eltern derEinrichtung die Hemmschwelle, einen Kurszu besuchen, dadurch geringer. Sie kennendie Räume, sie kennen auch manche Eltern.Viele Unsicherheitsfaktoren fallen damitgegenüber fremden Institutionen undfremden Kursteilnehmern weg. Dieskommt auch der Lernfreude und Moti-vation der Erwachsenen zugute.

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Sprachkurse können sowohl für die deut-sche Sprache als auch für die Erstspracheder Eltern angeboten werden. MancheEltern mit Migrationshintergrund beherr-schen ihre Erstsprache nicht mehr vollstän-dig. Eltern können ihre Kinder in derSprachentwicklung unterstützen, wennauch sie sich in ihrer Erstsprache weiter-bilden. Dabei kann der Kurs in der Kinder-tageseinrichtung auch dazu dienen, dieEltern für ihre Aufgabe bei der Sprachför-derung zu sensibilisieren. Und ganz neben-bei können auch neue Kontakte undFreundschaften unter den Eltern entstehen.

Öffnung zum Stadtteil: Generations-übergreifendes Lernen für die Sprach-förderung nutzen

Wie Erfahrungen zeigen, lohnt es sich,Kontakte zu Seniorenwohnheimen aufzu-nehmen. Bei gegenseitigen Besuchen

lassen sich oftmals Seniorinnen oder Senio-ren finden, die gerne ab und zu in dieEinrichtung kommen, um den KindernBilderbücher vorzulesen oder mit ihnenLieder zu singen. Auch gibt es mittlerweilebei manchen MigrationsberatungsstellenSeniorentreffs. Auch diese Arbeitskreisesind Anlaufstellen, um sich Unterstützungbei der Anerkennung und Förderung derErstsprachen der Kinder zu holen.

Öffnung zum Stadtteil: Honorarkräftefür die Sprachförderung

In manchen Einrichtungen übernehmenHonorarkräfte die Sprachförderung derKinder. Da die Lernfreude und Aufnahme-bereitschaft der Kinder sehr viel mit ihrenBedürfnissen und Interessen zusammen-hängen, bedarf es bei solchen Angebotenvieler Absprachen mit den sozpäd. Fach-kräften aus der Einrichtung, da nur sie die

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einzelnen Kinder über den Tag erlebt habenund einschätzen können, wie es dem Kindgerade geht, welche Bedürfnisse und Stim-mungslagen es berühren.

Eine am Kind orientierte Sprachförderungbedarf also einer intensiven Zusammen-arbeit zwischen den sozpäd. Fachkräftenund der Honorarkraft, damit diese ihre Ar-beitsweise flexibel auf die Kinder einstellenkann. Dies bedeutet, sich vor den verschie-denen Angeboten Zeit zu nehmen, um sichmit den sozpäd. Fachkräften abzusprechenund um die Kinder im alltäglichen Spielge-schehen in der Gruppe zu beobachten.Damit kann den Kindern ein sanftererÜbergang zwischen ihrem Alltag in der Ein-richtung und dem Angebot der Honorar-kraft ermöglicht werden. Indem sie hospi-tiert, können die Kinder bereits Kontaktaufnehmen und Vertrauen gewinnen.

Wesentlich ist hierbei eine kindgerechteVorgehensweise. Eine kindgerechteSprachförderung kann jedoch nicht alleindurch die Gestaltung und Aufbereitung vonMaterialien und Spielen legitimiert werden.„Lernprozesse können nicht mehr einfachvor dem Hintergrund vorgegebener didak-tischer Zielperspektiven inszeniert wer-den.“51 Kindgerecht heißt vielmehr, von derindividuellen Lebenssituation des Kindesauszugehen, seine Bedürfnisse und Interes-sen wahrzunehmen und diese als Aus-gangspunkte für die Lernfreude undWissbegierde für Kinder, auch bei ihrerSprachförderung, verstehen zu lernen.

Auch stellt sich die Frage, wie die Sprach-förderung in die Aktivitäten innerhalb desGruppen- oder Nebenraums integriert wer-den kann. So werden die Kinder nicht ausihren Spielzusammenhängen herausgeris-sen und von den anderen Kindern aus derGruppe getrennt. Ein echtes Hand in Handarbeiten zwischen den sozpäd. Fachkräftenund der Honorarkraft ist also von Nöten,wenn die Kinder orientiert an ihren Bedürf-nissen, mit Engagement, Lernfreude undSelbsttätigkeit in ihrer Sprachentwicklungunterstützt werden sollen.

Bei dem Einsatz von Honorarkräften istauch folgender Weg denkbar: Statt Hono-rarkräfte für die Sprachförderung einzuset-zen, könnte durch deren Einsatz die Arbeitso gestaltet werden, dass die sozpäd. Fach-kraft der Einrichtung selbst die gezielteSprachförderung übernehmen kann.

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51 Schäfer, 1995, S. 265

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Beobachten stellt im Rahmen der hier vorge-stellten Konzeption keine Sonderaufgabedar, sondern ist integrierter Bestandteilder pädagogischen Arbeit. Die sozpäd.Fachkraft muss die Kinder gut kennen, ihreStärken und Schwächen, ihre Eigenarten, ih-re Lebenssituation etc., um allgemeine päd-agogische Ziele zu konkretisieren und Me-thoden, Angebote und Aktivitäten auf dieunterschiedlichen Bedürfnisse abzustim-men. Um eine effektive Sprachförderung lei-sten zu können, muss sie wissen, wo dasKind gerade steht. Und dies betrifft in einemganzheitlichen Verständnis nicht nur dasWissen über seine Sprachkenntnisse und sei-ne Sprechfreude, sondern seine Gesamtbe-findlichkeit. Dies erfordert eine kontinuierli-che Beobachtung von Spiel- und Alltags-situationen der Kinder und eine regelmäßigeDokumentation der Beobachtungsdaten.

Beispiel für eine Beobachtung

Eine sozpäd. Fachkraft ist immer auch Beob-achterin: Ob sie ein Kind morgens begrüßt,ob sie mit einer kleinen Gruppe ein Bewe-gungsspiel durchführt oder in ein Rollenspieleinbezogen ist, stets wird sie neben der„eigentlichen“ Spielhandlung Verhaltens-weisen, sprachliche Äußerungen, Mimikund Gestik der Kinder registrieren und be-wusst oder unbewusst mit fachlichen An-

sprüchen und Fragestellungen in Verbin-dung bringen.

Daneben spielen systematische Beobachtun-gen zur Klärung bestimmter Fragestellungeneine wichtige Rolle. Systematische Beobach-tungen können mit Hilfe von Checklistenoder mittels frei formulierter Schilderungenerfolgen.52

Im Folgenden soll anhand eines Beispiels ei-ne frei formulierte Schilderung53 vorgestelltwerden.

4. Die Rolle dersozialpädagogischen Fachkraft

4.1 Beobachtung als Voraussetzung für Sprachförderung

52 Strätz, 1990, S. 2853 Strätz, a.a.O., S. 51 ff

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Corinna, die Gruppenleiterin, hat sich vor-genommen, das Spielgeschehen unterder Fragestellung zu beobachten, wieintensiv die verschiedenen Raumbereichevon den Kindern genutzt werden. Mit Hilfeeiner Strichliste, die über mehrere Tagegeführt wurde, hatte sich bereits die Ver-mutung der Erzieherinnen bestätigt, dassder Rollenspielbereich, trotz seiner relativgroßen Grundfläche im Raum, weniggenutzt wurde.54 Heute wollte Corinnagenauer schauen, was in den verschiede-nen Bereichen geschieht: Wie intensiv stel-len sich die Spielsituationen dar, gibt esinteressante Hinweise zur Veränderung derRaumkonzeption? Es stellte sich heraus,dass die Beobachtung auch interessanteHinweise zum Thema „Sprachförderung“lieferte.

11.00 Uhr

1. Bereich vor dem Fenster mit Frühstücks-tisch und Sofa: Ruven, Marek, Dirk,Alexander und Andi bauen mit Klappsofa„Meer", dabei lautstarke Unterhaltung,Geschrei, Gekreische, Tierstimmen etc.

2. BauteppichUte und Janosch haben mit Stühlen ihrenSpielbereich zusätzlich abgegrenzt vomGruppenraum. Bereden miteinander, wassie bauen wollen, womit sie anfangen etc.

3. Maltisch / SpieletischHülya, Nazmiye und Gülsüm am Spieleregal.Gülsüm holt ein Puzzle, fängt an, es zu le-gen, die anderen schauen zu, Gülsüm legtdas Puzzle unvollendet wieder zurück.

4. Rollenspielbereich leer

11.15 Uhr

1. Zum Meer ist eine Insel mit Hütte(Frühstückstisch mit Decken verhängt) hin-zugekommen. Weiterhin lautstarkes Spiel,lebhafte Unterhaltung zwischen Piratenund Seeungeheuern, die hin und wiederdurch den ganzen Gruppenraum jagen.

2. Auf dem Bauteppich entsteht einSchloss, Ute und Janosch treffen Abspra-chen, was wohin soll, was noch fehlt usw.

3. Hülya, Nazmiye und Gülsüm haben sich„Spitz pass auf“ geholt. Hülya undNazmiye spielen, Gülsüm schaut zu. Nachkurzer Zeit wird das Spiel wieder weg-geräumt.

4. Rollenspielbereich leer.

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54 Militzer, Demandewitz, Solbach, 1999, S. 168

Beispiel:

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11.30 Uhr

1. Streit und Klopperei, ich erinnere andie Spielregeln, dann geht es weiter wieoben.

2. Ute und Janosch haben sich Playmobil-figuren aus der anderen Gruppe geholt,Rollenspiel mit Zauberer, Prinz undPrinzessin und Zwergen.

3. Spieletisch leer. Hülya, Nazmiye undGülsüm schauen den Jungen zu. Nehmensich auf meine Anregung hin Papier undBuntstifte und kleine Stempel an den Mal-tisch.

4. Rollenspielbereich leer.

11.45 Uhr

1. Die Jungen sind nach draußen gegan-gen. Hülya, Nazmiye und Gülsüm sitzenjetzt in der Hütte. Lebhafte Unterhaltungund Gekicher. Abwechselnd kommen sieheraus, um Kochutensilien, Kissen undTücher in die Hütte zu holen.

2. Ute und Janosch wie oben

3. Spieletisch leer

4. Rollenspielbereich leer

Im Rahmen der Teambesprechungstellt Corinna ihr Beobachtungsprotokollvor. Es zeigt sich, dass die Schilderung zahl-reiche Ansatzpunkte bietet zur Entwicklungvon Hypothesen und Ideen für die päda-gogische Arbeit.

Corinna war z.B. aufgefallen, dass dort,wo intensives Spiel zwischen mehrerenKinder stattfand, auch lebhafte Unterhal-tung zu beobachten war. Auch die zu-nächst schweigsamen türkischen Mäd-chen kamen ins Gespräch, als sie endlichihren „Raum im Raum“ gefunden hatten.Corinna wurde auch deutlich, dass Hülya,Nazmiye und Gülsüm zur Zeit besondereUnterstützung brauchen, ihren Platz zufinden. Möglicherweise fühlten sie sichdurch den hohen Lärmpegel beim Spielder Jungen eingeschüchtert und einge-schränkt. Der Rollenspielbereich in seinerjetzigen Gestalt ist als Rückzugsbereich zuoffen. Mit Hilfe eines Wandschirms könn-te man ihn stärker abtrennen. Leise Musikkönnte darüber hinaus eine akustischeGrenze zwischen „innen“ und „außen“herstellen. Mit Blick auf die drei Mädchenwill Corinna anregen, Alltagsgegenständeaus dem familiären Bereich der Kinder stär-ker zu berücksichtigen. Vielleicht hättenHülya, Nazmiye und Gülsüm dann eher inihr Spiel gefunden.

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Möglichkeiten der Dokumentation

Die Dokumentation systematischer Beob-achtungen mit Checklisten oder frei formu-lierten Schilderungen entsteht simultanzum Beobachtungsprozess. Bei den Check-listen stellt der ausgefüllte Beobachtungs-bogen gleichzeitig die Dokumentation dar.Bei den frei formulierten Schilderungensind es die Notizen, die während der Beob-achtung geführt werden. Hier kann ein zuhoher Anspruch an „druckreife“ sprachli-che Formulierung ein Hindernis darstellen.Hierüber sollte im Team gesprochen undStandards entwickelt werden, die ange-sichts knapper Zeitbudgets realistisch sind.

Schwieriger stellt sich die Dokumentationnichtgezielter Beobachtungen dar. Die Fülleder Erscheinungen eines Tages festzuhal-ten, erscheint unmöglich, und so wird eshäufig ganz unterlassen. Im folgenden solldas „Logbuch“55 als Möglichkeit vorgestelltwerden, Ereignisse aus dem alltäglichenGruppengeschehen beispielhaft festzuhal-ten. Die Niederschrift im Logbuch erfolgttäglich und soll nicht mehr als fünf MinutenZeit in Anspruch nehmen. Notiert wird das,was der sozpäd. Fachkraft vom Tagesver-lauf in Erinnerung geblieben ist, seien dieskleine Alltagssituationen, besondere Ereig-nisse oder auch persönliche Anmerkungen.

Die zeitliche Begrenzung ist wichtig, umden Arbeitsaufwand strikt zu begrenzen,um Spontaneität bei der Auswahl von Si-tuationen zu erreichen und um eine Formder Niederschrift zu unterstützen, die be-schreibt und nicht bewertet.

Es hat sich in der Praxis bewährt, wenn jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter„ihr/sein“ eigenes Logbuch führen kann,anstelle eines Logbuches für die Gruppe.Wichtig ist es, im Team zu klären, inwieweitdie Logbücher ausschließlich der persönli-chen Reflexion dienen oder auch den Kolle-ginnen zur Einsicht zur Verfügung stehen(s. Beispiel).

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55 Der Begriff stammt aus dem Seewesen.Ein Logbuch ist ein Schiffstagebuch; es enthält Angabenzur Wetterlage, zum Kurs, zu den Menschen ‚an Bord‘und zu besonderen Vorkommnissen.Vgl Militzer, Demandewitz, Solbach, 1999, S. 109 ff

Beispiel:

Tim hat sich aus Pappröhren ein Robo-terkostüm gebaut, andere Kinderhaben es ihm nachgemacht.Einige Kinder spielen „Tornadoangriff“– ich glaube, die Kriegsberichte imFernsehen machen sich bemerkbar.Sarah hat Tim getröstet: „Du musstnicht weinen, die Mama kommt dochwieder.“ Sie erinnert sich wohl daran,wie schwer ihr selbst der Abschied vorkurzem noch gefallen ist.Katja und Ismail sind Arm in Arm mitdem Puppenwagen unterwegs. Sie er-zählen sich gegenseitig, was ihre klei-nen Geschwister alles noch nichtkönnen.

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Die regelmäßige Führung eines Log-buches bringt vielfältigen Nutzen:

Die sozpäd. Fachkraft sammelt im Laufe derZeit einen „Pool“ an Situationen und Ereig-nissen, welche die Grundlage für weiter-führende systematische Beobachtungen imRahmen der Situationsanalyse sein können.

Die eigene Wahrnehmung wird geschult:Welche Kinder tauchen wiederholt auf,welche gar nicht? Überwiegen problemati-sche Situationen gegenüber erfreulichenBeispielen? Tauchen Situationen auf, indenen Sprache eine Rolle spielt? Interessantist auch der Vergleich zwischen den Log-büchern: Wer hat welche Situationen fest-gehalten, wurden gleiche Situationen un-terschiedlich eingeschätzt etc.

Zudem ist das Logbuch, indem es zur le-bendigen Beschreibung anregt, ein gutesÜbungsfeld für frei formulierte Schilderun-gen im Zusammenhang mit gezieltenBeobachtungen.

Anhaltspunkte für eine gezielte Beobach-tung der sprachlichen Entwicklung vonKindern, die ihren Platz im Rahmen derSituationsanalyse hat, ergeben sich aus:

1. dem Sprach- und Kommunikations- verhalten der Kinder, z.B.

— ist das Kind sprachfreudig?— ist es eher zurückhaltend?— spricht es nur bei Einzelgesprächen?— versteht es viel, spricht aber wenig?— versteht es, worüber gesprochen wird?— spricht es nicht oder wenig, beobachtet

aber das Gruppengeschehen mitInteresse?

— spricht es nicht oder wenig, zeigt wenigInteresse am Gruppengeschehen?

2. dem Verhältnis zwischen Erstsprache und Zweitsprache, z.B.

— spricht und antwortet es in derErstsprache?

— spricht und antwortet es je nachSituation in der Erstsprache bzw. in derdeutschen Sprache?

— ersetzt es fehlende Begriffe in derdeutschen Sprache durch solche aus der Erstsprache?

— vermischt es beide Sprachen?

3. der Mitteilungsfähigkeit der Kinder, z.B.

— verständigt es sich vorwiegend überMimik und Gestik?

— verständigt es sich mit Hilfe einzelner Wörter?

— versucht es, in einzelnen Sätzenzu sprechen?

— kann es Wünsche und Bedürfnisseausdrücken?

— kann es von Erlebnissen berichten?

4. dem Spielverhalten der Kinder, z.B.

— spielt es vorwiegend allein?— spielt es meist mit Kindern gleicher

Erstsprache?— spielt es vorwiegend mit den gleichen

Kindern unterschiedlicherErstsprachen?

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5. der Beziehung zwischen der sozpäd. Fachkraft und den Kindern, z.B.

— in welchen Situationen nimmt das KindKontakt zur sozpäd. Fachkraft auf?

— mit welchen Anliegen und Bedürfnis-sen wendet es sich an die sozpäd.Fachkraft?

— was will es mit seinen non-verbalen Äu-ßerungen ausdrücken? welche Wün-sche, Gefühle, Mitteilungen?

— durch welche Verhaltensweisen för-dert/hemmt die sozpäd. Fachkraft seineSprechbereitschaft?

Das Kind als Subjekt der Beobachtung

Beobachtungen brauchen nicht allein einefachliche Legitimation, sondern auch einenbestimmten Rahmen, der sicherstellt, dassKinder nicht zu Beobachtungsobjektenwerden und dass ihre Würde beachtetwird. Die sozpäd. Fachkraft findet im situa-tionsbezogenen Ansatz Hinweise, aus demheraus sie eine Beobachtungshaltung ent-wickeln kann, die Kinder nicht irritiert oderverletzt, sondern vielmehr Achtung undWertschätzung gegenüber kindlicherEigenart ausdrückt:

Sie wird Beobachtung dann nicht einseitigals Technik anwenden, sondern ihren pro-fessionellen Blick mit Nähe und Anteilnah-me am beobachteten Geschehen verbin-den – eine Beziehungsbasis von Vertrauenund Verlässlichkeit ist hierfür Vorausset-zung.

Sie wird den Blick stärker auf Spielsituatio-nen als auf Merkmale bestimmter Kinderrichten. Dies hat zur Folge, dass die Chan-ce, Entwicklungsprozesse wahrzunehmen,

sich vergrößert und die Gefahr, (Vor-)Urteilebestätigt zu finden, sich verkleinert. Geradekleine Fortschritte erschließen sich eher imZusammenhang einer Spielhandlung undweniger, wenn das Augenmerk auf demDefizit des Kindes liegt, also darauf, wases noch nicht kann.

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Sie wird sich bemühen, Situationen auchaus der Perspektive der Kinder wahrzuneh-men, die Kinder als Experten zu verstehenund kindliche Deutungsmuster einzubezie-hen. Sie wird Kindern auf kindgerechteWeise erklären, was und warum sie beob-achtet. Sie wird die Ergebnisse der Beob-achtung – soweit dies pädagogisch sinnvollist – den Kindern mitteilen und ihre Mei-nung dazu hören wollen.

Sie wird den Wunsch der Kinder, ungestörtund unbeobachtet zu spielen, respektieren,dabei beachtet sie nicht allein den aus-drücklich geäußerten Wunsch, sondernachtet auch auf non-verbale Signale, dieauf den Wunsch nach Rückzug hinweisen.Sie kann die Kinder auch fragen, ob sie esals störend empfinden, wenn sie für einebestimmte Zeit beobachtet werden.

Sie wird ihren Respekt gegenüber dem Be-obachtungssubjekt „Kind“ auch dadurchausdrücken, dass sie ihre Beobachtungennicht verabsolutiert, sondern als Moment-aufnahmen ansieht, die einen Ausschnittaus kindlicher Wirklichkeit wiedergebenund nicht das „ganze Kind“ erfassen.

Ein neues Rollenverständnis

Dass eine sozpäd. Fachkraft mit den Kin-dern spielt, ein Bilderbuch betrachtet, einenKuchen backt, ist auch für Außenstehendeleicht als Aktivität zu erkennen. Dass sie be-obachtet, kann von außen betrachtet – alsovon anderen Kolleginnen oder von Eltern –leicht so aussehen, als tue sie „nichts“.

Diese Sorge hält manche sozpäd. Fachkraftdavon ab, sich von Zeit zu Zeit aus dem

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Geschehen herauszuziehen, um Spielsitua-tionen zu beobachten. Eine wichtige Vor-aussetzung zur erfolgreichen Beobachtungist ein berufliches Rollenverständnis, in demBeobachtung als selbstverständliches undunverzichtbares Element der Arbeit angese-hen wird, und zwar nicht nur von einzelnenKolleginnen und Kollegen, sondern vomgesamten Team. Nur so erhält die sozpäd.Fachkraft die notwendige Sicherheit, sichselbst und anderen gegenüber ihr Beob-achtungs-Handeln zu vertreten und zubegründen.

Im Rahmen einer situationsbezogenen Ar-beitsweise geht es nicht mehr darum, dassdie sozpäd. Fachkraft ständig und überallpräsent und aktiv ist, alles „im Blick“ undunter Kontrolle hat. Vielmehr spielen diffe-renzierte Gruppenprozesse eine entschei-

dende Rolle: kleine Spiel- und Gesellungs-gruppen bestehen nebeneinander. DieEigenaktivität der Kinder steht im Mittel-punkt des Geschehens. Durch diese verän-derte Form der Arbeitsorganisation entste-hen Freiräume, die der Beobachtungdienen können.

Die eigene Rolle neu zu sehen, neu zuentwerfen, ist kein einfaches Unterfangen,denn es ist verbunden mit einer Verände-rung der inneren Haltung. Dies ist ein Pro-zess, der Zeit braucht sowie gegenseitigeUnterstützung im Team und seitens derFachberatung. Wichtig ist auch eine Verän-derung im Rahmen der Ausbildung, indemReflexionsprozessen der gleiche Stellenwerteingeräumt wird wie der pädagogischenArbeit mit dem Kind.

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Kinder orientieren sich bei ihrer Sprachent-wicklung an ihren Bezugspersonen. IhrSprachverhalten bietet den Kindern Orien-tierungspunkte, wie sie ihre eigenenSprachfähigkeiten erweitern und ausbauenkönnen. Der Sprachalltag, in dem sich dieKinder bewegen, ist also für ihre Sprach-entwicklung von besonderer Bedeutungund die sozpäd. Fachkraft damit ein wichti-ges Sprachvorbild. Dies gilt u.a. für dengrammatikalisch richtigen Gebrauch einerSprache. Das Kind baut im Zuge seinerSprachentwicklung zunächst ein eigenes

Sprachsystem auf. Dieses vergleicht es mitdem seines Umfeldes und passt es Schritt fürSchritt an die zu erlernende Zielsprache an.

Zum anderen kann die sozpäd. Fachkraftauch mit der Art und Weise, wie sie mitSprache umgeht – z.B. ob sie Freude amSprechen hat, gerne anderen zuhört,andere nicht übertönt – ein wichtiges Ver-haltensvorbild und damit Unterstützung fürdie Sprach- und Kommunikationskulturder Kinder sein.

4.2 Die sozpäd. Fachkraft als Sprachvorbild –eine Orientierungshilfe für die Sprachentwicklung des Kindes

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Die folgenden Aspekte sind als Anhalts-punkte zu verstehen, wie sozpäd. Fachkräf-te durch ihr Sprachvorbild das Kind inseiner Sprachentwicklung unterstützenkönnen.

In vollständigen, grammatikalisch rich-tigen und je nach Sprachniveau des Kin-des kurzen Sätzen sprechen

Eine verkürzte Sprache, die sich nur aufdie zur Verständigung vermeintlich wichti-gen Inhaltswörter stützt, z.B. „Du ... Milchhaben?“, gibt den Kindern ein grammati-kalisch falsches Sprachvorbild und bietetihnen keine Sprachmuster an, an denensie sich orientieren können. Besser ist es ineinfachen, aber vollständigen und gram-matikalisch richtigen Sätzen zu sprechen:„Möchtest du Milch haben?“ Kinder wer-den sich aus den vollständigen Sätzen dieWörter „herauspicken“, die sie zur Verstän-digung benötigen.

Einfache Wörter auswählen

Den Kindern kann es dann leichter fallen,Wörter wiederzuerkennen und in einemzweiten Schritt anzuwenden, z.B. Ecke(statt Winkel oder Knick), Haus (stattGebäude oder Bungalow).

Je nach Sprachstand ist der Wortschatz imGespräch weiter zu differenzieren.

Wörter langsam und deutlich ausspre-chen – nicht „nuscheln“

Ein Kind, das gerade eine neue Spracheerwirbt, empfindet wahrscheinlich die ge-sprochenen Wörter so, als ob es sich ineinem dichten Laut- und Geräusche-

dschungel befindet. Einzelne Wörter, diees erkennt, sind dabei wie Lichtblickeoder Wegweiser durch das Dickicht derSprache. Um dem Kind zu ermöglichen,einzelne ihm bekannte Wörter wahr-zunehmen, ist es wichtig, langsam unddeutlich zu sprechen und dabei trotzdemmöglichst authentisch im Sprachgebrauchzu bleiben.

Das eigene Handeln mit Sprechenbegleiten

Kinder können so besser erfassen, wovondie sozpäd. Fachkraft spricht. Indem sie z.B.beim Basteln nicht nur die einzelnen Schrit-

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te vormacht, sondern auch sprachlichbeschreibt, haben Kinder die Möglichkeit,weitere Sprachmuster kennenzulernen.Darüber hinaus kann das sprachliche Be-gleiten von Handeln den Kindern signalisie-ren, dass auch die sozpäd. Fachkräfte Freu-de am Sprechen haben.

Beim Sprechen immer wieder kleinePausen lassen, damit die Kinder nach-fragen können

Gerade Kinder, die eine zweite Spracheerlernen, brauchen manchmal noch etwasZeit und auch Mut, ihre Bedürfnisse zuformulieren. Aber auch unsichere Kinderbenötigen eine Atmosphäre des aufmerk-samen Zuhörens, damit sie sich trauen,etwas zu sagen.

Kinder nicht auf sprachliche Fehleraufmerksam machen

Da Kinder eigenen Regeln folgen, die sichnach und nach an die zu erlernende Spra-che angleichen, können sich direkte Kor-rekturen bei „sprachlichen“ Fehlern undunvollständigen Sätzen negativ auf dieLernmotivation der Kinder auswirken.Hilfreich ist es, das vom Kind Gesagte inkorrekter Form aufzugreifen, ohne zumNachsprechen aufzufordern.

Inhalt ist wichtiger als Form

Kinder wollen sich mitteilen und könnensehr sensibel reagieren, wenn ihr Ge-sprächspartner mehr auf die grammatischrichtige Form und weniger auf den Inhaltder Mitteilung achtet.

Kinder nicht übertönen,wenn der Geräuschpegel steigt

Auch hierin sind sozpäd. Fachkräfte einVorbild, denn Kinder, die dieses Verhaltenim Gruppenalltag beobachten, werden sichin vielen Fällen ähnlich verhalten. Dabeischränken sie andere Kinder darin ein zusprechen und nehmen sich selbst die Chan-ce genau zuzuhören, was ein anderes Kindoder die sozpäd. Fachkraft zu sagen hat.

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Den Kindern aktiv und intensiv zuhören

Eine Sprache zu erlernen heißt auch, genauzuzuhören. Die sozpäd. Fachkraft kanndarin ein gutes Vorbild sein, wenn sie Kin-dern aktiv, intensiv und mit einem echtenInteresse zuhört.

Geduld und Gelassenheit sind sprachför-dernde Faktoren, wenn Kinder noch etwasZeit brauchen, um ihre Anliegen zu formu-lieren. Die sozpäd. Fachkraft sollte den Kin-dern nicht die Antworten auf ihre Fragen inden Mund legen. Um eine Sprache zu erler-nen bzw. zu erweitern, ist es wichtig, dassdie Kinder selbst sprechen. Die sozpäd.Fachkraft ist dafür verantwortlich, immerwieder Situationen zu schaffen, die dasKind ermutigen zu sprechen, aber auchsolche, in denen die Kinder sich gegen-seitig zuhören.

Offene Fragen stellen

Offene Fragen sind solche, auf die Kindernicht mit „Ja“ oder „Nein“ bzw. einemKopfnicken oder Kopfschütteln reagierenkönnen. Durch offene Fragen werden siemotiviert zu sprechen. Allerdings solltenKinder nicht gezwungen werden, aufFragen zu antworten. Dies kann nämlichdazu führen, dass sie sich immer wenigerzutrauen zu sprechen. Da der passive Wort-schatz der Kinder dadurch wächst, dass mitihnen immer wieder das Gespräch gesuchtwird, ist es gut, „am Ball zu bleiben“, ohnedie Kinder zu einer Antwort zu drängen.

Mit offenen Fragen kann die sozpäd. Fach-kraft auch herausfinden, ob die Kinder ihreFrage überhaupt verstanden haben. Man-che Kinder (und auch Erwachsene) reagie-

ren auf Fragen mit einem Kopfnicken,obwohl sie den Sinn der Wörter nichtnachvollziehen können. Vielleicht meintdas Kind, die Frage verstanden zu haben,weil es auf ein Wort, eine Gestik oder Mi-mik reagiert, die es aus anderen Zusam-menhängen kennt. Vielleicht ist es auch zubeschämend zugeben zu müssen, etwasnicht verstanden zu haben. Die sozpäd.Fachkraft kann in solchen Situationen ver-suchen, ihr Anliegen mit anderen Wortenzu umschreiben.

Reflexion des eigenen Sprachverhaltens

Es hat sich in der Praxis bewährt, zur Kon-trolle des eigenen Sprachverhaltens einTonband mitlaufen zu lassen. Die hier auf-geführten Aspekte können genutzt wer-den, um herauszufinden, welches sprach-fördernde Verhalten im Alltag mit denKindern schon umgesetzt ist und was nochstärker berücksichtigt werden sollte. Vielesozpäd. Fachkräfte zeigten sich erstaunt,wie viele der Vorsätze doch im Alltagstrubeluntergehen, obwohl sie der Meinungwaren, schon vieles berücksichtigt zuhaben. Es braucht allerdings Überwindung,die eigene Stimme auf dem Tonband zuhören. Die sozpäd. Fachkräfte berichteten,dass der hörbare Erfolg dieser Reflexions-methode sie dafür entschädigt. Der eigeneLernerfolg wird am deutlichsten sichtbar,wenn in regelmäßigen Zeitabständen im-mer wieder ein Tonband aufgenommenund ausgewertet wird.

Darüber hinaus können sich auch die Kolle-ginnen und Kollegen gegenseitig auf ihrSprachverhalten aufmerksam machen undsich damit Erinnerungshilfen für ihrenAlltag schaffen.

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Bei der zweisprachigen Erziehung nimmtdie sozpäd. Fachkraft, die mit einer derErstsprachen der Kinder aufgewachsen ist,eine wichtige Rolle ein. Sie hat nicht nureine wichtige Funktion bei der Förderungder Erstsprache der Kinder, auch ihre Hal-tung gegenüber ihrer Erstsprache und derdeutschen Sprache kann die Kinder ent-scheidend in ihrer Einstellung gegenüberihrer Zweisprachigkeit beeinflussen.

Die muttersprachliche sozpäd. Fachkrafthat eine Vielfalt von Kompetenzen, die siefür die Sprachförderung der Kinder einset-zen kann:

Indem sie mit den Kindern in ihrer Erstspra-che spricht, ist sie ein wichtiges Sprachvor-bild. Dies gilt in besonderem Maße für dieKinder, in deren Familien die Erstsprache

nicht mehr vollständig gesprochen wird.Aufgrund ihrer Sprachkompetenzen kannsie herausfinden, über welche sprachlichenFähigkeiten das Kind in seiner Erstspracheverfügt, und beurteilen, welches Kind einegezielte Förderung in dieser Sprachebraucht.

Sie kann des weiteren feststellen, ob einKind mit gleicher Nationalität auch diegleiche Sprache oder aber eine Regional-sprache bzw. einen Dialekt spricht. Sie trägtdamit entscheidend zur Analyse der sprach-lichen Familiensituation bei. Sie ist auchdiejenige, die entscheiden kann, ob sie dierichtige Person ist, das Kind in seiner Erst-sprache zu fördern oder ob über eine Öff-nung zum Stadtteil andere muttersprach-liche Personen hinzugezogen werdensollten.

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4.3 Die muttersprachliche sozpäd. Fachkraftim pädagogischen Alltag

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Im Rahmen differenzierter Gruppenarbeitkann sie die sprachlichen Fähigkeiten derKinder mit gleicher Erstsprache über ge-meinsames Tun unterstützen. An solchenKleingruppen können bei Interesse auchandere Kinder teilnehmen und erste Begrif-fe in einer anderen Sprache erwerben. Diesozpäd. Fachkraft hat die Möglichkeit, eineVerbindung zwischen den Sprachen herzu-stellen, wenn sie den Kindern vermittelt,dass es für ein- und dieselbe Sache ver-schiedene Begriffe gibt und dass es span-nend sein kann, die jeweiligen Begriffe zukennen.

Indem sie selbstbewusst zu ihrer Erstspra-che steht, vermittelt sie den Kindern eineWertschätzung ihrer eigenen Erstsprache.

Die muttersprachliche sozpäd. Fachkraft istauch mit ihrer Kompetenz, die deutscheSprache zu beherrschen, den Kindern einVorbild. Sie signalisiert den Kindern, wiehilfreich es sein kann, eine zweite Sprachezu erlernen, welche Vorteile sie in ihrem All-tag davon hat, deutsch sprechen zu kön-nen. Kinder sind meist sehr aufmerksam,wenn Erwachsene authentisch und ohneden moralischen Zeigefinger zu erheben,davon erzählen, was ihnen wichtig undwertvoll ist.

Darüber hinaus ist sie eine wichtige undernst zunehmende Ansprechpartnerin fürdie Eltern der Kinder, die die gleiche Erst-sprache sprechen. So kann sie ihnen ver-mitteln, warum es für die Identitätsent-wicklung und den Erwerb der deutschenSprache bedeutsam ist, die Erstsprache derKinder zu fördern.

Die muttersprachliche sozpäd. Fach-kraft im gemeinsamen Alltagmit den Kindern

Kinder werden in ihrer zweisprachigen Ent-wicklung unterstützt, indem sie einzelnenPersonen jeweils eine Sprache zuordnenkönnen. Für die muttersprachliche sozpäd.Fachkraft bedeutet dies, mit den Kindernkonsequent in ihrer Erstsprache zu spre-chen – soweit es der Alltag zulässt. „EineSprache – eine Person“56 ist hier das Prin-zip. Dies gilt auch, wenn den sozpäd. Fach-kräften gerade nicht das passende Worteinfällt. In solchen Situationen ist es besser,Umschreibungen zu wählen. Die sozpäd.Fachkraft ist den Kindern ein gutes Vorbilddarin, möglichst innerhalb eines Satzes dieSprachen nicht zu wechseln, sondern siekonsequent voneinander zu trennen.

Ist der Sprachwechsel doch einmal nötig,so sollte sie diesen durch den Tonfall, durcheine Pause oder durch einen Nebensatzdeutlich machen.57

56 Heuchert, 1989, S. 10057 Vgl. Heuchert

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Oft wird die Frage gestellt, welche Spracheeine muttersprachliche sozpäd. Fachkraftbei Anwesenheit deutscher Kinder spre-chen sollte. In einer Gruppe von Kindernmit unterschiedlichen Erstsprachen solltesie Deutsch sprechen.

Spricht sie dagegen mit Kindern, die überdie gleiche Erstsprache wie sie verfügen,dann muss die bloße Anwesenheit von ander Situation unbeteiligten deutschsprachi-gen Kindern oder sozpäd. Fachkräftennicht zur Konsequenz haben, zur deut-schen Sprache zu wechseln. Erst wenn dieGefahr besteht, dass Kinder oder auch Kol-leginnen und Kollegen von einer Situationausgeschlossen werden, an der sie sichbeteiligen wollen, ist ein Wechsel zurdeutschen Sprache angebracht.

Je nach Sprachvermögen und Situation desKindes hat die muttersprachliche sozpäd.Fachkraft unterschiedliche Aufgaben:Gerade in den ersten Tagen kann es für dasKind besonders wichtig sein, in seiner Erst-sprache angesprochen zu werden. Dies hilftüber manche verunsichernde Situation hin-weg. Die individuelle Zuwendung in derErstsprache kann besonders in Krisensitua-tionen und zu Beginn des Kindergarten-besuchs von besonderer Bedeutung sein,wenn sich Kinder neu orientieren müssen.Auch bei der Kontaktaufnahme zu anderenKindern kann die muttersprachliche soz-päd. Fachkraft behilflich sein. Die Erstspra-che mit ihr zu sprechen, hat für das Kindeine Brückenfunktion beim Übergang vonder Familie in die Kindertageseinrichtung.

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Klärung im Team

Manchmal kann es zu Verstimmungeninnerhalb des Teams kommen, wenndeutschsprachige Kolleginnen und Kolle-gen den Eindruck gewinnen, manche Kin-der und auch Eltern reden nur noch mit derKollegin oder dem Kollegen, die ihre Erst-sprache beherrscht. „Ich habe dann Angst,dass ich wichtige Dinge gar nicht mehrmitbekomme“ ist eine wohlbekannteÄußerung in mehrsprachigen Teams. DieVerantwortung dafür, solche Situationenzu klären, liegt in der Hand der sozpäd.Fachkräfte in der Einrichtung. Die mutter-sprachliche sozpäd. Fachkraft sollte ihrenKolleginnen und Kollegen diejenigen Infor-mationen mitteilen, die sie aufgrund derunterschiedlichen Sprachen nicht mitbe-kommen können. Die deutschsprachigesozpäd. Fachkraft hat die Verantwortung,nach den Informationen zu fragen, die ihrfehlen, um eine bestimmte Situation, dasVerhalten der Eltern oder der Kinder besserverstehen zu können. Offenheit und Ver-trauen im Team ist für die Zusammenarbeiteine unerlässliche Grundlage.

Auch sollte sich das Team darüber einigen,wer mit den Kindern in welcher Sprachespricht. Wichtig für die muttersprachlichesozpäd. Fachkraft ist es, nicht nur mit ihrenSprachkompetenzen im Team Beachtungzu finden. Sie hat viele weitere Fähigkeiten,die sie in die Arbeit mit den Kindern ein-bringen kann.

Teams, in denen ausschließlich Deutschgesprochen wird, können sich zum einen inArbeitsteilung nach und nach einige wichti-ge Wörter in den Erstsprachen der Kinderaneignen. Zum anderen können sie sichGedanken machen, wie sie die Erstspra-chen der Kinder in die Einrichtung „hinein-holen“ können, z.B. indem sie die Elternstärker einbeziehen.

Wenn die Eltern nach der sprachlichen Situa-tion in der Familie befragt werden, wissendie sozpäd. Fachkräfte mit größerer Sicher-heit, welche die identitätsstützende Spracheder Kinder ist, für die keine muttersprachli-che sozpäd. Fachkraft zur Verfügung steht.Mit Hilfe der Eltern können sie sich arbeits-teilig wichtige Wörter in den Erstsprachenaneignen. Dies kann gerade in den erstenTagen über manche verunsichernde Situa-tion hinweg trösten und dabei helfen, einerstes vertrauensvolles Beziehungsband zursozpäd. Fachkraft zu knüpfen.

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5. Zusammenarbeit mit Eltern

Das Kind hat in den ersten Lebensjahrendas sprachliche Verhalten seiner familiärenUmgebung übernommen. Obwohl viele dergrundlegenden sprachlichen Fähigkeiten inder Familie erworben werden, kann die soz-päd. Fachkraft über eine Zusammenarbeitmit Eltern Kindern vielfältige Anregungengeben. Dies setzt aber eine genaue Kennt-nis der Sprachsituation des Kindes voraus. InGesprächen mit Eltern, z.B. bei Aufnahme-gesprächen und/oder Hausbesuchen kannsie erfahren, ob das Kind in einer Familieaufwächst, in der das Gespräch mit demKind selbstverständlich ist oder ob es ineinem spracharmen Umfeld aufwächst, wermit dem Kind in welcher Sprache sprichtund welche Sprache die gemeinsame Fami-liensprache ist. Bei solchen Gelegenheitengewinnt die sozpäd. Fachkraft erste An-haltspunkte und Hinweise, die ihr bei ihrerArbeit von Nutzen sein können. Dabei ist eswichtig, Eltern darzulegen, warum man sichfür sie und ihre Sprachgewohnheiteninteressiert. Sie sollten sich nicht ausge-

horcht fühlen. Vielmehr geht es darum, einVerständnis für die Wertschätzung der Erst-sprache und deren Bedeutung für die Ent-wicklung des Kindes zu vermitteln.

Folgende Fragen können der sozpäd. Fach-kraft helfen, sich die Sprachwelt der Kinderin ihrer Gruppe zu erschließen:

– Wer spricht mit dem Kind welcheSprache?

– Wer verfügt über welche Sprachkom-petenzen?

– Gibt es eine Sprache, die hauptsächlichin der Familie gesprochen wird?

– Gibt es bestimmte Situationen, indenen nur die eine oder die andere Sprache gesprochen wird?

– Wird in der Familie gern und viel mitein-ander gesprochen?

– Gibt es für das Kind neben den Eltern andere wichtige Bezugspersonen in derVerwandtschaft?

In der Arbeit sind die Eltern wichtigeBündnispartner, wenn die Erzieherin Lern-und Erfahrungsprozesse von Kindernfördern will. Eltern können der sozpäd.Fachkraft Informationen zur familiärenSituation geben, ihr mitteilen, was ihnenin der Erziehung ihrer Kinder wichtig ist,

wie das Sprachumfeld ihres Kindes aus-sieht. Zudem gibt es in der Arbeit immerwieder Momente und Situationen, in de-nen sozpäd. Fachkräfte ohne Mitwirkender Eltern ratlos und Eltern auf helfendeHinweise der sozpäd. Fachkräfte ange-wiesen sind.

5.1 Die Sprachwelt der Kinder kennenlernen

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– Gibt es wichtige Freunde oder Nach-barn, die mit dem Kind eine andere Sprache als die Familiensprachesprechen?

– Welche Sprachen werden hauptsäch-lich in der Nachbarschaft und in dem Stadtteil, in dem die Familie wohnt,gesprochen?

– Erleben Kinder, dass sie mit ihremjeweiligen Sprachniveau positiv unter-stützt werden?

– Erleben sie bereits früh einen Lern-druck, der ihnen möglicherweise die Freude an neuen (sprachlichen) Lern-erfahrungen nehmen kann?

Mit den letztgenannten Fragen wird auf denStellenwert, den die Sprachpflege in derFamilie hat, verwiesen. Vor diesem Hinter-grund kann es notwendig sein, auch mit denEltern über die Bedeutung der Sprachpflegein der Familie ins Gespräch zu kommen.

5.2 Auf Eltern kann nicht verzichtet werden

Eltern informieren

Zur Aufgabe der sozpäd. Fachkraft gehörtes, Eltern über die Arbeit in der Tages-einrichtung zu informieren. In vielenKindergärten wird Eltern angeboten, überHospitationen in den Kindergruppen denpädagogischen Alltag kennenzulernen.Andere Kindergärten empfehlen, dassEltern ihre neu aufgenommenen Kindereine Woche lang im Kindergarten be-gleiten. Vorstellungen vom und Erwartun-gen an den Kindergarten lassen sich inEinzelgesprächen oder auf Gruppenebeneklären, pädagogische Themen beimElternabend diskutieren. Dabei spielt dasThema„Sprachentwicklung und Sprach-förderung im „Kindergarten“ bisher nurselten eine Rolle, obwohl es hierfür – vorallem in bi- und multikulturellen Gruppen –zahlreiche Ansatzpunkte gibt.

In der Regel haben Eltern aus zugewander-ten Familien ein großes Interesse daran,dass ihre Kinder die deutsche Sprachelernen. Sie schicken ihre Kinder in denKindergarten in der Hoffnung, dass sie hierdie deutsche Sprache erwerben und gutauf die Schule vorbereitet werden.

Mit wenigen Ausnahmen sind sie aberauch daran interessiert, dass ihre Kinderihre Erstsprache beibehalten, d.h. sie wün-schen sich eine zweisprachige Erziehung.

Aber die fehlende Anerkennung ihrer Erst-sprache hat Eltern oftmals verunsichertund dazu geführt, dass sie mit ihrenKindern in der deutschen Sprache spre-chen, obwohl sie diese Sprache wenigergut beherrschen und damit kein gutesSprachvorbild für ihre Kinder sind.

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Seit einiger Zeit vertritt zudem ein Teil derEltern die hierzulande verbreitete Auffas-sung, die Förderung der Erstsprache behin-dere den Erwerb der deutschen Sprache.Ihnen ist meist nicht bewusst, welche Be-deutung die Erstsprache für die Entwick-lung des Kindes und für den Erwerb derzweiten Sprache hat. Daher fordern vielevon der sozpäd. Fachkraft, ihrem Kind denUmgang mit Kindern gleicher Nationalitätzu untersagen und dafür Sorge zu tragen,dass ihr Kind in der Kindergruppe deutschspricht. Manche Eltern reagieren in der Tatsehr zurückhaltend, wenn ein Kindergartenversucht, die Erstsprache im Kindergartenüber die muttersprachliche sozpäd. Fach-kraft zu unterstützen.

Aber auch viele sozpäd. Fachkräfte sindnoch der Meinung, dass Eltern im Hinblickauf die bevorstehende Einschulung und aufeine Integration zu Hause mit ihren KindernDeutsch sprechen sollten, weil sie sich hier-von eine Unterstützung ihrer Arbeit ver-sprechen. Und in der Praxis ist vielfach zubeobachten, dass manche sozpäd. Fach-kräfte aus Sorge, die Kinder würden diedeutsche Sprache nur unzureichend erwer-

ben, wenn sie untereinander in der Erst-sprache sprechen, das Gespräch in derErstsprache verbieten und darauf bestehen,dass in der Kindergruppe nur deutsch ge-sprochen wird.

Darüber hinaus sind in den Tageseinrich-tungen zunehmend Kinder anzutreffen,deren Eltern über unterschiedliche Erstspra-chen verfügen und die ihre Kinder bilingualerziehen.

Von seiten der deutschen Eltern werden inverschiedenen Kindergärten Befürchtungenlaut, dass es ihren Kindern aufgrund eineshohen Anteils an Kindern aus zugewander-ten Familien an entsprechender Förderungfehle und dass ihren Kindern die mehrspra-chige Situation in den Gruppen schade.

Ferner berichten einige sozpäd. Fachkräfte,dass bei einem Teil der Kinder das Sprach-vermögen geringer werde und eine„bewusste“ Unterstützung der sprachli-chen Fähigkeiten deutscher Kinder not-wendiger werde. GRÜNDLER schreibt hier-zu, dass im Kindergarten immer häufigerKinder angemeldet werden, „von denen

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die Eltern sagen, sie verstünden sie, die sichaber sonst niemandem verbal verständlichmachen“ könnten.58

In anderen Tageseinrichtungen wiederumwünschen sich deutsche Eltern, dass ihreKinder bereits im Kindergarten mit einerersten Fremdsprache bekannt gemachtwerden.

Anlässe, dem Thema „Sprachentwicklungund Sprachförderung“ einen entsprechen-den Stellenwert in der Zusammenarbeitmit Eltern einzuräumen, gibt es also genug,wenn man die Vielfalt an Erwartungen,Wünschen und Meinungen betrachtet.

Ziele einer solchen Zusammenarbeitkönnten sein:

– Wissen und Erfahrungen über die Sprachentwicklung von Kindern auszu-

tauschen,– den Eltern die eigene Arbeit im Bereich

„Sprachförderung“ vorzustellen,– Eltern – wenn sie dies wünschen – kon-

krete Anregungen für eine sprachliche Förderung mitzugeben,

– Eltern aus zugewanderten Familienbewusst zu machen, dass sie die Haupt-verantwortung für den Erhalt derErstsprache ihres Kindes tragen, dass siees sind, die ihre Kinder hierin in beson-derer Weise unterstützen können,

– Eltern das Gefühl zu geben, dass der Kindergarten ihnen bei der Förderung der Erstsprache behilflich sein möchte,

– die Chancen einer Mehrsprachigkeit füralle Kinder mit den Eltern zu diskutieren.

In Aufnahmegesprächen oder bei Veran-staltungen zur Information der Eltern überdie Arbeit in der Einrichtung lassen sicherste Fragen zur Spracherziehung an dieEltern richten oder Vorstellungen der soz-päd. Fachkräfte vermitteln.

Darüber hinaus können diese Informatio-nen dazu beitragen, die Bezugspersonen inihren Kompetenzen für die Sprachförde-rung der Kinder zu unterstützen. MancheEltern und Großeltern sind verunsichert, obes denn nun richtig sei, mit den Kindern inihrer Erstsprache zu sprechen (s. Beispiel).

58 Gründler, 1998, S. 30

Beispiel:

Mehmet spricht mit seinen Eltern so-wohl deutsch als auch türkisch. Beson-ders gerne verbringt er seine Zeit beimGroßvater. Er erzählt viele spannendeGeschichten aus der Türkei. Mit ihmspricht Mehmet nur türkisch. Das istmanchmal gar nicht so einfach. Man-che Wörter des Großvaters kennt ernicht. Dann muss er nachfragen, umdie Geschichte zu verstehen. Und derGroßvater hilft Mehmet, wenn ihm einWort auf türkisch nicht einfällt. DieEltern von Mehmet sind verunsichert,ob es für ihren Sohn gut ist, so vielZeit beim Großvater zu verbringen. Eserleichtert sie, von der sozpäd. Fach-kraft zu hören, dass es Mehmet in sei-ner zweisprachigen Entwicklung unter-stützt, wenn er mit dem Großvaternur türkisch spricht.

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Veranstaltungen für Eltern

Bevor sozpäd. Fachkräfte überlegen, Elternzu einem Thema „Sprachliche Entwicklungund/oder sprachliche Förderung im Kinder-garten“ einzuladen, ist es für sie hilfreich,Informationen zusammenzustellen und sichim Team eine Position zum Thema zu erar-beiten. Auch eine klare Zielvorstellung fürdas Gespräch mit den Eltern „Was wollenwir erreichen?“ und „Was wollen wir beiden Eltern ansprechen?“ kann bei der Vor-bereitung förderlich sein.

Als Einstieg in die Gesprächsrunde mitEltern ist eine Klärung der Wünsche undVorstellungen von Eltern und sozpäd. Fach-kräften zum Thema denkbar.

Mit einem Impulsreferat lassen sich Aspek-te der Sprachentwicklung bzw. der Zwei-sprachigkeit darstellen. Auch über Filme,die z.B. bei den Landesbildstellen ausgelie-hen werden können, über eine in der Ein-richtung erstellte Dia – Reihe mit Alltags-situationen aus dem Gruppengeschehenoder mit Hilfe des „Sprachbaums“ lässt sichdas Thema mit den Eltern erörtern.

Um eine Diskussion zu ermöglichen, ist beiAnwesenheit von zugewanderten Elternzu bedenken, ob eine Übersetzung not-wendig ist und wer diese Aufgabe wahr-nehmen kann, ob jemand von den Elternangesprochen werden kann oder ob essinnvoller ist, jemandem von außen dieAufgabe zu übertragen.

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Nach einer Einführung in das Thema solltenEltern Gelegenheit haben, ihre Eindrücke,Meinungen und Erwartungen auszutau-schen. Erfahrungsgemäß sind solche Dis-kussionen lebhafter und intensiver, wennsich Eltern mit gleicher Sprache bei Sach-themen in kleinen Gruppen zusammen-finden können. In diesen Gruppen könnenEltern mit ähnlichen Erfahrungen, z.B. inder Spracherziehung, ihre Fragen undWünsche miteinander diskutieren. In die-sem vertrauteren Kreis sind sie eher bereit,offener – auch über ihre Befürchtungenund Schwierigkeiten – zu sprechen. Hierbeikönnten folgende Fragen für die Diskussionleitend sein:

für zugewanderte Eltern

„Sind Sie der Meinung, dass Ihr Kind inder deutschen Sprache genügend geför-dert wird?“„Wie finden Sie es, dass Ihr Kind im Kinder-garten seine Erstsprache spricht, dass wirIhr Kind dabei unterstützen möchten?“

und für deutsche Eltern

„Wie denken Sie darüber, dass Ihr Kind imKindergarten zweisprachige Kinder an-trifft?“„Meinen Sie, dass Ihr Kind genügend in derdeutschen Sprache unterstützt wird?“„Sollte die zweisprachige Situation derKinder aus zugewanderten Familien für IhrKind genutzt werden?“

Kompetenzen der Eltern nutzen

Darüber hinaus sollte im Team erörtertwerden, ob und wie Eltern mit ihren le-benspraktischen und sprachlichen Kompe-tenzen in die Arbeit einbezogen werdenkönnen. Über die Mitarbeit von Eltern kön-nen Angebote und Aktivitäten eingebrachtwerden, die zu einer Erweiterung der Lern-und Erfahrungsmöglichkeiten der Kinderführen. Auch lassen sich z.B. Lieder, Spiele,Geschichten und Märchen aus dem kultu-rellen Umfeld der Kinder aus zugewander-ten Familien mit Hilfe der Eltern in dieArbeit einbeziehen. Hier sind Eltern oftbereit, sozpäd. Fachkräfte zu unterstützenund entsprechende Materialien zur Verfü-gung zu stellen oder ihnen bei der Suchenach Materialien zu helfen, in einer kleinenKindergruppe Geschichten vorzulesen, mitKindern zu singen oder eine Speise zuzube-reiten (s. Beispiel).

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Beispiel:

Heute steht es wieder an: das Gespräch mitden türkischen Müttern, deren Kinder denKindergarten „Am Römerpark“ besuchen.Seitdem Frau Akkaya, eine türkische Erzie-herin, im Kindergarten tätig ist, treffen sichdie türkischen Mütter auf Einladung dersozpäd. Fachkräfte in der Einrichtung zumGespräch. Heute wollen die sozpäd. Fach-kräfte mit den Müttern überlegen, wie siedie sprachlichen Fähigkeiten ihrer Kinder zuHause unterstützen können. Obwohl sichdie sozpäd. Fachkräfte lange mit dem Thema der zweisprachigen Erziehung vonKindern auseinandergesetzt haben, obwohlsie auch genau wissen, was sie mit denMüttern besprechen wollen, sind sie dochetwas aufgeregt: „Wie werden die Mütterwohl reagieren“?

Die Mütter hatten eine Einladung in türki-scher Sprache erhalten, Frau Akkaya hattesie noch einmal persönlich angesprochenund eingeladen und dabei die Bedeutungdes Themas für die Kinder herausgestellt.

Gegen 14.00 Uhr ist es soweit. Die türki-schen Mütter bringen – wie sie es bei frühe-ren Gesprächen auch schon gemachthaben – Selbstgebackenes mit. In dergeräumigen Küche, in der sich die Müttertreffen, ist der Tisch gedeckt, Tee undKaffee zubereitet.

Nachdem sich alle begrüßt und miteinanderausgetauscht haben, unterhalten sich dieMütter darüber, womit sich ihre Kindernachmittags oder am Wochenende be-schäftigen. Sie berichten, dass ihre Kindergern fernsehen oder vor dem Video sitzenund einige sich für Game-Boy interessieren.Im weiteren Gespräch wird ihnen deutlich,

dass bei diesen Aktivitäten kaum gespro-chen wird, dass sie von sich aus auch nichtdas Gespräch mit ihren Kindern suchen,dass sie eigentlich wenig mit ihren Kindernsprechen.

Frau Akkaya erklärt, warum es für die Kin-der wichtig ist, dass in der Familie mit denKindern gesprochen wird, dass sie ihreKinder in ihrer Entwicklung unterstützen,wenn sie zu Hause mit ihnen in der Famili-ensprache sprechen und dass ihre Kinderdie deutsche Sprache nicht besser oderschneller lernen, wenn die türkische Spra-che ausgeschaltet wird. Zunächst war esganz ruhig, doch bald setzt ein lebhaftesGespräch ein. Für die Mütter ist diese Infor-mation neu. Bisher hat noch niemand mitihnen über dieses Thema gesprochen. Ge-meinsam überlegen sie dann, wie sie ihrenKindern helfen können:– die Kinder fragen, was sie

im Kindergarten gemacht haben,– beim Einkaufen mitnehmen und sie da-

bei einbeziehen,– die Fragen der Kinder beantworten.

Zudem wollen sie ihre Männer informierenund mit ihnen über das heutige Gesprächreden.

Sie verabreden, die nächsten Gespräche imKindergarten zu nutzen, um sich gegensei-tig über ihre Erfahrungen zu unterrichtenund gemeinsam nach weiteren Schritten zusuchen.

Frau Akkaya teilt mit, daß die Erzieherinnenfür jedes Kind ein Tagebuch anlegen wollen,in dem sie u.a. auch Äußerungen der Kinderfesthalten, die sie mit den Müttern bespre-chen wollen, um ihnen zu zeigen, wie sichihre Kinder sprachlich entwickeln.

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5.3 Voraussetzungen zur Zusammenarbeit:Wertschätzung und Anerkennung

Grundlegende Voraussetzungen für einevertrauensvolle Zusammenarbeit mit Elternsind gegenseitige Wertschätzung und An-erkennung. Eine vertrauensvolle Zusam-menarbeit ist allerdings nur dort möglich,wo sozpäd. Fachkräfte und Eltern bereitsind, offen aufeinander zuzugehen.

Anerkennung und Beachtung von Elternkönnen in der Einrichtung deutlich werden,wenn wichtige Informationen, wie Einla-dungen, Ankündigungen, Elternbriefe,Merkblätter, die Konzeption der Einrich-tung, für die Eltern in den verschiedenenSprachen vorliegen.

Ein „Willkommen“ im Eingangsbereich inden Sprachen, die in der Einrichtung vertre-ten sind, oder aus Papier erstellte Hände,

die von der Decke herabhängen und dieEltern in ihren Sprachen begrüßen, könnenEltern signalisieren, dass sie gernegesehen sind.

Ihre wertschätzende Haltung können soz-päd. Fachkräfte auch dadurch zum Aus-druck bringen, dass sie sich bemühen, dieFamiliennamen der Eltern korrekt auszu-sprechen und die Eltern mit ihrem Namenzu begrüßen.

Ferner sollten sozpäd. Fachkräfte Elterndazu ermutigen, in der Sprache mit ihrenKindern zu sprechen, zu der sie eine engereBeziehung haben, die ihnen näher ist.Dies wird bei zugewanderten Familienvielfach noch die Erstsprache sein. Da Elternin bezug auf die sprachliche Erziehung ihrer

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Kinder vielfach verunsichert sind, brauchensie hier Unterstützung und Einfühlungsver-mögen. Es kann ihnen helfen, von der soz-päd. Fachkraft zu erfahren, wie wichtig dieErstsprache für die Entwicklung und zumWohle ihres Kindes ist und dass sie die imfamiliären Bereich vorhandenen Möglich-keiten zum Gespräch mit ihren Kindernnutzen sollten, auch im Hinblick auf denErhalt der Erstsprache.

Die Sorge deutscher Eltern sollten sozpäd.Fachkräfte aufgreifen und ihnen aufzeigen,wie Kinder über die Auseinandersetzungmit anderen Sprachen wichtige Fähigkeitenerwerben können.

Regelmäßige Gespräche mit den Elternkönnen zudem dazu beitragen, die gegen-seitigen Erwartungen zu klären und dieMöglichkeiten zur Förderung von Kinderntransparent machen.

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Herausgeber:Niedersächsisches Ministeriumfür Frauen, Arbeit und SozialesHinrich-Wilhelm-Kopf-Platz 230159 Hannover

Mit freundlicher Genehmigungdes Ministeriums für Frauen, Jugend,Familie und Gesundheit desLandes Nordrhein-Westfalen

Gestaltung:steindesign Werbeagentur, Hannover

Fotos:Fricke, Leuschner, Minkus

Diese Broschüre darf, wie alle Broschürender Landesregierung, nicht zur Wahlwerbungin Wahlkämpfen verwendet werden.

Juni 2002


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