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WIE DAS LAUTE UND SCHRILLE WARUM - uni · PDF fileUniversität Regensburg...

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Universität Regensburg Katholisch-Theologische Fakultät Professur für Fundamentaltheologie Seminar: „Theodizee – Fels des Atheismus oder Frömmigkeit der Theologie?“ Seminarleiter: Prof. Dr. Alfons Knoll Wintersemester 2005/2006 DIE THEODIZEEFRAGE IN DER LITERATUR WIE DAS LAUTE UND SCHRILLE WARUM IN DER DICHTUNG ARTIKULIERT WIRDvon Bastian Priemer
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Universität Regensburg

Katholisch-Theologische Fakultät

Professur für Fundamentaltheologie

Seminar: „Theodizee – Fels des Atheismus oder Frömmigkeit der Theologie?“

Seminarleiter: Prof. Dr. Alfons Knoll

Wintersemester 2005/2006

„DIE THEODIZEEFRAGE IN DER LITERATUR –

WIE DAS LAUTE UND SCHRILLE WARUM IN

DER DICHTUNG ARTIKULIERT WIRD“

von

Bastian Priemer

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Inhaltsverzeichnis

A. „Gott“ – das sinnlose und dennoch Sinn stiftende Wort 2

B. Die Theodizee im Kreuzfeuer der Dichtung 3

I. Heinrich Heine – der Schrei aus der Matratzengruft 3

II. Georg Büchner – der Fels des Atheismus 8

III. Friedrich Dürrenmatt – ein Autor streicht das Wort Gott 16

C. Abschließende Reflexion: Über die innere

Zusammengehörigkeit von Theologie und Literatur 23

Bibliographie 25

Quellen 25

Sekundärliteratur 26

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2

A. „Gott“ – das sinnlose und dennoch Sinn stiftende Wort

„Es liegt nahe, mit einer kleinen Überlegung zu dem Wort ‚Gott’ zu beginnen.“1

So eröffnet

Karl Rahner seine unüberhörbar gewordene Meditation über das Wort „Gott“. Und bereits bei

der Lektüre dieses Textes wird deutlich, dass es ohne dieses Wort nicht geht und dass es aus

dem Kollektiv des menschlichen Sprachgebrauchs an sich in keiner Weise wegzudenken ist.

Es taucht nahezu in allen Formen und Gattungen mündlichen und schriftlichen Sprechens auf.

Die Spannweite dieses Wortes reicht vom eher gedankenlosen Gebrauch in Alltagsfloskeln

wie „Oh mein Gott!“ oder „Gott sei Dank!“ bis hin zum Bekenntnischarakter im Credo und

vor allem in apologetischen Schriften. Selbst die Bezeichnung „Atheist“, die grundlegend die

Leugnung der Existenz Gottes behauptet, schweigt das Wort „Gott“ entgegen ihrer Ideologie

eben gerade nicht tot, sondern bringt es regelrecht zur Sprache. Doch ist das Leben auch von

Situationen geprägt, in denen dieses Wort in einem gänzlich anderen Kontext steht. Denn

gerade in Leidsituationen wird das Wort „Gott“ – aus rein grammatikalischer Sicht – zum

Subjekt in Fragesätzen, und zwar hauptsächlich in solchen, wo der Mensch selber mit seiner

menschlichen und damit begrenzten Sprache zu keiner Antwort mehr fähig ist. Es existiert

also eine bestimmte „Sorte“ von Fragen, in deren Syntax nur noch das Wort „Gott“ ein

sinnvolles Satzglied bildet, gerade im Horizont der Sinnlosigkeit menschlichen Leides. Solche

Satzgefüge sind uns allgemein als „Gottfrage“ oder aber auch als „Theodizeefrage“ bekannt.

Im unbegreiflichen und unsagbaren Leid kommt diesem Wort jene entmythologisierte

Semantik eines unaussprechlichen und unüberschaubaren Geheimnisses zu, wie sie Rahner in

seiner Meditation postuliert. Und eben in solchen zutiefst leidvollen Stunden des

menschlichen Lebens, die den Einzelnen nach all seinen spekulaiven und Antwort suchenden

Reflexionen nur noch verstummen lassen, wird „Gott“ gleichermaßen zum letzten Wort vor

dem Verstummen. Dieses Wort gehört also ganz real zur Sprache und ist an sich Sprachwelt

und damit Wirklichkeit. „Mindestens als Frage“2

, stellt Rahner fest. Lediglich der Vorgang

des Fragens und die damit verbundene Genese – mögen alle Situationen physische und

seelische Qual gemeinsam haben – unterscheidet sich bei den einzelnen Fragestellern. Aus

verschiedenen Leidsituationen ergeben sich divergente Umgangsformen: der innere Aufstand,

die bebende Klage, das legitime Hadern mit Gott, gläubige Rebellion und letztlich

Resignation. Durch all diese Erfahrungen zieht sich förmlich das laute und schrille WARUM

im Angesicht absoluter Sinnlosigkeit, das zu guter letzt immer an den Herrn gerichtet wird. In

1

RAHNER, K., Grundkurs des Glaubens (1976), 54.

2

Ebd. 59.

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3

solch einem Fall ist das Wort „Gott“ eben keine sinn-lose Alltagsfloskel mehr, sondern

Adressat der Fragen, für die es keine Lösung gibt. All diese Formen menschlichen Aufstandes

haben das Ziel, überhaupt Leid zu artikulieren, also buchstäblich zur Sprache zu bringen. Und

wer dies tut, beginnt zu verarbeiten. Dieser Prozess wird ebenso von „Leitfragen“ gesteuert:

Wieso überhaupt Worte finden, wenn es keine gibt? Auf welche Weise kann ich mein Leid

darstellen, sodass es zugleich bewältigt, aber dadurch nicht seiner bleibenden Dynamik und

persönlichen Bedeutung beraubt wird? Wie den unbeantworteten Fragen Farbe geben? Wie

der durch Sinnlosigkeit entstandenen Konturlosigkeit meines Lebens Ausdruck verleihen?

Mit welchem „Mittel“ ist das schließlich möglich? Wenn dies gelingen soll, dann in der

Literatur. Sie ist der „Ort“ der Subjektivität des Einzelnen, gibt Raum für Gefühle und bietet

überdies die Herausforderung, Worte zu finden, wenn es augenscheinlich keine mehr gibt.

Die Leid- und Lebenserfahrung wird also zur Leseerfahrung. Und ein gläubiger Mensch kann

hierbei getrost das Wort „Gott“ im Sinne Rahners verwenden, im Klagen, im Infragestellen

Gottes: „Gottlob, daß ich jetzt wieder einen Gott habe, da kann ich mir doch im Übermaß des

Schmerzes einige fluchende Gotteslästerungen erlauben; dem Atheisten ist eine solche

Labung nicht vergönnt.“3

Wie Heinrich Heine bringen zahllose weitere Schriftsteller ihren

eigenen Umgang mit der Theodizee in ihr literarisches Schaffen ein. Jeder der Autoren tut das

auf seine Weise. Dabei tauchen immer wieder die klassischen Lösungsansätze auf, verwoben

mit der individuellen Schmerzsituation. Aus diesem Grund werden bei der Analyse der für

diese Arbeit relevanten Texte folgende Gesichtspunkte berücksichtigt: Es gilt zu erörtern,

welche Antwortversuche literarisch verarbeitet sind und inwieweit das individuelle Leid

damit verbunden ist und welche finale Haltung – wie etwa Resignation, Rebellion, innerer

und dennoch gläubiger Aufstand oder gar Atheismus – zum Ausdruck kommt.

B. Die Theodizee im Kreuzfeuer der Dichtung

I. Heinrich Heine – der Schrei aus der Matratzengruft

Ganz ergriffen von Leiderfahrung am eigenen Körper ist ein Dichter des 19. Jahrhunderts, der

– von schwerer Krankheit heimgesucht – eine Art geistige Genese durchmacht. Der Verlauf

der Krankheit ist einem seelischem Prozess gleichzusetzen: Es findet eine Entwicklung von

Gottesablehnung hin zu einer Wiederentdeckung des Religiösen gerade wegen des Erlittenen

statt. Es handelt sich dabei um Heinrich Heine. Mitte der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts fällt

3

HEINE, H., Werke (1972), 185.

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4

er in eine tiefe Krise. Ab dem Jahr 1848 fesselt ihn eine Krankheit für lange Zeit ans Bett.4

Während dieser Zeit bis zu seinem Tod beginnt für Heine eine innovative Schaffensperiode.

In diesen Jahren entstehen einzigartige Texte, die poetisch und theologisch herausragen und

im so genannten Lazarus-Zyklus zusammengefasst sind. Bereits der erste Gedichtband nach

Ausbruch der Krankheit namens Romanzero beinhaltet im zweiten Teil zwanzig Lazarus-

Gedichte, die Heine in Anlehnung an das Alte Testament Lamentationen nennt.5

Die Auswahl

der von ihm verwendeten Titel, die allesamt in Verbindung zur Heiligen Schrift stehen, zeigt,

dass er sich nun wieder dem Glauben zuwendet. Wie sehr sich in der Zwischenzeit sein

Gottesbild gewandelt hat, legt Heine selbst 1851 in einem Nachwort zum Gedichtband

Romanzero dar. Er gesteht seine „Heimkehr zu Gott“6

, die von den Zeitgenossen kritisch

beäugt wird. „Der hohe Klerus des Atheismus“ und „fanatische Pfaffen des Unglaubens“ –

damit meint Heine seine „aufgeklärten“ Autorenkollegen – stellen sich gegen den „neuen“

Heine. Nichtsdestoweniger bekennt Heine darauf unmissverständlich:

„Wenn man auf dem Sterbebette liegt, wird man sehr empfindsam und weichselig und möchte

Frieden machen mit Gott und der Welt. […] Ja, ich bin zurückgekehrt zu Gott, wie der verlorene

Sohn, nachdem ich lange Zeit bei den Hegelianern die Schweine gehütet. War es die Misere, die mich

zurücktrieb? Vielleicht ein minder miserabler Grund. Das himmlische Heimweh überfiel mich und

trieb mich fort durch Wälder und Schluchten, über die schwindligsten Bergpfade der Dialektik. Auf

meinem Wege fand ich den Gott der Pantheisten, aber ich konnte ihn nicht gebrauchen. Dies arme

träumerische Wesen ist mit der Welt verwebt und verwachsen, gleichsam in ihr eingekettet, und gähnt

dich an, willenlos und ohnmächtig. Um einen Willen zu haben, muß man eine Person sein, und um ihn

zu manifestieren, muß man die Ellbogen frei haben. Wenn man nun einen Gott begehrt, der zu helfen

vermag – und das ist doch die Hauptsache –, so muß man auch seine Persönlichkeit, seine

Außerweltlichkeit und seine heiligen Attribute, die Allgüte, die Allweisheit, die Allgerechtigkeit usw.,

annehmen.“7

Diese Worte dokumentieren unzweideutig seinen spirituellen Wandel. Heine sieht sich als

verlorenen Sohn, der gerade im Leid und Krank-Sein zu Gott, dem Vater, zurückfinden darf

und dadurch neue Lebensqualität erhält. Wie der Sohn im lukanischen Gleichnis hat Heine ein

in religiöser Hinsicht „zügelloses Leben“8

geführt bis er zu einem „spiritualistischen Skelette

abgemagert“9

war. Er war sozusagen „tot und lebt wieder; er war verloren und ist

wiedergefunden worden.“10

Auch die Auswahl des oft von ihm verwendeten Titels Lazarus

ist im Horizont dieses Wendepunktes zu lesen. Das Johannesevangelium erzählt von einem

Mann aus Betanien namens Lazarus der nach schwerer Krankheit schließlich stirbt.11

Jesus

4

Vgl. VAßEN, F., Heinevita (2004), 291-295.

5

Vgl. KUSCHEL, K., Spiegel (1997), 230.

6

HEINE, H., Werke (1972), 187.

7

Ebd. 188.

8

Lk 15,13.

9

HEINE, H., Werke (1972), 185.

10

Lk 15,32.

11

Vgl. Joh 11,1.

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5

bezeichnet sich nach den Zweifeln Martas selbst als „die Auferstehung und das Leben“.12

Er

belebt Lazarus wieder und holt ihn somit in die immanente Welt zurück. Auch Heine steht in

seiner Notlage erneut auf und gewinnt an Vitalität. Es ist anzunehmen, dass er sich wegen

dieser letztlich in Gott gründenden Wiederherstellung des diesseitigen Lebens selber als eine

Lazarus-Figur sieht.

Wie nun Heinrich Heine im Einzelnen seinen Leidensweg bestreitet und welchen Umgang er

mit der Theodizeefrage pflegt, soll das folgende Gedicht, das an den Beginn der

Gedichtsammlung Romanzero gesetzt ist, demonstrieren:

„Zum Lazarus I

Laß die heil’gen Parabolen,

Laß die frommen Hypothesen –

Suche die verdammten Fragen

Ohne Umschweif uns zu lösen.

Warum schleppt sich blutend, elend,

Unter Kreuzlast der Gerechte,

Während glücklich als ein Sieger

Trabt auf hohem Roß der Schlechte?

Woran liegt die Schuld? Ist etwa

Unser Herr nicht ganz allmächtig?

Oder treibt er selbst den Unfug?

Ach, das wäre niederträchtig.

Also fragen wir beständig,

Bis man uns mit einer Handvoll

Erden endlich stopft die Mäuler –

Aber ist das eine Antwort?“13

Dieses Werk, aus dem „rebellischen Geist des Hiob und der Klagepsalmen“14

verfasst, endet

mit einem Fragesatz, der uns noch einmal grundsätzlich vor die Unlösbarkeit der

Theodizeeproblematik stellt. Überhaupt ist in dem sechzehnzeiligen Text eine Dominanz der

„verdammten Fragen“ (V.3) aufzufinden (vgl. V.5-11). Einerseits sind sie „beständig“ (V.13)

in unseren Köpfen vorhanden, doch bleiben sie alle auf der anderen Seite unlösbar (Vgl.

V.16). Und genau dadurch weist Heine auf das grundlegende Paradox der Theodizee hin: Der

leidende Mensch befindet sich in einer Art infiniten Regress des Fragens, der das spekultative

Ringen um eine adäquate Antwort immer weiter hinauszögert, bis man sich schließlich in

kapitulierendes Schweigen hüllt. Ein Charakteristikum dieses Suchprozesses nennt der

Sprecher des Gedichts: Immer wenn eine vermeintliche Antwort gefunden wird, stellt sich im

12

Joh 11,25.

13

HEINE, H., Werke (1972), 209.

14

KUSCHEL, K., Spiegel (1997), 234.

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6

selben Moment die Frage des Schlussverses („Aber ist das eine Antwort?“ V.16.), die

automatisch den Vorgang in infinitum führen lässt. Dies geschieht solange, bis alle neu

entdeckten Lösungen als unzureichend empfunden werden und nur noch das gläubige oder

aber auch atheistische Verstummen möglich ist. Genau das ist in meinen Augen die

literarische Funktion des letzten Verses. Er schließt die Dichtung mit einem Fragezeichen ab

und es folgt schlichtweg nichts mehr. Eine weitere Auffälligkeit dieses Textes ist die beinahe

durchgehend dem Buch Ijob analoge Grundstruktur. Beide, der Mann aus dem Lande Uz und

das lyrische Ich stehen anfangs noch vor der Herausforderung der Antwortsuche. Sogleich

beginnt Ijob zu fragen „wollte ich rufen, würde er mir Antwort geben?“ und stellt im selben

Augenblick fest: „Ich glaube nicht, dass er auf meine Stimme hört.“15

Das lyrische Ich

hingegen nimmt sich vor, die „verdammten Fragen / Ohne Umschweif uns zu lösen“ (V.3f.).

Der im Ijobbuch folgende Dialogteil dreht sich um die Grundfrage, warum denn der Gerechte

soviel leiden muss, wenn doch die Frevler im Gegenzug ihr Leben in Sünde verbringen

dürfen.16

Nun werden in beiden Texten verschiedene Lösungen durchexerziert. Nach der

einleitenden Klage Ijobs17

folgen die Reden der drei Freunde Elifas, Bildad und Zofar,

wogegen Ijob jedes Mal argumentativ vorgeht. Während der Redegänge versuchen diese

Freunde, Ijobs drastische Schmerzsituation zu erklären. Zunächst sei Leid eine Folge der

menschlichen Schuld. Ijob wird sozusagen für eine Sünde bestraft.18

Ferner gehöre Leid zur

Natur des Menschen und sei darüber hinaus eine Form der göttlichen Zurechtweisung.19

Nicht

zuletzt stelle das Leid eine göttliche Prüfung dar, die Ijob auf sich nehmen müsse.20

Demgegenüber stellt der Sprecher des Gedichtes nicht fest, wie es die Freunde tun, sondern er

stellt einfach Fragen: „Ist etwa / Unser Herr nicht ganz allmächtig? / Oder treibt er selbst den

Unfug?“ (V.9ff.). Heine arbeitet anhand dieser wenigen Verse zwei der immer wieder

diskutierten Lösungsansätze ein. „Auf pfiffige Weise zweifelt er an Gottes Allmacht, in

burschikosem Ton an Gottes Güte.“21

Er geht also mit Vers zehn den verbreiteten Weg der

Aufhebung des Widerspruchs durch die Preisgabe einer Prämisse, indem er das Attribut der

göttlichen Allmacht im wahrsten Sinne des Wortes in Frage stellt. Im Letzten würde dieser

Ansatz zu einem dualistischen Weltbild führen. Zudem würde Gottes Macht auf die eines nur

inspirierend wirkenden Demiurgen verengt wie es Vertreter der Prozesstheologie

15

Ijob 9,16.

16

Vgl. DOHMEN, C., Buch der Bücher (2005),124.

17

Vgl. Ijob 3,1-26.

18

Vgl. ebd. 22,1-11.

19

Vgl. ebd. 5,17-18.

20

Vgl. ebd. 36,21.

21

STERNBERGER, D., Dialog (1976), 45.

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7

intendieren.22

Der darauf folgende Vers erwägt, ob Gott selbst diesen „Unfug“ (V.11) treibt,

also das Leid zulässt. Zum einen ergibt sich daraus eine Modifikation der Güte Gottes. Wenn

er Schmerz geschehen lässt, kann er dann überhaupt noch gütig sein oder hat er gar etwas

Böses an sich? Dieser Diskurs würde in der Lehre von der doppelten Prädestination ein jähes

Ende finden.23

Andererseits kann dieser Vers im Hintergrund der soul-making-theodicy

rezipiert werden. Es gibt zwar Leid in der Welt, doch bilde dieses eine reale Herausforderung.

Als Menschen verfolgen wir – so der frühchristliche Apologet Irenäus von Lyon – das Ziel

der similitudo dei, Gott also im Lauf des Lebens immer ähnlicher zu werden. Es geht darum,

die Seele (soul) weiterzubilden (make). Solch ein Charakter könne nur Resultat eines durch

Freiheitsentscheidungen gesteuerten Reifeprozesses sein, der per definitionem auch das Leid

beinhalten müsse.24

Konsequenterweise wird von dieser Perspektive aus versucht, das Leid

als von Gott legitimiert anzusehen. Doch scheinen dem lyrischen Ich diese Lösungen nicht zu

genügen. Derartige Spekulationen im Sinne eines ésprit de géometrie werden im Folgevers

als „niederträchtig“ (V.12) abgetan. „Also fragen wir beständig“ (V.13) weiter bis jeder

Versuch einer passablen Antwort nicht mehr ausreicht. Und deswegen endet dieses Gedicht

mit einer Frage, auf die keine Verse und damit keine klärenden Worte mehr folgen. Alle

möglichen Lösungen sind erörtert worden und was bleibt, ist Stille. Verstärkt wird dieser

Eindruck durch den Nichtreim „Handvoll“ (V.14) – „Antwort“ (V.16). Wenn überhaupt, dann

ist dieser unreine Reim die Antwort, durch den ausgesagt wird, dass es eben keine Lösung

gibt. Der reimlose Ausgang des Gedichtes dehnt das Warten auf eine zufrieden stellende

Antwort bis „in alle Ewigkeit aus“.25

Das beständige Fragen im Verlauf des Textes, die

angedeutete Resignation, die Klage über das glückliche Schicksal der Ungerechten, die

Akzeptanz, dass es eine letzte Grauzone in der Suche nach Auflösung gibt, das alles ist in

meinen Augen Heines Antwort auf die Theodizeefrage. Und dieser Aspekt führt gleichsam

zum Schluss des Buches Ijob. Alle Erklärungen der Freunde reichen Ijob nicht aus, weswegen

er sich im Vollzug der Dialoge immer mehr von seinen so genannten Freunden und damit von

deren unzureichenden Lösungen abwendet. Der fromme Mann aus dem Lande Uz schlägt

schließlich einen schärferen Ton Gott gegenüber an und fordert ihn zu einer Antwort heraus.26

Nach der ersten Gottrede verschlägt es Ijob buchstäblich die Sprache.27

Die darauf folgende

zweite Rede des Herrn bringt ihn jedoch zu einer neuen Erkenntnis: „So habe ich denn im

22

Vgl. SCHMIDT-LEUKEL, P., Fundamentaltheologie (1999),114f.

23

Vgl. ebd.114.

24

Vgl. SCHMIDT-LEUKEL, P., Fundamentaltheologie (1999), 121.

25

KRAFT, W., Heine (1983), 80.

26

Vgl. DOHMEN, C., Buch der Bücher (2005),124.

27

Vgl. Ijob 40,3-5.

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Unverstand geredet über Dinge, die zu wunderbar für mich und unbegreiflich sind. […] Vom

Hörensagen nur hatte ich von dir vernommen; jetzt aber hat mein Auge dich geschaut.“28

Die

Gottreden sind es, die Ijobs Blick „zunächst auf den Kosmos, die geschaffene und von Gott

geordnete Welt, und damit letztlich auf Gott selbst“29

lenken. Und diese Genese Ijobs muss

von Leid und von Klage gekennzeichnet sein; sonst würde er nie dort ankommen, wo er sich

am Ende des Buches befindet. Die Freunde haben nicht recht von Gott geredet.30

Der einzige,

der überhaupt zu Gott redet, ist Ijob selbst. Er und der Sprecher des vorliegenden Gedichtes

werden zum Schweigen gebracht. Doch zeigt Heines Gedicht trotz des frag-lichen Ausgangs,

dass die Antwortrecherche und das damit verbundene Zweifeln wie beim Autor zum Glauben

führen kann.

In dieser Hinsicht empfiehlt es sich, den Dichter selber sprechen zu lassen:

„Das Buch Hiob löst nicht diese böse Frage. Im Gegenteil, dieses Buch ist das Hohelied der Skepsis,

und es zischen und pfeifen darin die entsetzlichen Schlangen ihr ewiges: Warum? Wie kommt es, daß

bei der Rückkehr aus Babylon die fromme Tempelarchivkommission, deren Präsident Esra war, jenes

Buch in den Kanon der heiligen Schriften aufgenommen wurde? Ich habe mir oft diese Frage gestellt.

Nach meinem Vermuten taten solches jene gotterleuchteten Männer nicht aus Unverstand, sondern

weil sie in ihrer hohen Weisheit wohl wußten, daß der Zweifel in der menschlichen Natur tief

begründet und berechtigt ist und daß man ihn also nicht täppisch ganz unterdrücken, sondern nur

heilen muß. Sie verfuhren bei dieser Kur ganz homöopathisch, durch das Gleich auf das Gleich

wirkend, aber sie gaben keine homöopathisch kleine Dosis, sie steigerten vielmehr dieselbe aufs

ungeheuerste, und eine solche überstarke Dosis von Zweifeln ist das Buch Hiob; dieses Gift durfte

nicht fehlen in der Bibel, in der großen Hausapotheke der Menschheit. Ja, wie der Mensch, wenn er

leidet, sich ausweinen muß, so muß er sich auch auszweifeln, wenn er sich grausam gekränkt fühlt in

seinen Ansprüchen auf Lebensglück; und wie durch das heftigste Weinen, so entsteht auch durch den

höchsten Grad des Zweifels, den die Deutschen so richtig die Verzweiflung nennen, die Krisis der

moralischen Heilung.“31

Heine kann sich am Ende als rehabilitiert betrachten, gerade weil er sich im Geiste Ijobs

auszweifelt bis hin zur Krise, die ihn heilt.

II. Georg Büchner – der Fels des Atheismus

Nicht das gläubige Verstummen, sondern der kollektive Aufstand und die laute Rebellion

gegen das Leid soll von nun an das Denken der unterdrückten Gesellschaftsschicht

bestimmen. Ganz in diesem Sinn ist Büchners „Revolutionsdrama“32

Dantons Tod verfasst.

Was meint Büchner eigentlich mit Leid? Es ist klar, dass auch er als Arzt für den körperlichen

28

Ebd. 42.3.5.

29

DOHMEN, C., Buch der Bücher (2005),125.

30

Vgl. Ijob 42,8.

31

HEINE, H., Werke (1972), 401.

32

MARTENS, W., Religiöse Motive (1960), 82.

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9

und daraus resultierenden psychischen Schmerz sensibilisiert ist33

und dies sicherlich –

konsequent zu Ende gedacht – zu seinem Atheismus geführt hat. Doch spielt ein weiterer

Aspekt eine nicht unerhebliche Rolle: Seine Zeit ist immer noch politisch zerrissen. Die

Spannung zwischen aristokratischen Machteliten auf der eine Seite und die herabgewürdigte

und ausgebeutete niedere Gesellschaftsschicht andererseits bildet den Ausgangspunkt seiner

Revolution und bringt den Fels des Atheismus zum Rollen. Büchner sieht das Volk arbeiten

und seine Ausbeuter ertragen. Sie zwingen die Bauernschicht, an ihre göttliche Legitimation

zu glauben.34

Aus dieser Motivation heraus schreibt Büchner im Hessischen Landboten: „Das

duldet ihr, weil euch Schurken sagen: diese Regierung sei von Gott“.35

Der Mediziner stellt

also folgende „Diagnose“ fest: Leid ist Folge der Unterdrückung des unteren Standes durch

das Gottesgnadentum. Büchner kategorisiert das Leid also politisch. Die einzig möglich

„Behandlung“, die zur „Heilung“ – also zur Befreiung des Bürgertums – führt, ist Revolution

und die Aufdeckung der religiösen Manipulation des Volkes durch die Oberschicht.36

Georg

Büchner hat dieses soziologische „Krankheitsbild“ bereits intensiv studiert. Im Winter 1833

vertieft er sich in die Lektüre der französischen Revolutionsgeschichte, die ebenso vom

Kampf zwischen Privilegierten und Unterdrückten markiert ist.37

Einzig und allein können

sozialrevolutionäre Agitationen Abhilfe schaffen. Mit welcher strategischen Vorgehensweise

kann nun der Mediziner das Volk so überzeugen, ohne dass die ins Auge gefasste Revolution

Ausschreitungen erlebt? Eine dogmatisch-atheistische Propaganda würde die bäuerlichen

Massen in der Provinz verschrecken und somit die Revolution entfremden. Büchner begreift,

so Joachim Kahl, dass er Menschen für sich gewinnen will, deren Lebensinhalt Gott und der

Glaube an ihn ist. Er müsse also ihr religiös geformtes Bewusstsein berücksichtigen. Dies

versucht er, indem er sich einer biblisch und theologisch angereicherten Sprache bedient. Das

Wort „Gott“ wird also nicht tot geschwiegen. Diese Vorgehensweise habe einzig und allein

strategische Gründe und sei in keiner Weise im Zeichen des Glaubens zu lesen.38

Was diesen

sehr wichtigen Aspekt betrifft, ist eine kleine aber dennoch lohnenswerte Unterscheidung

vorzunehmen. Zunächst kann Joachim Kahl eine religiöse Deutung der von Büchner

verwendeten biblischen Anspielungen „gestatten“39

, doch würden diese im Gesamtkontext

seines Lebens eine völlig unbeachtliche und unerhebliche Rolle spielen.40

Es liegt auf der

33

Vgl. HAUSCHILD, J., Büchner (2004), 100.

34

Vgl. KAHL, J., Fels des Atheismus (1982),102f.

35

HA II, 46.

36

Vgl. KAHL, J., Fels des Atheismus (1982), 103.

37

Vgl. HAUSCHILD, J., Büchner (2004), 101.

38

Vgl. KAHL, J., Fels des Atheismus (1982), 103.

39

Ebd. 105.

40

Vgl. ebd. S.125.

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10

Hand, dass Kahl bewusst aus einer atheistischen Perspektive denkt und so diese spirituellen

Rudimente, die doch ihre eigene Dynamik haben, in Büchners Werk verkennt. Aussagen wie

„Wir ringen alle im Getsemani-Garten im blutigen Schweiß“41

oder „wahrlich des

Menschensohn wird in uns allen gekreuzigt“42

implizieren doch regelrecht eine tiefe

persönliche Auseinandersetzung mit dem Leben und Sterben Jesu Christi und setzten eine

Identifikation mit seiner Passion und dem damit verbundenen Leid voraus. Solche

anthropologisch verankerten, religiös-reflektorischen Prozesse versucht Kahl durch seinen

postulatorischen Atheismus von vorn herein zu verschleiern. Es soll genauso wenig ein

Versuch gestartet werden, Büchner „zu rechristianisieren“43

oder die „atheistische Spitze“44

abzubrechen, wie es Kahl fordert. Doch lassen die eben aus Dantons Tod zitierten Aussagen

den Rückschluss zu, dass Büchner sich und sein Leben mit der Biographie Jesu konfrontiert,

die Sprengkraft der Botschaft Jesu für sein revolutionäres Denken übernimmt, aber sie nicht

zur absolut normativ geltenden Vorgabe macht. Ich ordne solche Sätze wie bereits erwähnt in

eine gläubige Reflexion ein, die den Schritt bis zum unbegreiflichen Geheimnis „Gott“

ansatzweise wagt, aber schließlich einen anderen Weg einschlägt. Was also Büchner nicht

versteht, kann er nicht vertreten. Die Wurzeln von Dantons Tod sind also auf Grund der das

ganze Werk ausmachenden theologisch-biblischen Sprache „religiös“.45

Büchners

Engagement „gilt dem Nächsten hier und heute, dem Einzelnen, dem Wehr- und Hilflosen“46

und stimmt demzufolge mit der christlichen Botschaft überein. Doch lassen sich auch, so

formuliert es Joachim Kahl, „Ansätze zur Emanzipation Büchners vom christlichen Glauben

biographisch […] zurückverfolgen“47

, was uns einen Einblick in die beginnenden Zweifel an

Gott beschert. Den seelischen Konflikt Büchners eröffnet der Vergleich der beiden Gedichte

Die Nacht und Leise hinter düstrem Nachtgewölke, die beide im Jahre 1828 verfasst werden.

„Die Nacht

Niedersinkt des Tages goldner Wagen,

Und die Stille Nacht schwebt leis’ herauf,

Stillt mit sanfter Hand des Herzens Klagen,

Bringt uns Ruh’ im schweren Lebenslauf.

Ruhe gießt sie in das Herz des Müden,

„Leise hinter düstrem Nachtgewölke

Leise hinter düstrem Nachtgewölke

Tritt des Mondes Silberbild hervor,

Aus des Wiesentales feuchtem Grunde

Steigt der Abendnebel leicht empor.

Ruhig schlummernd liegen alle Wesen,

41

HA I, 59.

42

Ebd. 59.

43

KAHL, J., Fels des Atheismus (1982),104.

44

Ebd. 104.

45

MARTENS, W., Religiöse Motive (1960), 101.

46

Ebd. 108.

47

KAHL, J., Fels des Atheismus (1982), 106.

48

MA, 10f.

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11

Der ermattet auf der Pilgerbahn,

Bringt ihm wieder seinen stillen Frieden,

Den des Schicksals raue Hand ihm nahm.

Ruhig schlummernd liegen alle Wesen,

Feiernd schließet sich das Heiligtum,

Tiefe Stille herrscht im weiten Reiche,

Alles schweigt im öden Kreis’ herum.

Und der Mond schwebt hoch am klaren Äther

Geußt sein sanftes Silberlicht herab;

Und die Sternlein funkeln in der Ferne

Schau’nd herab auf Leben und auf Grab.

Willkommen Mond, willkommen sanfter Bote

Der Ruhe in dem rauen Erdental,

Verkündiger von Gottes Lieb und Gnade,

Des Schirmers in Gefahr und Mühesal.

Willkommen Sterne, seid gegrüßt ihr Zeugen

Der Allmacht Gottes der die Welten lenkt,

Der unter allen Myriaden Wesen

Auch meiner voll von Lieb und Gnade denkt.

Ja heil’ger Gott du bist der Herr der Welten,

Du hast den Sonnenball emporgetürmt,

Hast den Planeten ihre Bahn bezeichnet,

Du bist es, der das All mit Allmacht schirmt.

Unendlicher, den keine Räume fassen,

Erhabener, den Keines Geist begreift,

Allgütiger, den alle Welten preisen,

Erbarmender, der Sündern Gnade beut!

Erlöse gnädig uns von allem Übel,

Vergib uns liebend jede Missetat,

Laß wandeln uns auf deines Sohnes Wege,

Und siegen über Tod und über Grab.“48

Feiernd schweigt des Waldes Sängerchor,

Nur aus stillem Haine, einsam klagend,

Tönet Philomeles Lied hervor.

Schweigend steht des Waldes düstre Fichte,

Süß entströmt der Nachtviole Duft,

Um die Blumen spielt des West-Winds Flügel

Leis hinstreichend durch die Abendluft.

Doch was dämmert durch der Tannen Dunkel

Blinkend in Selenens Silberschein?

Hoch auf hebt sich zwischen shroffen Felsen

Einsam ein verwittertes Gestein;

An der alten Mauer dunklen Zinnen

Rankt der Efeu üppig sich empor,

Aus des weiten Burghofs öder Mitte

Ragt ein rings bemooster Turm hervor.

Fest noch trotzen alte Sterbepfeiler;

Aufgetürmet wie zur Ewigkeit

Stehen sie und schau’n wie ernste Geister

Nieder auf der Welt Vergänglichkeit.

Still und ruhig ist’s im öden Raume

Wie ein weites Grab streckt er sich hin;

Wo einst kräftge Geschlechter blühten

Nagt die Zeit jetzt, die Zerstörerin.

Durch der alten Säle düstre Hallen

Flattert jetzt die scheue Fledermaus,

Durch die rings zerfallnen Bogenfenster

Streicht der Nachtwind pfeifend ein und aus.

Auf dem hohen Söller wo die Laute

Schlagend einst die edle Jungfrau stand,

Krächzt der Uhu seine Totenlieder

Klebt sein Nest der Rabe an die Wand.

Alles alles hat die Zeit verändert

Überall nagt ihr gefräßger Zahn,

Über Alles schwingt sie ihre Sense,

Nichts ist was die schnelle hemmen kann.“49

Der erste Text erinnert sprachlich an ein Gebet und im entferntesten an den Sonnengesang des

heiligen Franziskus. Wie der Ordensgründer heißt auch Büchner den „Mond“ (V.13.17), die

„Sterne“ (V.21) und den „Sonnenball“ (V.26) willkommen und bindet diese Naturkonstanten,

nach denen sich der Mensch und sein Tagesrhythmus richtet, als Zeugen Gottes in den

lyrischen Dialog mit ein: „Willkommen Mond, willkommen sanfter Bote […] / Verkünder

49

MA, 12f.

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12

von Gottes Lieb und Gnade“ (V.17.19). Hier liegt offensichtlich das Bild eines gnädigen

Gottes vor, mit dessen Hilfe man über Tod und Grab siegen kann (Vgl. V.36). Auch greift der

Autor zwei für jegliche Theodizee relevante Grundannahmen auf. So sind die Sterne Zeugen

der „Allmacht Gottes der die Welten lenkt“ (V.22) und „der das All mit Allmacht schirmt“

(V.28). Weiterhin bekennt der Sprecher des Gedichts: „Allgütiger, den alle Welten preisen“

(V.31). Diese beiden göttlichen Attribute sind nun aber mit dem Leid logisch nicht vereinbar.

Zu welcher Antwort tendiert nun Büchner in Die Nacht? Die letzte Strophe liefert die

Auflösung:

„Erlöse gnädig uns von allem Übel,

Vergib uns liebend jede Missetat,

Laß wandeln uns auf deines Sohnes Wege,

Und siegen über Tod und über Grab.“ (V.33-36)

Die ersten beiden Verse dieser Strophe erinnern an zwei Bittsätze der heutigen Form des

Vater Unser: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern,

und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Büchner greift das

Wort „Übel“ gemäß der zeitgenössischen Form des Gebets auf. Ein weiterer Anhaltspunkt für

eine Art gläubige Entwicklung des Mediziners. Und diese Schlussverse bergen weiterhin

einen Lösungsansatz der Theodizee, der auch heute noch in der Diskussion steht. Büchner

bevorzugt die pragmatische Lösung der Uminterpretation des Problems. Bei diesem

Antwortversuch ist also der praktische Umgang mit dem Leid oberste Priorität. Aus

christlicher Sicht ist also eine fides caritate formata gefragt. Aus Liebe zum Mitmenschen

kann der Mensch durch sein aktives Engagement zur Verminderung des Leids beitragen.

Begründet wird dies durch das Handeln Jesu Christi: Er selbst habe uns gezeigt wie mit dem

Leid umzugehen ist.50

Und diesem Vorbild sollen wir wie das lyrische Ich in Die Nacht

folgen, um so Übel, Tod und Grab zu besiegen (vgl. V.33-36). Dieses christliche

Handlungsschema bildet die „Aktivierungsenergie“ von Büchners revolutionären Begehren.

Sein Engagement gilt demgemäß dem „Armen, dem fraglos liebenden“.51

Nur so kann, und

dies ist sicherlich eine Grundintention des Gedichtes, das Leid vermindert oder gar beseitigt

werden. Später wird Büchner diesen jesuanischen Horizont revidieren, wobei er gleichzeitig

die Aktivität und Pragmatik zu radikalisieren versucht und den Menschen selbst zum höchsten

Maß der Nächstenliebe macht. Darauf wird noch in Verbindung mit Büchners atheistisch-

anthropologischer Soteriologie eingegangen. Das zweite, im selben Jahr verfasste Gedicht ist

im Vergleich mit Die Nacht nüchtern gehalten, wozu das Fehlen des Wortes „Gott“ einen

erheblichen Beitrag leistet. Das Gegenüberstellen dieser beiden Gedichte bündelt

50

Vgl. SCHMIDT-LEUKEL, P., Fundamentaltheologie (1999), 112f.

51

MARTENS, W., Religiöse Motive (1960), 108.

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unzweideutig die spirituelle Zerrissenheit des Mediziners. Während in Die Nacht der aktive

Umgang mit dem Leid in Bezug auf das als vorbildhaft thematisierte Handeln Jesu postuliert

wird, ist in Leise hinter Düstrem Nachtgewölke buchstäblich der Himmel mit Wolken

bedeckt. Der einst gepriesene Mond, die leuchtenden Sterne und der Sonnenball sind nicht

eingearbeitet. Von vorn herein also wird eine dunkle Atmosphäre auf lyrischem Weg erzeugt.

So „steigt der Abendnebel leicht empor“ (V.4) und die Welt gerät ins „Dunkel“ (V.13) und

eine „düstre Fichte“ (V.9), „Abendnebel“ (V.4), „alte Sterbepfeiler“ (V.21) und „ernste

Geister“ (V.23) vermitteln einen finsteren Eindruck. Die Allmacht Gottes scheint

unauffindbar in dieser „öden“ (V.25) Landschaft und muss sich zudem der Allmacht der Zeit,

die Büchner als eine „Zerstörerin“ (V.28) etikettiert, beugen. Denn „überall nagt ihr

gefräßiger Zahn“ (V.45) und nichts hat Bestand. Gott hat keine Macht über die Zeit. Gerade

im Leben eines Arztes zählt jede Minute und die Zeit wird zum Gegner der Medizin. Büchner

erfährt, dass er die Zeit nicht aufhalten kann und dass es Gott einfach nicht tut. Sein Umgang

mit der Theodizee ändert sich. Zwischen den Zeilen modifiziert er die Allmacht Gottes,

indem er sie der Macht der Zeit unterordnet und Gott an sich diminuiert und damit keines

Wortes mehr würdigt. Ist das Dunkel das nun bleibt, alles? Welcher Weg führt aus diesem

Dilemma? Für Büchner ist klar: es muss ohne Gott gehen. Dieser „Befund“ durchzieht nun

sein Werk und wird im Philosophengespräch in Dantons Tod, „das keinerlei dramaturgische

Notwendigkeit im sonstigen Handlungsgeschehen“52

besitzt, thematisiert. Die Beteiligten, die

drei Philosophen Payne, Mercier, Chaumette, treten hier zum ersten Mal in Dantons Tod auf

und betreten nachher die Bühne nicht mehr. Und in diesem „Forum für eine wichtige

weltanschauliche Aussage“53

ist folgender Satz enthalten, der sogar im Schriftbild

hervorgehoben ist: „E s g i e b t k e i n e n G o t t“54

. Im Anschluss wird versucht, diese

Hypothese in der Manier eines mathematischen Beweises zu verifizieren. Mit Nachdruck

schärft der Redner ein, dass es Gott nicht geben kann und beschließt seine Ausführung mit

„quod erat demonstrandum“.55

Und „wahrhaftig“ sagt Chaumette, „das giebt mir wieder

Licht“56

. Büchner will den zeitgenössischen Leser ins Licht jener Erkenntnis setzten, dass

Gott nicht existiert und dass nun jeder selbst zum Handeln aufgerufen ist. Der einzige

Ausweg aus der politisch prekären Lage ist Aufstand und Revolution. Dabei ist die

christliche Botschaft der Liebe zum Nächsten das Leitprinzip, doch blendet Büchner Gott als

Garant des Heiles und als inneren Antrieb für sein Vorhaben radikal aus. Er wird ersetzt mit

52

KAHL, W., Fels des Atheismus (1982), 112.

53

KAHL, W., Fels des Atheismus (1982), 112.

54

HA I, 47.

55

Ebd. 47.

56

Ebd. 47.

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der überspitzten Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Freiheit. Die Menschheit werde folglich

„nicht durch das stellvertretende Leiden eines Opferlamms“57

erlöst, sondern kann sich als

kollektives Subjekt nur selbst erlösen. Diesen Gedankengang formuliert er in seinem Drama

Leonce und Lena: „Mein Gott, mein Gott, ist es denn wahr, daß wir uns selbst erlösen müssen

mit unserem Schmerz? Ist es denn wahr, die Welt sei ein gekreuzigter Heiland, die Sonne

seine Dornenkrone und die Sternen die Nägel und Speere in seinen Füßen und Lenden?“.58

Im Sinne Büchners wäre zu antworten: Ja, die Menschen müssen sich selbst erlösen. Wie und

von wem aber wurde der Mediziner geprägt, um derartiges Gedankengut zu artikulieren? Bei

seinen Studien der französischen Geschichte ist Büchner sicherlich der Revolutionär Albert

Camus mit seinem Werk L’homme révolté begegnet.59

Auch Camus stellt in diesem Buch

einen ähnlichen Zusammenhang her: „Dieu mort, restent les hommes, c’est-à-dire l’histoire

qu’il faut comprendre et bâtir.“60

Der Tod Gottes (dieu mort) zwinge unsausweichlich dazu,

die Erlösung der Menschheit in die eigene Hand zu nehmen und sie in der immanenten,

konkreten Geschichtlichkeit (l’histoire) in die Tat umzusetzen. Doch erwächst daraus

zunächst ein anthropologisches Grundproblem. Der Mensch kann zwar „aufstehen“, also aktiv

werden, doch kann er die Erlösung nicht in die eigenen Hände nehmen, weil sie ihm in dieser

Hinsicht schlichtweg gebunden sind. Das Kollektiv der Menschheit kann sich per

definitionem nicht aus sich heraus erlösen. Es ist dazu aus gläubiger Sicht ein nicht

immanentes, nicht menschliches und eben radikal transzendentes Gegenüber notwenig. Die

jetzt begonnene Reflexion zeigt ebenso, dass der Begriff „Erlösung“ bei Büchner und aus

christlicher Perspektive keine deckungsgleiche Semantik besitzt. Trotzdem gilt es, ein

gemeinsames Sprachspiel und eine Schnittstelle im divergierenden Bedeutungsgehalt zu

finden, da sonst eine theologische Bewertung nicht möglich ist. Dieser semantische Konflikt

ist exemplarisch am Wort „Freiheit“ zu ersehen, das in der christlichen Soteriologie und im

Kontext Büchners unterschiedlich konnotiert ist. Während Georg Büchner „Freiheit“ und die

damit verbundene Erlangung des Heiles eindeutig im Diesseits zwingend durchzusetzen

versucht, schlägt die klassische Erlösungslehre den transzendenten Weg ein. In jeder Tat der

Freiheit im Diesseits ist der Mensch immer schon auf Gott im Jenseits verwiesen. Er kann

Freiheit nur vollenden, wenn Gott nicht bloß ein ferner Horizont bleibt, sondern sich selbst ihr

in seiner Göttlichkeit übergibt.61

Weiterhin muss festgehalten werden: Erlösung an sich

geschieht nicht vom Leid, sondern im Leid. Dieser Behauptung verleiht Ijob das

57

KAHL, W., Fels des Atheismus (1982), 111.

58

HA I, 118.

59

Vgl. MARTENS, W., Religiöse Motive (1960), 101.

60

CAMUS, A., L’homme révolté (1951), 132.

61

Vgl. GRÜN A., Erlösung (1975), 13.

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entscheidende Profil. Gott nimmt ihn nicht einfach den Schmerz weg, als ob nichts gewesen

wäre. Im Klagen, im Infragestellen jeglichen Sinns, im Auflehnen und im quälenden Schmerz

erhält Ijob eine neue Blickweise „von oben“. Auch Jesus bleibt nicht unter dem Kreuz liegen,

sondern geht trotzdem weiter, angetrieben von der Überzeugung und der Sehnsucht, dass Gott

das Jenseits gehört, wo die wahre Gerechtigkeit herrscht. Diese metaphysische Ebene fehlt

Büchners immanent geprägter Sehnsucht nach Erlösung vom Leid. Und so will er „der

christlichen Erlösungslehre […] den Garaus machen.“62

Dies radikalisiert Büchner in dem

eben zitierten Philosophengespräch. Der atheistischen These (Es gibt keinen Gott) folgen

Diskussionen bis schließlich Payne die durchschlagende Argumentation vorbringt:

„Schafft das Unvollkommene weg, dann allein könnt ihr Gott demonstriren, Spinoza hat es versucht.

Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz; nur der Verstand kann Gott beweisen, das

Gefühl empört sich dagegen. Merke dir es Anaxagoras, warum leide ich? Das ist der Fels des

Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riß

in der Schöpfung von oben bis unten.“

63

Damit greift der Mediziner auf die sehr alte Tradition des Epikur zurück. Wie kann ein

allgütiger und allmächtiger Gott Leid zulassen? Will Gott die Übel abschaffen und kann es

nicht? Kann er und will es nicht? Oder kann er es und will es? Aber woher kommen dann die

Übel? Büchner hat dies für sich konsequent zu Ende gedacht: Gott kann er leugnen. Was er

aber nicht bestreiten kann, ist das Leid. Und wenn es sich nur um das kleinste Zucken des

Schmerzes handelt und dies nur in einem einzigen Atom, dann ist die Schöpfung und der

damit verbundene Gottglaube zerrissen. Das Leid, und sei es noch so klein, ist der Fels des

Atheismus. Aus diesem Dilemma, das sich „der religiöse Glaube selbst konstruiert hat“64

zieht Büchner die Konsequenz des Atheismus. Zu Joachim Kahls Aussage muss gesagt sein,

dass sich der Glaube dieses Paradox in keiner Weise selbst konstruiert hat. Die Gemeinschaft

der Gläubigen ist ebenso wie Büchner vor vollendete Tatsachen gestellt. Christen würden

dann aber versuchen – so Kahl – eine „Kompensation“65

des Leids im Himmel zu suchen.

Und eine eschatologisch ausgerichtete, den letzten Sinn bringende Gerechtigkeit sei „nicht

einmal denkbar“.66

Es ist nicht möglich, einen dogmatischen Atheisten wie Kahl angesichts

der tief greifenden Theodizeefrage für den Glauben zu sensibilisieren oder gar einen Prozess

gläubiger Reflexion zu starten. Nur sehen gläubige Menschen die Welt und den darin sich

täglich ereignenden Schmerz mit den Augen des Glaubens, die jeder Christ – und das steht

ihm zu – für sich verifizieren kann. Dabei sehen sie gleichsam der Realität ins Auge, ohne

62

KAHL, J., Fels des Atheismus (1982), 112.

63

HA I, 47f.

64

KAHL, J., Fels des Atheismus (1982), 113.

65

KAHL, J., Fels des Atheismus (1982), 113.

66

Ebd. 114.

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eine die Wirklichkeit verzerrende Brille zu tragen. Was also aus christlicher Sicht „denkbar“67

ist – die endzeitlichen Aussagen Jesu ernst nehmend – obliegt dem Glaubenden selbst. Und

diese „Augen“ erkennen ebenso, dass es keine adäquate Lösung geben kann. Es mag sein,

dass sich der eine oder andere, gläubig verzichtend, das Problem uminterpretierend,

Prämissen und göttlich Attribute preisgebend und Zusatzannahmen einführend, eine

scheinbare Lösung „konstruiert“.68

Doch sind gläubige Menschen im Angesicht unsagbaren

Leids ebenso fassungslos, wie etwa Atheisten. Doch die „Augen des Glaubens“ lassen uns

von der Hoffnung leben69

und auf Jesus blicken. Als Auferstandener ist er noch immer von

seinen Wundmalen, von der Qual des Karfreitags, gezeichnet. Nur erscheint er in einem

anderen Licht. Seine Hände, Füße und seine Seite sind auch nach der Auferweckung noch

durchbohrt. Gott wischt das Leid nicht weg, aber wir können es wohl in einem anderen Licht

sehen. Diese Hoffnung auf ein transzendental verifizierbares Heil fehlt bei Georg Büchner

und ist illusorisch ersetzt mit dem Drang nach politischer und der für ihn daraus

resultierenden seelischen Freiheit. Wir erleben bei Büchner eine Art Umkehrung der

Verhältnisse: Er ist sich der christlichen Ideale voll bewusst und extrahiert diese nach

reiflicher Überlegung, die im Atheismus endet, aus dem christlichen Horizont und bettet sie

systematisch in sein Revolutionsschema ein. Doch raubt er ihnen dadurch das Fundament. Er

wirft seine Hoffnung nicht auf zukünftige Erfüllungen und unternimmt es nicht, letzte

wirklich existentielle Fragen zu beantworten. Geht er dadurch nicht am Menschen und an

seinem Streben nach wahrer Nächstenliebe vorbei?

III. Friedrich Dürrenmatt – ein Autor streicht das Wort Gott

„[…] sonderbar sei es freilich, wie er den lieben Gott als Leiter gebraucht habe, um

herauszuziehen.“70

So illustriert der Autor und Dichter Friedrich Dürrenmatt in seiner Rede

zur Georg Büchner Preisverleihung in einem einzigen Satz den ideologischen Kerngedanken

des revolutionären Mediziners. Persönlich mit Gott und dem Glauben abgeschlossen,

verwendet Büchner trotzdem ein religiös-christlich motiviertes Sprachspiel, um auf diese

Weise die Masse der gläubigen Landbevölkerung für sich zu gewinnen. Büchner gebraucht

also, wie im vorhergehenden Punkt dargelegt, das Wort „Gott“ und postuliert radikale

Nächstenliebe; nur klammert er bewusst den Horizont des Glaubens aus. Es erscheint

67

Ebd. 114.

68

Ebd. 113.

69

Vgl. Röm 8,24.

70

DÜRRENMATT, F., Essays und Gedichte (1988), 516.

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angemessen, diese Vorgehensweise wie Dürrenmatt als „sonderbar“ zu bezeichnen, entspricht

sie doch einem unzulässigen, illegitimen Rückschluss. Auch Dürrenmatt kommt früh mit der

protestantischen Kirche, wie bereits Heinrich Heine und Georg Büchner, in Berührung und ist

davon zutiefst geprägt. Er arbeitet immer wieder religiöse Motive in seine Werke ein und

etikettiert von seinem eigenen Erfahrungsschatz her das Christentum als eine „wortgläubige

Sprache“.71

Im direkten Vergleich mit Büchner ist in den religiös markierten Werk

Dürrenmatts kein direktes Ziel zu erkennen. Gerade weil die menschliche Sprache im

metaphysischen Kontext begrenzt ist, streicht er das Wort „Gott“ und erhöht dadurch die

Offenheit und theologische Brisanz seiner Erzählungen, ohne – und das unterscheidet ihn von

Büchner – explizit Atheist zu werden. Es dreht sich also um die Frage, wie vom

unbegreiflichen Gott im Vollzug literarischen Schaffens sprachlich angemessen geredet

werden kann, ohne dabei eine das Leid harmonisierende Gottrede zu entfalten. Dürrenmatt

geht es nicht darum, zu moralisieren, zu ermutigen oder gar zu überzeugen, sondern die

„Katastrophe“72

des Menschseins unverblümt darzustellen. An dieser Stelle rückt Dürrenmatts

Erfahrung von Gott als Abgrund in den Mittelpunkt.73

Damit zeigt er deutlich, was es heißt,

das „alte“, alles Leid erklärende Gespräch über Gott abzubrechen, um so für die radikal tiefe,

unsagbare und deswegen abgründige Theo-logie Platz zu machen. Diese Sichtweise ist also

nicht von vornherein negativ und abwertend zu verstehen. Ganz unter diesem Vorzeichen ist

seine erstmals 1952 erschienene Erzählung Der Tunnel verfasst. Ursprünglich endet diese

Geschichte folgendermaßen:

„Noch hatte sich nichts verändert, wie es uns schien, doch schon hatte uns der Schacht nach der Tiefe

zu aufgenommen, und so rasen wir denn wie die Rotte Korah in unseren Abgrund. […] Was sollen wir

tun? Nichts, antwortete der andere unbarmherzig, ohne sein Gesicht von tödlichen Schauspiel

abzuwenden, doch nicht ohne gespensterhafte Heiterkeit, von Glassplittern übersät, die von der

zerbrochenen Schalttafel herstammten, während zwei Wattebüschel, durch irgendeinen Luftzug

ergriffen, der nun plötzlich hereindrang (in der Scheibe zeigte sich ein erster Spalt) pfeilschnell nach

oben in den Schacht über ihnen fegten. Nichts. Gott ließ uns fallen. Und so stürzen wir denn auf ihn

zu.“

74

Im Jahr 1978 überarbeitet Dürrenmatt die Geschichte und lässt dieselbe schlichtweg mit

„Nichts“75

enden. Die letzten beiden Sätze streicht er ausnahmslos. Was ist passiert, dass er in

Der Tunnel das Wort „Gott“ loswerden wollte? Und worum geht es in dieser Geschichte? Ein

vierundzwanzigjähriger Student, dessen einzige Fähigkeit es ist, das „Schreckliche hinter den

71

DÜRRENMATT, F., Dramaturgie (1996), 49.

72

KNOPF, J., Biographie (2004), 143.

73

Vgl. KUSCHEL, K., Spiegel (1997), 194.

74

DÜRRENMATT, F., Erzählungen (1980). 97f.

75

Ebd. 34.

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Kulissen“76

zu erkennen, fährt wie jeden Sonntag mit dem Zug in seine Universitätsstadt

Zürich. Mit dem Gedanken, das morgige Seminar zu schwänzen, kämpft er sich durch den

vollbesetzten Zug bis ins letzte Abteil, das er sich mit einem Schach spielenden, dicken Mann

und einem rothaarigen, Roman lesenden Mädchen teilen muss. Auch der bereits erwartete

Tunnel lässt nicht lange auf sich warten. Wie gewöhnlich steckt sich der

Vierundzwanzigjährige eine Zigarre der Marke Ormond Brasil an und erwartet buchstäblich

das Licht am Ende des Tunnels. Doch bleibt es an diesem Sonntag zu lange dunkel. Der Junge

Mann ist verwirrt. Doch als die „Glühbirnen“77

die Abteile erleuchten, gehen die

Mitreisenden erneut ihrer vorherigen Beschäftigung nach. Nur der Student ahnt das

Schreckliche, wird unruhig und entschließt, der Sache auf den Grund zu gehen. Sein

Erkundungsgang im Korridor bringt ihm nur vollkommen unbesorgte Mitreisende unter die

Augen, die allesamt nichts Ungewöhnliches bemerken. Ist er vielleicht in den falschen Zug

eingestiegen? Doch erwidert ihm der Schaffner bei der Fahrscheinkontrolle, dass dieser Zug

nach Zürich fahre. Noch mehr verwirrt glaubt er, beim Zugführer eine alles klärende und

harmonisierende Antwort zu erhalten.78

Als er den Zugführer trifft, fordert er den Studenten

auf, mit ihm in das vorderste Zugabteil gehen. Dort angelangt, stellen sie fest, dass der Zug –

immer noch auf Schienen – abwärts fährt. An ein Anhalten sei nun nicht mehr zu denken.

Beide machen sich nun auf, den Führerstand der Lokomotive zu erreichen. In der

Zwischenzeit neigt sich der Zug immer weiter nach vorne, was eine beschleunigende

Wirkung auf die Fahrt hat. Am Führerstand angekommen trauen sie ihren Augen nicht: er ist

leer. Der Lokomotivführer ist bereits abgesprungen. Die Geschwindigkeit steigert sich

allmählich zur Raserei. Alle Versuche, die Passagiere zu warnen, scheitern, weil der Zug –

nun gänzlich geneigt – mit rasender Geschwindigkeit in das Innere der Erde fährt. Was kann

man tun? Der Vierundzwanzigjährige spricht es aus. Tun kann man nichts.

Wie ist nun diese Erzählung zu interpretieren, ohne die durch das Weglassen des

Schlusssatzes entstandene Offenheit einzugrenzen? Zunächst fallen einige autobiographische

Anhaltspunkte auf. Auch Friedrich Dürrenmatt studiert ab dem Jahr 1942 für zwei Semester

an der Universität Zürich Literatur und Philosophie. Und es ist durchaus möglich, dass er

während dieser Zeit die Wochenenden bei seinen Eltern in Bern verbringt.79

So habe

76

Ebd. 21.

77

Ebd. 23.

78

Der Student versucht, eine zufrieden stellende und harmonisierende Antwort zu bekommen. Daran zeigt sich

Dürrenmatts Zielsetzung: Es gibt keine Antwort. Das Schreckliche wird kommen und zur Katastrophe führen. Er

will die Realität nicht verzerren, sondern sie darstellen wie sie ist. Dies führt gleichermaßen zum realistischen

Blick im Umgang mit der Theodizee. Es ist unmöglich eine adäquate Lösung zu finden. Nur das gläubige

Überstehen jener Katastrophe ohne „Blümchenpädagogik“ macht offen für die Antwortlosigkeit dieser Frage.

79

Vgl. SPYCHER, P., Erzählerisches Werk (1972), 104.

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Dürrenmatt in dem Vierundzwanzigjährigen ein „Selbstportrait“80

gezeichnet, womit er

ebenso auf sein äußerliches Erscheinungsbild Bezug nimmt. Die ersten Worte der Geschichte

„Ein Vierundzwanzigjähriger, fett […]“81

können – so Kuschel – auf den Autor selbst

angewendet werden.82

Manche Einzelheiten im Text, insbesondere geographische, decken

sich mit der Wirklichkeit.

Mit einem eher kritischen Auge ist auf die Fahrgäste zu blicken. Der Autor lässt die

unterschiedlichsten Menschen im Zug mitreisen, die allesamt etwas gemeinsam haben. Keiner

von ihnen kann wie der Student hinter die Kulissen blicken. Sie sind deswegen auch von der

unerwarteten Länge des Tunnels nicht beeindruckt. Es scheint, als ob die Passagiere für

unplanmäßige Abweichungen im Leben in keiner Weise sensibilisiert sind: „ Am anderen

Ende des Wagens öffnete sich die Türe. Im grellen Licht des Speisewagens sah man

Menschen, die einander zutranken, dann schloß sich die Türe wieder.“83

Solche Sätze

legitimieren eine gesellschaftskritische Deutung von Dürrenmatts Geschichte, weil sie auf die

stereotyp und im höchsten Maße rational gewordene, „moderne Massengesellschaft“84

hinweisen. Ein so gearteter, „gedankenloser, oberflächlicher Alltagsmensch“85

ohne jeglichen

Sinn für eine transreale Sicht der Dinge ist zwar im Angesicht unvorhergesehener Ereignisse

beunruhigt, doch versucht jener von seiner begrenzten Perspektive her, das Rätsel auf streng

rationale Weise zu lösen. Als Beispiel dafür dienen die Worte des dicken Schachspielers:

„[…] in der Schweiz gebe es eben viele Tunnel, außerordentlich viele, er reise zwar zum

ersten Mal in diesem Lande, doch falle dies sofort auf, auch habe er in einem statistischen

Jahrbuch gelesen, kein Land besitze so viele Tunnel wie die Schweiz.“86

Eine logisch

erscheinende Erklärung, die – exemplarisch gewertet – die Mitreisenden ruhig stellt und

erneut in die dadurch projizierte Harmonie des gewohnten Alltags zurückbefördert. Wie

bereits erwähnt, liegen solche, den Ernst der Lage verkennende und damit beschönigende

Aussagen nicht auf der Linie Dürrenmatts. Er sieht sich Dienst der „ungesüßten“ Realität, in

der ein „Zufall […] alles menschliche Planen zunichte und die Planenden zu (komischen)

Narren“87

macht. Der Autor verbindet in Der Tunnel also drastische Realistik, aufgezeigt an

der Zuggesellschaft, mit undefinierbar Fantastischem, das diese Realität hinter sich lässt und

den Tunnel buchstäblich für das Unbegreifliche öffnet. Der einzige Protagonist der

80

BROCK-SULZER, E., Stationen (1970), 298.

81

DÜRRENMATT, F., Erzählungen (1980), 21.

82

Vgl. KUSCHEL, K., Spiegel (1997), 197.

83

DÜRRENMATT, F., Erzählungen (1980), 25.

84

ZIMMERMANN, W., Prosadichtungen (1969), 63.

85

Ebd. 62.

86

DÜRRENMATT, F., Erzählungen (1980), 24.

87

KNOPF, J., Biographie (2004), 143.

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Geschichte, der sich von dieser neuen, ab-gründigen Perspektive berühren lässt, ist der

Student, der somit eine „metaphysische Fähigkeit“88

besitzt. Damit bewegen wir uns bereits

im Bereich der religiösen Deutung. Ihr Schlüsseltext ist der Schluss der Geschichte: „Gott ließ

uns fallen. Und so stürzen wir denn auf ihn zu.“89

Theologische Interpretationen

reproduzieren aus den beiden Schlusssätzen das Bild eines allgegenwärtigen, erbarmenden

Gottes, der seine im Alten Testament vorkommenden, rächenden Züge abgelegt habe. Nun

könne der Mensch im Sog der Absurdität auf Ihn setzen.90

Wie ist aber dann Dürrenmatts

Anspielung auf die „Rotte Korah“91

aufzufassen? Der Autor zielt damit auf eine

alttestamentliche Begebenheit ab. Das Buch Numeri beschreibt eine Gruppe von Menschen,

die wegen ihrer Auflehnung gegen den göttlich legitimierten Gesetzgeber Mose regelrecht in

einen Abgrund stürzen:

„Kaum hatte er das gesagt, da spaltete sich der Boden unter ihnen, die Erde öffnete ihren Rachen und

verschlang sie samt ihrem Haus, mit allen Menschen, die zu Korach gehörten, und mit ihrem ganzen

Besitz. Sie und alles, was zu ihnen gehörte, stürzten lebend in die Unterwelt hinab. Die Erde deckte sie

zu und sie waren aus der Gemeinde verschwunden. Alle Israeliten, die um sie herumstanden, liefen

weg, als sie sie schreien hörten; sie sagten: Die Erde wird uns auch noch verschlingen. Vom Herrn

ging ein Feuer aus und fraß die zweihundertfünfzig Männer, die den Weihrauch dargebracht hatten.“

92

Ist Dürrenmatts Geschichte also auch eine Drohung mit dem Untergang als Strafgericht

Gottes? Führt dies nicht, konsequent zu Ende gedacht, in einen unzureichenden Umgang mit

der Theodizee? Die Widersprüchlichkeit solcher variierender Interpretationen erschwert den

eigentlichen theologischen, vom Autor ursprünglich intendierten Zugang zur Erzählung.

Keiner dieser Deutungen kann der Geschichte gerecht werden. Weil sie sich aber dennoch

festgesetzt haben, sieht sich Dürrenmatt offensichtlich vor die Notwendigkeit gestellt, durch

Korrekturen dem entgegen zu wirken. Durch die Entfernung des 1952 verfassten Schlusses

will der Schweizer Dichter eine verengende Fehlinterpretation seines Werkes vermeiden.

Gemäß Karl-Josef Kuschel ist daher nach der eigentlichen religiösen „Pointe“93

zu suchen,

die trotz des modifizierten Endes den Ausgangspunkt für ein theologisches

Interpretationsbemühen bildet. Diese Pointe rückt in Der Tunnel genau dort in den

Mittelpunkt, wo es um die Erfahrung des plötzlich eintretenden Abgründigen geht, womit

gleichzeitig jegliche Rationalität ad absurdum geführt wird.94

Daraus ergibt sich ein Paradox,

das sich durch den Einbruch des Schrecklichen und den Zusammenbruch aller logischen

88

WEBER, E., Einfall des Schrecklichen (1982), 35.

89

DÜRRENMATT, F., Erzählungen (1980), 98.

90

Vgl. KUSCHEL, K., Spiegel (1997), 198.

91

DÜRRENMATT, F., Erzählungen (1980), 98.

92

Num 16, 31-34.

93

KUSCHEL, K., Spiegel (1997), 199.

94

Vgl. ebd. 199.

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Erklärungen geradezu aufdrängt. Verschärft wird diese Problematik durch die Tatsache, dass

Menschen in dem Versuch scheitern, ihre Welt in den „Schienen“ zu halten, wenn das Irreale

Realität wird. Es existiert von Anfang an hinter den Kulissen. Dürrenmatt lässt die absolute

Plausibilität der Welt im wahrsten Sinne in ein Loch fallen. Das einzige, was todsicher ist, ist

er unausweichliche Absturz. Erst wenn diese Abgründigkeit als eine innerweltlich sich

ereignende Möglichkeit angesehen wird, kann der existentielle Horizont der Geschichte

richtig erfasst und die religiöse Herausforderung derselben wahrgenommen werden. Gott sei

nicht Garant dieser bürgerlich-rationalen Welt, sondern er kann auch ein Abgrund sein. Er

selbst – so Kuschel – sei diese Möglichkeit des Unheimlichen.95

Wie dies für eine Theodizee

zu werten ist, wird noch Gegenstand dieses Kapitels sein. Jedenfalls wendet sich Dürrenmatt

schon früh von einer traditionell-christlichen Weltordnung ab:

„Ich wuchs in einer christlichen Welt auf, die mich später nicht losließ: mein Sohn ist Pfarrer

geworden. Die Menschen, mit denen meine Eltern verkehrten, waren gottesfürchtig, überall stieß ich

auf das Christentum wie auf eine Mauer des Glaubens […]. Die Erwachsenen, die mich umgaben,

praktizierten ein bürgerlich-bäurisches Christentum, nicht verlogen, wie man heute so leicht glaubt. In

den Augen dieser Menschen stimmte die Ordnung noch, in der sie lebten und an die sie glaubten, und

wo sie nicht mehr stimmte, da lag die Schuld im Unglauben. Es war eine gottgewollte Ordnung, die

auch den Staat umschloß, Patriotismus und Christentum standen nicht im Widerspruch zueinander.“

96

Für ihn ist die Wirklichkeit Gottes nicht die geordnete Welt, die nach plausiblen Regeln

funktioniert. Und dieses verschönte Welt- und Gottesbild gilt es, zumindest auf literarischer

Ebene, zu eliminieren: „Es galt gegen die Welt an sich zu protestieren, Gott an sich zu

attackieren.“97

Die Erfahrung von Gott als Abgrund bildet für Dürrenmatt also eine reale

Möglichkeit. Gott ist es, der uns fallen lässt und so stürzen wir denn auf ihn zu. Gott also als

das Schreckliche und als das letzte Ziel zugleich. Der Autor schreibt bewusst provokant und

will beunruhigen, um so den modernen, rational denkenden und damit unreligiösen Menschen

für einen transzendenten Bereich der Wirklichkeit zu sensibilisieren. Durch das Weglassen

des Schlusses wird daher meiner Ansicht nach die Geschichte nicht in religiöser Hinsicht

eingeengt, sondern sie erhält dadurch geradezu eine brisante Offenheit für eine den Kern der

Geschichte nicht verleugnende theologische Deutung. Die meisten christlichen Rezeptionen

verkennen diese originale Intention und entziehen dadurch der Geschichte den „religiösen

Stachel“98

und verharmlosen gleichzeitig dessen „Provokation“.99

Das ist wohl der Grund,

warum sich Friedrich Dürrenmatt Jahre später gezwungen sieht, die Geschichte im wahrsten

Sinne des Wortes offener enden zu lassen. Als er in einem Interview genau darauf

95

Vgl. KUSCHEL, K., Spiegel (1997), 201ff.

96

DÜRRENMATT, F., Stoffe (1981), 203f.

97

Ebd. 313.

98

KUSCHEL, K., Spiegel (1997), 205.

99

Ebd. 205.

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angesprochen wird, antwortet er: „Das würde ich heute streichen. Ich glaube nicht, daß man

es nötig hat, eine moralische Sentenz an eine Erzählung anzuschließen – das ist eine

Abschwächung.“100

Wie ist nun mit dem unerwartet auftretenden Schrecklichen umzugehen? Oder anders gefragt:

Welchen Umgang mit dem plötzlich sich ereignenden Leid können wir aus christlicher Sicht

der Geschichte entnehmen, ohne die von Kuschel angenommene Pointe zu ignorieren? Fest

steht, dass sich der Vierundzwanzigjährige, und damit ist er ein grundsätzlicher Gegenpol zu

Leidenden, vom Abgründigen seltsam angezogen fühlt und regelrecht fasziniert ist. Er bricht

nicht in Panik aus. Mit einer „gespensterhaften Heiterkeit“101

blickt er mit „weit geöffneten

Augen“102

in den Abgrund. Das Schreckliche, das von Anfang an hinter den Kulissen

existiert, ist auf einmal da. Aus der Möglichkeit ist Wirklichkeit geworden. Die von

Dürrenmatt gezeichnete Angstlosigkeit des Studenten scheint zunächst fehl am Platz, doch

verfolgt der Autor damit ein Ziel. Er rückt bewusst die der Furchtlosigkeit vorausgehende

innere Verarbeitung des anstehenden Leids ins Zentrum. Und ein genauer Blick auf sein

Züricher Philosophiestudium eröffnet eine für diese These hilfreiche Analogie. Genau

während dieser zwei Semester an der Universität Zürich freundet er sich auf besondere Weise

mit dem Gedankengut des finnischen Denkers Sören Kierkegaard an.103

In Anlehnung an

Kierkegaards Werk Der Begriff Angst ist das Verhalten des Studenten in einen neuen Kontext

gestellt. Der Vierundzwanzigjährige besteht jenes Abenteuer „sichängstigen zu lernen, damit

er nicht verloren sei, entweder dadurch, daß ihm niemals angst gewesen, oder dadurch, daß er

in der Angst versinkt; wer daher gelernt, sich zu ängstigen nach Gebühr, er hat das Höchste

gelernt.“104

Unter diesem Vorzeichen ist nun auch jene „gespensterhafte Heiterkeit“105

besser

zu verstehen. Der Student habe also demzufolge das Höchste gelernt, nämlich sich auf rechte

Weise zu ängstigen, was ihn schließlich furchtlos macht. Der ursprüngliche Schlusssatz der

Geschichte ist daher kein tröstlicher Satz, sondern „Ausdruck des Kampfes“.106

Und diesen

Kampf wiederum nennt Kierkegaard den „Kampf des Glaubens“107

, den der Philosoph mit

dem Begriff der Möglichkeit assoziiert:

„Wenn aber einer verzweifeln will, so heißt es: schafft Möglichkeit, schafft Möglichkeit, Möglichkeit

ist das Einzige, was rettet; eine Möglichkeit, so atmet der Verzweifelte wieder, er lebt wiederum auf,

denn ohne Möglichkeit kann ein Mensch gleichsam keine Luft bekommen. Unterweilen mag so die

100

DÜRRENMATT, F., Gespräche (1996), 83.

101

DÜRRENMATT, F., Erzählungen (1980), 34.

102

Ebd. 34.

103

Vgl. KNOPF, J., Biographie (2004), 144.

104

KIERKEGAARD, S., Werkausgabe (1971), 341.

105

DÜRRENMATT, F., Erzählungen (1980), 34.

106

WEBER, E., Einfall des Schrecklichen (1982), 36.

107

KIERKEGAARD, S., Werkausgabe (1971), 423.

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Erfindungsgabe einer menschlichen Phantasie hinreichen, um Möglichkeit zu schaffen, aber zuletzt,

d.h. wenn es gilt zu glauben, da hilft nur dies, daß alles möglich ist bei Gott.“108

Dürrenmatts Erzählung kreist um die Möglichkeit des Schrecklichen. Alles ist bei Gott

möglich. Selbst wenn Gott als ein Abgrund erscheint, geht es darum, sich auf rechte Weise zu

ängstigen, im Leid die Furcht zuzulassen und im Schmerz wie Ijob zu klagen. In Der Tunnel

ist das Leid auf engste Weise mit Gott verbunden. Für einen gläubigen Leser mag die

Erfahrung von Gott als Abgrund fremd wirken. Die Tatsache, dass Gott regelrecht „unten“ ist

und eine Abwärtsbewegung auf ihn hin stattfindet, bringt Verständnisschwierigkeiten mit

sich. Doch liegt meiner Ansicht nach genau darin ein Sinnbild für das Paradox der Theodizee.

Diese Frage wird immer eine letzte Grauzone haben – einen letzten Abgrund – bis man im

„Tunnel“ des Fragens dort ankommt, wo man nur noch schweigen kann. Die Semantik des

unbegreiflichen Gottes wird dadurch geradezu radikalisiert, dass Gott unten ist und nicht wie

im geordneten christlichen Weltbild oben. Gott muss, und dabei kann ein christlicher

Rezipient mit Dürrenmatt einer Meinung sein, der Unverfügbare bleiben. Wie viel mehr

unverstehbar wird Gott, wenn er plötzlich ein Abgrund ist?

C. Abschließende Reflexion: Über die innere

Zusammengehörigkeit von Theologie und Literatur

Auch die abschließende Reflexion soll mit einer kleinen Überlegung zu dem Wort „Gott“

beginnen. Auf dem Boden der Literatur wird dieses so gehaltvolle und doch geheimnisvolle

Wort meist inflationär und damit weniger im Sinne Karl Rahners gebraucht. Umso mehr

ragen solche Autoren und Dichter heraus, die im Vollzug ihres Schreibens ein Gespür für das

Wort „Gott“ entwickeln. Sie gehen vorsichtig damit um und beziehen es in die von der

eigenen Lebens- und Leiderfahrung geprägte Schaffensperiode mit ein. Heinrich Heine klagt

und schreit aus der Matratzengruft. Dürrenmatt stellt dieses für ihn abgründige Wort dem

scheinbar geordneten Weltbild gegenüber. Doch wird „Gott“ in diese Welt der Gesellschaft

hineinprojiziert und damit verengt, sodass der Schweizer Autor das Wort, um dessen

eigentlichen Sinn zur Geltung zu bringen, streichen muss. Die am Ende hervortretende

Semantik von „Gott“ ist bei Dürrenmatt und Heine gleich: Dieses Wort kann im Weltbild der

Gesellschaft – so erfährt es Dürrenmatt – nicht als Zeigefinger fungieren. Ebenso birgt es eine

Dynamik in sich, die bewirkt, dass sich Heine durch seine Krankheit hindurch mit dem

Zweifel und mit dem Infragestellen Gottes buchstäblich über Wasser hält, bis er vom

profanen Gebrauch des Wortes zu dessen unbegreiflich-sinnvoller Bedeutung vordringt. Und

108

Ebd. 423f.

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das ist die Gemeinsamkeit. Weil dieses Wort nichts über das Gemeinte aussagt, wird es zum

radikal namenlosen Gegenpol der Immanenz und dadurch zum letzten Woraufhin. Wie steht

es um Georg Büchner? Er konnte Zeit seines Lebens nicht zu jener von Rahner intendierten

und von Dürrenmatt und Heine entdeckten Semantik des Wortes „Gott“ gelangen, weil er als

Arzt den konkreten Schmerz und als Sozialrevolutionär das gesellschaftliche Leid nicht

verarbeiten konnte. Er entwickelt kein transzendentales Gespür für das Wort „Gott“, sondern

beraubt es sogar seines metaphysischen Kontextes und missbraucht es für sein revolutionäres

Gedankengut. Was ist daran auszusetzen? Der Mensch kann nicht leben ohne dauerndes

Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich. Die einzige Ausdrucksmöglichkeit dessen – und

das verachtet Büchner bewusst – ist der Glaube an einen persönlichen Gott, an den ich mich

mit meinen grundlegenden existentiellen Fragen wenden darf. Der Mediziner übersieht diese

seelische Komponente, die immer auf das letzte Woraufhin ausgerichtet ist. Was aber alle drei

Autoren verbindet, ist die Tatsache, dass sie allesamt das Leid artikulieren und es damit

verarbeiten. Es soll nicht weggewischt oder gar beschönigt werden, sondern dem Schmerz

wird laut und schrill Profil gegeben, damit ihm nicht seine bleibende individuelle Bedeutung

entzogen wird. Insofern stehen Literatur und Theologie in einem korrelativen Verhältnis. Die

traditionellen, in der Theologie immer wieder vertretenen Lösungsansätze werden in der

Literatur immer wieder aufgegriffen und gleichsam sprachgewaltig und unüberhörbar

verarbeitet. Heutige Theologie und postmoderne Literatur zeigen, dass es keine zufrieden

stellende Antwort geben kann und lassen dadurch „Gott“ wieder zum letzten Wort vor dem

Verstummen werden.

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