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Werner Jung Schauderhaft Banales
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Werner Jung

Schauderhaft Banales

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Werner Jung

Schauderhaft Banales Über Alltag und Literatur

Westdeutscher Verlag

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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Jung, Werner: Schauderhaftes Banales: über Alltag und Literatur / Werner Jung. - Opladen: Westdt. Verl., 1994

ISBN 978-3-531-12565-7 ISBN 978-3-322-94202-9 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-94202-9

Alle Rechte vorbehalten © 1994 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen

Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann International.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich ge­schützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheber­rechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzun­gen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Christine Huth, Wiesbaden

ISBN 978-3-531-12565-7

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"Der Alltag hatte eine Dimension gewonnen, die mich ins Sinnieren lockte, ... "

(Franz Fühmann)

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Inhalt

Vorwort: Der Alltag ist grau ......................................................... 9

Einleitung: Am eigenen Leib ........................................................ 15

Zur Phänomenologie der Alltäglichkeit ............................... 24

1. Wahrnehmung und Verdrängung ...................................... 24

2. Kritische Destruktion .......................................................... 31

3. Rehabilitation ...................................................................... 39

Anschlüsse und Schnittstellen .................................................... 51

Zur Ontologie des Alltags ............................................................. 71

Die späte Philosophie Georg Lukacs'...................................... 71

Alltäglichkeit und Ästhetik .......................................................... 85

Ein ordentlicher Mörder. Exkurs ........................................... 104

Überleitung: Geschichte, Alltag und Erzählung ................ 109

Wahre Familiengemälde und ganz gewöhnliche Menschen ........................................................ 122

1. Beispiele, nicht ganz zufällig .... ........................................... 122

2. Gellert: Leben lesend lernen ............................................... 130

3. Nicolai: Dialektik der Aufklärung ....................................... 143

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Schlimmer als nichts, nichts Besonderes ............................... 155

Über Flaubert ........................................................................... 155

Alltag und Banalisierung ............................................................... 180

Gustav Freytags "Soll und Haben" ........................................... 180

Stichproben ........................................................................................... 194

1. Von der langen Kälte vor und nach dem

heißen Sommer

Brinkmann - Wellershoff - Born ........................................... 194

2. Sein, Dasein, Anderssein

Das Werk von Hermann Lenz .............................................. 204

3. Winners and Losers. Über Dieter Wellershoffs

"Der Sieger nimmt alles" ....................................................... 216

4 .... die Kulisse für das ordentliche Voranleben

Anmerkungen zu Brigitte Kronauers Prosa ........................ 230

Die Last der Zeit ................................................................................ 245

Literatur ........................................................................................ 256

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Vorwort: Der Alltag ist grau

Der Alltag ist grau. Die Stunden laufen nach Plan ab. Routine und Mecha­nik walten. Er ist reizarm und daher in hohem Maße vorhersehbar. Alles, was geschieht, geschieht mit Notwendigkeit so. Gering sind die Abwei­

chungen. Der Alltag ist mein Alltag und ist jedermanns Alltag. Er ist ebenso all­

gemein wie besonders; alle Welt lebt ihn und damit ich eben auch. Mein

Alltag mag sich von anderen Alltagen abheben, graduell und im Blick auf

spezifische Abläufe, strukturell jedoch ist er gewiß identisch mit ihnen, ty­

pisch für eine bestimmte Schicht oder Klasse oder Gruppe von Menschen einer Zeit - unbestimmt welche.

Der Alltag ist zugleich geschichtsrelevant wie -irrelevant; er wird be­

stimmt durch die Geschichte, ändert sich langfristig mit und in ihr, wälzt sich schließlich um, zugleich jedoch tilgt er diese Momente wieder. Man sieht ihm die Geschichte auf den ersten Blick nicht an, denn sie ist nicht das dominante Merkmal an ihm.

Alltag ist beides, Raum und Zeit. Er spielt sich täglich ab nach einer

Stundenplanregelung (Arbeit - Freizeit, Wachen - Schlafen, Wochentag -Sonntag usw.), und dies ein Leben lang. Alltag bezieht sich auf jedermanns Lebenszeit, meint die Zeitregularien, geknüpft ins Netz von Linearität und

Zyklik. Alltag bezeichnet aber auch einen bestimmten Raum, nämlich den Lebensraum, die Lebenswelt, d. h. die jeweilige Nähe, worin sich der Ein­zelne aufhält und bewegt, in die er eingreift und die er verändert. Der All­tag ist also primäre Welt, die Umwelt in Reichweite, und meine erste Zeiterfahrung. Er ist immer und überall, solange ich lebe und gleich wo ich mich befinde. Ich finde ihn vor, weil ich in ihn hineingeboren werde: dieser Raum und diese Zeit sind mir vorgegeben. Ich habe mich damit abzufin­den.

Der Alltag und das Ich - darunter hat man sich vorzustellen, daß das Ich - jedes Ich - an seinem Alltag einen ersten Außenhalt findet. Seitdem es zu sich Ich zu sagen beginnt, weil Gott tot und andere transzendentale Orientierungsbojen keine vergleichbare Dignität und Autorität mehr aus­strahlen, damit zugleich der Zweifel, metaphysische Schwermut und ganz

besonders existentielle Langeweile in die Welt gekommen sind, bietet der Alltag mindestens so etwas wie eine Reservestellung an. Ordnung, Über-

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sicht, Orientierung. Alltag bezeichnet weiterhin vor allem eine Erfahrungs­

weise. In der vorgefundenen Alltäglichkeit bilden sich spezifische Denkhal­

tungen, bestimmte Grundprinzipien des Bewußtseins heraus, eine Bewußt­

seinsschicht, die "spontan materialistisch" (Lukäcs) reagiert, nah zu den

den Dingen und konkret zu den Verhältnissen sich verhält, dabei borniert

an der Oberfläche klebt und sich weitergehender Reflexionen enthält. Es

funktioniert nach dem Prinzip der Entlastung, der Denkökonomie, die die

Bewußtseinsprozesse strikt an die Leine der vorgefundenen Verhältnisse

gelegt hat. Wo das wiederum zu Bewußtsein kommt, wo die Begrenztheit

reflektiert wird, kann das Gefühl der Entfremdung entstehen - hier ein

Sammelname für alle Formen und Erscheinungen von Krankheiten, Leiden

und Unbehaustheiten. Entlastung und Entfremdung sind konstitutiv für das

Alltagsbewußtsein; Entlastung ist überlebensnotwendig, Entfremdung da­

gegen schärft das Bewußtsein für notwendige Ausbruchsversuche. Der All­

tag braucht Verschärfungen, Ablenkungen, Irritationen, will er danach wie­

der besser ertragen werden.

Alltag und Alltäglichkeit sind immer und überall, an allen Orten und zu

jeder Zeit. Abschaffen lassen sie sich nicht. Man kann nur verschieden da­

rauf reagieren; man kann sich wohl- und aufgehoben fühlen, rundum zu­

frieden, oder zutiefst betrübt über immer dasselbe Einerlei sein. Man ist

mehr oder weniger gesund oder krank. Tödlich sind dagegen die Extreme,

für Körper und Geist. Denn weder läßt sich - um den Preis des Stumpf­

sinns, der völligen Verrohung - der pure Alltag ohne jegliche Abwechslung

aushalten, noch kann man alle Zeit auf der Pointe seines Lebens, im be­

wußten, entscheidenden Augenblick, dem Zeitpunkt ohne Dauer, stehen.

Das Leben spielt sich vielmehr in der Mitte, der Mittellage des Alltags ab -

normativ zugeordnet sind hier: Vertrautheit, Nähe und Übersicht, dazu

dann auch die eingebauten Abenteuer, Ablenkungen, Irritationen.

Aus dem Alltag heraus kommt der Mensch nie, jedenfalls nicht im spe­

zifischen Sinne einer Zeiterfahrung. Immer wieder stellt sich eine neue All­

täglichkeit her, oder die alte wird vielmehr unter veränderten Rahmenbe­

dingungen (Arbeitsplatz- oder Ortswechsel, Veränderungen in den

Beziehungsverhältnissen) reproduziert. Das Andere des Alltags ist nicht in

Zeit- und Raumkategorien faßbar. Es ist der ekstatische Augenblick, jener

Moment, in dem das gewohnte Koordinatennetz zerrissen, Zeit aus ihrem

Verlauf genommen und die Topographie des Raumes gestört ist. Die Zeit

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erscheint in radikalster, äußerster Verknappung auf einen ausdehnungslo­sen Punkt, das Ereignis; der Raum staut sich in den Innenraum des Ich zu­rück. Traum, Rausch und Tod( eserfahrung) können solche ekstatischen Augenblicke sein, Aufhebungen der Alltagszeit, wonach zwar das Leben weitergeht wie bisher, aber dennoch etwas anders geworden ist - radikal

oder auch nur unmerklich. Auf jeden Fall anders. Nietzsche hat das mit den "Grenzpunkten der Peripherie" bezeichnet und Erfahrungen der Grenzüberschreitung gemeint, dionysische Feiern, wovon dann auch Fou­cault gesprochen hat, Exzesse, in denen sich die Alltagswelt "bildet und auflöst."

*

Die Literatur ist farbig, vielgestaltig, noch in der Beschäftigung mit den

Grautönen abgestuft. Unter Literatur verstehe ich hier eine Schrift, deren

Kunstform bereits in der kleinsten Einheit aufscheint: in der Metapher.

(vgl. Ricoeur) Literatur ist Ausdruck, Bild, Erzählung. Sie ist freilich we­der Abbild noch - wie auch immer - Spiegel von etwas, seis der Welt, einer Gesellschaft oder eines Ich. Sie ist vielmehr Figuration, Modellansicht,

Perspektive, die viel mehr und viel weniger aussagt und festhält. Sie ist mehr als das Leben (G. Simmel), nämlich in jedem einzelnen Werk eine Gedächtnisleistung, worin Erinnerungen und Hoffnungen aufbewahrt wer­den. Sie ist nicht das Leben, sondern eine immerwährende Möglichkeit, die nie so gewesen ist, aber doch immer sein könnte. "Aus dem, was ist, Sche­mata des Niegewesenen zu bilden, ist die Aufgabe der Kunst." (N. Bolz)

Literatur und Alltag - das meint soviel: Literatur vom und über den All­tag, Literatur im Alltag. Der Alltag als unsere primäre Lebensweise, als unsere erste und ausgezeichnete Wirklichkeit ist Anlaß, Rohmasse, Materi­al der Literatur (wie Kunst überhaupt). Literatur inszeniert die Dialektik

von Begrenzung und Entgrenzung, von Alltag und Ekstase. Sie nistet in den Falten des Gewöhnlichen, oszilliert rastlos zwischen den Amplituden

einer "endlosen unbeweglichen Gegenwart" (Schopenhauer) und den "un­erhörten Begebenheiten" (Goethe) hin und her. Sie schreibt den Alltag auf,

entlarvender als im wirklichen Leben, schöner oder häßlicher, je nachdem;

oder sie schreibt von ihm weg, gänzlich, hinein in transzendente Höhen und Weiten, in eine exotische Ferne. Sie transformiert und transzendiert

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ihn, entstellt ihn schließlich bis zur Kenntlichkeit - ein Verfahren, das

Günther Anders einmal als "Übertreibung in Richtung Wahrheit" bezeich­

nete. Und sie wirkt damit nicht zuletzt auch im Alltag ihrer Rezipienten,

Konsumenten und Leser weiter; denn sie unterhält und hilft, indem sie vom Alltag abläßt, über denselben hinweg (Muster Trivialliteratur), oder aber

sie verstärkt ihn, klärt über ihn auf und demaskiert ihn geradezu. Die Pa­

lette reicht weit.

*

Dennoch: ich habe keinen Begriff des Alltags, keine Theorie der Alltäg­

lichkeit. Vielmehr versuche ich Annäherungen, Einkreisungen. Bestenfalls ist dabei eine Phänomenologie der Alltäglichkeit entstanden. Einsichten,

die sich ergeben haben aus einer Durchsicht theoretischer Überlegungen, die im Blick auf die Philosophiegeschichte sowie auf neuere (wie ältere)

sozialwissenschaftliehe Ansätze gewonnen worden sind. Wo taucht zum er­

sten Mal Alltäglichkeit als Problem auf, wird als Alltäglichkeit wahrgenom­men und reflektiert? Wie verhält sich die Literatur dazu? Und wie gestaltet sich das Verhältnis von Kunst und ästhetischer Reflexion, von Literatur

und poetologischem Selbstverständnis?

Der Durchsicht theoretischer Ansätze und Modelle ist ein erster großer

Teil meiner Arbeit gewidmet, an den sich allgemeine Überlegungen zum

Verhältnis von Kunst und Literatur zum Alltag anschließen. In einem drit­ten Komplex werden dann exemplarische literarische Beispiele diskutiert,

die, unter völligem Verzicht auf jedwede Annalistik, viel mehr noch unter Verzicht auf eine vollständige literarhistorische Chronologie, das weite Feld literarischer Alltags(re)konstruktionen und -dekonstruktionen auf­

schließen. Und was läßt sich nicht alles in dieser Dialektik des Alltags ver­schriften: seine Positivierung, Demaskierung und Diskreditierung, seine

Tolerierung, Repositivierung '" Beispiele seit dem frühen 18. Jahrhundert,

aus dem mittleren 19. und dem späten 20. Jahrhundert werde ich intensiver besprechen. Wie gesagt: kein Abschluß, keine Ausschließlichkeit, keine

Teleologie.

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Wenn auch politischen Theoretikern wie Praktikern schon längst klar

war, daß man nicht gleichzeitig in einer Gesellschaft leben und frei von ihr

sein kann (so etwa Lenin), so hat sich die Wissenschaft sehr schwer getan

und lange mit der Einsicht gerungen, daß der Wissenschaftler wie jeder an­dere Mensch auch als Beobachter immer zugleich Bestandteil dessen ist,

was er beobachtet. (Luhmann) Einen aparten Standort gibt es nicht - we­der über allen Wassern noch über den Wolken. Mit anderen Worten: ich

stecke immer auch selbst in meinem Beobachtungsfeld. Mein Schreiben,

Deuten und Verstehen anderer, fremder Alltäglichkeiten aus dem theoreti­

schen Feld wie aus literarisch-praktischem Gebiet schließt mir nach und nach meinen eigenen Alltag auf. Ich lerne ihn besser kennen, helle schließ­

lich den blinden Fleck auf, wenn man die alteuropäische Diktion vorzieht,

das Objekt meiner subjektiven Beobachtungen, eben mich und meinen Körper. Man mag das, neueren Theoremen folgend, mit der "Selbst­referentialität" des Schreibens (allen Schreibens) umschreiben: gemeint ist

damit, daß, indem ich schreibe und schreibend über etwas verhandle - man schreibt immer "bei Gelegenheit von" (Lukäcs) -, zugleich mich selbst schreibe. Schreiben ist immer ein Schreiben von und über sich, ein Schrei­

ben zu sich selbst, das sich im Beschriebenen wieder entgegenkommt. Dies

jedenfalls im Sinne des Hegeischen 'auch'; denn es ist dies eine Bestim­

mung des Schreibens - und gewiß nicht die geringste.

Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse hat dieses Problem zum Gegenstand seines Romans "Selige Zeiten, brüchige Welt" (1991) ge­

macht. Er erzählt darin die Geschichte des angehenden Philosophen Leo Singer, von der vertrackten Beziehung Singers zu Judith Katz, vom Hin­

und Hergerissensein zwischen zwei gegensätzlichen Kulturen, der österrei­

chischen und der brasilianischen, schließlich von einer problematischen jü­

dischen Identität. Singer träumt von einem großen philosophischen Werk,

einer Fortsetzung der Hegeischen Philosophie und damit, bekanntlich, vom letztmöglichen höchsten Ausdruck, der eigenen Zeit im Begriff auf die

Schliche zu kommen. Das Leben gilt ihm nichts, die Ethik des Werks dage­

gen alles. Je mehr und je angestrengter er sich jedoch in diese Arbeit ver­

tieft, um so deutlicher bemerkt er, daß, wenn er schreibt und egal was er

schreibt, er nur über sich und seine Beziehung zu Judith fabuliert. Jedwe­

des Schreiben "bei Gelegenheit von" - literaturkundige Leser werden

schnell gewahr, daß Menasse auf ebenso kryptische wie kunstvolle Weise

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die tragische Beziehung des jungen Lukacs zur Künstlerin Irma Seidler

neu- und umgeschrieben hat - kulminiert bei Leo Singer immer wieder im eigenen Lebensproblem. Zahlreiche Essays entstehen so, "intellektuelle

Gedichte" (Lukacs), doch das geplante systematische Werk, die Summe, bleibt Torso und Fragment; Singer verzettelt sich, gerät auf die Abwege

des Alkoholismus, spielt gelegentlich noch den Biertischprofessor in einer Bar, schwätzt und schwadroniert einem jungen Bewunderer die Ohren voll. Doch "das Sollen tötet das Leben", hieß es beim jungen Lukacs, und bei

Menasse weitaus schlimmer noch: es tötet beides, das Leben und das

Werk. Leo Singer kommt weder zum einen noch zum anderen. Was er aber

nicht bemerkt hat, ist, daß sich Judith, die, kokainsüchtig, am Ende völlig

debil, von Leo umgebracht wird, peinlich genau alles notiert hat, was Sin­

ger im Lauf der Zeit in bezug auf seine Philosophie, "Die Phänomenologie

der Entgeisterung. Geschichte des verschwindenden Wissens", geäußert hat. So kann Singer dann doch noch, auf fremde Aufzeichnungen gestützt,

sein Werk zusammenschreiben - über dem Grab einer Toten, seines Le­bens, seiner Liebe. Der Tod als Voraussetzung des Werks. Das Ende der Philosophie. Der Wahnsinn der Vernunft. Die Hybris des Schreibens. Das

Werk, meint Leo Singer einmal, "ist die Aufdeckung der verborgenen Le­benstotalität, das heißt: es ist dem Leben abgetrotzt." Wäre er doch nur bei seinen Essays geblieben!

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