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Werkausgabe| UrsulaFricker Aussersich|...

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Klaus Merz Werkausgabe | Ursula Fricker Ausser sich | Jessica Durlacher Der Sohn | Martin Matter Geheimarmee P-26 | Leserin und Twitterin Manuela Hofstätter im Porträt | Hans Küng Jesus | Henri D. Thoreau Wilde Früchte | Weitere Rezensionen zu Andreas Neeser, Stephen King, Paul Bowles, Dracula, Machiavelli und vielen anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese Nr. 4 | 29. April 2012
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KlausMerzWerkausgabe |Ursula FrickerAusser sich | Jessica DurlacherDerSohn |MartinMatterGeheimarmeeP-26 | LeserinundTwitterinManuelaHofstätter imPorträt |Hans Küng Jesus |Henri D. ThoreauWilde Früchte |Weitere Rezensionen zuAndreas Neeser, Stephen King, Paul Bowles,Dracula, Machiavelli undvielen anderen |Charles LewinskyZitatenlese

Nr. 4 | 29. April 2012

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Montag, 28. Mai 2012, 19.30 Uhrim Theater Winterthur

Lesung mit Henning MankellDer Chronist der WindeEingebettet in das Festival „Afropfingsten“ liest Henning Mankell ausseinem Roman „Der Chronist der Winde“, der die Lebensgeschichtedes 10-jährigen Strassenjungen Nelio erzählt. Anschliessend spricht er

mit Monika Schärer über seine Reisen und sein Engagement in Afrika.

Moderation: Monika SchärerLesung deutscher Text: Regula Grauwiller

Autoren auf der grossen BühneLesereihe

Eintritt: CHF 30.- | CHF 15.- (für Kinder und Jugendliche bis 16 Jahre, Legi bis 30 Jahre)

Service pur:

schnell, zuverlässig geliefertSie können auf Rechnung einkaufeneinfach, mobil von unterwegs bestellen14 Tage Rückgaberecht

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ISBN 978-3-423-1296-40

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©Lina

Ikse

Bergmann

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Inhalt

29. April 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 3

Belletristik4 Klaus Merz: Die Lamellen stehen offen

Klaus Merz: In der DunkelkammerKlaus Merz: FährdienstVonManfred Papst

6 Tonino Guerra: Scheuer Vogel TraumVonAngelika OverathEsther Uebelhart: Die Waschmaschine imKopfVonCharlotte Jacquemart

7 Ursula Fricker: Ausser sichVon Sandra Leis

8 Jessica Durlacher: Der SohnVon Simone von Büren

9 Andreas Neeser: Fliegen, bis es schneitVonMartin ZinggErik Bulatov: PaintingsVonGerhardMack

10 Bram Stoker: DraculaVon Stefana Sabin

11 E-Krimi des MonatsStephen King: Der AnschlagVonChristine Brand

Kurzkritiken Belletristik11 Wolfgang Bächler: Gesammelte Gedichte

VonManfred PapstJoan Didion: Blaue StundenVon Regula FreulerHermann Peter Piwitt: ErbarmenVonManfred PapstJohn Burnside: In hellen SommernächtenVon Regula Freuler

Porträt12 Manuela Hofstätter, Leserin, Rezensentin,

Twitterin, Buchhändlerin«Alle Bücher ummich herum rufen:Nimmmich!»Von KathrinMeier-Rust

Kolumne15 Charles Lewinsky

Das Zitat vonMartin Luther

Kurzkritiken Sachbuch15 Christophe Koller u.a.: Staatsatlas

VonUrs RauberChristina Caprez: FamilienbandeVonKathrinMeier-RustRuth Reichstein: Die Europäische UnionVonUrs RauberRalph Dutli: Das Lied vom HonigVonGeneviève Lüscher

Sachbuch16 Martin Matter: P-26

VonUrs Rauber18 Gian Francesco Giudice: Odyssee im

ZeptoraumPeter Ginter, Rolf-Dieter Heuer, Franzobel:LHCVonAndré Behr

19 Paul Bowles: Taufe der EinsamkeitVonDavid SignerPaul Nolte: Was ist Demokratie?VonMarkus Schär

20 Hans Küng: JesusVonKlara ObermüllerDiana Newall, Christina Unwin: DieGeschichte der MusterVonGeneviève Lüscher

21 Volker Reinhardt: MachiavelliVonAlois Riklin

22 Roberto Saviano: Der Kampf geht weiterVonArnaldo BeniniBarbara Demick: Die Rosen von SarajevoVon Ina Boesch

23 Henry David Thoreau:Wilde FrüchteHenry David Thoreau: DieWildnis vonMaineVonKirsten Voigt

24 Georges Andrey, Alain-Jacques Czouz-Tornare: Der erste Landammann der Schweiz– Louis d’Affry 1743-1810VonTobias KaestliFrançois Baratte: Die Römer in Tunesien undLibyenVonGeneviève Lüscher

25 Christian Seiler: André HellerVonCharles E. RitterbandUwe Schultz: Der König und sein RichterVon Fritz Trümpi

26 Michael Maar: HexengewisperVonKathrinMeier-RustDas amerikanische BuchLawrence Powell: Accidental City. ImprovisingNew OrleansVonAndreasMink

Agenda27 Ken Regan: Nahaufnahmen

VonManfred PapstBestseller April 2012Belletristik und SachbuchAgenda Mai 2012Veranstaltungshinweise

Wir freuen uns, Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, die 50. Ausgabe von«Bücher am Sonntag» vorzulegen. ImOktober 2007 gestartet – feiernwir, ohne Reden und Buffet, ein kleines Jubiläum.Wie sehr Bücherlesentrotz Internet und Gratismedien Konjunktur hat, zeigt unser PorträtvonManuela Hofstätter. Die passionierte Leserin verschlingt nicht nurmehrere Bücher proWoche, sie twittert und bloggt darüber für einewachsende Anhängerschaft in der ganzenWelt (Seite 12).In der Belletristik stellen wir Ihnenmit KlausMerz, Esther Uebelhart,Ursula Fricker und Andreas Neeser (S. 4 bis 9) gleich vier SchweizerAutorinnen und Autoren vor, die auf höchst unterschiedlicheWeise diegrossen Themen des Lebens in Geschichten kleiden: Liebe, Glück,Karriere, Alltag, Krise, Tod. Geschichten, die wir lieben, da wir oft nurin der Literatur so intensiv an ihnen teilhaben.Im Sachbuch-Teil präsentiert Kirsten Voigt einen Zivilisationskritiker,der aktueller kaum sein könnte, obwohl er vor genau 150 Jahren in denUSA verstarb. Der Botaniker und Philosoph Henry David Thoreau ausMassachusetts (1817–1862) lehrte, den Reichtum undNutzen der Naturebenso zu schätzen wie ihre Schönheit. Er war «unorthodox,kompromisslos, individualistisch, radikal» (S. 23). Ein Vorläufer derProtestliteratur und der modernen Ökologie.Wannwerden ihn dieGrünen für sich entdecken?Urs Rauber

DieLiteratur-TwitterinundderersteGrüne

KlausMerz(Seite 4).Illustration vonAndré Carrilho

Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) RedaktionUrs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), KathrinMeier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)Ständige MitarbeitUrs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, BeatrixMesmer, AndreasMink, Klara Obermüller, Angelika Overath,Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AGVerlagNZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 04425811 11, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected]

SUSANNESTURZENEG

GER/SRF

Die Schaffhauser Autorin Ursula Fricker lebt heute inBerlin, wo sie lange in einemBehindertenheim arbeitete.

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Belletristik

4 ❘NZZ amSonntag ❘ 29. April 2012

Klaus Merz: Die Lamellen stehen offen.Frühe Lyrik 1963–1991, 240 Seiten.Klaus Merz: In der Dunkelkammer. FrüheProsa 1971–1982, 308 Seiten.Klaus Merz: Fährdienst. Prosa 1983–1995,311 Seiten. Alle bei Haymon, Innsbruck2011 und 2012. Pro Band Fr. 35.90.

VonManfred Papst

So dicke Bücher von Klaus Merz gab esnoch nie. 300 Seiten und mehr! Bisherhat der oft als Meister der Lakonie, alsVirtuose der Verknappung apostro-phierte Autor stets schmale Bände vor-gelegt, rund zwei Dutzend im Ganzen,Lyrik, Prosa, Essays. Selten kam einerüber 100 Seiten hinaus. Das war auch garnicht nötig. Das Meisterwerk «Jakobschläft» von 1997, das die kecke Gat-tungsbezeichnung «Eigentlich einRoman» trägt und mit dem Merz derDurchbruch gelang, vermass auf 75 Sei-ten einen ganzen Kosmos von Zärtlich-keit und Schmerz, Liebe und Schuld.

Nun aber soll das verzweigte, zumTeil in Kleinverlagen erschienene undvergriffene Œuvre in einer auf siebenBände angelegten Werkausgabe gesi-chert werden. Mit dieser von der öffent-lichen wie privaten Kulturförderungnamhaft unterstützten Edition ehrt derInnsbrucker Haymon-Verlag, bei demMerz seit 1994 unter Vertrag ist, einender bedeutendsten Autoren der Schwei-zer Gegenwartsliteratur. Herausgegebenwerden die Bände von Markus Bundi,

angelegt sind sie als Leseausgaben ohneApparat und Kommentar.

Klaus Merz debütierte 1967 als Lyri-ker. «Mit gesammelter Blindheit» hiesssein beeindruckender Erstling. Damalshatte der junge Lehrer freilich schon ei-niges in der Schublade, das inzwischenin seinen Vorlass im SchweizerischenLiteraturarchiv Bern gewandert ist. Unddiese ab 1963 entstandenen Texte sindein Ereignis. Sie zeigen den Dichter aufdem entschlossenen Weg zu sich selbst.Gewiss, da gibt es noch den einen oderanderen tastenden Versuch, jugendli-ches Pathos, vereinzelt konventionelleReime, Anklänge an Celan und andere.

ÜberraschungenErstaunlich aber ist, wie schnell Merz zusich selber findet, zu der ihm eigenenBildhaftigkeit, der Klarheit in der Tiefe,der Helle in der Melancholie. Zeilen wie«Meine Heiligen stehen / im Dunkeln,Gebete / suchen nach mir und / findennicht heim» oder «Die Lichter sind ge-löscht / die Uhr trägt eine alte Zeit / undblindes Licht webt / über weite Spiegel»sind schon in diesen frühen Versuchenzu entdecken. Und in der Lyrik der fol-genden Jahre finden sich zahlreiche be-glückende Texte. Als ein Beispiel fürviele sei der Sechszeiler «Museum (2)»aus dem Band «Bootsvermietung»(1985) angeführt: «Alltagsgeräte, alterSchmuck. / In den Vitrinen spiegelt sich/ zwischen den Dingen / dein eigenesGesicht. / Am Fenster steht der Wärter/ und betrachtet die Welt.»

Die beiden Prosabände der Werkedi-tion bringen nicht so viele Erstdruckewie der Lyrikband, warten aber eben-falls mit Überraschungen auf: so miteinem Brief, der als einziger Text einesaufgegebenen Briefromans übrig geblie-ben ist, oder mit dem 1976 aufgeführtenDrama «Zschokke-Kalender», das aneinen historischen Bilderbogen erin-nert. Im Band «Fährdienst» erscheintdas Schauspiel «Schonung» (1989), eine«Moritat in sieben Gängen», zum erstenMal. Im Fall des Kurzromans, den wirunter dem 1998er-Titel «Kommen Siemit ansMeer, Fräulein?» kennen, hat derHerausgeber sich entschieden, die um-

fangreichere Fassung «Der Entwurf»von 1982 zu bringen.

Die Wiederbegegnung mit den Bü-chern, die der inzwischen 66-jährigeKlaus Merz zwischen seinem 22. und 50.Lebensjahr publiziert hat, beschert unsein doppeltes und nur scheinbar parado-xes Leseerlebnis. Da ist zum einen dieEigenständigkeit und Geschlossenheitdes Werks, die Arbeit an der oft quälen-den Erinnerung, in der sich doch immerwieder Augenblicke des Glücks erge-ben. Da ist zum andern aber auch eineenorme Vielfalt. In der Kurzprosa derhier nach Gattungen aufgelösten Misch-bände «Bootsvermietung» (1985) und«Nachricht vom aufrechten Gang»(1991) etwa zeigt sich ein abgründiger,bisweilen skurriler Humor, der anTraumprotokolle erinnert und auch dieLust am Drastischen und Absurdennicht ausschliesst. Es sind Texte, indenen die Aporien des Alltags aufge-nommen werden – etwa, wenn die bibli-sche Formel «Der Herr hat’s gegeben,der Herr hat’s genommen» in den Wer-bespruch «Die Bahn bringt’s, die Bahn

WerkausgabeDerAargauer Schriftsteller KlausMerz erhält eine aufsieben Bände angelegteNeuedition.Was bisher erschienen ist, bestätigtden bedeutendenRang des Lyrikers und Erzählers

DieUhr trägteinealteZeit

KlausMerz

Klaus Merz wurde 1945 in Aarau geborenund wuchs als Sohn eines Bäckers inMenziken auf. Seit vier Jahrzehntenwohnt er in Unterkulm. Sein literarischesWerk umfasst zur Hauptsache Gedichte,Erzählungen und Essays. Sein Meister-stück ist der autobiografisch grundierteRoman «Jakob schläft» (1997). Vielfachwurde Merz geehrt. In diesem Jahr wirder für sein Gesamtwerk mit demHölderlin-Preis ausgezeichnet.

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holt’s» überführt wird. Andere Erzäh-lungen wiederum sind von einer bewe-genden Innigkeit. Der Band «TremoloTrümmer» (1988), als einziges Buch vonKlaus Merz bei Ammann erschienen,enthält praktisch nur Perlen, beispiels-weise «Priskas Miniaturen» oder «DieZettersche Madonna».

Innere SpannungKlaus Merz ist ein Autor, der Situatio-nen blitzschnell erfasst, sich aber auchaufsWarten versteht. Zu seinen Qualitä-ten gehört, dass er nichts erzwingt. Erlässt die Geschichten bei sich selbst an-kommen. Dazu müssen sie manchmalwachsen, manchmal schrumpfen. Under hat – auch und gerade an Dunklem,man denke nur an die schwere Behinde-rung des geliebten Bruders Martin, dieeigenen Depressionen wie jene derMutter, die epileptischen Anfälle desVaters, schon früh so vieles erlebt, dasser nichts herbeischreiben, forcieren,übersteigernmuss. Er schöpft aus einemFundus an schönen und schlimmen Ge-schichten. Sie hegt er mit hartnäckiger

Akribie. Dabei geht es ihm, wie er esselbst einmal formuliert hat, um eine«lesbare Art der Nachbarlichkeit unterden Geschöpfen und Dingen».

Die drei bisher erschienenen Bändeder Werkausgabe überzeugen, obwohlwir mit ihnen noch gar nicht bei den be-kanntesten Büchern von Klaus Merz an-gelangt sind: bei den langen Geschich-ten oder kurzen Romanen «Jakobschläft», «Los», «Der Argentinier»,beim Lyrikband «Aus dem Staub», beiden wunderbaren Essays und Betrach-tungen zur bildenden Kunst. Doch eszeigt sich, dass in diesemWerk alles mitallem zusammenhängt und dass KlausMerz – wie vor ihm Gerhard Meier – ei-gentlich immer am gleichen Buchschreibt, am gleichen Teppich webt. EinDichter, ein Verdichter ist er – doch dasheisst nun wiederum nicht, dass er dieSprache immer weiter komprimierenund reduzieren, gar an den Rand desUnverständlichen treiben würde.

Klaus Merz schreibt weder herme-tisch noch enigmatisch. Wer seine Textein der zeitlichen Abfolge ihrer Entste-

hung liest, kommt nicht umhin, einenfaszinierenden Prozess der Klärung undAufhellung zu beobachten, einen Zuge-winn an Gelassenheit auch. Die Motiv-struktur bleibt komplex, der Duktus su-blim musikalisch. Doch da ist keinespürbare Anstrengung mehr. InnereSpannung hingegen sehr wohl. KlausMerz hält den Konflikt zwischen Hoff-nung und Zweifel, zwischen Glück undTrauer aus, ohne auf die eine oder ande-re Seite zu kippen. Damit öffnet er unseinen unverwandten Blick in die Welt –auf jede Gefahr hin. Nichts anderes istdie Aufgabe des Dichters.

Werkausgaben richten sich selten anein breites Publikum. Ihre Auflagenbleiben meist klein. Dieser schönen,einmal mehr mit Vignetten des Burg-dorfer Künstlers Heinz Egger ge-schmückten Edition möchte man indeseine grosse Leserschaft wünschen. DieWelt wäre besser, wenn Robert Walserhunderttausend Leser hätte, hat Her-mann Hesse einmal geschrieben. DerSatz lässt sich durchaus auch auf KlausMerz anwenden. l

Meister der Lakonie:DieWelt wäre besser,wenn KlausMerzhunderttausend Leserhätte (Mai 2011).

AYSEYA

VAS

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Belletristik

6 ❘NZZ amSonntag ❘ 29. April 2012

Tonino Guerra: Scheuer Vogel Traum. EinLesebuch. Hrsg. u. übersetzt von ElsbethGut Bozzetti. Klöpfer &Meyer,Tübingen 2012. 214 Seiten, Fr. 27.90.

VonAngelika Overath

Seine Filme sind Legenden: «Blow up»(Michelangelo Antonioni), «Amarcord»(Federico Fellini), «Nostalghia» (AndreiTarkowski); er schrieb für Vittorio DeSica, die Brüder Taviani, zuletzt fürWim Wenders. Obwohl vielfach preis-gekrönt, wurde er lange nicht so be-kannt wie die Regisseure, für die er ar-beitete. Wenige Tage nach seinem 92.Geburtstag starb Mitte März 2012 dergrosse Drehbuchautor Tonino Guerra inseinem Geburtsort Santarcangelo,einem kleinen Dorf in der Romagna beiRimini. Tonino Guerra war als Texterund Ideengeber nicht nur an mehr als120 Filmen beteiligt, er ist auch AutorvonGedichten, Erzählungen, poetischenReisebildern; zuletzt schrieb er aneinem Alters-Tagebuch. Seine deutscheÜbersetzerin Elsbeth Gut-Bozzetti hatnun ein Lesebuch zusammengestellt,das in chronologischer Folge eine Aus-wahl seiner literarischen Produktionvon den ersten Gedichten bis zu denspäten Notaten versammelt.

Tonino Guerra sah sich immer starkseiner dörflichen Herkunft und seinemromagnolischen Dialekt verbunden.Noch in den schrillsten Kreisen der rö-mischen Filmavantgarde der 1960er-und 1970er-Jahre erschien er in braunen

Cordhosen und Schirmmütze, als«komme er aus herbstlichen Wäldernvon der Hasenjagd» (Natalia Ginzburg).

Zum Schriftsteller wurde der 24-Jäh-rige während seiner langen Inhaftierungin einem deutschen Arbeitslager imnordrhein-westfälischen Troisdorf. Hierbeginnt er, seinen romagnolischen Mit-gefangenen kleine Geschichten in Ge-dichtform zu erzählen. Heimat und Zu-versicht liegen im Klang der vertrautenSprache. Diese «Préim Vérs» aus demLager erschienen 1946 zusammen mitnach dem Krieg entstandener Lyrikunter dem Titel «I scarabocc», Kritze-leien. Mit ihnen wurde er Dichter.«Alles, was mir in Deutschland gesche-hen ist, stand im Licht dieser Erfahrung,dieser Kenntnis des Todes. Nicht nurmein Schreiben, sondernmein Leben alsGanzes.» Im Bewusstsein der Verletz-lichkeit des Menschen wird das elemen-tare, das heile Dasein zum Geschenk.

Die Kindheit auf dem Dorf, «jeneZeit, in der wir uns unsterblich fühlten»,ist eine Quelle der Erinnerung an glück-liches Einssein mit der Natur, in die al-lerdings nun die Signatur der Bedro-hung eingeschrieben bleibt: «Da gibt esSandkuhlen / in denen man im Wasserhockend /Gold suchen kann /mit einemalten Mehlsieb. // Am Himmel / eineTaube, in Schussweite.» Russland (seinezweite Frau ist Russin, Guerra wirdimmer wieder in Moskau sein, um zuschreiben), Reisen nach Georgien undArmenien werden zu neuen Ursprungs-Topographien, in denen Guerra ein ver-lorenes, dörflich-armes Italien wieder-

sieht. Hier reist er in die Zeit zurück.Immer wieder verblüfft er durch denpoetischen Augenblick, etwa wenn derSchnee eine Landschaft mit seiner Sti-ckerei überwirft oder die Augen einerfremden Frau «ein Blau ausgiessen biszum Mund». Guerras Alltag ist mär-chenbereit, durchlässig für Wunder.

Da kommt ein «Engel mit Schnurr-bart», der im Himmel «nichts taugte»,hinunter ins Marecciatal, wo er im Hausdes Jägers die ausgestopften Vögel wie-der fliegen lässt, dass sie «sangen wienie zuvor». Und immer wieder vollziehtsich das Unverhoffte der einverstande-nen Liebe, zwischen zwei Eunuchenetwa oder einem alten Mann, der einegelangweilt-verwöhnte Prostituiertedurch das blosse Erzählen seiner Lie-beserfahrungen entzündet. Poesie istein Mittel gegen die Einsamkeit, gegendie Mutlosigkeit, gegen den Tod. Jeden-falls dann, wenn man an die Magie derWörter glaubt und ein Magier ist derSinnlichkeit, der Synästhesien, der hyb-riden Situationen, in denenWirklichkeitund Phantasie ineinanderkippen wiezwei schöne, alte, vergessene Spiegel. ●

LesebuchEine fesselndeAnthologie erinnert an denwunderbaren italienischenAutorToninoGuerra

Offen fürMärchenundWunder

Esther Uebelhart: Die Waschmaschine imKopf. k&s Edition, Zürich 2012. 113 Seiten,Fr. 25.–.

VonCharlotte Jacquemart

«Der rote Faden zieht sich durch jedesLeben, aber das Rote sieht man oft erstspät.» Der langen Reden kurzer Sinn be-herrscht die Theaterschaffende EstherUebelhart wie kaum eine zweite. «Wohat sie wohl Ehrgeiz und Karrierebe-wusstsein gelassen? / Wohl hat sie Ehr,Geiz und Karriere bewusst sein gelas-sen.» Es ist bereits das dritte Werk seit2005, das die Zürcherin vorlegt. Darinbringt sie erneut in Lyrik, Minidramenund Kurprosa das Schwingen undSchleudern unseres Daseins auf denPunkt. Zusammenbringen, was nicht

unbedingt zusammengehört, gelingtUebelhart nicht nur inhaltlich, sondernauch sprachlich. Wörter und Sätze wer-den gedreht und gewendet, bis man sichals Leser und Leserin in der Sprachakro-batik zu verlieren droht. Die Wörterwerden beim Wort genommen und solange gewaschen, bis sich ihr wahrerSinn offenbart.

Unter dem Titel «Fadegrad» dekli-niert Uebelhart den Faden durch, unter«Miss-Wahlen» die Vorsilbe «miss». Sielässt sich über «unmässig geregelte Ver-ben» aus, erklärt, wieso auch der Ekeleine Daseinsberechtigung hat und wases mit dem Huhn des Hauses oder denSchmetterlingen auf sich hat. Sprach-spiele und Sprachwitz finden sich, aberbei weitem nicht nur.Wer das Glück hat,einer (Bühnen-)Lesung mit der Autorinbeizuwohnen, dem wird noch stärker

bewusst, wie sehr «Die Waschmaschineim Kopf» mit dem Leben spielt. DieKurzprosa handelt von Alltäglichem,Kuriosem, Tragischem. «Wo bitte geht’sans Meer?» fragt die Autorin einmal.«Sempre diritto» natürlich. Jedenfalls inApulien, wo das Werk während einesArbeitsaufenthaltes entstanden ist. Ir-gendwann führt jeder Weg an ein Meer.Uebelharts Texte sind zum Lächeln,Nachdenken, Wiederlesen. Sie stelltFragen, gibt Antworten, aus denen sichneue Fragen ergeben.

Richtet sich die «Waschmaschine»auf den ersten Blick an reifere Erwach-sene, die sich gerne Gedanken zumLeben machen und dennoch die Leich-tigkeit des Seins und des Spiels nichtverachten, so fühlen sich auch Jüngereerstaunlicherweise von diesen wunder-baren Texten angetan. ●

KurzprosaDie Zürcherin EstherUebelhart spieltmitWörtern, bis sich ihrwahrer Sinn offenbart

AlleWege führenzumMeer

Tonino Guerra(links) schrieb fürmehr als 120 FilmeDrehbücher; hier 1978mit MichelangeloAntonioni.

ANGELO

PALM

A/A3/CONTRASTO

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29. April 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 7

Ursula Fricker: Ausser sich.Rotpunkt,Zürich 2012. 256 Seiten, Fr. 26.–,E-Book 20.40.

Von Sandra Leis

Sie ist eine Spezialistin für Extremsitua-tionen: In ihrem Debüt «FliehendeWas-ser» (Pendo, 2004) porträtierte UrsulaFricker einen Familienvater, der seineHomosexualität mit allen Mitteln unter-drückt, als Gesundheitsfundamentalistauch Frau und Kinder in eine gefühlsar-me Isolation treibt und schliesslich anseinem eigenen Anspruch zugrundegeht. Im Zweitling «Das letzte Bild»(Rotpunkt, 2009) erzählte sie von einemFotografen, der sich plötzlich aus demStaub macht, seine Frau und sein fünf-jähriges Mädchen zurücklässt und zehnJahre später von der halbwüchsigenTochter aufgesucht und zur Rechen-schaft gezogen wird. Der Versuch, ein-ander näher zu kommen, scheitert kläg-lich und endet in einer Katastrophe.

In «Ausser sich», ihrem jüngstenRoman, fokussiert Fricker auf ein Archi-tektenpaar um die vierzig. Katja und Se-bastian arbeiten viel und hart und sindauf Monate hinaus verplant. Sie leben inBerlin, sind glücklich und stellen sichder drängender werdenden Frage nacheinem Kind. Sebastian will, Katja wehrtab, bis sie merkt, dass sich sein Kinder-wunsch «klammheimlich in einen eige-nen Wunsch verwandelt» hat. AmAbend will sie ihm sagen, dass sie sichein Kind vorstellen kann.

Doch Abend wird es nicht mehr. Je-denfalls nicht so, wie es aller Voraus-

sicht nach hätte Abend werden sollen.Es ist Samstag, die beiden sind unter-wegs Richtung Norden, um Freunde zubesuchen. In brütender Hitze geratensie in einen Stau, Katja steigt kurz aus,und als sie zu ihrem Auto zurückkehrt,hängt Sebastian leblos im Sicherheits-gurt. Er hat eine Hirnblutung erlitten,und von einer Sekunde zur nächsten istnichts mehr wie zuvor.

Sofort werden Sebastian und KatjaTeil «dieser bis zum Äussersten getrie-benen Technik der Lebensrettung. Ein-mal in Gang gesetzt, konnte niemand sieanhalten. (…) Das Machbare musste ge-macht werden. EinenMoment lang hoff-te ich, die Kurve würde abbrechen, dieZahlen würden fallen. Nein, nicht!»Katja will Sebastian am Leben erhalten,obwohl sie weiss, dass er nie mehr derMann sein wird, den sie geliebt hat.

Weder tot noch lebendigNach dem Schlaganfall ist Sebastianschwer behindert. Er lernt zwar wiedersitzen und gehen, er gestikuliert und äu-ssert sich mit Lauten, aber Katja weissnicht, ob er sie erkennt, ob er so etwaswie einen freien Willen hat und bei-spielsweise entscheiden kann, ob ernicht mehr essen will. Doch sie gibtnicht auf, meldet sich krank und pflegtihren Mann bis zur Erschöpfung. Siewill ihn zurückholen ins Leben, nimmtihn nach dem Klinikaufenthalt nachHause, sucht schliesslich ein Pflege-heim, da sie ihre Arbeit wieder auf-nehmen muss. Es gibt keine Chance aufBesserung, Sebastian ist weder tot nochlebendig – und dieser Zustand verun-möglicht es Katja, ihn loszulassen.

Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausengeboren und seit vielen Jahren in derNähe von Berlin wohnhaft, hat langeJahre in einem Kreuzberger Behinder-tenheim gearbeitet. Sie kennt Leid ausnächster Nähe und weiss, welche Über-forderung solch eine menschliche Tra-gödie für jeden Angehörigen bedeutet.Im Roman «Ausser sich» ist Katja dieHauptfigur. Aus der Sicht dieser Ich-Er-zählerin erfahren wir, was mit Sebastianund ihr geschieht, wie sie von anderenbedauert wird und wie isoliert sie ihrenquälenden Gedanken und ihren Erinne-rungen an die gemeinsame Vergangen-heit ausgeliefert ist.

Katja ist gefangen in ihrem Schmerz– das zeigt Ursula Fricker in aller Offen-heit, ohne dabei voyeuristisch zu sein.Der Roman rührt an ein Tabu und schil-dert in einer schnörkellosen, klarenSprache, wie Katja sich auch physischvernachlässigt, ihre Kraft ganz auf Se-bastian ausrichtet und darob gelegent-lich sogar ihren geliebten Kater vergisst.Dieser ist schwer krank und müsste lautTierarzt eingeschläfert werden. Katjazögert diesen finalen Schritt hinaus, ob-wohl sie weiss, dass es egoistisch ist, ihn«unnötig leiden zu lassen, nur weil manzu feige ist, eine Entscheidung zu tref-fen», wie Sebastian wenige Stunden vorseinem Hirnschlag meinte. Ist eine sol-che Haltung auch auf die menschlicheExistenz übertragbar? Katja muss sichdieser Frage stellen.

Glück im GewöhnlichenSie vereinsamt, und selbst nahe Ver-wandte und Freunde spielen nur eineNebenrolle: Die Mutter reist ab und zunach Berlin und kann sie nicht trösten.Als Katja sich eines Tages aufrafft undihre einstige WG-Freundin besucht,spürt sie bald, dass der Haussegen imidyllisch gelegenen Bauernhaus schiefhängt. Kurze Zeit später erfährt sie, dassdie Freundin gegen eine Jüngere ausge-tauscht wurde. Schliesslich ist da nochThomas, ein Studienfreund, dem Katjaund Sebastian einst in Südfrankreich ge-holfen haben, einen alten Kutter flottzu-machen. Seither schippert Thomas, derZweisamkeit mit unnötiger Kompro-missfindung gleichsetzt, über die Welt-meere und meldet sich nur selten. ImUnterschied zu ihm suchte Katja ihrGlück im Gewöhnlichen und sagt: «Ichversuchte mit aller Kraft, mir nicht vor-zustellen, wie grossartig normal unserLeben sein könnte.»

Normalität wird es für Katja nie mehrgeben. Was bleibt, ist dasWissen um dieFragilität des Lebens und die Gewiss-heit, Teil einer starken Liebe zu sein.Einer Liebe, in der Tugenden wie Treueund Verbindlichkeit eine grosse Bedeu-tung haben und die über den Tod hinauswährt. Darin steckt vielleicht so etwaswie Trost. ●

RomanWas passiert, wenn plötzlich nichtsmehr ist wie zuvor?Die in Berlin lebendeSchweizerinUrsula Fricker schreibt aus eigener Erfahrung: über dieWürde des Lebens und denmedizinischenMachbarkeitswahn

SterbenaufRaten

Nach der Hirnblutungihres Partners wirdfür die ProtagonistinKatja im neuenRoman von UrsulaFricker alles anders.

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Belletristik

8 ❘NZZ amSonntag ❘ 29. April 2012

Jessica Durlacher: Der Sohn.Aus demNiederländischen vonHanni Ehlers.Diogenes, Zürich 2012. 416 S., Fr. 38.90.

Von Simone von Büren

Jessica Durlacher ist die Tochter einesAuschwitz-Überlebenden. Die Ausein-andersetzung mit ihrer jüdischen Her-kunft und dem Schicksal ihrer Vorfah-ren prägt die Geschichten, die die Nie-derländerin über das Heute erzählt –auch in ihrem neusten Roman «DerSohn», der Rache, Opfer-Täter-Rollenund die Ohnmacht angesichts von Ge-walt thematisiert.

Ein Leben lang hat Sara SilversteinsVater seine Familie mit «besessenerSorge» zu beschützen versucht. Die Er-fahrung des Kriegs und der Tod seinerEltern im Konzentrationslager prägendie Sicht des Geschichtsdozenten aufdie Welt. Das hat seine ältere Tochter,die vierzigjährige Ich-Erzählerin vonDurlachers Roman, oft gestört. Doch alser unerwartet an den Folgen eines Un-falls stirbt, vermisst Sara dieses Gefühldes Beschütztseins. Und schon baldstossen ihr tatsächlich schrecklicheDinge zu: Sie wird von einem Unbe-kannten angegriffen und fast vergewal-tigt, ihr neunzehnjähriger Sohn Mitchverpflichtet sich bei den US-Marines,ihre Familie wird nachts von maskiertenMännern überfallen.

Über GenerationenAls die Polizei mit ihren Ermittlungennur langsam vorankommt, nimmt Saradie Sache selber in die Hand und ent-deckt, dass die Täter der Gegenwart Teileiner Hass-Geschichte sind, die bis inden Zweiten Weltkrieg zurückreichtund sich dort mit dem Leiden ihres Va-ters verbindet. Schreibend verarbeitetsie die traumatischen Ereignisse in einerkalifornischen Villa, in die sie mit ihrerFamilie nach den Überfällen zieht.

Indem sie hin und her wechselt zwi-schen überlieferten Erinnerungen andas Schicksal von Saras Vorfahren imAmsterdam der 1940er-Jahre und Sarasprivilegiertem Leben als Frau eines er-folgreichen Filmproduzenten im Hol-land der Gegenwart, zeigt Jessica Durla-cher auf, wie Ängste und Verletzungenvon Generation zu Generation übertra-gen werden und Gefühle des Bedroht-seins Mitglieder einer Familie trotz un-terschiedlicher Lebensumstände glei-chermassen quälen können. In der Er-fahrung von Gewalt und Ohnmacht, inder Rolle des Opfers, ist Sara ihremVater auf einmal sehr nahe. Das ist inte-ressant.

Und auf die Beschreibung emotiona-ler Zustände und Zusammenhänge ver-

steht sich Durlacher auch gut. Zwar läuftder eine oder andere selbstreflexive Ex-kurs ins Leere und wäre – zusammenmit Füllwörtern und umständlichen For-mulierungen im Stil von «Die Angst vordem Tod ist zu dieser Stunde ganz inihrem Element» oder «schmerzlicherRealismus erfasst den Raum» – einemstrengeren Lektorat zum Opfer gefallen.Aber die fünfzigjährige Autorin be-schreibt psychologisch differenziert dieAuswirkungen der Gewalt auf Saras Per-sönlichkeit und Wahrnehmung und aufihren Körper, der «zu einem Kind wird,das beschützt werden will». Aus derPerspektive der Mutter, die nun ihrer-

seits «überall Unheil» sieht, schildertsie den leidenschaftlichen Idealismusdes Sohnes und die zerbrechliche Kör-perlichkeit der Teenager-Tochter.

Nun begnügt sich Durlacher, die mitdem niederländischen Autor Leon deWinter verheiratet ist, aber nicht mitdiesem emotionalen Bezug zwischenden Gewaltopfern in verschiedenen Ge-nerationen. Sie konstruiert darüber hin-aus eine mehr oder weniger schlüssigeKrimihandlung, in der sie den Täternder Gegenwart politische Motive zu-schreibt. Sara und ihre Familie werdennicht Opfer willkürlicher Übergriffe,sondern gezielt antisemitischer Atta-cken. Beim Angriff im Wald reisst derTäter – «das Tier», wie Sara ihn nennt Ωihr «das Goldkettchen mit dem hebräi-schen Symbol Chai als kleiner goldenerAnhänger» vom Hals. Und der Haupttä-ter beim Einbruch – tatkräftig unter-stützt vom Sohn der ghanesischen Putz-frau ohne Aufenthaltsbewilligung – ent-puppt sich als Neonazi, der aufgrundseiner Herkunft in der Täterrolle genau-so gefangen zu sein scheint wie Sara inihrer Opferrolle als Jüdin.

Krieger für die gute SacheZur Rache ist sie allerdings ebenso unfä-hig wie ihr Vater, der in einem entschei-dendenMoment nicht schiessen konnte,wie sie über Briefe und späte Geständ-nisse erfährt. Wie er ist sie also aufeinen Rächer angewiesen, der Gerech-tigkeit bringt. Diese Rolle fällt Mitch zu,der Sara schon bei der Geburt wie ein«ruhender Krieger» vorkam und dersich nun bei der Armee verpflichtet, dieEuropa von Nazi-Deutschland zu befrei-en half. Als US-Marine will er in Afgha-nistan und im Irak die Guten von denBösen befreien und übt an der familiä-ren Heimatfront kurzerhand Selbstjus-tiz. Nach ihrer anfänglichen Verurtei-lung seines «verrückten» Entscheidsscheint Sara ihn nun dafür zu bewun-dern und nennt ihn den, «der uns rettenwird». Der niederländische Titel desRomans lautet denn auch «De held»(«Der Held»).

Saras Blick auf die Welt scheint ver-zerrt, ihre Vorstellung von Gut und Böseschwarz-weiss, ihre Lösungsansätzesind zu einfach. Entsprechend grosssind die Ratlosigkeit und Irritation, dieDurlachers Roman auslöst. Er lässt dieLeserin mit den Fragen zurück, die dieErzählerin nicht stellt: Legitimiert dasUnrecht, das seiner Familie geschah,Mitchs Umwandlung in eine «anonymeKampfmaschine»? Soll man Gewalt mitGegengewalt begegnen? Kann das Opferseine Rolle nur ablegen, indem es selberzum Täter wird? Macht Rache denSchmerz erträglicher, und kann man siedelegieren? ●

Roman JessicaDurlacher stellt in ihrem autobiografisch geprägtenKrimi beklemmende Fragen

WennderEnkelzumRächerwird

Die Autorin Jessica Durlacher, Tochter von Auschwitz-Überlebenden,verarbeitet in ihrem Roman jüdische Schicksale.

KICKSMEETS/HOLL

ANDSEHOOGTE/LA

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29. April 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 9

BERNDBORCHARDT

RusslandGesellschaft imÜbergang

Eine U-Bahn-Station in Moskau: Passanten schauenauf ihre Handys, andere kommen die Treppe hoch undwollen in die Stadt. Wären da nicht die Ladenschilderam linken Bildrand und die grossen weissen Buch-staben in kyrillischer Schrift, würden wir kaumerkennen, dass die Szene in Russland spielt. DieseWorte, «Unsere Zeit ist gekommen», geben demalltäglichen Bild einen programmatischen Charakter.Wo die Menschen herkommen, wissen wir genausowenig, wie wir ihre Welt kennen. Dieses Dazwischenkennzeichnet für Erik Bulatov das Russland von heute.

Die Betrachter zählt er dazu. Deshalb spricht er siedirekt an. Mit seiner Verbindung von alltäglichenSujets und abstrakten Verfahren, von illusionistischerDarstellung und Schrift ist der 1933 geborene, heutein Paris lebende Maler seit Anfang der siebzigerJahre einer der einflussreichsten Künstler Russlands.Das Werkverzeichnis bietet erstmals einen Überblicküber sein vielschichtiges Schaffen. Gerhard MackErik Bulatov: Paintings. Catalogue Raisonné, Bd. 1.Hrsg. Matthias Arndt. Wienand, Köln 2012.304 Seiten, 243 Abbildungen, Fr. 63.90.

Andreas Neeser: Fliegen, bis es schneit.Haymon, Innsbruck 2012. 206 Seiten,Fr. 28.90.

VonMartin Zingg

Lange Zeit sieht alles gut aus, aufge-räumt und heiter. Simon kümmert sichum Computer und klärt hoffnungsloseEDV-Fälle, Isabelle ist Wohnberaterin ineinem Möbelhaus, und das mit Leiden-schaft und Erfolg. Das Paar scheintglücklich und weiss auch, wie es weiter-gehen soll. Erst muss noch ein Haus her,aber das ist kein Problem. Der Finanzie-rungsplan der Bank liegt vor, und dass esdas Haus von Tante Ha sein wird, gilt alsausgemacht. Und dann fehlt noch einKind, aber auch das ist machbar. EinenNamen hat es längst: Manuel. Und selbsteinige Erziehungsmaximen hat sich diekünftige Mutter bereits zurechtgelegt.

Fixe VorstellungenDas kann nicht gut gehen, und tatsäch-lich lässt Andreas Neeser diese Idyllenicht lange leuchten. In seinem jüngstenRoman, «Fliegen, bis es schneit», er-zählt er von einem Paar, das vordergrün-dig an seinen allzu fixen und gradlinigenVorstellungen vom gemeinsamen Lebenscheitert. Bei genauerem Hinsehen je-doch ist alles viel tückischer, als es zu-nächst den Anschein macht.

Eben noch hat Isabelle Meister fürdas Ehepaar Klapproth eine Einbaukü-che entworfen, als sie zum wöchentli-chen Besuch bei Tante Ha, eigentlichTante Johanna, aufbricht. Mit der Bahnwird sie dorthin fahren, aber der Herrauf dem Bahnsteig, der ihr schon eineWeile aufgefallen ist, wird ihr an diesemNachmittag einen Strich durch dieRechnung, ja: durch alles machen.

Verfolgt vom StalkerWas zunächst nach einer eher peinli-chen Anmache aussieht, wird sich inden folgenden Tagen schnell auswach-sen zu einer handfesten und qualvollenBelagerung durch den Herrn mit demsilbern glänzenden Haar. Ziemlich ener-gisch, mit einem giftigenMix aus furcht-erregend esoterischem Vokabular undbutterweichem Charme drängt er sicherst in ihr Zugabteil und dann in ihrLeben, tischt eineMitleid abrufende Ge-schichte auf, und Isabelle, die sich zwarentschieden von ihm abwendet, hat aufder kurzen Bahnfahrt bald zu viel vonsich verraten. Herr Obermeier («Oberwie Kellner, Meier wie Müller», wie ergerne sagt) entpuppt sich als veritablerStalker. Er ist einer, den nichts und nie-mand vom Objekt seiner Begierde fern-halten kann. Er taucht plötzlich auf, ruftan, lädt zu einem Treffen ein, erzähltvielversprechend, er habe wichtige In-formationen, und Isabelle kann nurnoch davonrennen. Sie wird ihn abernicht los, gerät aus dem Tritt und tau-melt in eine Katastrophe. Andreas Nee-ser hat sich hier etwas Ungewöhnliches

und Vertracktes vorge-nommen, dasauch sprachlich nicht ohne Risiken ist.Seine Hauptfigur Isabelle nämlich wirddurch das plötzliche Auftauchen vonMichael Obermeier in innere Turbulen-zen gerissen, die mit der Person desStalkers am Ende wenig, mit vielen un-geklärten Fragen ihrer Existenz abersehr viel zu tun haben. Angstmomenteaus Kindertagen stehen ihr plötzlichwieder vor Augen. Die dünneHaut einesklaren Lebensprogramms droht zu rei-ssen.

Isabelle kann sich das alles nicht er-klären, sich selber nicht und noch viel

weniger Simon, der sich um Verständniszwar bemüht, die inneren Abgründe sei-ner Partnerin aber auch nicht ansatz-weise erahnen kann. Die Beziehung, diedas Paar mit einer Reise nach Paris nocheinmal ins Abenteuerliche wendenwollte, implodiert beinahe lautlos.

Isabelle schleudert sich aus allem he-raus, in den Süden, in eine sichere Kälte.Andreas Neeser deckt nichts mit Erklä-rungen zu, und selbst dort, wo die Spra-che bisweilen etwas ins Flirren gerät,bewahrt seine Geschichte eine Dichteund Dringlichkeit, der man sich nichtentziehen kann. ●

RomanDer Erzähler AndreasNeeser überraschtmit einemdichten Beziehungsdrama

Implosioneiner Idylle

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Belletristik

10 ❘NZZ amSonntag ❘ 29. April 2012

Bram Stoker: Dracula.Aus demEnglischen vonUlrich Bossier. Reclamjun., Stuttgart 2012. 604 Seiten, Fr. 35.40.Bram Stoker: Dracula.Hrsg. undübersetzt von Andreas Nohl. Steidl,Göttingen 2012. 590 Seiten, Fr. 38.40.

Von Stefana Sabin

Die Harpyen der griechischen Mytholo-gie gelten als Vorfahren jener Gestalten,die seit der Romantik die Literatur zu-nehmend bevölkern: der Vampire. Essind unheimliche Wesen, die tot sindund doch lebendig und deren Gelüsteund Gewohnheiten Furcht und Schre-cken erregen. Coleridges Geraldine(«Christabel», 1800) und Byrons Augus-tus Darvell («Fragment einer Geisterge-schichte», 1816) sind die ersten, nochschüchternen literarischen Vampire;ihnen folgten 1872 Carmilla als selbstbe-wusste lesbische Vampirin in der gleich-namigen Erzählung von Sheridan LeFanu und schliesslich 1897 jener edel-böse Vampir, der zum Prototyp wurde:Graf Dracula. Er ist die Hauptfigur imersten Vampirroman der Literaturge-schichte, dem Roman «Dracula» vonBram Stoker.

Vampirlegenden aus UngarnStoker, der am 8. November 1847 beiDublin geboren wurde und am 20. April1912 in London starb, war Justizbeamterin Dublin, bevor er sich als Theaterkriti-ker einen Namen machte und Direktordes Lyceum Theatre in London wurde.In den Londoner Theater- und Künstler-kreisen begegnete er dem Kriminal-schriftsteller Arthur Conan Doyle, mitdem er die Vorliebe für Schauerge-schichten teilte, und dem ungarischenOrientalisten Arminius Vámbéry, derihn mit Vampirlegenden unterhielt.

Vámbéry erzählte Stoker von einemwalachischen Fürsten aus der zweitenHälfte des 15. Jahrhunderts, Vlad III.Weil sein Vater Mitglied im Drachenor-den gewesen war, führte Vlad einenDrachen im Wappen und wurde «Dra-culea» genannt, was «Der Teuflische»heisst, von rumänisch drac «Teufel»(was seinerseits auf draco, lateinisch«Drachen», mittellateinisch «Teufel»zurückgeht). In der Legende wurdeVlad, der seine Gegner durch Pfählunghinrichten liess, zu einem blutrünstigenHerrscher, dessen Name in der ungari-schen Version, die Vámbéry Stoker er-zählte, als Dracole überliefert war. Sto-ker veränderte diesen Namen für seineFigur des Grafen Dracula nur geringfü-gig und siedelte sie in den undurch-dringlichen Wäldern der Karpaten inTranssylvanien an.

Im Roman bleibt Graf Draculas Her-kunft eher unklar, was ihm eine geheim-nisvolle Aura verleiht. In London ver-kehrt er in der gehobenen Gesellschaft;

dort lernt er den jungen RechtsanwaltJonathanHarker kennen und lädt ihn aufsein Schloss in Transsylvanien ein, umsich in einer geschäftlichen Angelegen-heit beraten zu lassen. In dem abgelege-nen Schloss wird Harker Zeuge, wie seinGastgeber in einem Sarg schläft, sichnachts in eine Fledermaus zu verwan-deln scheint und durch gezielte Bisse indie Halsschlagader Nichtsahnenden dasBlut aussaugt – und sie damit in dieEwigkeit befördert. Zwar gelingt es Har-ker, aus dem Schloss zu fliehen und nachEngland zurückzukehren, aber dort triffter erneut auf Graf Dracula, der seinenUmtrieben nachgeht und es sogar aufseine eigene Verlobte absieht. Mit Hilfevon Dr. Van Helsing, der nicht nur medi-zinische, sondern vor allem okkultisti-sche Kenntnisse besitzt und weiss, wieman Vampire mittels Knoblauchblüten,Kruzifix und Pfahl bezwingt, gelingt esHarker, Dracula immermehr in die Engezu treiben und ihn ein für alle Mal zuerledigen.

So siegen Anstand und Gesittungüber dasWilde und Triebhafte, der rich-

tige Glaube über die pervertierte Bigot-terie. Denn der Roman inszeniert einenKampf zwischen Gut und Böse, der

nicht zufällig mit allerlei christlicherSymbolik – Kreuzen, vor deren An-blick Dracula die Flucht ergreift,Hostien, die ihm den Sarg als Ru-hestätte entweihen, und ähnli-ches mehr – ausgestattetwird. Die Steigerung aber-gläubischer Motive ins Gru-selige führt manchmal zuunbeabsichtigter Komik,aber die Mischung ausSchauerromantik undNaturalismus verleihtder Handlung eineSpannung, die durchdie Erzähltechnik un-terstützt wird.

Denn die Gescheh-nisse um Graf Draculawerden aus Tagebuch-eintragungen undBriefen der Beteiligtenzusammengefügt, dieunmittelbar nach denEreignissen geschrie-ben wurden und alsohöchste Authentizitätbeanspruchen – über-haupt fungiert derRoman,in den kleine kulturge-schichtliche Exkurse undethnologische Überlegun-gen eingeflochten sind, als

Tatsachenroman. Es ist nichtzuletzt diese Pseudoglaubwür-

digkeit, welcher der Roman sei-nen Erfolg verdankt.Dieser Erfolg setzte erst langsam im

Kielwasser der schwarzen Romantik ein,und nicht zuletzt dank des Films: Durchdie filmische Erzählung von Fritz Mur-nau 1921 gelangte Dracula in die populä-re Kultur und erhielt durch Bela LugosisDarstellung in der Verfilmung von TodBrowning 1931 sein seitdem markantesGesicht.

Gelungene ÜbersetzungenStoker selber starb in finanzieller Armutund erlebte nicht mehr, wie sein Romanzum Vorläufer einer literarischen Gat-tung und seine Figur zum Prototypeneiner verzweigten Vampirgenerationwurde. Zu Stokers 100. Todestag liegtnun sein Roman in zwei neuen Ausga-ben vor: Im Steidl Verlag ist eine Pracht-ausgabe mit der Übersetzung von And-reas Nohl, in der Reclam Bibliothek dieÜbersetzung von Ulrich Bossier er-schienen. Beide Übersetzungen sindflüssig, die stilistischen Unterschiedegering. Nohl ist genauer im Detail undarbeitet die idiomatischen Charakteris-tika der verschiedenen Tagebuchschrei-ber geschickt aus, so dass die Vielstim-migkeit des Originals besonders deut-lich wird. Nun hat Dracula eine schöneneue deutsche Diktion! ●

KlassikerZum 100. Todestag seines Erschaffers ist Dracula, derVampir aller Vampire, in zweineuenÜbersetzungen auferstanden

Biss indieEwigkeit

LEEMAGEPorträt von Fürst Vlad

III. (1431–1476), demVorbild fürBram StokersDracula.

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29. April 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 11

KurzkritikenBelletristik

Stephen King: Der Anschlag.Heyne,München 2012. 1055 Seiten, Fr. 36.90,E-Book 26.40.

Es gibt Autoren, mit denenman sichgerne brüstet, wennman zu ihren Le-sern zählt. Und es gibt andere, die lässtman lieber unerwähnt: weil es einemetwas peinlich ist, dass man sie liest.Stephen King, berüchtigt als Horror-Grusel-Vielschreiber-Autor, gehört zuLetzteren. Zu Unrecht – wie er spätes-tens mit seinem neusten Thriller «DerAnschlag» beweist. Es ist bislang seinambitioniertestesWerk. Und wohlsein bestes.

Was wäre, wenn man eine magischeTreppe entdeckte, die hinab führte indie Vergangenheit, genauer: ins Jahr1958, zum 9. September, 11.58 Uhr? Mankönnte, wie dies der Imbissbuden-betreiber Al Templeton zunächst tut,im Jahr 1958 zum Spottpreis Hack-fleisch einkaufen und in der Gegen-wart die günstigsten Hamburger vonganz Amerika anbieten. Oder mankönnte fünf Jahre in der Vergangenheitverweilen und die Welt verändern:Indem man am 22. November 1963 inDallas einen gewissen Lee HarveyOswald daran hinderte, den Präsiden-ten John F. Kennedy zu erschiessen.

Nur: Die Zeit ist gnadenlos, und dieVergangenheit ist unerbittlich – sielässt sich nicht gerne verändern. AlTempleton erkrankt und ist zuschwach, um gegen Lee HarveyOswald anzutreten. Darum schickt erseinen Freund Jake Epping, einen Eng-lischlehrer, zurück in die Vergangen-heit, in der dieser noch nicht einmalgeboren war. Mit dem Auftrag, heraus-zufinden, ob Lee Harvey Oswald ent-gegen allen Verschwörungstheorienein Einzeltäter war, und den Anschlagauf John F. Kennedy zu verhindern.Jake Eppings Reise wird zum Wett-kampf gegen den Lauf der Zeit, zueiner Schlacht gegen das Böse imGrossen wie im Kleinen, in der erselbst zum Mörder und zum Opferwird, zum Helden und zum Verlierer.Gleichzeitig hat King in seinen akri-

bisch recherchierten Roman eineLiebesgeschichte eingewoben,die einem berührt.

Vor 40 Jahren habe er diesesBuch schon schreiben wollen,sagte King in einem Interview.Damals habe er es nicht ge-

schafft. Jetzt ist es ihm ge-lungen. Man liest dasBuch nicht bloss – manlebt in der Geschichte.Denn Kings Qualitätals Erzähler liegtdarin, dass man ihmjedes Wort glaubt undseine Figuren einennicht loslassen, bis zurletzten Seite nicht.Man darf jetzt also un-geniert zugeben, dassman ihn gerne liest. ●VonChristine Brand

E-Krimi desMonatsKampf gegenKennedysTod

Wolfgang Bächler: GesammelteGedichte. S. Fischer, Frankfurt 2012.396 Seiten, Fr. 24.40, E-Book 22.40.

Das lyrische Werk des deutschenSchriftstellers Wolfgang Bächler (1925–2007) ist schmal, aber gewichtig. Als18-Jähriger wurde der gebürtige Augs-burger als Soldat zur Wehrmacht einge-zogen und 1944 schwer verwundet.Nach dem Krieg studierte er in Mün-chen und nahm als jüngstes Mitglied ander 1. Tagung der Gruppe 47 teil. Von1947 an publizierte er Lyrik und Prosa,oft in grossen Abständen, da ihn zeit sei-nes Lebens Depressionen heimsuchten.Seine formbewussten Gedichte fandenden Beifall Benns und Krolows. Sie be-ginnen mit Pathos, doch dann setzt einProzess der Klärung ein. Spätestens mit«Türen und Rauch» (1963) gewinntBächler eine ganz eigene Stimme. Schön,dass sein lyrisches Werk nun in einerzierlichen, wohlfeilen Ausgabe vorliegt,ediert von Katja Bächler und Jürgen Ho-semann, mit einem klugen Nachwortversehen von Albert von Schirnding.Manfred Papst

Hermann Peter Piwitt: Erbarmen.Novelle.Wallstein, Göttingen 2012.64 Seiten, Fr. 18.90.

Hermann Peter Piwitt stand nie imRam-penlicht des Literaturbetriebs. Doch der1935 geborene Autor hat Romane, Erzäh-lungen und Essays von konstanter Qua-lität vorgelegt. Immer wieder weiss erzu überraschen und zu irritieren. Soauchmit seinem neuen Buch, der Novel-le «Erbarmen». Sie erzählt aus der Pers-pektive einer Frau um die vierzig, dienach dem Unfalltod ihres ungeliebtenMannes endlich die ersehnte Erfüllungsucht. Sie findet auch einen Partner,einen Schriftsteller namens Henrik, mitdem das zu gelingen scheint – bis diesereinen Liebesbeweis von ihr verlangt,dem weder sie noch er gewachsen sind.Einmal mehr erzählt Piwitt schnörkel-los, präzis, unerschrocken sinnlich.Schade nur, dass ausgerechnet imSchlüsselsatz auf Seite 28 ein entschei-dendes Wort fehlt. Immerhin wird er imKlappentext richtig zitiert.Manfred Papst

Joan Didion: Blaue Stunden.Deutsch vonAntje Rávic Strubel. Ullstein, Berlin 2012.208 Seiten, Fr. 25.90, E-Book 18.10.

2003 erlitt Joan DidionsMann einen töd-lichen Herzinfarkt. Ihre Tochter Quinta-na, von den Didions 1966 als Baby adop-tiert, lag gerade im Koma. 2005 starbauch sie. Damit hatte Didion, eine Ikonedes New Journalism, jene zwei Men-schen verloren, die ihr wirklich am Her-zen lagen. Sie tat daraufhin, was sieschon immer tat: schreiben. Entstandensind «Das Jahr magischen Denkens»über den Tod ihres Mannes und 2010«Blaue Stunden» über Quintana. ZweiBücher der Trauer, doch unterschied-lich im Ton. Das erste nüchtern, sezie-rend. Das zweite dagegen wirkt in de-tailverliebten Passagen über bessereZeiten fast sentimental – und ist es dochnicht. Denn das Schöne dient als bitter-süsses Gegenstück, einerseits zur Trau-er danach, andererseits zu den mit Mut-terschaft verbundenen Selbstzweifelnund Schuldgefühlen. Ein ebenso intel-lektuelles wie berührendes Buch.Regula Freuler

John Burnside: In hellenSommernächten.Roman. Knaus,München2012. 381 Seiten, Fr. 28.40, E-Book 19.30.

Helle Sommernächte erlebt, wer sichhoch im Norden aufhält, wo der neuesteRoman von John Burnside (*1955) spielt.Nicht wenige – auch Hauptfigur Liv –übernehmen jenen Naturzustand, derSinne und Tun lähmt. Dennoch wäreeine wörtliche Übersetzung des Titels,«Summer of Drowning», präziser. Zweijugendliche Brüder und vermutlich einMann ertrinken kurz hintereinander.Aber noch jemand ertrinkt: Die 18-jähri-ge Liv, welche die Geschichte zehn Jahrespäter rückblickend erzählt. Sie geht inder emotionalen Kälte ihres Zuhausesunter. Aufgewachsen bei der Mutter,einer Künstlerin, auf einer norwegischenInsel amPolarkreis, möchte Liv nichts alsallein sein. Nichts rührt sie. Was einKrimi sein könnte, ist ein zwar Gedulderforderndes, aber höchst feinfühligesPsychogramm. Und eine weitere Meis-terleistung des schottischen Autors.Regula FreulerFR

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Porträt

12 ❘NZZ amSonntag ❘ 29. April 2012

ManuelaHofstätter ist Buchhändlerin und leidet an chronischemLesefieber. Sie füttert nicht nur die eigeneHomepagemit zwei neuenRezensionen proWoche, sie twittert ihre Tipps undTrouvaillen auch anüber 5000 Follower in der ganzenWelt.VonKathrinMeier-Rust

«AlleBücherummichherumrufen:Nimmmich!»In diesen Tagen – eigentlich handelt es sich umNächte, doch davon später – liest sie geradeeinen Roman mit dem Titel «34 Meter überdem Meer» von einer jungen Autorin namensAnnika Reich: «Die Hauptfiguren sind einMee-resforscher, bei dem man dann irgendwannmerkt, dass er das Meer noch nie gesehen hat,und Ella, ein Luftikus von Frau, die sich treibenlässt. Die Geschichte beginnt damit, dass diebeiden ihre Wohnungen tauschen und siekommt in einer ganz anderen, neuen Sprachedaher, die mir sehr gefällt – man kann wirklichabtauchen in dieses Buch».

Und weil sie nie nur über einem Buch sitzt,liest sie gleichzeitig auch «Gier», den neuenKrimi von Arne Dahl. Dieser habe sie zuerstentsetzt, sie habe die gewohnten alten Protago-nisten vermisst. Doch der Frust sei bald ver-schwunden, Dahl sei eben in einer Klasse fürsich: «in der Königsklasse der Krimiautoren».Und übrigens, den Lieblingsprotagonisten be-gegne man doch wieder.

Eigene WebsiteWenn sie über Bücher spricht, ist Manuela Hof-stätter offensichtlich kaum zu bremsen. Sie ist37 Jahre alt und Buchhändlerin, und wir sitzenin der Leseecke einer Thuner Buchhandlung –wo sonst. Vor den Fenstern fliesst stürmisch diedunkelgrüne Aare. Ein schmales Gesicht, dieberndeutsche Stimme leise, doch klar und be-stimmt, kramt Hofstätter in einer grossen Ta-sche und zieht das iPhone, ein paar Bücher undeinen kleinen Moleskin für Karteikärtchen her-aus. Auf den Karteikärtchen wird sie Autorenund Bücher notieren, die wir im Gespräch er-wähnen. Sie habe das schon immer gemacht,für jedes Buch ein Kärtchen mit Autor, Titel,Verlag, Stichworten zum Inhalt und ihrem eige-nenUrteil. IhrMann habe dann gemeint, das seidoch schade, nur so für sich selbst, das sollteman öffentlich machen. Und schenkte ihr alsMultimedia-Fachmann eine eigene Website

zum 30. Geburtstag: www.lesefieber.ch. Lese-fieber hat heute zwischen 300 und 500 Besu-cher täglich.

In sechs Jahren hat Manuela Hofstätter aufihrer Website bisher 525 eigene Rezensionen zuneuen Romanen veröffentlicht, im Durch-

schnitt liest und rezensiert sie etwa zwei Bü-cher pro Woche – eine Kadenz, für die sie man-che Berufs-Rezensentin bewundern dürfte. Vorallem wenn klar wird, dass sie in diesen Jahrenzwei Kinder geboren hat, mit denen sie, abgese-hen vom einen Arbeitstag in der Buchhandlung«Bücherperron» in Spiez, den Tag verbringt.

Zum Lesen bleibt da nur die Nacht: «Ich lesezu 90 Prozent im Bett.» Und ja, sie schlafe auchmal über einem Buch ein. Aber sie schlafe ebennicht so gut: «Immer sind da 50 bis 100 ungele-sene Bücher, sie türmen sich um mein Bettherum, auf dem Nachttisch, und die rufen alle:Nimmmich, nimmmich! Manchmal werden sieunverschämt laut…».

Auch ihre Rezensionen tippt Manuela Hof-stätter am Abend in den Laptop, sei's am Kü-chentisch oder im Bett. Ob Lukas Hartmanns«Räuberleben» (Diogenes), Daniel Glattauers«Ewig Dein» (Deuticke), Peter Stamms «See-rücken» (S. Fischer) oder Dietrich Fabers«Toter geht’s nicht» (Rowohlt) – diese geltenimmer belletristischen Neuerscheinungen undverlaufen nach dem gleichen Schema: Auf die

Zusammenfassung der Handlung (natürlichohne Preisgabe der Pointe) folgt ein kurzesFazit von wenigen Zeilen, das Hofstätters per-sönliches Urteil enthält und – eine Punktewer-tung. Das persönliche Urteil ist immer positiv– etwa zu Hartmann: «ein faszinierender histo-rischer Roman». Zu Glattauer: «Man darf sichwieder freuen, wie gut Glattauer die Menschenkennt.» Zu Stamm: «So wie er das tut, genausoist es richtig.» Zu Dietrich Faber: «Selten so ge-lacht.»Umso überraschender fällt dannmanch-mal die Wertung aus: 7 (von 10 Punkten) fürHartmann, 6 für Glattauer, 7 für Stamm undeine 9 für Faber. «Die Punkte drücken meinenganz und gar persönlichen Geschmack aus,meine persönliche Meinung», erklärt Hofstät-ter. Sie bemüht sich deshalb ihre Rezensionenschnell zu schreiben, um sich nicht von ande-ren Besprechungen beeinflussen zu lassen. Kri-terien wie high und low kümmern sie wenig,gerade Autoren, die die Kritik als trivial einstuft– etwa einen Martin Suter oder einen Paulo Co-elho – sieht sie als «Türöffner», die sehr vieleMenschen zum Buch holen. Doch während Su-ters «Koch» von ihr eine 9 bekommt, verpasstsie Coelhos «Brida» die Note 5.

Offen für jeden StilHat sie in ihrem Zehnpunktesystem auch schoneine 1 oder 2 vergeben? Kaum. Sie wolle ja Lese-fieber verbreiten und nicht Lesefrust. «Bücher,die mir überhaupt nicht gefallen, erscheinenauch nicht auf meiner Website. Ich bin nichtLiteraturkritikerin. Ich bin Buchhändlerin.»Und wo genau liegt der Unterschied? «Ich binoffener, was den Stil anbelangt.» Mit ihrer Be-rufserfahrung sieht sie sich als Fachfrau dafür,was Menschen lesen, als professionelle Ver-mittlerin der aktuellen Belletristik. Kritiker set-zen sich für ihren Geschmack zu oft mit ihrerKritik selbst in Szene, indem sie ein Buch zer-reissen. «Ich habe kein Interesse am Verriss.Ich lasse diese Bücher einfach weg.» Aber auch

Kriterien wie high und lowkümmern die LeserinManuela Hofstätter wenig.Gerade Autoren, die dieKritik als trivial einstuft,sieht sie als «Türöffner».

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29. April 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 13

Die Berner Oberländerin Manuela Hofstätter ist unersättliche Leserin und Kritikerin: «Ich verteile Punkte, die meinen ganz und gar persönlichen Geschmack ausdrücken.»

TOMASWÜTRICH

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Porträt

14 ❘NZZ amSonntag ❘ 29. April 2012

die Maximalnote 10 hat Manuela Hofstätternoch nie vergeben: «Das wäre ja dann das Buchmeines Lebens, nach dem ich nie mehr ein an-deres bräuchte. Das habe ich noch nicht gefun-den, oder will es noch nicht gefunden haben.»

Ihre Website wird zwar rege besucht, dochder Austausch mit diesen Besuchern ist be-schränkt. Manuela Hofstätter begann deshalb,auch über Twitter Infos und Tipps rund umsBuch zu verschicken – und fand im Nu über5000 Follower (@mhofstaetter). Weil ihr dieseFollower auch ihrerseits gute Bücher empfeh-len, entstand der «Mittwochsbuchtipp»: einwöchentlicher Hinweis auf ein besonders gutesBuch, auch älteren Datums. «Es ist wie einegrosse Familie zum Thema Bücher – echli ver-ruckt, aber verruckt schön. In einem Dorf amThunersee ist man so mit der halben Welt inKontakt.»

Über das Twittern ergäben sich Begegnun-gen, Buchvorstellungen, Lesungen, Besuche –«einfach göttlich», sagt sie. Und hat schon einnächstes Projekt mit Namen «Lesefieber ontour»: Die Buchhändlerin bietet damit ein «Le-sefieber-Event» an, bei der sie neue Belletristikvorstellt – gerne auch abgestimmt auf ein be-stimmtes Publikum: in Bibliotheken, in Buch-handlungen, für den Firmenevent.

Ob Website, Twitter oder Event: HofstättersZiel ist immer dasselbe: die Menschen zumLesen anzuregen. Ihre kurzen Twitterbotschaf-ten erreichen eben ganz andere Leute – Jugend-liche zum Beispiel, die oft weit weg seien voneinem Buchladen. Aber auch sie dienten demganz altmodischen Lesen.

Warum ist es ihr so wichtig, dass Menschenlesen? Hier hält Manula Hofstätter einen klei-nen Vortrag: Die Menschen, so meint sie, könn-ten heute nicht mehr besonders gut aufeinan-der zugehen, gerade dies aber wäre nötig, um

die Probleme weltweit anzupacken. Menschendie lesen, so sagt sie, seien offener für andereWelten, andere Menschen, andere Meinungen.Die Belletristik sei eine Vermittlerin von Wis-sen um die menschlichen Zusammenhänge,zeige doch jeder Roman, wie Menschen mitein-ander umgehen oder eben nicht umgehen, wasMenschen bewegt. Und deshalb denke sie: Jemehr Leute lesen, desto besser ist es für dieWelt. Und sei es ein Teenager, der einen Comicliest. «Das tönt jetzt etwas sehr idealistisch, ichweiss…»

Die Schulbibliothek durchgelesenVielleicht hat ihr Idealismus damit zu tun, dassManuela Hofstätter selbst so früh und intensiverfahren hat, was das Geschichten-Lesen be-deuten kann: Früh ohne Eltern, wuchs sie beiden konservativen Grosseltern in Spiez auf:«Ich brauchte einen Schutz für mein Leben,und das waren die Bücher. Die Grosselternselbst lasen nicht. Aber man war froh, wenn ichruhig war.» Sie wurde, wie könnte es anderssein, eine extreme Leseratte, ein Kind das im-merzu nur las. Bücher bekam das Lese-KindzumGlück genug – nachdem es die Schulbiblio-thek durchgelesen hatte von den Lehrern.«Manchmal lebte ich so extrem in den Ge-schichten, dass ich mich selbst fragte, in wel-cher Wirklichkeit ich denn eigentlich lebe.»Und natürlich wurde der Bücherwurm gehän-selt – «von Leuten, die heute in die Buchhand-lung kommen, weil sie Bücher für die eigenenKinder suchen, die doch lesen sollten… Das ge-niesse ich dann jeweils sehr.»

Neben Haushalt und Familie pflegt ManuelaHofstätter auch Hobbies, vor allem Wandernund Fotografieren, auch Kochen tut sie gerne.Und Lesen? Lesen sei kein Hobby: «Bücher sindmein Leben. Ich kann nicht atmen ohne sie. Bü-cher sind für mich Luft und Nahrung.»

So hat sie es schon damals als Schülerin demBerufsberater erklärt – es reichte ihm nicht, ergab ihr keine Chance für eine Lehre als Buch-händlerin. Zwang sie stattdessen in den Detail-handel: «Wenigstens durfte ich in eine Papete-rie, das war immerhin schon nahe am Buch.»Nach dem dritten Lehrjahr gelang ihr dann derWechsel in die dreijährige Lehre als Buchhänd-lerin und damit die Erfüllung ihres Traums: DieBerner Buchhändlerschule war damals die ein-zige eidgenössisch anerkannte. «Mein Werde-gang war etwas speziell, doch das Verkaufen

vorher gelernt zu haben, stellt sich eigentlichnur als Vorteil heraus.»

Mit 21 Jahren stand sie in der Buchhandlungin Spiez. Und erlebt seither die Freuden undLeiden der Buchhändler mit ihrer Kundschaft,die oft das Unmögliche verlangt: «Ich möchtedieses neue Buch, es ist rot, so ein schönes tie-fes Rot, leider habe ich keine anderen Angaben,aber sie wissen schon, welches ich meine,nicht?»

Habt keine Angst vor Büchern!In Anlehnung an «Die geheimen Aufzeichnun-gen des Buchhändlers» von Gérard Otremba,dem Kultbuch eines echten Buchhändlers ausFrankfurt (siehe Box), sammelt auch ManuelaHofstätter heitere Episoden und Fragen vonKunden auf ihrerWebseite. Ebenso wie zahlrei-che Zitate rund ums Lesen, um Bücher, Bücher-narren und Buchhandlungen. Eines dieser Zita-te hat sie zum Markenzeichen erhoben, es folgtihrem Namen wie ein treues Hündchen: «Habtkeine Angst vor Büchern! Ungelesen sind sieganz harmlos.»

Kann man Menschen, die eigentlich nichtlesen wollen, zum Lesen bringen? «Ja, das wageich zu behaupten.» Zum einen die Jugendli-chen. Etwa wenn deren Grossmütter in dieBuchhandlung kommen und etwas für denEnkel verlangen, «aber bitte nicht so Fantasy-und Vampir-Zeugs». Oder wenn jemand zö-gernd nach «öppis id s’Spital» fragt. Dann geltees Gespür zu haben. Beim Mann mit den dreiComputersachbüchern dagegen, da dürfe manals Buchhändlerin ruhig etwas frech sein:«Möchten Sie zu so viel trockener Kost fürsHirn nicht auch einmal etwas für Ihr Gemüt?»Nein, dassMänner nur Krimis lesen wollen, dassei nun wirklich ein Klischee. Männer hättenoft eine literarische Ader, denen gefalle danngerade ein Peter Stamm. Aber ob Jugendliche,Grossmutter oder Mann: «Wenn ihnen dasBuch gefallen hat, kommen die Kunden undverlangen nach mehr.»

Die Aare strömt immer noch mächtig, dochdas Licht ist milder geworden vor den Fenstern.Manuela Hofstätter packt das iPhone und ihrenMoleskin in die Tasche – man traut der feinenSpiezerin mit der leisen Stimme längst beideszu, das Frechsein und das Gespür für das richti-ge Buch. Zwei Tage später ist die Rezension von«34 Meter über Meer» online: Note 9/10. Dreiweitere Tage später dann auch die von ArneDahls Gier: Note 8/10. l

Weitere Büchernarren

Die Anekdoten und Episoden, die der FrankfurterBuchverkäufer Gérard Otremba in seinen«Geheime Aufzeichnungen des Buchhändlers»preisgibt, sind köstlich zu lesen. Das Buch warso erfolgreich, dass er mit «Ein weiterer Tag imLeben des Buchhändlers» eine zweite Ladungnachlieferte; beide Bücher sind 2010 bei AxelDielman in Frankfurt erschienen (38 bzw.31 Seiten, je Fr. 10.50).Bücherwürmer können auch schreiben – so etwaNina Sankovitch, die nach dem Tod ihrerSchwester beschloss, als Trauer-Therapie einJahr lang jeden Tag ein Buch zu lesen und dies,neben einem Haushalt mit vier Kindern, auchtat: «Tolstoi und der lila Sessel» (Graf, München2012. 288 Seiten, Fr. 24.40).Geradezu ein Klassiker geworden ist dieamerikanische Leseratte Anne Fadiman mitihren wundersam genauen und bildungs-gesättigten Gedanken zur Lese-, Buch- undBibliotheksmanie: «Ex Libris. Bekenntnisseeiner Bibliomanin» (Diogenes, Zürich 2007.240 Seiten, Fr. 15.90).

«Wandern, Fotografierenund Kochen sindmeineHobbies. Lesen aber istkein Hobby. Bücher sindmein Leben, sind für michLuft undNahrung.»

VomKüchentisch in Einigen (BE) aus versorgt die Rezensentin ihre Anhänger in allerWelt mit Lesetipps.

TOMASWÜTHRICH

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Kolumne

29. April 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 15

KurzkritikenSachbuchCharlesLewinskysZitatenlese

GAËTA

NBALLY/KEY

STO

NE

Wennwir alt werden,so beginnenwir zudisputieren, wollen klugsein, und doch sindwirdie grösstenNarren.

Martin Luther

Man müsste, vielleicht von Pro Litterisund Pro Senectute gemeinsam organi-siert, einen Dienst zur Betreuungalternder Dichter einrichten, die unterdem Verblassen ihres Ruhms leidenund es schlecht ertragen, nicht mehrim Zentrum des Weltinteresses zustehen.

Das Bedürfnis nach einem solchenPflegedienst steht ausser Frage, dennder allmähliche Bedeutungsverlustgehört (vor allem bei Nobelpreis-trägern) zu den schmerzhaftestenliterarischen Altersbeschwerden undwird von den Betroffenen noch unan-genehmer empfunden als Zahnausfallund Rheuma.

Aber auch für die Mitmenschen kanndieses geriatrische Problem sehr nega-tive Auswirkungen haben. Die davonBefallenen neigen nämlich zu Rechtha-berei, Logorrhoe und unkontrolliertemVerfassen von Leserbriefen, die vonihnen in besonders akuten Fällen alsGedichte wahrgenommen werden.

Die Betreuung, als eine Art Litera-ten-Spitex organisiert, müsste sich beiihren regelmässigen Besuchen in derDichterklause darauf konzentrieren,dem in die Jahre gekommenen Schrift-steller das Gefühl zu geben, er seikeineswegs vergessen, und seine einsterfolgreichen Werke, auch wenn derenErscheinungsdatum Jahrzehnte zurück-liegt, würden in den Feuilletonspaltender Zeitungen und den Literatursemi-naren der Universitäten nach wie vortäglich diskutiert.

Es bestehe also, dies die subtil zuvermittelnde Botschaft, keinerlei Not-wendigkeit, sich durch unbedachteneue Publikationen selber ins Schein-werferlicht drängen zu wollen.

In besonders schweren Fällen, da wodie Gefahr besteht, dass der alte Dich-ter sein eigenes Image durch zwanghaf-tes Leserbrief-Schreiben nachhaltigbeschädigt, dürften die Betreuer auchzu kleinen Tricks greifen: So könntensie sich etwa als eifrige Journalistenausgeben, die zu aktuellen politischenFragen nach einem Statement des ver-ehrten Meisters gieren, oder als Ver-ehrerinnen, die für ein Autogrammalles, aber auch wirklich alles zu tunbereit sind.

Was eben im Interesse des vonGeltungssucht befallenen Greises not-wendig ist, um ihn vom Verfassen soge-nannter Gedichte abzuhalten.

PS:Mit Günter Grass und seiner Stel-

lungnahme zumiranisch-israelischenKonflikt hat dieserVorschlag natürlichnichts zu tun.

Überhaupt nichts.

Der Autor CharlesLewinsky arbeitet inden verschiedenstenSparten. SeineZitatenlese für«Bücher am Sonntag»ist soeben als Buch«Falscher Mao, echterGoethe» bei NZZLibro erschienen.

Ruth Reichstein: Die Europäische Union.Die 101 wichtigsten Fragen. C. H. Beck,München 2012. 160 S., Fr. 14.90, E-Book 10.90.

Die beck’sche Reihe «Die 101 wichtigs-ten Fragen» zu Ländern, Themen undPersonen ist um einen Band reicher. Diein Brüssel lebende deutsche JournalistinRuth Reichstein antwortet auf viel Wis-senswertes über die Europäische Union:Welches ist die grösste Stadt, der längsteFluss, der tiefste See? Was bedeuten Ga-lileo, Bologna-System, Maastricht-Ver-trag oder Dublin-II-Abkommen? Undnatürlich: Wie krumm darf die Gurkesein? Die maximale Krümmung von1 Zentimeter auf 10 Zentimeter Längewurde 2009 übrigens wieder ausserKraft gesetzt. Abgesehen von ein paarbemühenden Gutmenschen-Exkursen inder Art von «Warum lässt die EU es zu,dass immer wieder Flüchtlinge aus Afri-ka im Mittelmeer ertrinken?» liegt mitdem handlichen Bändchen ein auf-schlussreiches Brevier für EU-Freundeund andere Interessierte vor.Urs Rauber

Ralph Dutli: Das Lied vom Honig. EineKulturgeschichte der Biene.Wallstein,Göttingen 2012. 208 Seiten, Fr. 21.90.

«Süss wie die Kinderaugen», sei derHonig, schrieb Federico Garcia Lorca ineinem der Gedichte, die der Essayistund Lyriker Ralph Dutli in seiner klei-nen Anthologie gesammelt hat. Sie bil-det den Schluss seines Buches, ihr gehen25 Essays zur Kulturgeschichte der Bieneund des Honigs voraus. Das fleissige In-sekt und kleinste aller Nutztiere beglei-tet und bezaubert den Menschen seitAnbeginn. Der römische Dichter Vergilwar ebenso passionierter Imker wie dieamerikanische Autorin Sylvia Plath; diealten Ägypter verehrten das Insekt, Na-poleon liess seinen Krönungsmanteldamit besticken, und unvergesslichbleibt Mastroianni im griechischen Film«Der Bienenzüchter» (1986) von TheoAngelopoulos. Das und vieles mehr er-fahren wir bei Ralph Dutli, der leichtund beschwingt auf den Flügeln seinerBienen durch Zeit und Raum fliegt.Geneviève Lüscher

Christina Caprez: Familienbande.MitFotos von Judith Schönenberger. Limmat,Zürich 2012. 280 Seiten, Fr. 37.90.

Nun gut, die klassische Kleinfamilie mitVater, Mutter, Kind ist längst nicht mehrdie Regel. Die Familien jedoch, welchedie Radio-Redaktorin Christina Caprezhier porträtiert, sind selbst für Patch-work- und Regenbogenverhältnisse aus-sergewöhnlich: Da gibt es etwa eine Fa-milie mit zwei schwulen Papas, zweilesbischen Mamas und zwei Kindern;eine Familie, in der Mutter, Tante undGrossmutter zwei kleine Buben aufzie-hen, deren Vater nur einige Tage proJahr anreist. Ferner eine Familie mit9 Eltern und 6 Kindern, oder eine mitzwei Vätern und ihrem biologischenKind – einer der Väter hat nämlich einenweiblichen Körper. In Anlehnung anden früheren Kinderreichtum sprichtdie Autorin deshalb vom «Elternreich-tum» unserer Zeit. Dass auch Gesell-schaft, Politik und Recht zu dieser prag-matischen Haltung finden, ist das Anlie-gen dieses Buches.Kathrin Meier-Rust

Christophe Koller u. a.: Staatsatlas.Kartografie des Schweizer Föderalismus.NZZ Libro, Zürich 2012. 223 Seiten, Fr. 67.90.

Eine Forschergemeinschaft des Lausan-ner Hochschulinstituts für öffentlicheVerwaltung legt – gestützt auf Badac, dieDatenbank über Kantone und Städte –einen Atlas zum Schweizer Föderalis-mus vor. Ein ansprechend gestalteteszweisprachiges Kartenwerk, das für ein-mal nicht Barrieren und anachronisti-sche Elemente thematisiert, sondern dieDynamik des dreistufigen föderalenAufbaus. Der kartografische Spazier-gang durch unser Land veranschaulichtinstitutionelle, kulturelle, konfessionelleund sozioökonomische Gegensätze wieGemeinsamkeiten. Gemeindefusionenund Sparsamkeit von Verwaltungen, dasDurchschnittsalter der Regierungsräte,die Anzahl Polizeiposten, die Urteils-dichte verschiedener Delikte, der Ju-gend- und Altersquotient – dies und vie-les mehr nach Kantonen aufgeschlüs-selt. Eine wunderbare Enzyklopädie, indie vertiefend man sich verlieren kann.Urs Rauber

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Sachbuch

16 ❘NZZ amSonntag ❘ 29. April 2012

Die Schweiz imBann der Zeitenwende 1989/90

Eine aufgewühlte Stimmung prägte die Schweizer Öffentlichkeit1989/90. Im Januar 1989 trat Bundesrätin Elisabeth Kopp alsFolge einer Amtsgeheimnis-Verletzung zurück. Der Bericht derParlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) vom22. November 1989 bescheinigte der Justizministerin zwarkaum Fehler, deckte aber auf, dass die Politische Polizei900000 kritische Mitbürger fichiert hatte.Vier Tage später lehnte das Volk eine Initiative zur Abschaffungder Armee ab, die fast ein Drittel Ja-Stimmen erzielte – ein«Donnerschlag», so die NZZ.Im Februar 1990 setzte der Bundesrat Bundespolizei-Chef PeterHuber ab. Gerüchteweise wurde bekannt, dass auch dasEidgenössische Militärdepartement (EMD) Fichen führe undeine Geheimarmee existiere. Eine zweite PUK bestätigte am 23.November 1990 beide Sachverhalte. Kurz darauf wurde «Rico»,der Kopf der Geheimarmee, von den Medien enttarnt.

Martin Matter: P-26.Die Geheimarmee,die keine war. Hier + Jetzt, Baden 2012.311 Seiten, Fr. 37.90.

VonUrs Rauber

Die Aufdeckung der Geheimarmee P-26im Jahr 1990 markierte in der Schweizdas Ende des Kalten Krieges. Aus derDistanz von gut zwei Jahrzehnten unddank der im September 2009 erfolgtenAufhebung der Schweigepflicht fürP-26-Mitglieder und ihrer Rehabilitie-rung durch den Bundesrat, arbeitetMartin Matter, Historiker und frühererRedaktor der «Basler Zeitung», diesesbisher kaum erforschte Kapitel auf.Er stützt sich dabei auf ausführlicheGespräche mit Oberst Efrem Cattelan,den Kommandanten dieser «Geheimar-mee», und einem guten halben Dutzendweiterer Mitglieder der Organisation.

Im Frühling 1979 war der 48-jährigeCattelan, damals Vizedirektor einer Ver-sicherung, vom Chef des schweizeri-schen Nachrichtendienstes DivisionärRichard Ochsner beauftragt worden,den von Oberst Albert Bachmann ge-führten und ins Gerede geratenen «Spe-zialdienst» zu übernehmen und neu zustrukturieren. Das von Generalstabs-chef und Bundesrat abgesegnete undnach den 26 Kantonen benannte «Pro-jekt 26» sollte den Widerstand im Falle

einer feindlichenBesetzung der Schweiz– nach erfolgter Kapitulation von Armeeund Regierung – autonom weiterführen.Der Jurist Cattelan, der laut Matter mit«einer Mischung aus Ernst und Locker-heit» über seine Tätigkeit erzählt, nahmden Namen «Rico» an und führte11 Jahre lang ein Doppelleben mit einerScheinfirma in Basel.

Konspirative ZellenZwei enge Mitarbeiter Cattelans stamm-ten noch aus der Ära Bachmann: Stabs-chef Major Rudolf Moser, ein geschwät-ziger und zum Angeben neigender Offi-zier, der später seine Memoiren in fan-tasietriefenden Schlüssellochromanenpublizierte. Als Redaktor des «Schwei-zerischen Beobachters» hatte der Re-zensent ihn 1990/91 unter quasi-konspi-rativen Umständen zu mehreren Ge-sprächen getroffen, die in verschiedene«Beobachter»-Artikel und das Buch«Der Fall Jeanmaire» (1991) eingeflos-sen sind. Der zweite war P-26-Propa-gandachef Hans-Rudolf Strasser alias«Franz», der spätere EMD-Informati-onschef, der nach seiner Enttarnung imDezember 1990 von seinem Chef KasparVilliger sofort freigestellt wurde.

Cattelans undMosers Aufgabewar es,eine Kaderorganisation aus rund 40 ak-tiven Widerstandszellen in der ganzenSchweiz zu schaffen, die untereinanderkeine Verbindung haben und deren Mit-

glieder sich nicht gegenseitig kennendurften. Jede Zelle bestand aus sechs biszehn Leuten: Regionschef, Funker,Nachrichtenspezialist, Propagandist,Transportverantwortlicher sowie meh-rere Sprengfachleute. Nur der Chefkannte seine Mitglieder sowie den di-rekten Vorgesetzten. Zu den 40 aktivenZellen sollten nochmals 40 schlafendehinzukommen.

Der Sollbestand der geheimenWider-standsorganisation – der nie erreichtwurde – belief sich auf rund 800 Perso-nen. Bis zur Auflösung 1990 waren rund400 Personen für die P-26 rekrutiert undausgebildet worden. Bevorzugt wurden«unauffällige Durchschnittsbürger», dieweder politisch noch wirtschaftlich ex-poniert waren, weder «Egomanen nochSelbstdarsteller», keine Leute mit Dro-gen- und Alkoholproblemen. Sie warenin der Regel nicht unter 45 Jahren alt,vereinzelt gab es auch Frauen. Die vonMatter Befragten waren: Sekundarleh-rer, Personalchef, Arzt, Bauingenieur,kaufmännischer Direktor, Uhrmacher,Werbegrafikerin (die einzige Person, dienach der Erstausbildung ausstieg).

Aus heutiger Sicht mutet Vieles, dasMatter beschreibt, als «Pfadiübung»oder Spionage-Fantasie aus dem KaltenKrieg an. Die Ausbildung erfolgte inzwei- oder dreitägigen Kursen, die Teil-nehmer wurden einzeln von einem Füh-rungsoffizier an einem vereinbartenTreffpunkt abgeholt und in einen gehei-men Felsbunker oberhalb von Gstaadgeführt: in den «Schweizerhof». DerAbsolvent wurde in seinem Zimmer miteiner Videobotschaft des Generalstabs-chefs begrüsst. Dieser erklärte, dass dieP-26 ein offizieller, jedoch geheimerBestandteil der Gesamtverteidigung sei.Jeder arbeitete, ass und schlief allein inseinem Raum, den er nur für den Gangzur Toilette oder zum Duschen verlas-sen durfte. In diesem Fall hatte er dasGesicht mit einer Maske zu verhüllen.

«Fünf Tage lang lebte ich unten imFels, hörte nur die ruhigen, freundlichenAnweisungen aus einem kleinen Laut-sprecher und hatte sonst alles, was ichbrauchte: einen übervollen Kühl-schrank, guten Festungswein und – zumEinschlafen – Agentenbücher. Die Lö-sungen der mir gestellten Aufgaben

KalterKriegDer JournalistMartinMatter schildert erstmals umfassend die Entwicklung derWiderstandsorganisation P-26. Dass sie eine staatsgefährdendeGeheimarmee gewesen sei, bildeeines der grössten Fehlurteile der jüngeren SchweizerGeschichte

WederHeldennochRambos

P-26-Chef Oberst Efrem Cattelan alias «Rico».

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29. April 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 17

Eingang zurehemals geheimenunterirdischenBunkeranlage«Schweizerhof» beiGstaad. Sie diente derP-26 als Stützpunkt,Waffenlager undAusbildungsort.Aufnahme vom7. Dezember 1990.

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schob ich in einen Briefkasten undbekam sie begutachtet wieder zurück»,erzählt ein Teilnehmer. Später erfolgtedie Ausbildung in der Gruppe: Erlerntwurde das Funken, das Chiffrieren undDechiffrieren von Nachrichten, das An-legen eines «toten Briefkastens» sowiePistolenschiessen zur Selbstverteidi-gung. Die Geniedienstler absolviertenSprengübungen in der Festung «Hager-bach» bei Sargans.

Eine spezielle Zusammenarbeit pfleg-te die P-26 mit dem britischen Geheim-dienst MI6 – eine Kooperation, die biszum Zweiten Weltkrieg zurückreichte.In Grossbritannien erlernten dieSchweizer konspiratives Verhalten,während britische Geheimdienstlermindestens zweimal an Stabsübungenin der Schweiz teilnahmen. Strikt jedochverwahrt sich Cattelan dagegen, dass dieP-26 in Nato-Strukturen eingebundengewesen sei. Sein Befund wurde in demdurch den Bundesrat in Auftrag gegebe-nen Bericht Cornu 1991 bestätigt.

Aufschlussreich sind die in Gesprä-chen mit ehemaligen P-26-Mitgliedernzum Ausdruck kommenden Motive undBefindlichkeiten. Kein einziger vonMatters Gewährsleuten empfindet dengeleisteten Einsatz heute als vergeblichoder falsch. ImGegenteil blitzt oft Über-zeugung und Stolz auf, aus patriotischenGründen das Richtige für das Landgetan zu haben, auch wenn dafür keinLohn, sondern nur Spott oder Unver-ständnis zu ernten war. Die Aktivitätender P-26, zu der ein geheimer Nachrich-

tendienst P-27 kam, im Nachhinein als«Indianerspiele» einiger Kalter Kriegerabzutun, verkennt die damalige Be-drohungslage. Tatsächlich existierten inder Sowjetunion Angriffspläne und Auf-marschkarten zur Schweiz; und auch dieDDR-Spionage hierzulande ist hinrei-chend belegt. Über die innere Schwä-che, die erst nach dem Zerfall des Ost-blocks 1989/91 zu erkennen war, wuss-ten auch die westlichen Geheimdienstenicht Bescheid. Es wäre laut Matter un-historisch, heutige Massstäbe zur Beur-teilung der damaligen Gefährdung zuGrunde zu legen. Insofern seien dieP-26-Leute weder Helden noch Rambosgewesen, sondern couragierte Bürger,die sich im Kriegsfall für ihr Land ge-wehrt hätten.

Skandalisierungs-CrescendoSehr kritisch geht Matter mit dem ausdem damaligen Zeitgeist entstandenenPUK-EMD-Bericht ins Gericht. Der Ver-dacht von Putschplänen, von einer Ein-bindung in die Nato-Widerstandsstruk-tur, von einer «Selbstaktivierung» nacheinem Erdrutschsieg der Linken sei zuUnrecht bis heute an der P-26 hängen-geblieben. Ein Verdacht, den nicht nurEfrem Cattelan und alle dafür zuständi-gen Generalstabschefs, sondern auchdie einfachen Mitglieder weit von sichweisen. In der Tat mutete ein solchesSzenario für eine Organisation von ma-ximal 800 Personen ziemlich abenteuer-lich an. In der fiebrigen Umbruchs-periode von 1989/90, die Kurt Imhof als

«Skandalisierungs-Crescendo» bezeich-net, habe die P-26 keine Chance gehabt,fair beurteilt zu werden.

Kritisch bleibt anzumerken, dassMatter offenbar viele einschlägige Quel-len nicht kennt: So wird etwa der Be-richt der Arbeitsgruppe Delamuraz vomJanuar 1981 mehrfach zitiert, nicht aberder inhaltlich viel substanziellere Ge-heimbericht «Zum Fall Bachmann» vonAlfons Müller-Marzohl vom Juli 1980.Auch werden «Aussagen von Ehemali-gen in verschiedenen Medien» zitiert,aber kein Wort über den im «Beobach-ter» vom 1. Februar 1991 publizierten tra-gischen Fall der Berner Beamtin M. R.alias «Wilma» verloren, die von 1974 bis1982 als Sekretärin für Oberst Bach-manns Spezialdienst und Oberst Catte-lans P-26 gearbeitet hatte. Dass die Fraugegen ihren Willen zur Geheimagentinausgebildet und in der Folge psychischkrank wurde, danach eine IV-Rente er-hielt, wirft ein schiefes Licht auf die Wi-derstandsorganisation. Auch in der P-26litten offensichtlich einige unter dem imGeheimdienstmilieu grassierenden Ver-folgungswahn; Insider charakterisierenihn spöttisch als «Sekretinismus».

Dennoch: Diese Einwände sowie einpaar sachliche kleinere Fehler mindernnicht Martin Matters grosses Verdienst,den ersten umfassenden Überblick überEntstehung, Entwicklung und Bedeu-tung der Widerstandsorganisation P-26vorzulegen. Er beurteilt sie mit Augen-mass und ordnet sie in den zeitge-schichtlichen Kontext ein. l

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Sachbuch

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Gian Francesco Giudice: Odyssee imZeptoraum. Springer, Berlin 2012.372 Seiten, Fr. 35.40, E-Book 25.90.Peter Ginter, Rolf-Dieter Heuer, Franzobel:LHC. Bildband. Edition Lammerhuber,Frankfurt 2011. 264 Seiten, Fr. 78.90.

VonAndré Behr

Seit der Beschleuniger Large HadronCollider (LHC) am Cern bei Genf rundläuft, herrscht in der TeilchenphysikAufbruchstimmung. Bereits in diesemJahr erwarten die Forscher erste experi-mentell gesicherte Resultate zur Lösungwichtiger Grundlagenfragen. Die durch-aus berechtigte Euphorie in der Branchehat vor einigen Monaten allerdings zuvoreiligen Sensationsmeldungen ge-führt. Am amerikanischen Fermilabwurden Messergebnisse als Hinweis aufeine neue Kraft interpretiert – aber bisheute nicht bestätigt. Und die in Italienarbeitende Opera-Kollaboration wollteNeutrinos aufgespürt haben, die schnel-ler als das Licht flogen – nur um kurzdarauf experimentelle Fehler einräumenzu müssen.

Peinlich war die ausgelöste Medien-dynamik vor allem den Tausenden vonTeilchenphysikern, die in verschiedens-ten internationalen Gruppen arbeiten.Denn weitaus die meisten von ihnen

sind äusserst zurückhaltend bei der Be-kanntgabe allfälliger Entdeckungen. Siefiebern zwar auch nach Neuem, doch siehalten sich an die strengen Vorgabenihrer Disziplin, weil sie wissen, wiekomplex ihre Experimentiermaschinensind und wie leicht ein Ergebnis falschinterpretiert werden kann.

Tatsächlich ist der Abstand zwischenden aktuellen Inhalten der Physik undderen öffentlichen Wahrnehmungenorm. Umso wichtiger ist ein Buch wiedie «Odyssee im Zeptoraum» des Italie-ners Gian Francesco Giudice, der seit1993 am Cern forscht. Ohne Formeln imGepäck nimmt der Physiker den interes-sierten Leser auf eine Reise in die Physikdes LHC mit, auf der er immer wiederGeschichten erzählt, wie frühere Physi-kergenerationen die Probleme angin-gen. Erst dank dieser historischen Bezü-ge kann sich herausbilden, was man als«verstehen» bezeichnet.

Der LHC als modernste Form einesTeilchenbeschleunigers ist von derkleinsten Schraube bis zur IT-Infra-struktur eine technische Meisterleis-tung. Indem in Bruchteilen einer Sekun-de Milliarden von gebündelten Proto-nen zuerst aufeinander gejagt und danndie durch Zusammenstösse erzeugtenZerfallsteilchen aufgespürt werden,lässt sich der sogenannte Zeptoraum er-kunden, jener Raum von Milliardsteln

eines Milliardstels eines Millimeters.Auch diese technischen Details erklärtGiudice sehr verständlich, um am Endewieder den Theoriefaden aufzunehmen.Er verstehe nicht, hatte sich der legen-däre Richard Feynman einst gewundert,warum man nach den neusten Entde-ckungen in der Physik frage, wenn mandie früheren nicht kenne, die den heuti-gen erst Bedeutung verleihen. Giudicefüllt diese Wissenslücke.

Die Konstruktion des LHC beein-druckt allein schon optisch, wie derspektakuläre Bildband des mehrfachausgezeichneten ReportagefotografenPeter Ginter zeigt, der Giudices Text-buch bestens ergänzt.

27 Kilometer lang ist der etwa 100Meter tief im Boden liegende Ringtun-nel, in dem zwei Protonenstrahlen vonüber tausend grossen Magneten ange-trieben werden. Mit fast Lichtgeschwin-digkeit kreisen die Kernteilchen in zweigetrennten Stahlrohren in gegenläufigerRichtung und prallen in vier riesigenDetektorkammern aufeinander. DenAufbau dieser Szenerie hat Ginter überJahre begleitet. Ergänzt werden seineebenso grossformatigen wie grossarti-gen Fotografien von computergenerier-ten Darstellungen der Zerfallsereignissesowie von Texten des Wiener Schrift-stellers Franzobel und des Cern-Direk-tors Rolf-Dieter Heuer. ●

PhysikEinCern-Forscher erklärt das Funktionieren des LHCbis in die technischenDetails

VonderSchönheit einesTeilchenbeschleunigers

Fotograf Peter Ginter hat den Aufbau des Large Hadron Collider (LHC) in Genf jahrelang begleitet. Seine Bilder lassen die grossartige technischeMeisterleistung erahnen.

PETERGIN

TER/EDITIO

NLA

MMERHUBER

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29. April 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 19

Paul Nolte: Was ist Demokratie?Geschichte undGegenwart. C. H. Beck,München 2012. 511 Seiten, Fr. 25.90,E-Book 16.90.

VonMarkus Schär

2011 gehe als Jahr der Demokratie in dieGeschichte ein, glaubt Paul Nolte. Undüberhaupt meint der führende deutscheHistoriker: «Selten ist über Demokratiemehr gesprochen worden als zu Beginndes 21. Jahrhunderts.» Allerdings galt dieVolksherrschaft nicht nur als das grosseVersprechen wie in Nordafrika und imNahen Osten. China zeigt, dass dieMarktwirtschaft auch ohne Demokratieblüht. Der Iran und weitere islamische

Staaten lehnen den Anspruch des Wes-tens ab, die Menschenrechte rund umden Globus zu verbreiten. Und dieStammlande der modernen Demokratiein Europa, England und Frankreich,kämpfen mit der Trägheit ihrer Bürger,die den Staat kaum mehr mitgestalten,sondern sich von ihm aushalten lassen.

Geht das Zeitalter der Demokratie zuEnde?, fragt Nolte und holt weit aus: Erführt den Leser – vorbildlich ohne Jar-gon und akademische Konstrukte – vonden Anfängen in Athen und Rom überdie Begründung der modernen Demo-kratie in der Amerikanischen und derFranzösischen Revolution bis zum Um-bruch in Westeuropa nach 1945 und inOsteuropa nach 1989. Parallel zur Chro-nologie spricht er die grundlegenden

Probleme an, also etwa die Frage, werzum Volk gehört, das selber herrscht. Sokommt er – gut informiert – auch mehr-mals auf die Schweiz zurück, die ihredemokratische Tradition seit 1291 er-fand, ihr Modell der halbdirekten Refe-rendumsdemokratie erst 1874 einführteund der weiblichen Hälfte des Volkesdie Rechte bis 1971 verweigerte.

Als Musterbeispiel nennt Paul Nolteimmerhin die Schweiz, wenn er ab-schliessend fragt: Was habe ich von derDemokratie? Die Möglichkeit, die Ge-meinschaft mitzugestalten, machtglücklich, wie die Forschung zeigt. Des-halb kommt der Historiker zum selbenSchluss wie einst Winston Churchill:Die Demokratie ist die schlechtesteStaatsform – ausser allen anderen. ●

PolitikDer deutscheHistoriker PaulNolte schreibt eine fulminanteDemokratiegeschichte

Schweiz alsVorbild

Paul Bowles: Taufe der Einsamkeit.Reiseberichte 1950–1972. Liebeskind,München 2012. 304 Seiten, Fr. 31.50.

VonDavid Signer

Es gibt zwei Arten von Reiseliteratur:Eine eher objektive, der es ummöglichstgenaue Beschreibung eines fremdenLandes geht, und eine eher subjektive, inder die persönliche Auseinanderset-zung mit einer Gesellschaft zählt. PaulBowles’ «Taufe der Einsamkeit» gehört,wie es schon der Titel antönt, zur zwei-ten. In der Einleitung mit dem program-matischen Titel «Eine Herausforderungan die Identität» stellt er fest, dass es inden besten Reisebüchern immer um denKonflikt zwischen dem Schreibendenund dem Ort gehe; entsprechend müsseein Schriftsteller auch sich selbst gegen-über rücksichtslos ehrlich sein. Bowlesselber hat mit seinem Roman «Himmelüber der Wüste», 1949 erschienen undspäter von Bertolucci verfilmt, das viel-leicht radikalste Beispiel für eine solcheKonfrontation geliefert. Das Buch han-delt von amerikanischen Touristen, diesich in der Sahara physisch und psy-chisch verlieren.

Der 1910 in New York geborene PaulBowles heiratete 1938 die Schriftstelle-rin Jane Auer und liess sich 1947 mit ihrin Marokko nieder, wo er bis zu seinemTod im Jahr 1999 blieb. Es muss ein ex-zentrisches Paar gewesen sein. Beidewaren homosexuell. Jane starb 1973 anden Spätfolgen eines Schlaganfalls; esging das Gerücht, sie sei von ihrer Ge-liebten Cherifa vergiftet worden.

In den Fünfzigerjahren kaufte Bowleseine winzige Insel namens Taprobanevor der Südküste Sri Lankas. Er be-schreibt die Zeit, die er dort verbrachte

im Kapitel «Wie man auf einer Teilzeit-insel leben kann». Dass er allerdings dasHaus abwechselnd mit seiner Frau undseinem marokkanischen Lover teilte, er-wähnt er nicht. So wie er überhaupt –entgegen seiner eigenen Forderung –sehr zurückhaltend mit Persönlichemist. So sehr Abgründe sein fiktives Werkdurchziehen, so sehr spart er sie aus,wenn es um ihn selbst geht. Er war of-fensichtlich ein Gentleman, auch amEnde der Welt kaum je ohne Anzug undKrawatte unterwegs. Einmal erwähnt erim Kapitel über Indien, dass er dort mit18 Koffern unterwegs war. VornehmeZurückhaltung ist jedoch für einenSchriftsteller nicht zwangsläufig eineTugend; entsprechend wurde über seineAutobiografie «Without Stopping» ge-spöttelt, er hätte sie auch «Without Tel-ling» nennen können.

Man erfährt in «Die Taufe der Ein-samkeit» also entgegen der Ankündi-gung wenig über den Autor. Das wirdjedoch wettgemacht durch all die inten-siven Beobachtungen, in denen Bowles’Durchdringung vor allem Marokkosaufblitzt. So beschreibt er im Kapitelüber Fes, was für eine Aufregung ein un-erwarteter Besucher verursachen kann,wenn sich gerade Damen im Hof aufhal-ten: «Sklaven stürzen herbei und ver-bergen sie hinter einem alten Laken, daszu diesem Zweck draussen bereitliegt.»Er erinnert sich an einen Gang durch dieengen Gassen der Altstadt: «Einmalblickte ich beim Durchgehen versehent-lich zur Seite und sah die Frauen, wie siesich gegen die Mauern drückten, dasGesicht mit den Händen bedeckten undein absurdes leises Jammern vorge-täuschter Angst ausstiessen.»

Bowles war ursprünglich Komponistund interessierte sich lebhaft für marok-kanische Musik. In «Das Rif, mit Musik-

begleitung» beschreibt er eine kafkaes-ke Expedition in entlegene Bergdörfer,wo er Aufnahmen traditioneller Musikmachen wollte. Meist hörte er am Endenur den Wind über den Sand pfeifen.Andere Texte widmen sich Südindien,Thailand, Spanien und Madeira. Dereindrücklichste Bericht stammt jedochaus der Wüste. Bowles beschreibt, wieman nach einiger Zeit in der Sahara aus-einanderfällt und sich neu zusammen-setzt. «Sie haben die Wahl, entwederdagegen anzukämpfen und darauf zu be-stehen, dass Sie die Person bleiben, dieSie immer gewesen sind, oder es gesche-hen zu lassen.» Für einmal ist es uner-heblich, dass Bowles uns seine eigeneWahl verschweigt; wir kennen sie. ●

ExpeditionenPaul Bowles berichtet über sein Leben inMarokko, in Sri Lanka und von seinenBegegnungenmitMenschen

Reisen stellt die Identität inFrage

Paul Bowles 1967 inTanger, Marokko.

TERENCESPENCER/TIM

ELIFE

PICTURES/GETTY

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Sachbuch

20 ❘NZZ amSonntag ❘ 29. April 2012

VICTO

RIA

ANDALB

ERTMUSEUM

/V&AENTERPRISES

KulturgeschichteMuster ohne Ende

Ein Buch voller Muster von den Anfängen bis ins21. Jahrhundert – beim Durchblättern wird einem fastschwindlig. Eine Fülle an Formen und Farben ergiesstsich über die Buchseiten und zeugt von der schierunerschöpflichen Fantasie der Menschen. Muster, solehren uns die beiden britischen Autorinnen DianaNewall und Christina Unwin, «bestehen aus Motiven,die als wiederholte, abgewandelte, alternierende,symmetrische oder asymmetrische Formen mit-einander in Beziehung stehen». Sie sind lesbar, aberdazu muss der kulturelle und soziale Kontext desverzierten Objektes einbezogen werden, sei das nuneine Tonschale, ein Teppich, ein Buch, eine Brosche,eine Kathedrale. Oft lassen sich Muster in ver-schiedene Richtungen, auf unterschiedlichen Ebenen

und in mehreren Kombinationen lesen, sie werdendann «zu einemmultidimensionalen Erlebnis». Dieausgewählten Beispiele stammen zum grössten Teilaus Europa, so auch der oben gezeigte, seideneWandbehang aus dem 14. Jahrhundert. Er wurde inGranada gewoben und zeigt starke islamische An-klänge. Das Muster verknüpft auf komplizierte Weisevier verschiedene Motive zum Rapport: einen acht-zackigen Stern, eine vierblättrige Blüte und zweiRondelle. Leider werden Persien und China in demlehrreichen Werk nur gestreift, und Afrika wieAmerika kommen gar nicht vor. Geneviève LüscherDiana Newall, Christina Unwin: Die Geschichte derMuster. Eine Zeitreise durch drei Jahrtausende.Haupt, Bern 2012. 288 Seiten, Fr. 52.90.

Hans Küng: Jesus. Piper, München 2012.304 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 19.30.

VonKlaraObermüller

Mit demWerk «Christ sein» hat sich derTübinger Theologe Hans Küng 1974 insBewusstsein einer breiten religiös inter-essierten Öffentlichkeit geschrieben.Seither hat das Buch unzählige Neuauf-lagen erlebt, ist in 15 Sprachen übersetztworden und liegt auch als Taschenbuch-ausgabe vor. Der mittlerweile 84jährigeTheologe aus Sursee hätte es dabei be-lassen können. Hinzuzufügen oder zurevidieren gab es an dem Buch nichts.

Und doch ist der Autor noch einmal zuseinen Anfängen zurückgekehrt und hatTeile des einstigen Wälzers in überar-beiteter Form neu herausgebracht.

Den Ausschlag für dieses Unterneh-men haben wohl die beiden unlängst er-schienenen Jesus-Bücher des Papstesgegeben. Diese von kirchlicher Tradi-tion und Dogmatik geprägte Darstellungseines einstigen Tübinger Weggefähr-ten konnte Küng nicht unwidersprochenlassen. Es prallen da zwei ganz unter-schiedliche Jesus-Bilder aufeinander,das musste geklärt werden. Gleichzeitigbot sich Küng damit die Gelegenheit,noch einmal sein eigenes Glaubens- undKirchenverständnis zu begründen, das

ihn immer wieder in Konflikt mit Romgebracht hat.

Hans Küngs neues Jesus-Buch hat ge-genüber dem alten «Christ sein» denVorteil, dass er es gestrafft hat und es sofür den Laien leichter lesbar gewordenist. Fussnoten und fachtheologischeAusführungen sind weggefallen. DerKern der Aussage jedoch ist geblieben:Christus ist eine reale Gestalt der Ge-schichte, ist Jesus von Nazareth, in demseine Jünger den Messias und Sohn Got-tes erkannt haben.

Anders als Joseph Ratzinger, der sichmit der historisch-kritischen Exegeseder Bibel immer schon sichtlich schwer-tat, gesteht Küng, welch befreiendeWir-kung diese Methode auf seine wissen-schaftliche Arbeit und sein eigenesGlaubensverständnis hatte. Erst sie, soführt er aus, habe es ihm ermöglicht,Jesus gleichsam von unten, aus der Per-spektive der Jünger, zu sehen und ihnfrei von paulinischer Theologie unddogmatischer Tradition neu zu verste-hen. Daher sein Fazit: «Wer im NeuenTestament den dogmatisierten Christussucht, lese Ratzinger, wer den Jesus derGeschichte und der urchristlichen Ver-kündigung, lese Küng.»

Das ist polemisch und nicht ganz un-eitel formuliert, trifft aber den Kern derSache durchaus. In gewohnt klarer unddidaktisch geschickter Art und Weiselässt Küng seine Leserinnen und Leseran seiner Interpretation der Evangelienteilnehmen und zeigt auf, wie diese nachbibelwissenschaftlichen Erkenntnissenzu lesen sind: nicht als dokumentarischeTatsachenberichte zwar, aber auch nichtals überzeitliche Mythen, sondern alsVergegenwärtigung historischer Ereig-nisse im Lichte des Glaubens an die Auf-erstehung von den Toten.

Wichtig ist Küng dabei nicht nur dieHistorizität der Gestalt Jesu, sondernebenso sehr auch ihre Singularität. Ob-wohl er in den vergangenen Jahrenimmer wieder als der grosse Verfechtervon Weltethos und interreligiösem Dia-log aufgetreten ist, erteilt er jeglichemSynkretismus der Weltreligionen eineklare Absage. Hans Küng ist als gläubi-ger Christ und Katholik von der Einma-ligkeit der christlichen Botschaft nichtweniger überzeugt als der Papst. Nurvertritt er sie, ohne andere Glaubensbe-kenntnisse herabzusetzen.

Genau so wie seinerzeit «Christ sein»zeugt auch Hans Küngs neu überarbei-tetes Jesus-Buch von einer tiefen Reli-giosität. Und wie damals bringt derAutor es wieder fertig, hinter dem histo-rischen Jesus den Christus seines ganzpersönlichen Glaubens aufscheinen zulassen. Denn nicht nur, wer dieser Jesusvon Nazareth eigentlich sei, sondernauch, warum man heute überhauptChrist sein und ihm nachfolgen solle,fragt das Buch. Darauf gibt der TheologeHans Küng Antworten, die auch fürNicht-mehr- oder Noch-nicht-Glauben-de bedenkenswert sind. ●

TheologieHansKüng antwortet polemisch auf zwei Bücher des Papstes

JesuswareinehistorischeGestalt

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29. April 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 21

Volker Reinhardt: Machiavelli oder DieKunst der Macht.C. H. Beck,München2012. 400 Seiten, Fr. 35.40, E-Book 24.20.

VonAlois Riklin

Gerecht werde man NiccolòMachiavellinur, wenn man ihn aus seiner eigenenGegenwart heraus verstehe: als einenbrillanten intellektuellen Aussenseiter,der Heilmittel gegen die Krisen seinerZeit suchte. Demzufolge sei es verfehlt,den Florentiner Staatssekretär, Diplo-maten, Machtanalytiker und Literatenim Guten oder im Bösen als politischenLehrmeister für alle Zeiten aufzubau-schen. Dies ist der Tenor der neustenMachiavelli-Biografie aus der Feder vonVolker Reinhardt, Professor für Ge-schichte der Neuzeit an der UniversitätFreiburg (Schweiz) und ausgewiesenerKenner der italienischen Renaissance.

Die Literatur über Machiavelli ist Le-gion. Viele glauben ihn zu kennen, wennsie den «Principe» und die «Discorsi»gelesen haben. Nicht so Reinhardt. SeineBiografie stützt sich auf alle überliefer-ten Schriften einschliesslich der literari-schen. Die in die reale Geschichte ver-wobene souveräne Beherrschung sämt-licher Quellen ist gepaart mit der eben-so souveränen Ausblendung fast dergesamten Sekundärliteratur.

Selbstkritisch war er nichtAls schonungsloser Beobachter derMächtigen steht Reinhardt seinem Ge-währsmann in nichts nach. Er kritisiertden Wankelmut der Florentiner Repub-likaner, und die Medici bezichtigt er dertrickreichen Verfolgung ihrer Privatin-teressen. Ob Banker, Kardinäle oderPäpste, in einem gewagten Vergleichnennt Reinhardt den jeweiligen obers-ten Boss des Medici-Clans «Pate» unddessen Klientel «Cosa Nostra». Aberauch der angebliche Realist Machiavellibleibt seiner Illusionen wegen nicht un-geschoren: der Glorifizierung der Römi-schen Republik, der Falscheinschätzungvon Julius II., dem ständigen vergebli-chen Hoffen auf Frankreich oder derProphezeiung des baldigen Untergangsder Republik Venedig. Selbstkritik warnicht die Stärke des Meisterdenkers.

Zur Wahrnehmung seiner eigenen In-teressen war Machiavelli ungeeignet. ZuRecht charakterisiert ihn Reinhardt alsProvokateur. Ohne Rücksicht auf eigeneVerluste tat er kund, was immer er fürrichtig hielt. Es war ein starkes Stück,den vornehmen Medici-Herren ausge-rechnet Cesare Borgia als Vorbild zuempfehlen, den unehelichen Sohn vonPapst Alexander VI. und skrupelloses-ten Gangster seiner Zeit, der wie sie

durch Glück und Gewalt an die Machtgelangt war. Schliesslich warMachiavel-li sowohl den Republikanern als auchden Medici suspekt. «Meine Armut istZeuge meiner Treue und Redlichkeit»,hatte der Kaltgestellte gejammert.

Fragwürdig scheint mir in ReinhardtsAnalyse die amoralische Zuspitzung.HältMachiavelli den Erfolg für dasMassaller Dinge? Oder ist der Erfolg nur dasMass der Politik? Sie ist im SinneMachi-avellis durchaus nicht der einzig begeh-renswerte Lebensinhalt für jedermann.Schreibt er doch selbst, wer ein guterChrist, ja wer überhaupt ein guterMensch bleiben wolle, der solle vor derPolitik fliehen und lieber im Schattendes Bürgerstandes leben.

Gemeinwohl an erster StelleBehauptet Machiavelli den absolutenGegensatz von Moral und Politik? Ehernein! Selbst in den schlimmsten Kapi-teln des «Principe» kann man lesen, derFürst müsse Gutes tun, soweit möglich,und Böses, sofern notwendig. Er müsseje nach Lage der Dinge wohltätig odergrausam, menschlich oder tierisch sein.Mild, treu, menschlich, aufrichtig undfromm soll er scheinen und auch sein,aber allzeit bereit, dies alles, wenn not-wendig, ins Gegenteil zu wenden.

Ist gemäss Machiavelli das Ziel desStaates nicht der Friede, sondern derKrieg? Oder ist das Ziel des Staates diegrösstmögliche Macht? Machiavelli be-vorzugte die Republik gegenüber dem

Prinzipat und die expansive Republikgegenüber der nichtexpansiven. Macht-erhalt verlangt nach Machterweiterung.Dafür ist der Krieg nicht das einzige,sondern das letzteMittel. Wenn aber diekriegerische Expansion nicht möglichist, empfiehlt Machiavelli den Zusam-menschluss mehrerer Republiken.

Machiavelli ist zugutezuhalten, dasser sich niemals dazu hergab, die Grenzezwischen Gut und Bös zu verwischen.Betrug, Vertragsbruch, Grausamkeit,Gewalt und Mord sind und bleiben un-moralisch, unchristlich, unmenschlich,tierisch. Ob Republik oder Prinzipat,immermuss das Gemeinwohl die obers-te Richtschnur sein. Das ethische Prob-lem hinter allen Ratschlägen Machia-vellis ist letztlich sein Verständnis vonGemeinwohl. Es ist gleichbedeutendmit bedingungslosem Patriotismus, mitder Staatsräson als dem höchstemWert,und dies immer bezogen auf Florenz.Richtig ist allemal, was der Macht vonFlorenz dient. Kurz vor seinem Todschrieb Machiavelli über sich selbst:«Ich liebe mein Vaterland mehr alsmeine Seele.»

Trotz der Überbetonung der Amora-lität ist Reinhardts «Machiavelli» inhalt-lich ein Lesegewinn und sprachlich einLesegenuss. Im Vergleich mit den Vor-läufern ist die Biografie von VolkerReinhardt die spannendste. ●Alois Riklin ist emeritierter Professorfür Politikwissenschaft der UniversitätSt. Gallen.

GeschichteDer FreiburgerHistorikerVolker Reinhardt schreibt eine an Spannung reicheMachiavelli-Biografie – ein Lesegenuss

WereinguterMenschbleibenwill, fliehediePolitik

Kein politischerLehrmeister für alleZeiten: ProvokateurNiccolòMachiavelli(1469–1527).

TOPICMEDIA

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Sachbuch

22 ❘NZZ amSonntag ❘ 29. April 2012

Barbara Demick: Die Rosen von Sarajevo.Eine Geschichte vomKrieg. Droemer,München 2012. 303 Seiten, Fr. 28.90.

Von Ina Boesch

Wenn sie Hunger hatten und der Stromnicht unterbrochen war, schauten siesich ein Video von einem Festmahl an:Lammbraten, Fleischspiesse, gefülltePilze, Feta, Baklava und andere Köstlich-keiten. Ekrem Kaljanac hatte den Filmam ersten Geburtstag seines Sohnes auf-genommen, kurz danach begann die Be-lagerung von Sarajevo. Am 6. April 1992töteten Karadzics Scharfschützen vier-zehn Menschen in der Stadt; dieser Taggilt seither als offizieller Beginn desBosnienkriegs, der mehr als zehntau-

send Todesopfer forderte und unendlichviele Kriegsversehrte.

Der Alltag während der Belagerungwurde dominiert von Angst vor Granat-feuern und dem Mangel an Lebensmit-teln, Wasser, Strom und Gas. Häufig gabes gar nichts. Doch der Heizungsinstal-lateur Kaljanac und seine Frau Minkaliessen sich nicht unterkriegen. So zau-berte Minka ein «Wiener Schnitzel» aufden Tisch: aus altem Brot, ohne Fleisch,dafür mit viel Knoblauch. Oder sie bukeine «Luftpastete» ohne Füllung. ZurAlltagsbewältigung gehörte auch, dassdie Frauen sich mehr schminkten als vordem Krieg und auch die Männer de-monstrativ ihr Äusseres pflegten.

Die amerikanische Reporterin Barba-ra Demick, beeindruckt von der Würdeder Menschen in der belagerten Stadt,

wertet diese innere Haltung als Wider-stand gegen die Besatzung. Knapp zweiJahre hat sie bei den Kaljanacs und an-deren Bewohnern in der Logovina, einerder ältesten Strassen Sarajevos, ver-bracht und deren Alltag im Krieg für ihr1996 erstmals erschienenes Buch in be-rührenden Skizzen dokumentiert. Letz-tes Jahr ist sie in die Logovina zurückge-kehrt. Äusserlich hat sich wenig verän-dert, doch unterschwellig ist die Lagegespannt: Anders als vor dem Kriegspielt es heute für die Bewohner derStrasse eine Rolle, wer Serbe, Kroateoder Muslim ist. Auch wirtschaftlichgeht es ihnen nicht gut. Kaljanac findetdies normal, «normalno». Die Autorinhingegen macht sich Sorgen: über diehohe Arbeitslosigkeit und die Ethnisie-rung des Zusammenlebens. ●

BosnienkriegReportage derUS-Journalistin BarbaraDemick über denAlltag in Sarajevo

Überleben ineinerbelagertenStadt

Roberto Saviano: Der Kampf geht weiter.Widerstand gegenMafia undKorruption. Hanser, München 2012.175 Seiten, Fr. 23.90.

VonArnaldo Benini

In einem Gebiet der Provinz von Nea-pel, in dem rund 300000 Personenleben, hat die Camorra befohlen, dassdie Läden um 19. 30 Uhr und die Bars um22.00 Uhr schliessen müssen. Alle ge-horchen. Dies ist eine der zahlreichenEpisoden, mit denen Roberto Saviano inseiner Reportagensammlung das Wir-ken der italienischen Mafia schildert.

2006 hat Saviano mit «Gomorrah»einen detaillierten Bericht über die Ge-walt geschrieben, mit der die Camorraüber einen Teil der Region Campaniaherrscht. Er nannte Namen von Auftrag-gebern und Killern, die für HunderteMorde verantwortlich waren. Viele vonihnen sitzen heute im Gefängnis, dochdieMacht der Camorra ist ungebrochen.Wie ist das möglich? Eine Erklärung lie-ferte ein Staatsanwalt, der vor sechs Jah-ren Neapel verliess, nicht aus Angst,sondern weil eine unvorstellbare Kom-plizenschaft der regionalen Behördenund selbst der Staatsanwaltschaft einenwirksamen Kampf verhindert. DieMacht der Camorra wirkt sich selbst

dort aus, wo man sie niemals vermutenwürde: Bei der Frankfurter Buchmesse2008 war die Begegnung zwischen Sa-viano undOrhan Pamuk, die aufDeutschbeide bei Hanser verlegt werden, einerder mit grosser Spannung erwartetenAnlässe. Im letzten Moment zog sichPamuk aus Angst vor Repressalien zu-rück. Die Camorra hatte sich dagegenverwahrt, dass ihr Erzfeind Savianodurch die Begegnung mit einem Nobel-preisträger geehrt würde.

In der Region Kalabrien nennt sichdas organisierte Verbrechen ’Ndranghe-ta. Unlängst hat der Staatsanwalt vonReggio Calabria bekannt gegeben, dassin jedem Ort mit rund 15000 Einwoh-nern etwa 400 Mitglied sind. Sie sindnicht nur durch gemeinsame Interessen,sondern auch durch familiäre Beziehun-gen verbunden, weshalb Omertà(Schweigepflicht), Disziplin und Opfer-bereitschaft absolut sind. Die Zusam-menarbeit von Mafia-Mitgliedern mitden Ermittlern, die dem Staat beimKampf gegen die sizilianischeMafia unddie neapolitanische Camorra geholfenhat, ist in Kalabrien undenkbar.

Saviano zufolge ist die ’Ndranghetadie am weitesten verbreitete, reichste,mächtigste und gefährlichste kriminelleOrganisation Europas. Ein Grossteil deritalienischen sowie ein nicht geringerTeil der deutschen und spanischen

Wirtschaft wird von unbekannten undrückständigen Dörfern Süditaliens ausgelenkt. Die Lombardei ist die RegionEuropas, schreibt Saviano, mit demhöchsten Prozentsatz krimineller Inves-titionen. Auch die Abruzzen sind eineHochburg des organisierten Verbre-chens. Saviano erzählt, wie es gut zehnJahre brauchte, um das Spital in L’Aquilazu bauen. Beim Erdbeben 2009 stürztees fast vollständig ein, weil es zur Hälfteaus Sand bestand. Sogar die Gewerk-schaft hatte die Bauarbeiter zumSchwei-gen verpflichtet. Die kriminellen Orga-nisationen wenden auch ausserhalbihrer Gebiete Gewalt an. 2011 wurdenetwa in Rom 37 Personen auf offenerStrasse hingerichtet, und 2007 raubtedas Blutbad in Duisburg den Deutschendie Illusion, von der Ausbreitung dersüditalienischen Bandenkriminalitätverschont zu bleiben.

Mit seiner Reportagensammlungüber den italienischen Horror führt Sa-viano seinen mutigen Kampf gegenMafia und Korruption weiter. Kann erjemals gewonnen werden? Die Verstri-ckung zwischen Kriminalität, Politikund Wirtschaft in einem der korruptes-ten Länder der Welt, die trotz Verhaf-tungen und Enteignungen ungebroche-ne Macht der Clans, lassen nicht nurSaviano befürchten, dass die Demokra-tie in Italien ernsthaft in Gefahr ist. ●

MafiaDieMacht von verbrecherischenOrganisationen ist imBel Paeseungebrochen, sagt Roberto Saviano

ItaliensDemokratie istgefährdet

Der an Leib und Leben gefährdete Autor Roberto Saviano (vorne) mit Bodyguards 2008 in Rom.

ROPI

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29. April 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 23

Henry David Thoreau: Wilde Früchte.Manesse, Zürich 2012. 318 Seiten,Fr. 129.–.Henry David Thoreau: Die Wildnis vonMaine. Eine Sommerreise. Jung undJung, Salzburg 2012. 159 Seiten, Fr. 28.50.

VonKirsten Voigt

Er hört denDreschflegelam 13. September1858 die Spreu vomWeizen trennen, «zwei-hundert Jahre alter Klanghierzulande – wie lange wirdman ihn wohl noch hören?»An einem dieser «fingerkal-ten Abende», ausdem er dasBeste macht,indem er Kohl-rüben erntet,begeistert er sichfür «die dicken,rotvioletten, run-den und gebuch-teten Knollen»,die ihn an rosigeBacken bei kal-tem Wetter erin-nern. Der Geruch von Früh-äpfeln übertrifft für ihn jedesParfüm. Und der Geschmack des Wild-apfels hängt davon ab, wo man ihn isst:«Diese Äpfel müssen auf freier Flur ver-zehrt werden, wenn unser ganzer Orga-nismus durch die Bewegung belebt ist,wenn die Finger vor Kälte prickeln, derWind das kahle Geäst rüttelt und imspärlichen Laub raschelt, der Häher unskreischend umstreicht.»

Mit allen Sinnen und gelehrtem Ver-stand, Neugier und echtem Respekt stu-dierte Henry David Thoreau sein zukurzes Leben lang die Natur. Im Jahr 1817in Concord (Massachusetts) geboren,starb er mit nur 44 Jahren an Tuberkulo-se und hinterliess Tausende von Manu-skriptseiten, darunter ein Werk, das imJahr 2000 erstmals in den USA publi-ziert wurde und jetzt anlässlich seines150. Todestages in einer wunderbarenbibliophilen Ausgabe auf Deutsch er-scheint: «Wilde Früchte». Ein herrlichbuntes, stimmungs- und zuweilenhumorvolles Dossier über 182 Artender Pflanzenwelt Neuenglands. SonjaSchadwinkel hat 50 Illustrationen zudiesem Band beigesteuert, der bestensdurch ein kenntnisreiches Nachwort desHerausgebers Bradley Dean, einen um-fassenden Fussnotenapparat, ein botani-sches Glossar und einen tabellarischenLebenslauf Thoreaus informiert.

Thoreau, der am Harvard-Collegestudiert hatte, meinte, seine wichtigstenErfahrungen im «Hucklebeergebiet» ge-sammelt zu haben. Das In-die-Beeren-

Gehen spielt denn auch eineentscheidende Rolle für seinLeben und dieses Buch. Es bedeutet,nicht das Exotische hoch- und das Nahe-liegende geringzuschätzen, sondern denReichtum des Heimischen mit Geduldzu ergründen und sinnvoll zu nutzen.Thoreau berichtet heiter nostalgischvon den aufregenden Erfahrungen beimSammeln, die man sein Leben lang nichtvergisst. Den Wert der Pflanzen sah ernicht nur in ihrer Verwendbarkeit, son-dern in der ästhetischen Freude anihrem Anblick, Geruch und Geschmack.

Ohne KompromisseAls Transzendentalist begriff er es alsAufgabe, «mit steter Wachsamkeit Gottin der Natur aufzuspüren». Eines wollteer sich am Ende seines Lebens nicht vor-werfen müssen: nicht bewusst gelebt zuhaben. Unorthodox, kompromisslos, in-dividualistisch, mitunter radikal folgteer seinen Überzeugungen. Als Lehrerhatte er die Prügelstrafe abgelehnt unddeshalb seinen Dienst quittieren müs-sen. 1846 verbrachte er wegen seinerWeigerung, Wahlsteuern zu bezahlen,eine Nacht im Gefängnis von Concord.Er schrieb «Über die Pflicht zum Unge-horsam gegen den Staat» – einen Essay,auf den Gandhi und Martin Luther Kingreferierten – und gegen den ökologi-schen Unverstand. In seinem berühm-testen Selbstversuch hatte er 1845 bis1847 von und mit der Natur gelebt: Am

Waldensee (Massachusetts) baute er aufLand, das sein Freund Ralph WaldoEmerson gekauft hatte, um es vor derRodung zu bewahren, eine kleine Hütteund versorgte sich selbst. 1854 veröffent-lichte er «Walden. Oder das Leben inden Wäldern», das zu einer Inkunabelder Protestliteratur und des alternativenLebens wurde.

Mit enthusiastischem BlickIm Jahr 1857 unternahm er zusammenmit dem Indianer Joseph Polis eineSommerreise. Der Text «Die Wildnisvon Maine», der jetzt mit einem glän-

zenden Nachwort des Über-setzers Alexander Pech-mann erschienen ist, er-zählt, wie Thoreau und

Polis im Kanu Seenund Flüsse be-fuhren, ihrLager unterfreiem Him-mel aufschlu-

gen und botani-sche Kenntnisse

austauschten. Thoreauporträtiert neben Floraund Fauna vor allem

seinen intelligentenFührer. Er bewun-dert dessen Wis-sen über Heil-pflanzen, seinewortkarge Kon-

zentration, dieKlugheit, mit der er mit seinen Kräftenhaushaltet, seinen Umgang mit Gefah-ren, seinen Instinkt und seinenOrientie-rungssinn.

Und immer wieder wird Thoreauauch hier zivilisationskritisch: «Der An-gloamerikaner kann natürlich diesenganzen wogenden Wald fällen undroden und auf seinen Stümpfen politi-sche Reden halten, aber er kann nichtmit der Seele des Baums, den er fällt,sprechen, er kann die Poesie und My-thologie nicht lesen, welche sich zu-rückzieht, während er voranschreitet.Unwissentlich löscht er mythologischeTafeln, um seine Handzettel und Stadt-ratsanordnungen darauf zu drucken.»

Nicht weniger engagiert, aber ebenauch wissenschaftlich sorgsam, bildhaft,poetisch und reich an Querverweisenauf die Literatur von der Antike bis zunaturkundlichen Schriften seiner Zeit,an Anekdoten und Legenden legt erseine Pflanzenstudien in «Wilde Früch-te» an. Henry David Thoreaus Naturge-schichte ist gleichermassen eine Chro-nik seiner farbenprächtigen und leben-digen Begegnungen mit Natur undMen-schen wie auch ein wichtiges Stückamerikanischer Kulturgeschichte, kri-tisch im Blick auf seine Artgenossen,enthusiastisch im Blick auf die Vielfaltder botanischen Arten. ●

NaturgeschichteDer PhilosophHenryDavidThoreau starb vor 150 Jahren: Er erkundete dieWildnisund plädierte für ein verantwortliches Leben in derNatur

Früchteeines zukurzenLebens

Das Sammeln vonBeeren – hier wildeBrombeeren – war fürHenry David Thoreaunicht nur nützlich, erfreute sich auch anihremAnblick undGeschmack.

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Sachbuch

24 ❘NZZ amSonntag ❘ 29. April 2012

Georges Andrey, Alain-Jacques Czouz-Tornare: Der erste Landammann derSchweiz – Louis d’Affry 1743–1810.DieEidgenossenschaft in napoleonischerZeit. Hier + Jetzt, Baden 2012. 343 Seiten,Fr. 57.90.

VonTobias Kaestli

Nationalistische Empfindlichkeiten ver-nebeln bis heute die Sicht auf die Zeitder Mediation (1803–1813) und auf ihreProtagonisten. Einer der wichtigstenwar der aristokratische Freiburger Offi-zier Louis d’Affry (1743–1810). Fred deDiesbach beschrieb schon ausführlichsein Leben undWirken, aber seinManu-skript von 1947 wurde nie veröffentlicht.Die beiden Westschweizer HistorikerAndrey und Czouz-Tornare haben nun,daran anknüpfend, eine neue Biografiegeschrieben, die eigentlich eine Doppel-biografie von Vater und Sohn d’Affry ist.

Darüber hinaus handelt es sich umeine teilweise scharf konturierte, ab undzu auch etwas langfädige Geschichte derSchweiz zwischen Ancien Régime undRestauration. Die Beziehung zwischender Schweiz und Frankreich wird ausfrankreichfreundlicher Sicht beschrie-ben, die Spannungen zwischen Aristo-

kraten und Revolutionären mit vielWohlwollen gegenüber den Aristokra-ten. Schwerpunkte sind der Untergangder Schweizer Garde in Paris, die Ent-stehung der Mediationsakte und das Re-gierungssystem der Mediationszeit.

Die beiden Autoren widersprechendem gängigen Klischee, wonach die AlteEidgenossenschaft ein Bund freier Re-publiken war, der nach der Französi-schen Revolution seine Unabhängigkeitverlor und von 1798 bis 1813 eine demü-tigende Zeit der Fremdherrschaft erlei-den musste. Diesem durch die patrioti-sche Geschichtsschreibung des 19. Jahr-hunderts geschaffenen Modell setzensie die besonders durch die GeschichteFreiburgs gestützte Auffassung entge-gen, dass die eidgenössischen Kleinstaa-ten seit Jahrhunderten unter dem Schutzder französischen Könige lebten und er-folgreich ihr Söldnergeschäft betrieben,bis sie von der gewaltsam expandieren-den französischen Republik gezwungenwurden, den helvetischen Einheitsstaatzu bilden.

Als dieser Staat an inneren Konfliktenzu zerbrechen drohte, gab ihm Bonapar-te, der «Grand Consul», mit der Media-tionsakte von 1803 eine föderalistischeVerfassung. Dank dem aufgeklärtenFreiburger Aristokraten Louis d’Affry

wurde sie so umgesetzt, dass unser Landnicht wieder in Einzelstaaten zerfiel,sondern sich die «idée suisse» entwi-ckeln und festigen konnte. Die Schweizder Mediation profitiere so gesehen vonder «Grandeur» Frankreichs. Deshalbsprechen Andrey und Czouz-Tornarevon der «Grossen Mediation».

Aufgrund des reichen Familienar-chivs sowie weiterer Materialien imStaatsarchiv Freiburg und in anderenArchiven ist ein für Geschichtsinteres-sierte höchst lesenswertes Buch ent-standen. Es erschien im Jahr 2003 infranzösischer Sprache. Dass es in derDeutschschweiz nur wenig zur Kenntnisgenommen wurde, zeigt, wie wirksamdie Sprachbarriere ist. Deshalb ist es zubegrüssen, dass dieses Werk – um zweispezielle auf Freiburg bezogene Kapitelgekürzt – jetzt auch in deutscher Über-setzung erscheint. Die deutsche Versionzeigt auch, wie anspruchsvoll ein derar-tiges Projekt ist. Gewisse Mängel derÜbersetzung und der Gestaltung deswissenschaftlichen Apparats sind nichtzu übersehen. Trotzdem ist der Präsi-dentin der Fondation d’Affry, beizustim-men, wenn sie im Vorwort schreibt,«dass in Zukunft immer mehr histori-sche Werke in mehreren Landesspra-chen der Schweiz erscheinen» sollten.●

EidgenossenschaftWestschweizerHistorikerwidmen sich der Schweiz derMediation (1803 bis 1813)

WieFrankreichmithalf,die «idée suisse»zuentwickeln

François Baratte: Die Römer in Tunesienund Libyen.Nordafrika in römischerZeit. Zabern, Darmstadt 2012. 144 Seiten,Fr. 40.90.

VonGeneviève Lüscher

Tunesien und Libyen stehen auf der po-litischen Agenda zurzeit weit oben. Der«arabische Frühling» hat vieles aufge-brochen und die jungen Staatengebilderingen um ihre Zukunft. Ein Blick zu-rück kann dabei nicht schaden, dennNordafrika hat eine reiche, stolze Ver-gangenheit. Davon zeugt der neue Bild-band aus dem Zabern-Verlag. Erstmalsliegt mit ihm eine deutschsprachige Mo-nografie zur römerzeitlichen Archäolo-gie und Kultur der beiden Länder vor,sie stammt aus der Feder des französi-schen Altertumsforschers und Nordafri-ka-Spezialisten François Baratte.

Ganz Nordafrika war seit den puni-schen Kriegen, der Eroberung Kartha-gos durch die Römer im Jahr 146 v. Chr.und dann bis ins 5. Jahrhundert n. Chr.

unter römischer Herrschaft. Tunesienund Libyen gehörten grösstenteils zurAfrica proconsularis, einer unter denStatthaltern sehr begehrten Provinz. Alsreiche Kornkammer des Imperiums,hing die Hauptstadt Rom sozusagen anihrem Tropf.

Die naturräumlichen Gegebenheitenund das Klima, das sich vom heutigenkaum unterschied, beförderten eineKultivierung des Bodens, in erster Liniefür den Weizenanbau. Auch Öl undWein trugen zum Reichtum bei. Fisch-fang und Fischverarbeitung sind durchgrosse, fast industrielle Anlagen, z.B. inNeapolis, bezeugt. Hier wurde das be-rühmte römische «garum», eine Würz-sauce aus verfaulten Fischen und Salz,produziert und exportiert. Bekannt warauch der qualitätvolle Marmor; einegelbe Varietät aus Simitthus war im gan-zen römischen Reich begehrt.

Und natürlich bauten die Römer wieüberall prachtvolle Städte mit Tempeln,Theatern und Privatvillen, deren Mosai-ken noch heute entzücken. Weit mehrBaureste als in Europa blieben erhalten,

weil eine nachrömische Zerstörungoder Überbauung kaum stattgefundenhat. So lassen sich heute in Ghirza, BullaRegia, Thugga, Thysdrus, Sufetula, Lep-tis Magna und an vielen anderen OrtenBauwerke bewundern, die in Teilennoch bis zum Dach erhalten sind.

Es bleibt zu hoffen, dass sich die aktu-elle Lage in Libyen und Tunesien so weitberuhigt, dass der Tourismus, der hierzweifellos zu einem wichtigen Wirt-schaftszweig heranwachsen könnte, an-gekurbelt werden kann. Der schöneBildband von François Baratte jedenfallsweckt nur einen Wunsch: Auf nachNordafrika! ●

KulturlandschaftTunesien und Libyenwaren dieKornkammern des römischen Imperiums

AufnachNordafrika!

Das römischeMosaik in einer Villabei Leptis Magnain Libyen zeigtdie Allegorie desSommers.

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29. April 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 25

Uwe Schultz: Der König und sein Richter.Ludwig XVI. und Robespierre. EineDoppelbiografie. C. H. Beck, München2012. 400 Seiten, Fr. 35.50, E-Book 23.90.

Von Fritz Trümpi

Was sich nüchtern Doppelbiografienennt, könnte auch als historischerRoman durchgehen: Uwe Schultz prä-sentiert eine knapp 400-seitige Ge-schichte der Französischen Revolution,die sich im Nu gelesen hat – als wäre esbeste Prosa. Und auch mit den Quellen-verweisen hält es Schultz so, als ob erFiktion betreibe: Sie fehlen flächende-ckend, sieht man von direkten Zitatenhistorischer Persönlichkeiten ab. Woder Autor die Kenntnisse seiner detail-reichen Beschreibungen jeweils her hat,

muss man sich anhand der dem Buchbeigefügten Bibliografie somit selbst zu-sammenreimen.

Die Revolutionsperiode von denHauptrepräsentanten ihrer Extreme herin den Blick zu nehmen, ist indes einkluger dramaturgischer Kniff. DennSchultz bespielt den in seinen Grundzü-gen allbekannten historischen Stoff aufeine neue Weise, indem er die beidendiametral entgegengesetzten Perspekti-ven konsequent parallel führt: Hier dervom Niedergang der Monarchie ge-zeichnete König Louis XVI.: Er war Re-formen gegenüber zwar durchaus aufge-schlossen, seinen Thron vermochte eraufgrund des dauermaroden Staatshaus-halts jedoch nicht zu erhalten undwurde von einer hauchdünnen Mehr-heit des Nationalkonvents schliesslichzum Tod verurteilt. Dort der narzisti-

sche und sich beständig radikalisieren-de Revolutionär Robespierre, der alspedantischer Jurist nie regieren, son-dern in erster Linie «Verbrechen» ahn-den wollte – bis er selbst Opfer seinerRadikalität wurde und ebenfalls unterder Guillotine endete.

Der König und Robespierre, so resü-miert Uwe Schultz, seien zwei aufeinan-derprallende «politische Naturkräfte»gewesen; beide hätten ihre jeweilige Po-sition nicht preisgeben wollen, wofürsie mit dem Tod bezahlt hätten. Doch sowertneutral wie dieses Fazit ist die Dar-stellung insgesamt nicht – die Sympa-thie des Autors liegt unzweifelhaft beimKönig. Der reizvollen doppelperspekti-vischen Anlage des Buches zum Trotzschmälert diese offenkundige Partei-lichkeit die historische Aussagekraft desBandes letztlich erheblich. ●

GeschichteDie FranzösischeRevolution aus der Perspektive von Louis XVI. undRobespierre

MonarchversusRevolutionär

Christian Seiler: André Heller. Feuerkopf.Die Biografie. Bertelsmann,München2012. 448 Seiten, Fr. 35.40, E-Book 23.90.

VonCharles E. Ritterband

André Heller, der vor kurzem seinen65. Geburtstag feierte, hat mehr als einLeben gelebt. Wenn man seine spekta-kulären Grossprojekte, seine Installatio-nen, Aktionen Revue passieren lässt,sich seine Auftritte als Chansonnier, alsSchauspieler vergegenwärtigt, die langeListe seiner Schriften und Kompositio-nen, die faszinierenden Persönlichkei-ten, mit denen er befreundet war oderdenen er zumindest begegnet ist, wennman von den höchsten Triumphen undden schwersten Niederlagen erfährt, diesein buntschillerndes Lebenmarkierten,so fällt es einem schwer zu glauben, alldies könnten Stationen in der Biografieeines einzigen Menschen sein.

André Heller hat mit seiner Magie,seiner unerschöpflichen Phantasie daseinst ziemlich graue Wien für immerverändert, farbiger, offener, freier ge-macht. Ein hell lodernder «Feuerkopf»– ein Wurf dieser Titel der 450 Seitenstarken autorisierten Biografie aus derFeder von Christian Seiler, dem frühe-ren Chefredaktor des Nachrichtenmaga-zins «Profil» und der Kulturzeitschrift«Du». Nahezu zwei Jahrzehnte kennt erAndré Heller, und in zahllosen Gesprä-chen ist dieses geradezu enzyklopädi-sche Werk über die so facettenreiche,von Verehrern angehimmelte und vonNeidern angefeindete Person Hellerentstanden. Seiler hat akribisch eineUnzahl von Fakten angehäuft und ge-ordnet, all die Begegnungen und Bezie-

hungen registriert, die Hellers Lebengeprägt haben.

Wer jedoch den gewichtigen Bandaufschlägt, und erwartungsvoll zu lesenbeginnt, wird in seiner Erwartung einerlustvollen Lektüre enttäuscht. Man hatHellers feinsinnige autobiografische Er-zählung «Wie ich lernte, bei mir selbstKind zu sein» aus dem Jahr 2008 vorAugen oder erinnert sich an die farben-sprühenden Fernsehdokumentationenüber Hellers Projekte und Inszenierun-gen, und kämpft sich hier durch einenWust von Fakten und Namen – erfreu-lich unterbrochen allerdings durch Fo-tografien, welche wesentlich mehr überHellers Schöpfungen zu berichten ver-mögen alsWorte und Sätze. Seiler ist eineifriger und präziser Archivar von Hel-

lers vielfältigen Aktivitäten, getreulichgibt er die Geschehnisse wieder, so wieHeller sie ihm geschildert hat – doch eingrosser Erzähler ist er nicht.

Vieles in diesem Buch wirkt unreflek-tiert. Vor allem Hellers Ursprüngen imWiener jüdischen Grossbürgertum, demdie Donaumetropole kulturell und wirt-schaftlich so viel zu verdanken hat, wirdmit dem dürren Satz «Zu Hause war dasJudentum des Vaters nie ein Thema ge-wesen» kaum Genüge getan. Und Be-hauptungen wie jene, dass Hellers VaterStephan mit dem von ihm verehrtenund in brieflichem Kontakt stehendenSchriftsteller Joseph Roth den «Glaubenan ein gemeinsames Projekt: die Wie-dereinführung der Monarchie in Öster-reich» teilte, erscheinen zweifelhaft.

Die stärksten Schilderungen dieserBiografie sind jene von Hellers Kind-heit, in der sich schon die Versatzstückejener überschäumenden Kreativität fin-den, welche später die «Marke Heller»prägen sollten. Die phantastischen Ge-mälde des Henri Rousseau. Das «Ge-ruchstheater» der Grossmutter, «eineKiste mit verschiedenen Laden, wo injeder Schublade etwas lag, das einencharakteristischen Geruch verströmte».Dabei denkt man an die theatralischenInszenierungen der «Kristallwelten»der Firma Swarovsky in Wattens beiInnsbruck. Oder die kindliche Erfah-rung in den märchenhaften Theaterstü-cken von Ferdinand Raymund, «dassalles, was man sich wirklich wünscht,mit einem Tusch auf der Bühne Wirk-lichkeit wird» – Jahre später sollte Hel-ler auf viel grösseren Bühnen TräumeWirklichkeit werden lassen: Keine Idee,und war sie noch so kühn und kompli-ziert, die sich nicht realisieren liess. ●

PorträtDer Journalist Christian Seiler breitet sein enzyklopädischesWissen über das künstlerischeMultitalent AndréHeller aus

DerMagiervonWien

Chansonnier, Autor,Schauspieler undAktionskünstler –André Heller beimUmkleiden im ZirkusRoncalli (1976).

KPA

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Sachbuch

26 ❘NZZ amSonntag ❘ 29. April 2012

DasamerikanischeBuch InNewOrleans dominiert Improvisation als Prinzip

Als «zufällige Stadt» beschreibt derHistoriker Lawrence Powell seineWahl-heimat in Accidental City. ImprovisingNew Orleans (Harvard University Press,422 Seiten). Die amerikanische Kritiklobt das Buch bereits als Standardwerküber die ersten hundert Jahre der Ge-schichte von NewOrleans, in der bisheute wirkungsmächtige, kulturelleStrukturen gewachsen sind. Powelllehrt seit 1978 an der renommiertenTulane University der Stadt und hat«Accidental City» nach demHurrikanKatrina im Jahr 2005 begonnen. Damalshaben etliche Kommentatoren dieLebensfähigkeit von NewOrleans inFrage gestellt. Doch nun zeigt Powell,dass solche Zweifel älter sind. Flüssiggeschrieben und reich an Details, er-klärt das Buch zudem die erstaunlicheVitalität dieser Stadt, die kulturell eherder Karibik zugehört, als Nordamerika.

Dabei gleicht es mehr einemWunder,als Zufall, dass auf der Landenge zwi-schen demUnterlauf desMississippiund derMeeresbucht Lake Pontchar-train überhaupt je eine dauerhafteSiedlung entstanden ist. MitWirbel-stürmen, Überschwemmungen undStechmückenmachte die Natur demMenschen hier das Leben schwer. Zu-demwar derWeg von der labyrinthi-schen Flussmündung bis nach NouvelleOrléans im Segel-Zeitalter dank starkerStrömungen und wandernder Untiefenhöchst mühsam. So hatte Jean-BaptisteLeMoyne, Sieur de Bienville, nach sei-nem ersten Besuch fast zwanzig Jahrelang gezögert, ehe er hier imMai 1718die Hauptstadt der neuen französi-schen Kolonie La Louisiane auf Ufer-bänken aus Lehm gründete.

Laut Powell ging die Entscheidungauch auf die grossen Ländereien in und

um die zukünftige Stadt zurück, die sichBienville zuvor gesichert hatte. Diesergesunde Egoismus scheint ebensogrundlegend für die Ortsgeschichte zusein, wie die Herkunft des Gründers:Als Söhne eines einfachen Francokana-diers legten sich Bienville und seineBrüder adelige Zunamen zu und wurdenso zu klassischen Beispielen der«Selbsterfindung», die Powell als Cha-rakteristikum der Bewohner von NewOrleans ausmacht. Die Stadt bot nichtnur aus Frankreich deportierten Krimi-nellen oder Prostituierten eine Chance,sich neu zu erfinden und ihr Glück zumachen – häufig als Schmuggler oderPiraten. Daneben gehören auch wage-mutige Deutschschweizer zu den Pio-

nieren. Hierher verschleppte, schwarzeSklaven konnten in die Sümpfe flüch-ten, wo sie eigene Siedlungen gründe-ten und in Indianerstämme ein-heirateten. Sklaven nahmen auchGelegenheiten wahr, sich freizukaufenund bildeten eigeneMilizen, die 1814auf amerikanischer Seite an der legen-dären «Battle of NewOrleans» teilnah-men und britischen Veteranen derNapoleonischen Kriege eine spektaku-läre Niederlage zufügten.

Exemplarisch bis heute war zudem derFamiliensinn Bienvilles. Sein Clan etab-lierte ein Netzwerk von Verwandtenund Freunden aus Kanada. Dieseswurde Kern einer von Cliquen domi-nierten Oberschicht. Diese Kreolen, dieNachkommen europäischer Siedler,profitierten rasch von der strategischenLage der Stadt als Umschlagsplatz fürPelze aus demNorden und Güter ausder Karibik oder Europa. Die französi-sche Krone hatte derweil das Nach-sehen. So scheiterte der geplanteTabakanbau am ungünstigen Klima.Absolutistische Ordnungsvorstellun-gen konnten sich weder bei deröffentlichenMoral, noch bei der Stadt-planung gegen den Eigensinn derBewohner durchsetzen. Damit wurdeImprovisation in NewOrleans nichtnur möglich, sondern unausweichlich.Doch das Fehlen einer starken Zentral-macht führte bereits 1719 dazu, dass dieBürger ein sinnvolles Drainage-Projektunterlassen haben. Seither hat NewOrleans laut Powell «die Lösung vor-hersehbarer Probleme als Nachgedan-ken behandelt und Improvisation zueinemOrganisationsprinzip erhoben».Die Schattenseiten dieses Prinzips hatWirbelsturm Katrina eindrücklich de-monstriert. ●Von AndreasMink

Michael Maar: Hexengewisper.WarumMärchen unsterblich sind. Berenberg,Berlin 2012. 80 Seiten, Fr. 28.90.

VonKathrinMeier-Rust

Märchen kennt jeder und jede, und seienes nur die gängigsten wie Schneewitt-chen oder Dornröschen. Und auch vonder Märchenforschung, deren Deutungund Theorien, hat man seit C. G. Jungimmer wieder gehört. In einem schönenEssay fasst der Germanist und EssayistMichael Maar nun zusammen, was anMärchen erstaunlich ist, was über ihreHerkunft bekannt ist oder spekuliertwird, was sie uns sagen wollen undwozu sie gut waren und es immer nochsind. Er tut dies, wie gewohnt bei die-sem Autor, auf glänzende Weise.

Das Märchen sei ein Nomade, derdurch die Jahrhunderte streife, sagt

Maar. Tatsächlich erzählen die Men-schen überall Märchen und sie enthal-ten auch weltweit dieselben Motive. Aufden Streit der Forscher, ob Märchendurch Völkerwanderungen über dieErde verbreitet wurden oder unabhän-gig in jeder menschlichen Kultur ent-standen sind, lässt sich Maar allerdingsnicht weiter ein. Umso mehr auf ihre bi-zarre Unlogik, ihre naive Grausamkeitund die vollkommen selbstverständli-che Welt der Gewalt, die sie abbilden.

Diese Gewalt-Erfahrungen mag aufdie Stein- oder Bronzezeit zurückgehenoder – in Deutschland – auf den 30-jäh-rigen Krieg: Märchen, so formuliert esMaar, bewahren in ihrem Kern ein Trau-ma, ein überaus starkes Tabu – Mord-lust, Kindsmord, triebhafte Sexualität,Kannibalismus – und es ist dieser «Glut-kern», der sie unsterblich macht. Weilgerade das Schlimmste, von dem mannicht reden könne, danach dränge, be-

sprochen zu werden, eben deshalb gebees Märchen. Die natürlich nicht für Kin-der, sondern für Erwachsene gedachtwaren, bevor sie, gesammelt und bear-beitet von Dichtern und Gelehrten, im18. Jahrhundert salonfähig wurden.

Besonders liebevoll wendet sich Mi-chael Maar dem Kunstmärchen zu, dasschon die Antike kennt und das in derFantasy-Literatur und im Hollywood-kino heute eine wahre Blüte erlebt, weiles die naive Form zitiert und dem Mär-chen das «Ferment» der Ironie bei-mischt. Während sich im Volksmärchenuralte Erfahrungen grosser Gruppenverdichten, behandeln Kunstmärchendie politischen und privaten Tabus ihrerZeit. Besonders schön zeigt Maar diesam Beispiel der «Kleinen Seejungfrau»von Hans Christian Andersen, in derenSchicksal ihr Schöpfer das Tabu der ei-genen Homosexualität und das Leidendaran verschlüsselt hat. ●

Erzählungen Jeder kenntGeschichten – dochwie undwann sind sie entstanden?

VomGlutkernderMärchen

NewOrleans, dieWiege des Jazz,verdankt ihre einstigeBlüte demHandel.Autor LawrencePowell (unten).

LEECELA

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Agenda

29. April 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 27

BaselDonnerstag, 3. Mai, 19 UhrPeter vonMatt: Das Kalbvor der Gotthardpost.Lesung, Fr. 17.–.Literaturhaus,Barfüssergasse 3,Tel. o61 261 29 50.

Dienstag, 8. Mai, 19.30 UhrAngelikaMeier: Heimlich, heimlichmich vergiss. Lesung. BuchhandlungDas Labyrinth, Nadelberg 17.Info: www.daslabyrinth.ch.

Montag, 21. Mai, 19 UhrNihad Siris: Ali Hassans Intrige. Lesung«Syrien aktuell». Literaturhaus (s. oben).

BernMittwoch, 9. Mai, 20 UhrDiccon Bewes: Der Schweizversteher.Lesung, Fr. 15.–. Buchhandlung Stauffa-cher, Neuengasse 25/37. Tel. 031 313 63 63.

Montag, 21. Mai, 20 UhrHelon Habila: Öl aufWasser. Lesung,Fr. 15.–. ONO Bühne, Kramgasse 6.Info: www.onobern.ch.

SolothurnFreitag, 18., bis Sonntag, 20. Mai34. Solothurner Literaturtage.Programmunter: www.literatur.ch.

ZürichDonnerstag, 3. Mai, 20 UhrMichèle Binswanger, Nicole Althaus:Macho-Mamas. Buchvernissage, Lesung,Fr. 28.–.Kaufleuten, Pelikanplatz 1,Tel. 044 225 33 77.

Donnerstag, 10. Mai, 15 UhrPreisverleihung Prix Chronos mit KatjaAlves und vielen Leseratten zwischen 10und 100. Volkshaus, Stauffacherstr. 60.Anmeldung: Tel. 044 283 89 81.

Dienstag, 15. Mai, 20 UhrBärbel Reetz: HessesFrauen. Lesung, Fr. 18.–inkl. Apéro.Literaturhaus, Limmat-quai 62, Tel. 044 254 50 00.

Montag, 21. Mai, 20 UhrMartin Hennig: Logans Party / ClemensKlopfenstein: Schwein gehabt /MarcusNester: Vergiss Venedig. Drei Lesungen.Buchhandlung Hirslanden, Freiestrasse221. Vorverkauf.Info: www.buchhandlung-hirslanden.ch.

Donnerstag, 24. Mai, 20 UhrFeridun Zaimoglu stellt seinWerk vor.Literaturhaus (s. oben.)

BestsellerApril 2012

Bücher amSonntag Nr.5erscheint am27. 5. 2012

Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher amSonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solangeVorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,8001 Zürich, erhältlich.

ANNAWEISE

ErhebungMedia Control imAuftrag des SBVV; 17. 4. 2012. Preise laut Angaben vonwww.buch.ch.

SachbuchBelletristik

1 Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens.Hanser. 246 Seiten, Fr. 21.90.

2 Philippe Pozzo di Borgo: Ziemlich besteFreunde.Hanser. 246 Seiten, Fr. 21.90.

3 Pascal Voggenhuber: Die geistigeWelt hilftuns.Giger. 186 Seiten, Fr. 32.90.

4 Barney Stinson: Das Playbook.Riva. 176 Seiten, Fr. 15.90.

5 Barney Stinson: Der Bro Code.Riva. 200 Seiten, Fr. 14.90.

6 Hans Küng: Jesus.Piper. 304 Seiten, Fr. 28.90.

7 Walter Isaacson: Steve Jobs.Bertelsmann. 701 Seiten, Fr. 35.40.

8 Judith Giovannelli-Blocher: Der rote Faden.Nagel&Kimche. 248 Seiten, Fr. 27.90.

9 TomasSedlacek: DieÖkonomie vonGut undBöse.Hanser. 447 Seiten, Fr. 34.90.

10 Kurt Lauber: Der Wächter des Matterhorns.Droemer/Knaur. 248 Seiten, Fr. 34.90.

1 Jussi Adler-Olsen: Das Alphabethaus.Dtv. 588 Seiten, Fr. 17.90.

2 Jonas Jonasson: Der Hundertjährige.Carl’s Books. 412 Seiten, Fr. 19.90.

3 Daniel Glattauer: Ewig Dein.Deuticke. 205 Seiten, Fr. 23.90.

4 Milena Moser: Montagsmenschen.Nagel&Kimche. 394 Seiten, Fr. 25.90.

5 Andrea Camilleri: Das Ritual der Rache.Bastei Lübbe. 282 Seiten, Fr. 26.–.

6 Tess Gerritsen: Grabesstille.Limes. 448 Seiten, Fr. 23.–.

7 Paulo Coelho: Aleph.Diogenes. 309 Seiten, Fr. 27.90.

8 Javier Marías: Die sterblich Verliebten.S. Fischer. 429 Seiten, Fr. 28.90.

9 Lukas Hartmann: Räuberleben.Diogenes. 345 Seiten, Fr. 35.90.

10 Jussi Adler-Olsen: Erlösung.Dtv. 588 Seiten, Fr. 21.90.

AgendaMai 2012FotografieDiewilden Jahre desRock'n'Roll

Jimi Hendrix zertrümmert auf der Bühne seineGitarre. Bob Dylan sitzt mit Allen Ginsberg am Grabvon Jack Kerouac. Keith Richards herzt seinTöchterchen Theodora Dupree. Meat Loaf posiert miteiner Freundin, die in einer mit Hackfleisch gefülltenBadewanne liegt. Ken Regan hat sie alle gekannt. Seitden 1960er-Jahren fotografiert er den Rock-'n'-Roll-Zirkus. Er ist auf und hinter der Bühne, er dokumen-tiert die Selbstinszenierungen von Stars wieMadonna und Michael Jackson, schaut aber auchhinter die Kulissen. Viele seiner Bilder sind zu Ikonen

geworden. Zwischendurch beweist er aber auch Sinnfür Humor. Auf unserem Bild hat er die Eaglesabgelichtet, vor einem Konzert in Edwardsville,Illinois, im Juli 1975. Von links: Don Henley, DonFelder, Bernie Leadon, Randy Meisner, Glenn Frey.Damals war Joe Walsh noch nicht dabei, und die Weltwusste noch nichts vomWelthit «Hotel California».Der erschien erst ein Jahr später. Manfred PapstKen Regan: Nahaufnahmen. Die Rock-'n'-Roll-Fotografien von Ken Regan. Collection Rolf Heyne,München 2012. 288 Seiten, Fr. 53.90.

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Scharf beobachtet, spitz gezeichnetChappattes persönliche Auswahl seiner besten Karikaturen

Scharf beobachtet, spitz gezeichnet

Patrick Chappatte,*1967 in Karachi (Pakistan)als Sohn eines Schweizers undeiner Libanesin. Aufgewachsenin Singapur und in der West-schweiz. Veröffentlicht mit21 Jahren erste Karikaturenin der «La Suisse». Heutezeichnet er für die «HeraldTribune», «Le Temps» und die«NZZ am Sonntag». Er lebtmit seiner Familie in Genf.

*1967 in Karachi (Pakistan)als Sohn eines Schweizers und einer Libanesin. Aufgewachsen in Singapur und in der West-schweiz. Veröffentlicht mit21 Jahren erste Karikaturen

zeichnet er für die «HeraldTribune», «Le Temps» und die «NZZ am Sonntag». Er lebtmit seiner Familie in Genf.

Chappatte – 100 Karikaturen aus der «NZZ am Sonntag» ▶2012, 120 Seiten, 100 farbige Karikaturen.

Format 20,5×21 cm, gebunden, ISBN 978-3-03823-783-9

▶2012, 120 Seiten, 100 farbige Karikaturen.

21 cm, gebunden, ISBN 978-3-03823-783-9

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Chappatte – 100 Karikaturen

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