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"Weicher" und "Eckiger" Stil in der deutschen spatgotischen Architektur

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"Weicher" und "Eckiger" Stil in der deutschen spätgotischen Architektur Author(s): Ernst Petrasch Source: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 14. Bd., H. 1 (1951), pp. 7-31 Published by: Deutscher Kunstverlag GmbH Munchen Berlin Stable URL: http://www.jstor.org/stable/1481101 . Accessed: 05/05/2014 00:07 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Deutscher Kunstverlag GmbH Munchen Berlin is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Zeitschrift für Kunstgeschichte. http://www.jstor.org This content downloaded from 86.156.95.114 on Mon, 5 May 2014 00:07:26 AM All use subject to JSTOR Terms and Conditions
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"Weicher" und "Eckiger" Stil in der deutschen spätgotischen ArchitekturAuthor(s): Ernst PetraschSource: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 14. Bd., H. 1 (1951), pp. 7-31Published by: Deutscher Kunstverlag GmbH Munchen BerlinStable URL: http://www.jstor.org/stable/1481101 .

Accessed: 05/05/2014 00:07

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,,WEICHER" UND ,,ECKIGER" STIL IN DER

DEUTSCHEN SPATGOTISCHEN ARCHITEKTUR VON ERNST PETRASCH

,,Es wdre grundsiitzlich m6glich, die ganze baukiinstlerische Entwicklung seit den ersten Anzeichen des malerischen Zeitalters in bestindigem Hinblick auf die Wandlungen der dar- stellenden Kiinste zu schildern, ja fast wie aus diesen zu erkldren."

Wilhelm Pinder 1

Seit den bahnbrechenden Forschungen Wilhelm Pinders zur deutschen Plastik des Mittel- alters ist der Formenwandel in der deutschen Malerei und Plastik des 15. Jhdts. durch die standig verfeinerte Stilkritik heute streckenweise nahezu von Jahrfiinft zu Jahrfiinft ablesbar geworden. Eine analoge Gliederung der mit dem zeitlich weitgesteckten Terminus ,,Spatgotik" erfaBten baukiinstlerischen Entwicklung dagegen in einzelne Stilstufen und deren prizise stilpsychologische Charakterisierung steht noch aus.2 An Nachwirkungen der unter dem EinfluB der naturwissenschaftlichen Methode entwickelten kunsthistorischen Betrachtungsweise des spateren 19. Jhdts. gebunden, (die im Sinne eines geradlinigen genetischen Prozesses die Spatgotik lange Zeit als ,,Verfallskunst" iiberhaupt miBachtete) hat selbst noch Dehio vor knapp zwei Jahrzehnten die Aussicht auf Klirung dieses Pro- blemes fiberhaupt bezweifelt: ,,Wer sich an die Analyse der spditgotischen Bauformen machen will, stBlt zuerst auf eine negative Eigenschaft; die Spatgotik hat kein System; offenbar auch will sie keines haben."3 Noch zuvor aber hatte das mit der Spitgotik auf- kommende neue Raumgefiihl (Halle!) einige Forscher dazu gefiihrt, im Hinblick auf ver- wandte Tendenzen in der Quattrocento-Architektur Italiens, die gleichzeitige deutsche Baukunst ebenfalls als ,,Renaissance" zu definieren.4 Einer chronologischen Ordnung inner- halb der weiterhin als stilgeschichtliche Einheit aufgefaBten Epoche aber war man damit um keinen Schritt naher gekommen - lediglich die Stilnamen wechselten. Von nachhaltiger Wirkung dagegen war der von Gerstenberg geprigte Begriff einer ,,Deutschen Sondergotik", deren Stilmerkmale er vor allem in der Abgrenzung gegentiber der franz6sischen Kathe- dralgotik zu erkennen glaubte. Indem Gerstenberg aber in der Beurteilung des Stiles auf seinen Ausdrucksgehalt hin in erster Linie ein ,,Problem der Rasse" sah, vernachlissigte er die Bedingtheiten der historischen Uibernationalen Entwicklung. Denn auch Frankreich und die iibrigen gotischen Linder hatten ihre Spitgotik. Schon Dehio erkannte, daB es sich bei der Wesensbestimmung der spatgotischen Architektur Deutschlands nicht so sehr um den Gegensatz zu Frankreich, ,,sondern noch mehr um die Verschiedenheit der Zeiten" handelt.5 Zuletzt hat Georg Weise das entwicklungsgeschichtliche Verhiltnis von Spitgotik und ,,Sondergotik" eingehend untersucht. Im Gegensatz zu Gerstenberg schrinkt er diese als Kennwort ausschlieBlich auf die neben den weiterbestehenden gotischen 1fberliefe- rungen wirksamen antigotischen, ,,sich von fern mit der Renaissance beriihrenden Ten- denzen" ein und kommt zu dem Ergebnis: ,,... beide Str6mungen sind nicht identisch, und eine Verwendung der beiden Termini, die sich nicht der grundsitzlichen Wesensverschieden- heit der damit bezeichneten Erscheinungen bewuBt bleibt, muB zu MiBverstindnissen fiihren."6 Gerstenberg ging es zunichst darum, die ,,ihres unfiberwindlichen Zuges zur Mediokritit und Trivialitit" wegen miBkreditierte Spitgotik gegen Dehio und simtliche ailtere Meinungen als etwas Eigenes und Positives fiberhaupt erst sehen zu lernen. Einzelne ihrer Stilphasen exakter herauszuschilen, konnte im Hinblick auf diese Forschungslage damals noch nicht einmal angestrebt werden. Diesem Problem schenkt dagegen Weise in

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seinem Aufsatz andeutende Beachtung, indem er auf die innere Stilverbundenheit der spitgotischen Architektur mit den gleichzeitigen Erscheinungen der Malerei und Plastik verweist. Er folgt darin richtunggebenden Anregungen Pinders, die einer erfolgverspre- chenden Stilanalyse der spitgotischen Architektur endlich den Weg frei machten. Gleich- zeitig mit Pinder erkannte auch schon Karl M. Swoboda die parallele Stilentfaltung von Architektur und figfirlicher Kunst im 15. Jhdt. an Hand der gotischen Baukunst in den Sudetenlindern.7 Im AnschluB daran behandelte Erich Bachmann am Beispiel des Prager Veitsdomes das Phinomen des weichen Stiles in der spitgotischen Architektur.8 Kurz zuvor hatte Lottlisa Behling auf die adaequaten Formgesetze aufmerksam gemacht, die mit dem Faltenstil in der gotischen Skulptur auch das MaBwerk verwandeln.9 So darf heute die Methode, von der kunstgeschichtlichen Forschung an der Figurenkunst des 15. Jhdts. er- arbeitete Stilbegriffe und -stufen auf die zeitlich zugehdrige Baukunst zu iibertragen, als wissenschaftlich anerkannt gelten.10 Bauwerke weisen jedoch nicht nur eine stirker vom Technisch-Materiellen abhingige Struktur auf, sondern unterliegen zumeist auch lingeren Entstehungszeiten und den damit bedingten Wandlungen des Stilwollens. So ist der ent- wicklungsgeschichtliche ProzeB an ihnen meist schwerer faB- und zeitlich differenzierbar als an Werken der Malerei und Plastik, die in der Regel einen ungetriibteren Stilcharakter aufweisen.1" Trotz dieser im vorhinein zu erwartenden Schwierigkeiten erscheint es not- wendig, die bisher mehr oder weniger allgemein gehaltenen stilvergleichenden Hinweise einmal durch den Versuch einer exakteren Analyse des Formenwandels an einigen be- deutenden Bauwerken aus der ersten Hilfte des 15. Jhdts. iiberzeugend zu vertiefen. Der beabsichtigte Vergleich verschiedener Bau- und Raumformen aus dem ersten Jahrhundert- drittel mit mdglichst typengleichen der Jahrhundertmitte, soll den in Malerei und Plastik anerkannten Wandel vom weichen Stil zum Realismus der Witz- und Multschergeneration auch architekturgeschichtlich sichtbar werden lassen.12 Die wissenschaftliche Gtiltigkeit der damit angeregten Ordnung der spitgotischen Architektur nach Stilphasen verlangt allerdings die Heranziehung eines weitaus umfangreicheren Materials, als es im Rahmen dieser Darstellung geboten werden kann. Der Verfasser darf sich jedoch darauf berufen, die hier vorgetragenen stilphinomenologischen Beobachtungen an einem kunstgeogra- phisch geschlossenen und zeitlich umfassenderen Denkmilerbestand fiberprtift zu haben, bevor ihnen an Hand dieser wenigen Beispiele stichhaltige und das baukiinstlerische Form- prinzip der jeweiligen Stilstufe charakterisierende Gfiltigkeit zuerkannt wurde.13 Tauchen im Zuge der Darstellung dann doch die bedeutendsten Bauten und Architekten des hier behandelten Abschnittes der deutschen Spitgotik auf, so mag dies nicht allein als Wiirdi- gung ihrer kunstgeschichtlichen Stellung gelten, sondern in gewissem Sinne auch die von uns vertretene Auffassung unterstreichen.

Die Untersuchung geht zunichst von architektonischen Detailformen aus, die jedoch die hier verfolgte Problemstellung schon in nuce erkennen lassen und die begrifflichen Vor- aussetzungen ffir die weiteren Analysen schaffen sollen. An einigen der reizvollsten archi- tektonischen Einbauten des Stephansdomes in Wien lassen sich die durch verschiedene Entstehungszeiten bedingten Formverinderungen besonders augenfillig im Sinne des in der gleichzeitigen Malerei und Plastik auftretenden Stilwandels interpretieren. Es sind dies drei, bei gleichem Aufbau nur in den Detailformen variierte Altarbaldachine.14 Der ilteste unter diesen ist der vor 1434 in der Nordwestecke des ndrdlichen Seitenschiffes errichtete sogenannte Puchheimbaldachin (Abb. 1). Sein an drei Seiten in krabbenbesetzten Kielbogen gedffneter und sternrippengewdlbter quadratischer Baldachin ruht fiber zwei-

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stufigem Unterbau auf zwei ungew6hnlich schlanken, von zierlichen zwdlf- bzw. siebzehn- eckig kannelierten und gestuften Sockeln grazil emporsteigenden Saulen mit feindurch- brochenen und weichgerundeten Laubkapitellen und auf zwei gleichgebildeten Konsol- kapitellen an der Langhauswand. Ein ungemein feingliedriges MaBwerk verspannt die elegant geschwungenen Kielbogen und hebt sich wie ein filigranes Schmuckstiick von dem dunklen Raumgrund ab. Schlanke Spitzbogenarkaturen tragen das von Eckfialen und Kreuz- blumen durchwachsene bekrinende Gesimse mit spiegelverkehrt aufgesetzten Kleeblatt- bogen. Gerade diese formale Umkehrung - von Bachmann ftir die Architektur um 1400 als besonders wesentlich hervorgehoben - entkleidet jede immanent dynamische Form ihrer einseitigen Richtungsbetontheit und hebt eindrucksmliBig die Schwerkraft auf. Die dadurch erzielte Wirkung schwebender Leichtigkeit und das Vorherrschen ,,weicher" und runder Kleinformen, verleiht selbst dem architektonischen Werk jene zustindliche Haltung, die zur Charakterisierung des ,,seelischen Klimas" des weichen Stiles bisher ausschlieB3lich den figiir- lichen Darstellungen als spezifisches Kriterium vorbehalten war. Auch die Architektur des Puchheimbaldachins ist weicher Stil: Sowohl die Zierlichkeit seiner im UmriB aufgelockerten Gesamtform und sein anmutvolles Dastehen von geradezu kdrperloser Schwerelosigkeit als auch die zieselierend feine, alles Massigschwere meidende Durchbildung der unzihligen Details zeigt sich jener ,,idealisierenden" Feinkunst verpflichtet, die den Stil des frfihen 15. Jhdts. in besonderem MaBe auszeichnet. Einzelne eckige, zwischen die bevorzugten Rundformen eingestreute Gebilde jedoch st6ren den gleitenden Linienduktus des MaB- werkes und erinnern - entsprechend seiner Entstehung am Ende des ersten Jahrhundert- drittels - an analoge Wandlungen im Faltenstil der Figurenkunst. Auch in dieser wird im Sinne des ausklingenden weichen Stiles der ,,ununterbrechliche" Linienfluf3 all-

mihlich hart und spr6de, Ecke und Bruch absichtlich gesucht.15 Ftir diese prizisere zeit- liche Fixierung des Baldachins ist der Vergleich mit der erhaltenen Visierung seiner Frontseite besonders aufschluBreich.16 Die wohl auf3er Frage stehende friihere Entstehung des Risses findet in den analog zum allgemeinen Stilverlauf abgewandelten MaBwerk- bildungen ihre stilkritische Bestitigung. So wird beispielsweise die in einem Zuge fliissig durchgeschwungene Bogenlinie der MaBwerkzeichnung in der Ausftihrung in zwei, in der Mitte mit ihren Spitzen zusammenstoBende Teile zerlegt. Weiters biegen die beiden dartiber gegenstindig angeordneten Fischblasen, deren Spitzen auf dem Entwurf sich der Kurvatur der undulierenden Bogenrippe noch eng anschmiegen und reibungslos in diese fibergleiten, im SteinmaBwerk eigenwillig nach oben. Mit einer zweiten, sich eben- falls von der durchgehenden Bogenlinie 15senden Rippe, bilden sie einen spitzen Zwickel. Durch Rippenverlingerung entsteht eine ahnliche (in der Visierung gleichfalls nicht vor- gesehene) Spitze tiber dem kleinen Kreis in der Mittelachse, indem dieser tiefer zwischen die beiden Fischblasen geprel3t wird. Dem gleichen zeitbedingten Streben nach kleinteiliger und spitzer Rippenffihrung entspricht es auch, wenn die auf der Werkzeichnung offenen Kreise in den Bogenzwickeln durch je zwei einander im rechten Winkel kreuzende Stein- rippen gevierteilt werden. Verschleifen sich also im RiB die sphirischen Drei-, Vier- und Rundpisse verhiltnismil3ig geschmeidiger miteinander, so dringen sich dagegen in der Ausfiihrung auffallend mehr spitzwinkelige Zwickel zwischen diese. Das hiedurch erzeugte sperrige Lineament findet in der knittrig-zackigen Faltenfiihrung gleichzeitiger Figuren- darstellungen seine Parallele.17

Der im Typus gleiche, in den Einzelformen jedoch ,,verhirtete" Fiichselbaldachin in der Sidostecke des siidlichen Seitenschiffes, zeigt die zuvor in ihren ersten Ansitzen be-

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1. Wien, Stephansdom. Puchheimbaldachin, vor 1434

schriebene neue Formgesinnung bereits in vollster Ausprigung (Abb. 2). Zunichst sind in dem von Puchspaum 1448 errichteten Werk die grazilen Siulchen und zierlichen, durch vielfache Kantenbrechungen dem Rund angenaiherten Basen bezeichnenderweise durch derbere und scharfgratige Achteckpfeiler, bzw. klobig-plumpe Oktogonalsockel ersetzt. Dementsprechend sind auch die weichgerundeten und zartdurchbrochenen Blattkapitelle zu eckig profilierten Gebilden verfestigt. ,,Hirter" ist neben den Gew6lberippen mit

kraiftigerem Querschnitt jetzt auch das Relief des MaBwerks: Scharfkantiges und gr6beres Stabwerk tritt an die Stelle der zarten Rundstfibe des Puchheimbaldachines. Fischblasen und Kreise - dem Formgeffihl des weichen Stiles besonders entsprechend - sind zu- gunsten spitzer und spr6der Formen weitgehend zuriickgedr ingt und keinem durchgehenden Linienflul mehr eingebunden. Die undulierende und zur schwebenden Wirkung des Puch- heimbaldachins mal3geblich beitragende Bogenrippe ist nun in zwei, im spitzen Winkel

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2. Wien, Stephansdom, Fiichselbaldachin, 1448

aufeinanderstoflende ,,verhirtete" Bogen zerhackt. Besonders entscheidend aber fiir das neue Formgeffihl und seine allgemeine Tendenz zur Verfestigung ist schlief3lich der obere AbschluB des Fiichselbaldachins. Verschwunden sind die feingliedrigen Fialen, Kreuz- blumen und aufgesetzten Kleeblattbogen. Den friiher zartdurchbrochenen Arkaturen, die kaum noch an Steinarbeit denken lassen, ist jetzt eine geschlossene Wandfliiche hinterlegt. Der Baldachin ist mit der unmittelbar dariiber vorkragenden Orgelempore zu einem ein- heitlichen KSrper verschmolzen und verwandelt die aufgelockerte Silhouette und gold- schmiedhafte Leichtigkeit des Puchheimbaldachins hier in kubisch-lastende Schwere.18 Zu- sammen mit den fibrigen angemerkten Formverfestigungen huBert sich darin derselbe Zug, welcher in der immer wieder beobachteten ,,Auffiillung und Erginzung der ganzen Gruppe zum viereckigen Block"19 in der Malerei und Plastik der Jahrhundertmitte seine formale Entsprechung hat.

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Die gleichen, dem allgemeinen Stilwandel unterliegenden Formprinzipien lassen sich ebenso an der Grolarchitektur von St. Stephan tiberzeugend nachweisen. Durch seine genau in das erste Jahrhundertdrittel fallende Bauzeit eignet sich der alle gleichzeitigen Arbeiten der Dombauhiitte an kfinstlerischerBedeutung fiberragende Stidturm (1433 voll- endet) in besonderem MaBe fiir eine Stilanalyse im Sinne unserer Problemstellung.20 Nicht so sehr die eigenartige Stellung seitlich des letzten dstlichen Langhausjoches, sondern vor allem die im wesentlichen wohl dem fiblichen dreiteiligen Aufrilschema anderer Turmbauten folgende, in der Durchbildung jedoch aul3ergewbhnliche Gliederung verleihen dem Stephansturm eine Sonderstellung in der Reihe der groBen gotischen Domtfirme. Die an anderen Tiirmen in ihrer struktiven Eigenart mehr oder weniger deutlich voneinander abgesetzten Zonen, sind hier zu einem vom Erdboden an sich stetig verjiingenden Bau- k6rper von sonst nirgends erreichter Einheitlichkeit verschmolzen. In gewissem Sinne freilich ist das Verschleiern des Ubergangs vom Quadrat ins Achteck und auch das Hervor- wachsen ineinander einbeschriebener Geschosse ein allgemein gotischer Wesenszug.' Die am Wiener Turm erzielte und uniiberbietbare Vollendung des Verschleierns und Ver- schleifens jedoch, unterscheidet diesen wesentlich von allen zeitlich vorangegangenen und nachfolgenden gotischen Turmbauten. Das Mittel aber, welches den quadratischen Unterbau mit dem achteckigen Mittelabschnitt und die Turmwainde mit dem bekr6nenden Helm zu der fiberaus schlanken pyramidenfdrmigen Silhouette fugenlos zusammenbindet, sind gerade jene unzihligen phantasiereichen Formverschleifungen der Baugelenke und des dem Turmkbrper umgelegten feingliedrigen Mal3werkschleiers. Das nahtlose Ineinandergleiten und Verschmelzen seiner Einzelformen entspricht zutiefst dem nach allen Richtungen hin anschlul3suchenden Linienduktus des weichen Stiles. Diese Formgesinnung iiul3ert sich zunaichst schon in dem Bestreben, durch feinempfundene Motivwiederholungen und ,,un- unterbrechlichen" Linienflul den infolge seiner seitlichen Anordnung isolierten Turm in zarter und gewaltloser Weise mit den iibrigen Bauteilen zu einer organischen Einheit zu verbinden. So gleiten beispielsweise der Sockel und die Galerie des ilteren Chores bruchlos auf den Turm iiber. Die zwischen die Strebepfeiler des Turmsockels eingespannten groBen Dreieckgiebel setzen sich auf gleicher H6he noch viermal in einer die AuBenwirkung der Langhauswand bestimmenden Weise fort und binden so Turm und Langhaus fester an- einander. Prignanter aber als an diesem horizontalen, vom Chor fiber den Turm gegen Westen verlaufenden FormenfluB, kommen die an den Zeitstil gebundenen Tendenzen in der vertikalen Turmgliederung zum Durchbruch. Besonders ein charakteristisches Mittel trigt zu der fiir das unmerkliche Schlankerwerden entscheidenden Auflockerung des Turmkirpers nach oben zu merklich bei: Durch stindige Abspaltung der Rechteck- winkel, Abschrigung und seichte Abtreppung geschlossener Mauermassen, werden die irm Sockelgeschol in maichtigen Gabelungen vorspringenden Pfeiler in unzfihlige schmale Wandflichen zerlegt und in ihrer Substanz a!lmihlich aufgezehrt. Diese bereits in den untersten Zonen einsetzende Reduktion fiihrt zuletzt zur Ausbildung eines Kranzes los- gelister zierlicher Fialtfirmchen, hinter welchen - gewissermaBlen verschleiert - der durchbrochene Turmhelm schlank emporwichst und so das Turmprisma ohne Bruch ins Oktogon fiberleitet. Just an der Stelle, wo zumeist bei ilteren Anlagen das leichtere Turmpolygon auf dem massiven Unterbau abrupt aufsitzt, schieben sich die beiden, mit den Eckpfeilern nahtlos verflochtenen schlanken Giebeldreiecke eng ineinander. Sie werden damit - gleichsam als symbolhafte ,,Klammer" - zur architektonischen Formel jenes verborgen wirksamen Formprozesses, der das Auseinanderklaffen der hier aufeinander-

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stol3enden Bauglieder geschickt kaschiert. Gerade diese mannigfachen, jede grofflfichige und klobige Formgebung verhindernden Kantenbrechungen und weichgemuldeten Aus- hbhlungen kompakter Schichten, die in gesonderten Vertikalbahnen aufsteigen und durch stindig wechselnde Anlaufpunkte und Verschiebung aus ihrer lotrechten Achse eine straffe Horizontalgliederung vermeiden, verleihen dem Siidturm den unvergleichlich anmutvollen Wuchs und aufgelockerten plastischen UmriB. Der Reduktion und Verfeinerung der Bau- masse der Hohe zu entsprechen auch die Fensterformen: OTber dem breit geSffneten und verhiltnismadlig niederen Doppelfenster des Sockelgeschosses steigt hinter dem Wimperg ein h6heres, aber einfaches dreiteiliges Fenster schlank empor; diesem folgt im Oktogon ein noch schmileres zweiteiliges. Noch deutlicher spiegeln sich diese Motivwiederholungen in den Variationen des groBen Dreieckgiebels: Der aus zwei verschrinkten Dreiecken ge- bildete spitzwinkelige Doppelgiebel iiberragt den michtigen dreiteiligen Wimperg. Die dartiberliegende Fensterbekrbnung wiederholt dieses Motiv und zuletzt klingt es in immer steileren Formulierungen in der Turmspitze aus. Gewil3 lassen sich derartige Motivreduk- tionen auch in anderen Epochen der Architekturgeschichte beobachten. In der hier auf- fallenden Akzentuierung aber kommen sie den um 1400 vorherrschenden Stiltendenzen be- sonders entgegen und erinnern an jene (von Bachmann am Prager Dom beschriebenen) die Steigkraft abschwichenden und die ,,zustindliche" Wirkung erhbhenden Formphino- mene. Wie die wellenartig von der K6rpermitte zum Sockel herabrauschenden Schiissel- faltenkaskaden einer ,,Sch6nen Madonna", verfeinert sich - nur in entgegengesetzter Vertikalrichtung - der mdchtige Giebel zu immer spitzwinkeligeren Variationen ,,echo- artig" fiber die gesamte Turmhohe bis in die aul3erste Spitze hinein. Gleich allen iibrigen Detailformen gehbrt die feingliedrige Fiillung des um 1420 entstandenen grol3en dreiteiligen Turmgiebels selbst unzweifelhaft dem weichen Stil an. Reibungslos fliel3en die Rund- bogen und Fischblasen sanft ineinander und schmiegen sich locker in die begrenzenden Dreieckschenkel.22 Zahlreiche tabernakelartige Figurennischen, der dekorative Reichtum des filigranen Blendma3werks und die iippige Anhiufung von Krabben und Kreuzblumen - deren ,,wachstumsmdiBige" Fiille sich grundsitzlich von den einfachen und geometrisch- gereihten MaBwerkbildungen des 14. Jhdts. unterscheidet -- ibergieBen f6rmlich den Turmkern mit einem reizvollen flimmernden Steingespinst. EindrucksmiBig wird dadurch alles Wuchtig-Massige des in seinen Dimensionen gewaltigen Turmes negiert und in wunder- voller Weise wichst dieser grazids-elegant, ja fast schwerelos empor. Seine ,,sinkenden Fialen", ,,gleitenden Dienste" und ,,herabgerutschten Baldachingiebel" (Bachmann) er- scheinen gleichsam als Ubersetzung des dem weichen Stil eigentiimlichen Faltenornamentes in die architektonische Formensprache. Wie das weichgerundete Geriesel der R6hrenfalten eine Plastik um 1400, so durchfurchen und beleben die zartschattenden, das kontinuierliche Aufstreben begleitenden Hohlkehlen und die unzahligen, die einzelnen Abdachungen fliissig durchwachsenden Rundstibe das Turmrelief. Als Fiihrungslinien fUir das Auge, motivieren sie - wie die schlingernden Faltenstege der Plastik - das harmonisch ge- lockerte Wachstum des Turmkdrpers.23 Durch die aristokratische Feinheit seines fiberirdisch- schlanken Hochstrebens wirkt der Stephansturm wie ein aus der den Zeitstil um 1400 bestimmenden ,,idealisierenden" Feinkunst ins Monumentale fibertragener Baugedanke. Auch hiebei lieB3e sich wiederum an analoge Erscheinungen in der gleichzeitigen Tafel- malerei erinnern, deren Werke zuweilen den Eindruck von vergrdl8erten Miniaturen er- wecken.24

Wie sehr die formale Gestaltung des Siidturmes keine willkiirliche dekorative Zutat,

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sondern wesentlicher architektonischer Ausdruck des zeitgebundenen stilbildenden Form- triebes ist, veranschaulicht nachtriglich noch einmal der Vergleich mit dem unvollendeten Nordturm. Dessen hervorstechende Formabweichungen wiederum haben in dem tief- greifenden Wandel zum Stil der Jahrhundertmitte ihre eigentliche Ursache.25 Fiir die Plangebung des Nordturms lag nichts niher, als die iltere Konzeption weitgehend zu

fibernehmen. Seine symmetrische Stellung und die zwischen Vollendung des Siidturmes und Planung des sogenannten ,,Adlerturmes" fallende kurze Zeitspanne, hitten geradezu eine un-

verinderte Wiederholung erwarten lassen. Bei gleichbleibender Gesamtanlage treffen wir jedoch auf grundsaitzliche Unterschiede: So laufen nun nicht mehr wie am Siidturm Sockel, Gesimse und Balustrade in gleicher Linie ,,reibungslos" vom Chor fiber die Turmwainde aufs Langhaus fiber. Auch die riesigen, zwischen die Pfeiler jetzt h6her eingepaBten Wimperge finden nun keinen unmittelbaren AnschluB mehr an die vier Langhausgiebel. Damit erscheint der Nordturm viel stirker vom fibrigen Baugesamt isoliert und in seiner

Eigenstindigkeit nachdriicklicher herausgehoben als der Siidturm. Anstatt dessen fein- empfundener ,,ununterbrechlichen" Linienziige kommt es jetzt infolge der divergierenden Ansatzpunkte zu ,,hart" aufeinander prallenden und eigenwillig betonten Bruchstellen. Eben jene markante Formgesinnung der Jahrhundertmitte, die in der gleichzeitigen Malerei und Plastik die Kurvenmelodik des weichen Stiles bewuBt durch lineare Brechung und eine absichtsvoll gesuchte eckige Faltenstilisierung ersetzt und dieser Phase als ,,eckiger" Stil den Namen gab. Solche, zum Siidturm kontrastierende Formvorstellungen bestimmen in noch ausgeprigterer Weise die Gliederung der Schauwainde des Nordturmes, dessen

Verjiingung Puchspaum bezeichnenderweise erst bedeutend h6her einsetzen 1M3t. In breit-

schultriger Standfestigkeit und kubischer Vereinheitlichung ragen jetzt die stlimmigen Eckpfeiler ohne die am ausgebauten Turm bereits in den untersten Zonen durch ineinander-

greifende Kantenabschrdigung beginnende Reduktion der Steinmassen empor. Die Zahl der den UmriB auflockernden zierlichen Figurentabernakel ist weitgehend verringert; ein- zelne von diesen sind sogar zu einem undurchdringlichen Prisma verfestigt. (Vgl. beispiels- weise die beiden, auf grazilen Stiulchen ruhenden Tabernakel im groBen Wimperg des Stidturmes mit den entsprechenden vollmassiven Ttirmchen am Nordgiebel.) Anstelle der zahlreichen zartschattenden Hohlkehlen treten fiberall glatte und dicht geschlossene

Wandflichen unverhiillt hervor. tberhaupt zieht der unausgebaute Turm jetzt slimtliche Schmuckformen wesentlich fester an sich. (Beachte etwa die in den Turmleib f6rmlich hineinwachsenden Fialen.) Dadurch kommt die vereinfachte Wucht und voluminise Formen- schwere seiner Grundgestalt unvergleichlich wirksamer zur Geltung. Diese fiUr die Gesamt- erscheinung des Nordturmes entscheidende, analog zum Zeitstil vollzogene Verschiebung der MaBverhailtnisse und blockhafte Verfestigung bleibt bis in die unscheinbarste Einzel- form hinein spiirbar. Keines der Ziermotive entzieht sich dieser bedeutsamen Vergr6berung und Umbildung ins Harte, Scharfkantige und Spr6de. Die Schmuckformen haben ihren

komplizierten Formenreichtum verloren, werden einfacher und nfichterner. Ein weiteres, sofort in die Augen springendes Kompositionselement intensiviert diese kubische Ver- schwerung seiner prismatischen K6rperlichkeit: Am filteren Turm verhindern die viel- filtigen MaBwerkformen und zahllosen abgeschrigten Gesimse durch dauernd wechselnde Niveauunterschiede und ineinandergleitende Verschleifungen eine strenge GeschoBgliede- rung. Am Adlerturm dagegen umklammern die einzelnen, zu straffen Horizontalblindern verdichteten kleinteiligen Blendarkaturen in ungehemmtem Zug die Wainde und Pfeiler. Im Gegensatz zum Hochturm, an dem die Horizontalen weitgehend unterdrfickt und durch

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fiberleitenden LinienfluB in den Vertikalismus zart eingebunden werden, prallen hier lotrechte und waagrechte Gliederung hart aufeinander, durchkreuzen und fiberschneiden sich. Ein bis in die Einzelform hinein wirksamer Vorgang also, der sich bereits in der be- schriebenen, zum Stephansturm gegensitzlichen und isolierteren Stellung des ndrdlichen Turmes im gesamten Bauverband abzeichnete. Durch die vielfachen Formverspreizungen und die Zerlegung des Turmstumpfes in einzelne, scharf voneinander abgegrenzte horizon- tale Bauschichten wird hier das den Siidturm ungehindert durchstr6mende Aufstre- ben zur Ruhe gebracht und verfestigt. FUr diese Absicht ist neben vielem anderen noch folgende Abinderung besonders charakteristisch: Den Giebelvariationen, welche die Aufwartsbewegung des siidlichen Turmes bis in die iuuBerste Spitze begleiten und dessen Formverfeinerungen motivieren, ist in dem der Jahrhundertmitte zugeharenden Nordturm nun nicht mehr dieselbe akzentuierte Wirkungssteigerung eingeriumt. Wie die Visierung Puchspaums zeigt26, sollten die Wimperge in den oberen Zonen und im Helm fiberhaupt durch andere Motive ersetzt werden. Dem in graziler Feinheit und in einer Unzahl ge- sonderter schlanker Vertikalbahnen nahezu schwerelos aufsteigenden Siidturm und seinem die Oberfliche in zartester Behandlung und durchgehendem LinienfluB iiberspielenden Formenwohllaut antwortet Puchspaum in seiner Turmsch6pfung mit einem in geballter Energie und horizontaler Betonung zusammengefalten, erdverwurzelten Wuchs voll feierlichen Ernstes und niichterner Formenstrenge. Gebunden an die visuelle Formauf- fassung des Stiles der Jahrhundertmitte, gibt sich Puchspaum damit durchaus als ein archi- tektonischer Reprisentant jener Generation zu erkennen, die in den von einem herben Realismus erfiillten figiirlichen Kiinsten mit Konrad Witz und Hans Multscher ihr eigent- lichstes Anliegen am prignantesten aussprach.27

Es wire nun aber voreilig und falsch, den in obigen Beispielen veranschaulichten Formenwandel in der baukiinstlerischen Gestaltung in der ersten Jahrhunderthilfte als ausschliellich regionale Erscheinung bloB auf jene engere Kunstlandschaft ein- schrinken zu wollen, der unsere Baudenkmiler entstammen, oder diesen gar nur fuir das innerhalb der Wiener Bauhiitte tradierte Formengut gelten zu lassen. Richten wir unseren Blick westwirts auf den Stralburger Miinsterturm - den zweitgr6Bten Turm- bau des 15. Jhdts. - so lassen sich auch am Oberrhein dieselben grundsitzlichen Be- obachtungen in iiberzeugender Eindringlichkeit und mit gleicher Giiltigkeit anstellen. Die aufgezeigte stilbedingte Gegensitzlichkeit der beiden Tiirme von St. Stephan, tritt in den unmittelbar iibereinanderliegenden Zonen des StraBburger Einturmes noch einprigsamer in Erscheinung. Als Ulrich von Ensingen 1419 starb, fehlte noch die Galerie und der bekrinende Turmhelm zu seinem seit etwa 1402 errichteten Oktogon, dessen Konzeption im ganzen - wie schon Dehio bemerkte - wohl von Freiburg eingegeben war.2" Gegen- tiber dem r lteren Vorbild aber zeigt die jiingere L6sung in ihren Formabwandlungen die ffir die ,,idealisierende" Gotik um 1400 charakteristische und vom vorangegangenen Jahr- hundert grundlegend verschiedene neue Haltung. Weitaus feingliedriger und graziler als der Freiburger, steigt der durchsichtige, aus acht iiberschlanken Pfeilern gebildete Turm in StraBburg empor. Uberaus schmale Lanzettfenster durchbrechen die Wiinde in voller Hihe und eliminieren eindrucksmHiBig damit jede Massivitiit. Die Schauwinde des Okto- gons, das in seiner aufgelockerten Schlankheit den stiirker blockhaft-gedrungenen Freibur- ger Miinsterturm weit Libertrifft, fiberzieht ein dem Stephansturm Thnlich filigraner Ma3- werkschleier. Mit zunehmender Hohe wird der Turmleib aufgeldster und leichter. Zahl- reiche Fialen und das reichdurchbrochene Malwerkgitter der sich schraubenfdrmig hoch-

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windenden zierlichen Schneckentreppen an den vier Ecken des Turmes bewirken ein zartes und reizvolles Relief. tYber den hohen Hauptfenstern ist den Winden ein feines MaBwerk- gespinst vorgeblendet, das dieselbe wachstumsmai3ige und wuchernde Ftille aufweist, wie z. B. die Briistung des Prager Domquerhauses. Die durchflochtenen und flfissig geschwun- genen Kielbogen zeigen die gleichen Formumkehrungen und vieldeutigen Motiviiber- schneidungen, die wie dort jede dynamische Steigkraft neutralisieren und in schwebende

Zustindlichkeit verwandeln. Ensingers Turmkonzept entspringt also - gleich seinen fibrigen Werken - zweifellos einer zutiefst dem weichen Stil verpflichteten Baugesinnung.

Wahrend das Oktogon unverindert nach dem Plan Ensingers vollendet wurde, spiegeln die von diesem abstechenden Formbildungen des erst 1439 vollendeten Turmhelmes jedoch auch hier wiederum die inzwischen vollzogene Wendung zum eckigen Stil besonders auf- fallend. Vorerst sind auBer dem sichtbaren Formwandel allein schon baugeschichtliche Er- eignisse fiir den weiteren Turmausbau im Sinne des geinderten Stilwollens aufschluBreich: Erstens fand die ffir den Helm vorhandene, noch von Ensinger stammende und weitgehend den weichgerundeten MaBwerkformen des aufgelockerten Oktogons angepaBte Visierung beim Weiterbau keine Verwendung mehr.29 Andererseits erhielt auch der erste Plan seines Nachfolgers Johannes Hiiltz,30 der Ensingers vorgesehenen Helm mit gewissen Abwei- chungen variierte und sich den um 1400 gebriuchlichen Formen noch engstens anschloB, nicht die Zustimmung der Stadtregenten. Bezeichnenderweise wurde erst sein zweiter Ent- wurf gebilligt, dessen starre Formgebung deutlich zum Entwurf Ensingers und zum acht- eckigen Unterbau kontrastiert und bereits auf dem Stilempfinden des zweiten Jahrhundert- viertels basiert. Hiiltz verlegt die erforderlichen Treppen aus dem Helminneren an die AuBenrippen und erzielt dadurch eine technisch ktihne und konstruktiv originelle Lbsung. Jede der acht, mit breitflichigem MaBwerk verspannten Pyramidenrippen, trigt je sechs

sechskantige abgeplattete Treppenttirmchen, die sich spiralig iibereinanderschieben und dem Helm seine eigenartige UmriBform geben. Verglichen etwa mit dem kiinstlerisch ebenbiirtigen Wiener Siidturm, an dem sich der Utbergang vom Turmmassiv in den zart- durchbrochenen Helm durch sanftgleitenden LinienfluB auBergew6hnlich geschmeidig voll- zieht, sitzt der StraBburger Turmhelm unvermittelt und bedeutend hirter auf dem Oktogon auf. Wird diese Baunaht am Stephansturm durch die friiher ausftihrlich beschriebenen Formverschleifungen weitgehend verschleiert, so findet dagegen in StraBburg keine der wuchernden MaBwerkbildungen des obersten Galeriegeschosses eine Fortsetzung oder tiber- leitenden AnschluB in der Turmpyramide. Nur die acht schlanken Eckfialen iiberschneiden - ohne dessen trennende Horizontalwirkung nur im geringsten abzuschwichen - das

kriftig vorspringende AbschluBgesims, das die Helmpyramide vom Achteck scharf ab-

grenzt und diese als vollkommen selbstindigen Bauteil zur Geltung bringt. Die schichten-

fdrmige, durch das jeweils in gleicher H6he durchlaufende Pfostengeriist betonte Gliederung erinnert in mancher Hinsicht an die horizontalen MaBwerkstreifen des Adlerturmes. Nirgends zeigen sich fliel3ende -

lberginge im Sinne der ,,ununterbrechlichen" Linie des weichen Stiles. Der die Schauwinde durchstr6mende Formenfluf scheint im Turmhelm gleichsam gefroren und erstarrt. Anstatt eines aufgelockerten Konturs wird das Baugefiige durch ein dichtes, terrassenfbrmig ansteigendes Stabwerk wirksam verspreizt und ver- festigt, das mit ,,sigeartig scharfen Absitzen" (Dehio) der in sich versteiften und fuir das Auge nahezu undurchdringlichen Turmspitze ein bizarres und blockhaftes Geprige ausge- zackter Sperrigkeit verleiht. Nichts ist mehr spiirbar von dem elegant konkav-ein- schwingenden UmriB3, mit dem noch Ensinger seinen luftig durchbrochenen Turmhelm von

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schwereloser und anmutvoller Leichtigkeit projektierte. Die niichterne Sachlichkeit der in sich verfestigten Helmpyramide von Hiiltz entspringt unverkennbar der unter dem

Einflul3 des Realismus geinderten neuen Formgesinnung des zweiten Jahrhundertviertels. Somit ergibt sich ein dem tektonischen Geffige des Stephansturmes widersprechender Sach- verhalt, wenn in Stralburg nun die Spitze in ihrer Substanz kompakter und massiver wirkt als ihr aufgelockerter und stirker durchlichteter Unterbau. Der in der Plastik der Jahrhundertmitte festgestellte ,,Wille zur Erstarrung" hat in sehr vergleichbarer Weise auch auf die architektonische Gestaltung dieses Helmes Bezug. Er l5I3t denselben ,,starr- prangenden Glanz des Kristallinischen versptiren", den Pinder als besonders charakte- ristisch fiir den Figurenstil der ,,dunklen" Zeit hervorhebt.31 Die fir diesen Zeitstil oftmals exemplifizierte Madonna von St. Severin zu Passau beispielsweise, erweist sich da durch- aus als eine dem baulichen Kunstwerk adaequate plastische Sch6pfung von verwandtem Geist. Ihre eigenwillig-knittrige Gewandinterpretation zerkliiftet die weicheren Lappungen einer ,,Schinen Madonna" vom Jahrhundertbeginn in ein ihnlich spr6des und briichiges Formengitter, wie die sperrige Zackigkeit des stacheligen und kantig profilierten Stab- werks den Stral3burger Miinsterhelm.

Verbreitern wir unsere bisherigen stilpsychologischen Untersuchungen auf weitere Bau- formen - beispielsweise auf den Wandel der Fassadengestaltung - dann stol3en wir zu-

nichst wiederum auf die den Stilverlauf der ersten Jahrhunderthilfte wesentlich mitbe- stimmende radikale Verinderung des Proportionsgeffihles. Dieser Umschwung verursacht bei der Darstellung des Menschen die Abkehr vom h6fisch-verfeinerten Figurenideal des weichen Stiles zugunsten des in seiner schweren Kbrperlichkeit verfestigten Figurentypus der realistischen Phase. Uberhaupt tritt jetzt an Stelle der um 1400 bevorzugten fiber- schlanken Bildformate immer vorherrschender die plumper wirkende quadratische Tafel- form. Gerade solche formale Gegensitze unterscheiden u. a. auch die nachstehend als typische Beispiele des weichen Stiles vorgeffihrten Fassaden von denen des mittleren 15. Jhdts. In beinahe schwindelerregender Steilheit erhebt sich iiber schmalem Grundrif3 (fast dreieinhalb Mal so hoch als breit) die Westfassade des 1394-1414 erbauten Langhauses von Maria am Gestade, des zweitgrfl3ten erhaltenen Baues der Spitgotik auf Wiener Boden (Abb. 3). Das stufengehbhte und tiefschattende Portal iiberdacht ein aus dem Sechseck kon- struierter und mit drei Kielbogen frei aus der Wand hervortretender Baldachin. Diesen durch- wachsen die - eindrucksmirf3ig als Stiitzen verwendeten - Fialbekr6nungen der beiden

iul3ersten (erneuerten) Gewindefiguren und erh6hen dadurch noch stirker die schwebende Wirkung der zierlichen, scheinbar schwerelosen Steinkuppel. Ein fiberaus hohes, in Portal- breite ansteigendes Mal3werkfenster verbindet das einfacher gegliederte Sockelgeschol mit der mittleren Wandzone und lockert mit seiner. tief eingeschnittenen und undulierend ge- kehlten Leibung die Baumasse wesentlich auf. Ebenso verschmelzen die seichten Mauer-

schrigen der anlaufenden Blendrippen und die sanft geneigte Fensterbank, fiber welcher gleichfalls mit verbindender Tendenz die grol3e Kreuzblume des Portalbaldachins empor- wichst, die beiden Geschosse. Diese krnt ein schlanker, hinter einer Ma-3werkbalustrade einspringender Dreieckgiebel, den zwei flankierende Fialtfirmchen mit der fibrigen Wand- fliche zu einer Einheit verbinden. Gleichsam als sichtbar gewordene Kraftlinien fibersteigen diese Ecktfirmchen den unteren Baukirper und wachsen mit ihren - als unterste der stufenfdrmig ansteigenden Blendarkaturen verwendeten - Kleeblattbogen in die Giebel- wand hinein. Umgekehrt verkniipfen offene MaB3werkformen die Giebelbriistung unl6slich mit den beiden Tiirmchen. Die beiden iuBersten Rundstibe der grazil emporklimmenden

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Giebelblendnischen bilden zugleich die begren- zenden Randleisten der Fialen, die ihrerseits wiederum vom Giebelrand durchwachsen werden. So sucht jedes Bauglied nach allen Seiten AnschluB an benachbarte Formen. Die Vierpisse der Briistung werden nicht isoliert aneinandergereiht, sondern durch zangen- artige Zirkelschliage zu einem innigen ,,wachs- tumsmBl3igen" Verband verschmolzen. Wesent- lich beteiligt an der einheitlichen Fassaden- wirkung ist das Blendrippenwerk, das mit zarten Kleeblattbogen (die am Portal, im FenstermalBwerk, an den Fialen und an der Giebelwand wiederkehren) ein feines Netz vor die Wand spinnt. Trotz der bedeutenden Aus- ma3e wirkt diese Fassade in keiner Weise massiv und wuchtig, sondern die Formen werden nach oben zu schlanker, reicher und feingliedriger. Die geschlossene Silhouette des Sockelgeschosses 16st sich allmihlich in Fialen, Krabben und Kreuzrosen auf. So wird die himmelansteigende Dynamik durch das schon im Portalbaldachin anklingende Schwebe- motiv gemildert und durch den bekr6nenden Giebel, der ,,wie das Paradies einer mittel- alterlichen Mysterienbiihne die hier aufge- stellten Heiligenfiguren in eine andere Sphaire entriickt",32 in jene schwebende Zust~indlich- keit verwandelt, die mit ihrem lyrisch-traum- haften Grundgehalt zum wesentlichsten Stim- mungsfaktor des weichen Stiles geh6rt. Die Struktur dieses kostbaren architektonischen Juwels zeigt spezifische Zuige der ,,idealisie- renden" Feinkunst von 1400.33 Die ins Grazi6s- Elegante gestreckten Proportionen von un-

3. Wien, Maria am Gestade, 1394 bis 1414. Westfassade und Turmin

Uiberbietbarem Adel, die feingegliederte Zartheit ihrer Formensprache und das anmutige Dastehen dieser Fassade sind dem Stilideal und dem Ausdrucksgehalt der gleichzeitigen intimen Andachtsbilder nahverwandt. Einer grundsitzlich kontriren Formenwelt begegnen wir an der 6stlichen Hauptfassade

der zwischen 1449-60 von Peter von Pusika - ,,unseres allergntidigsten Herrn des r6mi- schen Kaisers steinmetz" - im Westtrakt der Burg zu Wiener-Neustadt erbauten Georgs- kapelle (Abb. 4). Die in den Ausma3en einer Kirche gehaltene, ohne Querschiff und aus- geschiedenen Chor fiber rechteckigem Grundri3 errichtete dreischiffige Halle ruht in beherrschender Stellung auf den michtigen Gewolben der in den Burghof fiihrenden Torhalle. Die urspriinglich als eigene Grablege von Kaiser Friedrich III. in seiner Residenz geplante Anlage zihlt zu den eigenartigsten und bedeutendsten Sch6pfungen der Spitgotik

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4. Wiener-Neustadt, Georgskapelle. Wappenwand, 1453

in Osterreich. In blockhaft-geschlossener Massigkeit, wuchtigen und gedrungenen Propor- tionen erhebt sich in machtvoller Standfestigkeit ihre beriihmte Wappenwand, in derem seltsamen - auf legendaire genealogische tOberlieferungen ful3enden - Wappenschmuck die phantastisch fibersteigerten Machtanspriiche dieser eigenwilligsten Herrscherpers6nlich- keit unter den habsburgischen Fiirsten ihren kiinstlerischen Niederschlag fanden. Nur die beiden schriiggestellten, die kompakte Wandfliche kraftvoll zusammenfassenden Eckpfeiler (der rechte ist heute im spiteren Mauerverband verdeckt) und zwei weitere, ebenfalls vorspringende und die innere Raumordnung andeutende staimmig emporgetriebene Strebe- pfeiler, gliedern die grol3formige Fassade. tber einem breiten, rundbogig profilierten Tor und den beiderseits eingeschr~igten Fenstern verliuft eine, von kraftigen Konsolen ge- stiitzte Galerie quer fiber die Fassade, durchst6l3t die Streben und miindet links in eine (spiter angebaute) Schneckenstiege. Dartiber durchbrechen - entsprechend dem breiteren

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Mittelschiff und den schmileren Seitenschiffen - drei rundbogige Malwerkfenster unter- schiedlicher Grol8e die Wand. Unter dem breiteren Mittelfenster ist eine mit dem Standbild des Kaisers besetzte, oberhalb sind drei weitere, mit kastenf6rmigen Baldachinen bekrbnte Figurennischen in die Wandflaiche eingelassen. Noch bevor es dem dartiber steil anlaufenden Giebel gelingt, die strenge Ausgewogenheit der breithingelagerten Fassade zugunsten der H6hendimension zu strecken, wird dieser vom Walmdach iiberschnitten und betont dadurch umso nachhaltiger die gedriickte Verschwerung ihrer untersetzten Erscheinung. Der stairkste Reiz aber dieser ansonst kahlen Schauwand strahlt von den zwischen die beiden Mittelpfeiler eingeblendeten Wappenfeldern aus. Uber hundert, meist undeutbare Wappen (eines mit der Jahreszahl 1453) fibersteigen in vier Vertikalstreifen - von denen der iul3erste jeweils auf den vorgezogenen Pfeiler umschligt - stufenf6rmig das Hauptfenster. Ein Blend- rahmenwerk schliel3t diese - gemai83 der ,,Blockfreude" des eckigen Stiles - zu verein- fachtem Kontur straff zusammen. Wie eine aus Erz getriebene Panzerplatte legt sich dieser dichtgedraingte Wappenteppich fugenlos vor die Mauerfliiche und verwandelt ihren robusten Steincharakter gleichsam in kalt-tastbare ,,metallische Hiirte". Es scheint, als ob sich damit selbst im Bereich des Architektonischen jene ,,Metallfreude" abzeichnet, die auch - als eines der hervorstechendsten Stilmerkmale des harten Realismus der Jahrhundert- mitte - die gleichzeitigen Maler und Bildhauer veranlalfte, mit Vorliebe die von scharfen Glanzlichtern iiberspielten Harnische und blinkenden Waffen darzustellen.34 So- wohl das klare Gertist der ineinander verfestigten senkrechten und horizontalen Gliederung, als auch die breithaibig-lapidare Wucht ihrer Proportionen und die niichterne, geradezu antigotische Sachlichkeit unterscheiden diese Schauwand von der grazilen Fassade der Kirche Maria am Gestade durch dieselben Formqualititen, die eine Bildgestalt der Konrad- Witz-Zeit vom h6fisch-schlanken Figurenideal des weichen Stiles trennt.

Erweitern und bekriftigen wir zugleich unsere Beweisfiihrung durch ein aus anderer Kunstlandschaft gewdihltes Beispielpaar. Gegeniiber dem bildsameren Haustein des Stidens begegnet die bedeutend spridere Materie der norddeutschen Backsteinbauten von vorne- herein der um 1400 beliebten weichgerundeten Formgebung und dekorativen Auflockerung mit besonderen Widerstinden. Wenn nun gerade am Anfang des 15. Jhdts. die in diesem Gebiet sicher schon seit dem 13. Jhdt. nicht selten gebriiuchliche Verwendung profilierter Formsteine eine derart auffallend betonte Steigerung erfdihrt, daB diese als plastisches Ornament ganze Wandfliichen der friiher meist kahlen Ziegelmauern teppichartig tiber- ziehen, so beweist das wie nirgendwo iiberzeugender die Gebundenheit auch der architek- tonischen Gestaltung an den allgemeinen Zeitstil. Alle trotzige Gewalt dieses sonst wider- spenstigen Baumaterials und die Wucht der rauhen Bausteinmassen, die noch den Bauten des 14. Jhdts. und dann wiederum denen aus der Mitte des 15. Jhdts anhaftet, verwandelt Hinrich Brunsberg - der bedeutendste im Norden titige Architekt des ersten Jahrhundert- drittels - an seinen Werken in die grazile Feinheit des weichen Stiles. Otberschlank und aristokratisch wie die Fassade von Maria am Gestade, strebt die Nordseite der 1401-34 errichteten Marienkapelle der Katharinenkirche in Brandenburg--eines seiner Hauptwerke - himmelwirts.35 Drei sechseckige Strebepfeiler, deren dreiteilige Rundstabbtindel eine scharfe Kantenbildung verhindern und durch ftinf, mit Heiligenfiguren besetzte Baldachin- nischen zart gegliedert sind, teilen die Fassade in zwei ungleich breite und gestreckte Wand- felder. H6her als das durch zwei reichgekehlte Portale gebffnete, zur Giinze mit einem BlendmaBwerk bedeckte Sockelgeschof und das zweifenstrige Mittelgeschof zusammen, erhebt sich fiber einem vorgeblendeten Gesims aus doppelt gereihten, dunkelgriin glasier-

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ten Vierpissen, ein reich durchbrochener Ziergiebel. Zwei eingeriickte Zwischenpfeiler unterteilen die Giebelwand in vier, im Winkel zueinander stehende Felder. Ein rundbogiges, mit zahllosen eingeblendeten Drei- und Vierpdssen verspanntes Stabwerk betont den nach oben zu gesteigerten Vertikalismus und Sammelpunkt der dekorativenAkzente dieser Schau- wand. So 1lst sich die Substanz der Fassade nach der H6he zu allmihlich auf und lockert sich schlieflich mit dem diaphanen MaBwerkschleier der feindurchbrochenen Rosen in den krabbenbesetzten Wimpergen in schwebende Leichtigkeit. Die strahlende Farbigkeit der im Schaugie el schrig zueinander gestellten hellroten Ziegelwainde und der dunkelgriinen Glasursteine, um das Weil3 des Verputzes noch erh6ht, erfdihrt durch das Licht- und Schat- tenspiel der durchbrechenden Sonnenstrahlen eine reizvoll flimmernde Belebung, die in gewisser Hinsicht an die edelsteinbunte Leuchtkraft der Tafelbilder des weichen Stiles er- innert. Brunsbergs zauberhafte Fassade - zierlich im Malfstab und anmutig in den Pro- portionen, reich in der Form und juwelenhaft in der leuchtenden Schbnfarbigkeit ihrer glasierten Modellsteine - erweckt den Eindruck eines feinziselierten, in architek- tonische AusmaBe vergr8l3erten Schmuckstfickes. Neben der vom gleichen Meister erbauten Nordfassade des Rathauses von Tangermiinde, ist diese Fassadenschdpfung das begliickendste Geschenk norddeutscher Backsteingotik an den weichen Stil.

Stellen wir diesem Bau die stidliche Querhausfassade der Marienkirche zu Danzig, deren Giebel 1446 errichtet wurde,36 als Beispiel des eckigen Stiles an die Seite, so zeigt sich, wie bei allen bisherigen Vergleichen, die diametral gerichtete kiinstlerische Absicht in schla- gender Deutlichkeit. Bei annihernd vergleichbarer Gliederung in einen massiveren Unter- bau mit Sockel- und Fenstergeschol und eine bekr6nende Giebelwand mit zwei sechs- seitigen Ecktfirmen, springt abermals - im Gegensatz zur filigranen Zartheit der Branden- burger Fassade - der dem mittleren Jahrhundert eigentiimliche blockhaft-ntichterne Charakter der maichtig und nahezu schmucklos aufgerichteten Backsteinmassen unmittel- bar ins Auge. Von keinem zarten Malwerkschleier aus buntglasierten Ziersteinen um- sponnen, ruht auf der festgeschlossenen Wandfliiche von geradezu robust-bedrohlicher

Voluminositit, undurchbrochen und in formenkarger Grofartigkeit der wuchtige dreige- teilte Giebel. Seine straff und zinnenartig ansteigenden Helmpyramiden verleihen dem Giebel eine ausgezackte Silhouettenwirkung von geradezu metallischer Schdirfe. Die urspriinglich einfarbige und einheitlich fiber die Fugen hinweggehende, ,,aber keineswegs buntwirkende Flichenbehandlung",37 erhdht den wehrhaft-minnlichen Charakter voll ernsten Reizes, der diesen Giebel zu einem typischen Werk der Konrad-Witz-Zeit stempelt und grundsitzlich von den heiter-anmutvollen Schdpfungen Brunsbergs unterscheidet.

Dieselbe realistische Baugesinnung findet sich in der Profanarchitektur des zweiten Jahr- hundertdrittels. Wir verweisen zum Beispiel auf die Fassade des 1437-44 .(wahrschein- lich) von Johann von Bueren als ,,Tanzhaus" erbauten Gtirzenich in Kbln.38 Breithibig und zu einem querrechteckigen UmriBI verfestigt, erhebt sich - trotz flichig-diinner Wirkung - die zweigeschossige Fassade in lastender Schwerfdilligkeit und vergrdberter Formgebung. Die vielfach verspreizte Linienfihrung der Gesimse und des fensterrahmenden Blend- rippenwerkes, dessen spiirliche Kleeblattbogen zu starren Spitzen verkfimmert sind, be- wirkt die rasterartig straffgespannte Hairte und gliserne Schairfe der strengen Oberflaichen- gestaltung. Anstatt der an den Bauten des weichen Stiles immer wieder beobachteten Auf- lockerung zu schwereloser Leichtigkeit, verdichtet sich hier die zinnenartige Aufmauerung zur kompakten Wandmasse und unterstreicht mit ihrer ,,bewegungsfeindlichen Silhouette" die nahezu monumentale Geschlossenheit und schlichte Herbheit der Fassadenwirkung.

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5. Salzburg, Chor der Franziskanerkirche, um 1408 begonnen

Stellen wir dem Kl1ner Bau das 1421 vollendete Rathaus von Briigge gegeniiber, dann bedarf es keiner ins Detail gehenden Analyse mehr, um nicht auch hier wiederum - bei annaihernd gleichbleibender Grundstruktur - die gegensaitzlich formale Gestaltung der Fassade zu erkennen.39 Sechs fiberschlanke Spitzbogenfenster mit feingliedrigem Mal3werk fassen die beiden Geschosse zusammen, die von einer wesentlich kleinteiligeren Zinnen- galerie bekrint werden als an der K61ner Fassade. Drei schlanke Tiirmchen mit Spitz- helmen lockern den Kontur nach oben zu auf und betonen - gemeinsam mit den schmalen Fensterbahnen und entgegen der Breitenausdehnung der Fassade - ihren Vertikalismus. Die unziihligen, von zierlichen Baldachinen gekronten Figurennischen und das juwelen- hafte Relief des reichen filigranen Baudekors, verleihen dieser feingliedrigen Fassade den zum Giirzenich kontriiren und dem weichen Stil eigentiimlichen Ausdruck zarten Da- stehens und anmutvoller Formenfeinheit.40

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6. Niirnberg, St. Lorenz. Chor, 1439-1472

Wenden wir uns schliel3lich im Sinne unserer Fragestellung der echtesten architektoni- schen Leistung, dem Raum selbst zu, so lassen allein schon die an den bisher vorgefiihrten Fassaden - die ja zumeist nur als ,,Mantel" die innere Raumgestalt nach aul3en wenden - gewonnenen Erfahrungen einen analogen Sachverhalt erwarten. Tatsichlich kann nun einer der eindrucksvollsten Kirchenr~iume der deutschen Spitgotik Uiberhaupt - der um 1408 begonnene Franziskanerchor in Salzburg - als Paradigma einer typischen Raum- l6sung des weichen Stiles genommen werden (Abb. 5). Als Sch6pfer dieses dreischiffigen, mit sieben Zw6lfeckseiten geschlossenen Hallenchores ist uns Hans von Burghausen Uiber- liefert. (Der nach neuen Untersuchungen einzige urkundlich nachweisbare Name des bisher als Stethaimer bekannten und bedeutendsten deutschen Architekten dieser Zeit.)41 Zwischen den nach innen gezogenen Strebepfeilern sind (stilistisch verinderte) Kapellen mit dartiber umlaufender Galerie eingestellt und damit Kathedralchor und Halle zu einer grol3artigen

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Raumidee verbunden. Von den fiinf iiberschlanken, in beingstigender Kiihnheit (28 m) wie Halme emporschieBenden Rundpfeilern, sind je zwei paarweise und der letzte 6stlichste in origineller (schon bei ilteren Parlerbauten angewandter) Weise in die Mitte gestellt und von den Seitenschiffen umgangartig locker umschlossen. In sanft-gleitendem Linienflul 1bsen sich die zartprofilierten Rippen von den Rundpfeilern und verbinden sich geschmeidig mit denen der fibrigen Gewblbefelder. Ohne extreme Richtungsbetontheit entfalten sie sich bliitenkelchfSrmig und gleichmBl3ig nach allen Seiten zu einem lockeren Sterngewblbe, das dem Raumeindruck eine harmonische Ausgeglichenheit und schwebende Leichtigkeit verleiht. In iiberwiltigender Weise tiberflutet den Raum eine strahlende Lichtffille, die vor der teilweisen (im Zuge des Residenzanbaues im 17. Jhdt. erfolgten) Fensterver- mauerung noch eindrucksvoller gewesen sein muB. Der oft beschriebene Kontrast des dunklen und driickenden romanischen Schiffes zum steilaufragenden Lichtraum des Chores gilt als Musterbeispiel fiir die ,,malerischen Tendenzen" der spitgotischen Architektur. Ein solches malerisches Raumerlebnis aber und das des Chores selbst, erfordert jene, von Pinder beschriebene ,,Ruhe des fixierten Blickes", die ,,auch das Raumbild - nun wirklich ein Bild - bestimmt."42 Wie alle spitgotischen Riume, verlangt auch dieser gleichsam zum ,,Bild" umgedeutete Raum diesen ,,malerischen Blick". Er wird nicht in rhythmisch gegliedertem Vorwirtsschreiten oder kontinuierlichem Ablesen der Jochfolge erschlossen, sondern ist als ein in sich ruhendes Raumganzes - in das die Stiitzen wie nachtrdiglich eingestellt er- scheinen - mit einem ,,fixierten Blick" zu erfassen. Kein Raumteil geniel3t gegeniiber dem anderen einen architektonischen Vorzug. Reibungslos und ungehindert gleitet der Blick - durch die weiche Rundung der schlanken Pfeiler noch gef6rdert - von einer Raum- form in die nichste hintiber. Das gleichm3iBig und ,,richtungslos" fiber den hellen Raum verspannte Rippennetz verstirkt ebenfalls diese einheitliche Wirkung erheblich.Wie sehr die Architektur des Franziskanerchores mit ihren gestreckten Proportionen, feingliedrigen Formbildungen und der schwebenden Lichtfiille, dem Kunstwollen des weichen Stiles ent- spricht, soll nachstehend unter w6rtlicher Heranziehung einer Stilanalyse zu beweisen versucht werden, mit der gerade eines der typischesten und ebenfalls im salzburgisch- bayerischen Gebiet um 1400 entstandenen Werke der Malerei charakterisiert wurde. Die stilkritische Beschreibung eines Architekturraumes an Hand von Begriffsbildungen vor- zunehmen, die einem Bildwerk gelten, mag methodisch ungew6hnlich und gewagt er- scheinen. Aus der oben zitierten ,,Bildhaftigkeit" dieses Chores aber und dem fUir ihn ge- forderten ,,malerischen Blick" glauben wir - (in Anbetracht der einmal grundsdtzlich auch fiir die spitgotische Architektur zu klirenden Stilparallelitit zur Malerei und Plastik) - umso mehr die ausnahmsweise Berechtigung und Giiltigkeit fiir unser Vorhaben ableiten zu diirfen. Die am Pdhler-Altar hervorgehobenen stilbildenden Faktoren haben im fiber- tragenen w6rtlichen Sinne auch fiir die architektonische Formgestaltung des Franziskaner- chores gewisse Geltung:43 Wenn Picht beispielsweise an diesem Tafelbild das ,,Formganze eine ruhende Erscheinung" nennt und sich dabei auf eine ,,primir optische Einstellung" bezieht, so diirfen wir in analoger Weise an die zuvor erwahnte ,,ruhende Raumeinheit" des Chores und seine Ruhe des ,,fixierten Blickes" erinnern. Ist an dem Altar im ,,Innern der Gestalt, der Formfluf nur auftauchende und unmerklich wieder unsichtbar werdende, verebbende Schwingung", dann begegnen wir dieser eigentiimlichen Bewegungsreduktion ebenso in der Raumgestaltung. Vor allem im Linienrhythmus des Gewalbesystems, das den Hbhenzug der aufschiel3enden Rundpfeiler abschwaichend auffingt und verebbend aus- schwingen liiBt. Das fuir die Bildstruktur bezeichnende ,,allmaihliche Stumpfwerden der

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Umrisse" ist auch bei der Durchformung des Raumes wirksam. Zunichst in der GrundriB3- bildung: Der Chor wird nicht mit scharf aufeinander prallenden Ecken hart geschlossen, sondern die Zwblfeckseiten fiigen sich mit ihren stumpfen Winkeln zu einem, dem Halb- rund weitgehend angeniherten Kontur geschmeidig zusammen. Die gleiche Formabsicht aulBert sich auch in den grazilen Dreivierteldiensten, die den eingezogenen Strebepfeilern vorgeblendet sind und deren zeichnerisch harte Kantenfiihrung mildern und abrunden. 1berhaupt bewirken die im gesamten Chor verwendeten Rundpfeiler und der glanzvolle Schimmer des einstr6menden Lichtes ein Stumpfwerden der Umrisse. Ahnlich dem Tafel- altar beherrscht auch den Chor eine ,,Bewegung, die nicht vom Platze kommt". Das von aul3en durch ungemein hohe Fenster einfallende Licht betont die ruhende Raum- erscheinung. Auch im Chor gibt es ,,kein Hinausffihren der Bewegung iiber die (Raum) Gestalt", sondern gerade im Richtungssinne dieses immensen Lichteinfalles das fir den Pahler-Altar und den weichen Stil fiberhaupt charakteristische ,,In-Sich-Zuriicksinken." Wirkt die Bildkomposition eben ,,nicht mit dem Ausdruckswert des Umrisses, sondern mit dem der erfiillten Fliche", dann brauchen wir nur den sinngemdi3en Begriffswechsel vorzu- nehmen, d. h. anstatt Fliche Raum zu setzen, und wir gewinnen damit eine kurze, aber ebenso treffende Formel auch fiir die Erscheinung dieses Raumes, in dem alles vor unseren Augen zuriickzuweichen und uns zu umschweben scheint. Auch im Raumerlebnis bleibt ,,von dem aktiv mitreil3enden Aufbau eine zurfickgedimmte Spannung, an Stelle der Dramatik, weiche lyrische Empfindsamkeit, Passivitit", wie sie den Bildfiguren eigen ist. Denn gerade in diesem lichtiiberfluteten Chorraum glauben wir jene fiberirdische Sphire und fiberfeinerte Sinnlichkeit zu verspfiren, die mit ihrem romantisch-traumhaften Grundakkord alle Sch6pfungen deutscher Kunst um 1400 in gesteigertem MaBe durchpulst. Nicht zufillig hat Pinder das einzigartige Wunder dieses Raumes - der die unverkenn- baren Ziige des weichen Stiles trigt - einen ,,Traum vom Himmel" genannt und damit seinen tiefsten Wesens- und Ausdrucksgehalt getroffen.

Wie grundsitzlich anders, ja geradezu antithetisch zum Franziskanerchor, verhilt sich (bei annihernd vergleichbarem Grund- und AufriB3) der 1439 -72 erbaute Chor von St. Lorenz zu Niirnberg (Abb. 6).44 Gleich dem Salzburger schlieBt auch der Nfirnherger Chor an ein ilteres Langhaus an, ist gegenfiber dem Franziskanerchor jedoch spfirbarer von Schwabisch-Gmiind entlehnt. Nicht nur der Mittelpfeiler ist zugunsten eines (wie im Heilig- kreuz-Chor) eingezogenen Stiitzenpaares aufgegeben, auch die flachen Kapellen sind wieder nach auBlen verlegt und nicht mehr in die Hallenwblbung einbezogen. Zudem betonen die Emporenbrfistung und die zweigeteilten Fensterbahnen die Zweigeschossigkeit.45 Die fiber- schlanken Rundpfeiler und zarten Gewblberippen des Salzburger Chores sind durch stimmige und kantig behauene Pfeiler ersetzt, von deren Diensten scharfgratige und derbere Rippen abzweigen.46 Im Gegensatz zu den im friiher entstandenen Raum mit ge- schmeidiger Weichheit von den Rundpfeilern ausstrahlenden, sich locker iiber die Wblbung breitenden Rippen, sitzen diese im Bau der Jahrhundertmitte wesentlich tiefer und ab- rupter auf den volumin6seren Pfeilern auf und durchflechten sich zu einem ungleich engmaschigeren und starren Rippennetz. Vertikales Aufstreben und horizontales Ausbreiten der Rippen sind damit bedeutend ftihlbarer kontrastiert. Vor allem verursacht das verdich- tete Rippennetz die fiir die Raumwirkung entscheidende gedrfickte Verschwerung. Die in Salzburg insbesondere durch die gleichm3iBig lockere Gewblbebildung gefbrderte Raum- vereinheitlichung wird hier - wo jedes Schiff eine andere Gewdlbefiguration erhilt und sich dadurch stirker von den benachbarten Raumteilen absetzt- wesentlich reduziert.

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So wird nun tiberall im Sinne des fiberwundenen weichen Stiles eine Vereinfachung, Vergrbberung und Verfestigung der Formen angestrebt. Es ist in dieser Hinsicht aufschlul3- reich, die spiteren Anderungen Roritzers an der dem weichen Stil zeitlich noch niher stehenden Konzeption Heinzelmanns genauer hervorzuheben.47 Vor allem hatte Heinzel- mann ,,vermutlich runde(!) Sdulen zum Tragen der Gewblbe" vorgesehen. Nicht unwesentlich ist auch, daB Roritzer spiter die vier ursprtinglich geplanten Joche auf drei reduzierte. Er weitete damit die Steilheit der Raumwirkung ins Breithingelagerte. Zugleich triiben in gewissem Sinne auch die im ChorschluB und an den Lingsseiten unterschiedlichen Ab- stainde der Wandpfeiler - (die Heinzelmann durchgehend beibehalten wollte) - die Raum- vereinheitlichung. SchlieBlich treten bei den von ,,Roritzer nach innen nur wenig betonten Pfeilervorlagen und an den ihnen entsprechenden frei stehenden Pfeilern nur einzelne, auf abgeschrigte Flichen aufgesetzte kriftige Saulen an die Stelle der vielgegliederten Rundstabbiindel." Gegentiber den weichgerundeten Umrissen in der Formgebung des Fran- ziskanerchores unterliegen jetzt alle Formen einer zeichnerisch harten Linienfiihrung. Der in Salzburg geschmeidig vom Erdboden bis in die Gewblbefiguration verebbend aus- str6mende LinienfluB wird hier vielfach verspreizt und verfestigt. Die breite Horizontal- lagerung des Raumes - durch die straffe, kantig vorspringende MaBwerkbrtistung der Empore, die breiten zweigeschossigen Fenster und die kSrperhafte Schwere der michtigen Sttitzen besonders betont - steht in krassem Gegensatz zum schlanken Dastehen und freien Fluten des Salzburger Chores. Nicht zuletzt ist auch die unterschiedliche Lichtstirke in beiden Bauten ftir die kontrire Raumwirkung entscheidend, die nicht nur von der

Fenstergrbl6e, sondern wesentlich auch von der jeweiligen, stilistisch bedingten Farbgebung der Glasgemilde abhingt. Der strahlenden und ,,traumhaften" Lichtfiille des Salzburger Chores und seiner iiberirdischen Zartheit, vermag der in seinen architektonischen Formen

,,verhirtete" und unverkennbar der realistischen Stilstufe angehSrende Lorenzerchor nur eine weitaus ,,kiihlere" Atmosphire entgegenzustellen, die dem Raum einen mehr ,,welt- lichen" Charakter voll feierlicher Strenge und herber Niichternheit verleiht.48

Der hier an zwei Choranlagen aufgezeigte Wandel in der Raumgestaltung vom Anfang bis zur Mitte des 15. Jhdts. bleibt ffir alle Bauten dieses Zeitabschnittes verbindlich und ist bis in die kfinstlerisch unbedeutendste Dorfkirche hinein spiirbar.49 Wir beschrinken uns darauf, die leicht fortsetzbare Beispielreihe nur noch mit dem vergleichenden Hinweis auf zwei der bedeutendsten Raumschbpfungen der Spitgotik abzuschliel3en. Alle, den weichen Stil des Franziskanerchores bestimmenden Faktoren werden in der vom gleichen Architekten um 1407 begonnenen Spitalskirche von Landshut auf eine ganze Kirchenanlage iibertragen. Chor und Langhaus sind zu einer riumlichen Einheit verschmolzen. Die edle Schlankheit der grazil emporstrebenden Rundpfeiler und die von diesen ohne Unter- brechung in sanftem Schwung anlaufenden, alle drei Schiffe mit einem gleichmit3igen und lockeren Netz tiberziehenden Rippen, verleihen dem Hallenraum eine blumenhafte Zart- heit, die das durch hohe Fenster einstr6mende Licht in schwebende Leichtigkeit verklirt. Wie ein Gegenschlag zu solch ,,idealisierender" Raumgestaltung wirkt die Raumstruktur der Georgskirche in Dinkelsbfihl (1448 begonnen), des grdl8ten und markantesten Baues der ,,realistischen" Stilstufe der deutschen Spitgotik. Auch hier wiederum der vbllig durch- geffihrte Hallentypus, die drei langgestreckten Schiffe und der gleichbreite Umgangschor bilden eine Einheit. Aber nicht schlanke und weit auseinandergezogene Rundpfeiler, son- dern fibereckgestellte und von Diensten dicht ummantelte quadratische Pfeiler gliedern jetzt den Raum in einer an die Biindelpfeiler des 14. Jhdts. erinnernden Weise. Eindrucks-

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miBig schlieflen sich die kriftigen Stfitzen zur festen Wand und grenzen die einzelnen Schiffe

stirker voneinander ab. Das freie Raumfluten des weichen Stiles erfahrt so eine einheitlich

gestraffte Gerichtetheit und Verfestigung.50 Wieder befindet sich das engmaschige und in scharfen Zacken auslaufende Netzmuster des nahezu drtickend flachen Rippengewalbes und damit der obere RaumabschluB in scharfem Kontrast zu den straff aufstei-

genden Raumlinien. Bezeichnend ffir die Versteifung des Raumgeffiges ist der eigen- artige Ansatz der Gew6lberippen. Diese 16sen sich jetzt nicht mehr reibungslos und mit elastischer Schmiegsamkeit aus den kapitellosen Rundpfeilern, sondern verspreizen sich zu kompakten Gebilden, die schildfSrmig vor den kraftvollen Pfeilern liegen. Weit entfernt von der schwebenden Zartheit des Landshuter Raumes, bestimmen metallisch- lineare Hirte und breithingelagerte Standfestigkeit voll ktihler Sch6nheit das herbe Raum-

geprige dieser grolartigen Halle. In ihren gelingten Proportionen aber wird zugleich jene ,,klassische" Haltung spiirbar, die an die gleichzeitige Plastik des spiten Multschers denken 1i13t. Wie in dieser die gehiuften parallelen Faltenbahnen einer ,,verwandelten Wiederkehr des Vierzehnten als Ausdruck einer neuen bfirgerlichen Idealitdit" (Pinder) zum Durchbruch verhelfen, so liel3e sich auch bei dieser Architektur und dem linearen Reichtum ihrer straffgespannten Vertikalglieder, von einem Stil der ,,langen Linie"

sprechen. Dieser nimmt den Formenreichtum des weichen Stiles wieder auf und bereitet - verbunden mit den Errungenschaften des neuen Realismus - auch im architektonischen Bereich den synthetischen Stil der zweiten Jahrhunderthilfte vor.

Anmerkungen

1 Wilhelm Pinder: Die Kunst der ersten Btirgerzeit, Leipzig 1937, p. 348. 2 Schon die Festlegung ihrer zeitlichen Grenzen stief3 auf Schwierigkeiten. Wdihrend Clasen

ihren Beginn um 1300 ansetzt, sah Dehio erst in Ensinger und Stethaimer ,,die Eriffner der Spit- gotik". Seit Gerstenbergs ,,Deutscher Sondergotik" (Miinchen 1913) gilt heute jedoch allgemein die Parlerarchitektur als Anfang der deutschen Spitgotik. Dies entspricht auch dem in der gleich- zeitigen Plastik und Malerei fal3baren ersten Realismus. Die frtihesten spitgotischen Bauten riicken damit in die zeitliche Nihe des in England seit 1340 einsetzenden perpendicular style. Schwerer noch ist die obere Grenze zu fassen, denn schon im friihen 16. Jhdt. mischen sich spitgotische Formen mit Renaissancemotiven. Ein eigentliches Ende hat die Spitgotik tiberhaupt nicht gefunden. Erst als ,,Nachgotik" und spiter als ,,geheime Gotik" blieb sie bis ins 18. Jhdt. wirksam.

3 Georg Dehio: Geschichte der deutschen Kunst, Berlin 1930, II. Bd., p. 143. 4 A. Schmarsow: Reformvorschlige zur Geschichte der deutschen Renaissance, Ber. d. sichs.

Ges. d. Wissenschft., Leipzig 1899. - Erich Haenel: Spitgotik und Renaissance, Stuttgart 1899. - A. Schmarsow: Zur Beurteilung der sogenannten Spitgotik, Rep. f. Kw., 1900. - Wilhelm Nie- meyer: Der Formwandel der Spitgotik als das Werden der Renaissance, Leipzig 1904.

5 a. a. O., p. 143. 6 Georg Weise: Stilphasen der architektonischen Entwicklung im Bereich der Deutschen Son-

dergotik, Zeitschrift f. Kunstgesch., 13. Bd., 1950, p. 78. 7 Vorliegende Untersuchung verdankt dem von Prof. K. M. Swoboda in entgegenkommender

Weise zur Einsicht tiberlassenen Manuskript seiner Prager Vorlesung (1936/37) entscheidende An- regungen. - Fiir wertvolle Hinweise, die zur Klirung mancher hier vorgetragenen Auffassungen wesentlich beitrugen, ist der Verfasser Frau Doz. Dr. L. Schiirenberg zu Dank verpflichtet.

8 Erich Bachmann: Zu einer Analyse des Prager Veitsdomes, in K. M. Swoboda-E. Bach- mann: Studien zu Peter Parler, Briinn 1939, p. 65.

9 Lottlisa Behling: Das ungegenstindliche Bauornament der Gotik. Diss. Berlin 1937. - Gestalt und Geschichte des Mal3werks, Die Gestalt, Heft 16, Halle a. S., 1944.

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10 Nach gleichem Prinzip vollzog sich beispielsweise die bisherige Erforschung des Manieris- mus. Dessen Stilphinomene und Phasen wurden ebenfalls zunichst in der Malerei von einem bisher zeitlich umfassenderen Stilkomplex abgegrenzt und erst hernach in der zeitlich zuge- hirenden Baukunst aufgesucht. (Vgl. Hans Hofmann: Hochrenaissance, Manierismus, Friihbarock, ZiUrich-Leipzig 1938. - H. Ziircher: Stilprobleme der Cinquecento Architektur Italiens, Ziirich 1946.)

11 Vgl. hiezu die Ausfiihrungen bei Pinder, a. a. O., p. 344 ff. 12 Mit Riicksicht auf unsere Problemstellung - die das einzelne Bauwerk vorwiegend als Re-

prisentant allgemeiner, ihm iibergeordneter und zeitbedingter Formgesetze behandelt - mag es erlaubt sein, daf3 das einzelne bauliche Kunstwerk hier nicht immer ganz zu seinem kiinstlerischen Recht kommt und von grundsitzlichen SchlufBfolgerungen iiberlastet erscheint.

13 Ernst Petrasch: Die Entwicklung der spitgotischen Architektur an Beispielen der kirchlichen Baukunst aus Osterreich - ihre Verwandtschaft mit der Entwicklung der gleichzeitigen Malerei und Plastik, (ungedr. Diss., Wien 1949; dort auch der Versuch einer Analyse der den hier behan- delten Stilstufen folgenden Entwicklung bis zur sogenannten ,,Barockgotik".)

14 Hier sollen von diesen aber nur zwei herangezogen werden, da der dritte, der sog. Siidwest- baldachin von 1510 - als ,,barockgotische Variante" - zeitlich auf3erhalb unserer Untersuchung liegt.

15 Vgl. dagegen ,,reine" Malwerkformen des weichen Stiles, in welchen vor allem das Fisch- blasenmotiv mit seinem gleitenden Linienflul3 vorherrscht; z. B. Behling, a. a. O., Abb. 13, 64, 75, 76.

16 Hans Tietze: Geschichte und Beschreibung des St. Stephansdomes in Wien, Osterr. Kunsttop., Bd. XXIII, Wien 1931, Abb. 5.

17 Entgegen allen bisherigen Meinungen, den Puchheimbaldachin Hans Prachatitz zuzuweisen, sieht B. Grimschitz (Hanns Puchspaum, Wien 1948, p. 15 f.) in diesem das friiheste Werk Puchs- paums. Nicht nur dessen erst seit 1446 urkundlich faf3bare Titigkeit an St. Stephan, sondern vor allem die zu seinen spiteren Werken gegensitzliche Formensprache des Baldachins, sprechen - zumindest beim Entwurf - gegen seine Urheberschaft. Dagegen glauben wir die Unterschiede zwischen RilB und Ausfiihrung des Malfwerks damit zu erkliren, dalB Prachatitz - dem nach Grimschitz (a. a. O., p. 6) Puchspaum schon nach 1430 als Parlier zur Seite getreten war - diesem die Bauvollendung iibertrug. Gerade die hervorgehobenen geringfiigigen Abweichungen kiinden naimlich jenen Umbruch zum ,,eckigen Stil" an, dem sich simtliche Werke Puchspaums verpflichtet zeigen. - Inwieweit mbglicherweise auch Restaurierungen des Maflwerkes diese Abweichungen zum Teil mitverursacht haben, bleibt freilich uniiberpriifbar. (Vgl. Alois Kieslinger, Die Steine von St. Stephan, Wien 1949, p. 264.)

is Daf3 die heutige Empore mit anschlieflender Galerie eine barocke Kopie von 1707 aus Holz mit Steinanstrich ist, beeintrichtigt unsere Ausfiihrungen in keiner Weise. Denn schon die ur- spriingliche Galerie war aus Holz und die jetzigen Malwerkformen stimmen mit dem in seinem urspriinglichen Zustand erhaltenen BlendmalTwerk des aus gleicher Bauzeit stammenden seitlichen Treppentiirmchens iiberein. Lediglich einige anachronistische Unstimmigkeiten, wie z. B. die eigenartige Abrundung und die verkripften Gesimse der Galerie, finden damit ihre Erklirung. (Vgl. Kieslinger, a. a. O., p. 264).

19 Otto Picht:

Osterreichische Tafelmalerei der Gotik, Augsburg-Wien 1929, p. 23. 20 Der Uberlieferung nach soll der Siidturm schon 1359 begonnen worden sein. Die neuere

Forschung bringt dessen Plangebung mit dem gegen 1403 verstorbenen Michael Knab - ,,der Her- zoge von Osterreich Baumeister" - in Zusammenhang. (R. K. Donin, Der Wiener Stephansdom als reifstes Werk bodenstaindiger Bautradition, ZDVKW, 1943, Heft 10, Bd. 3/4, p. 209 ff; dort auch zahlreiche Abbildungen.) Daf3 aber der Turm in seiner heutigen Gestalt nicht aus der Mitte des 14. Jhdts. stammen kann, beweisen allein schon seine, dem 14. Jhdt. ungeliufigen Mal3werkbil- dungen (Fischblasen!). 1407 kam es wegen angeblicher Abweichungen der Nachfolger des ersten Meisters von dessen - allerdings durch keine Visierung belegten - Konzept zum Abbruch der bis zu diesem Zeitpunkt fertigen Teile des Sockelgeschof3es. Die prizise Formanalyse legt nun die Vermutung nahe, daf3 der allgemein um 1400 auftretende Stilumschwung fiir diesen Abbruch mitentscheidend war, zumindest den tatsichlich erst in die folgenden Jahrzehnte fallenden Ausbau weitgehend bestimmte.

21 Als Beispiele hiefiir lief3e sich auf den Turm von Laon (bei Villard) und den Fassadenril3 B von Straf3burg verweisen.

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22 Der Vergleich dieses Giebels mit dem um 1440 entstandenen und Puchspaum zugeschriebenen ,,Friedrichsgiebel" (Donin, a. a. O., Abb. 22) unterstreicht seine Zugeh6rigkeit zum weichen Stil. Dieser westlichste und einzige, ursprtinglich ausgebaute der vier siidlichen Langhausgiebel folgt demselben Schema, spannt jedoch das mit bevorzugten starren und spr6deren PaBformen ver- hirtete Gitter straffer in den Rahmen ein. Die verringerte Zahl der jetzt derber gebildeten Krabben vergr6bert die wuchtige GrbBe des ,,Friedrichsgiebels", der gegeniiber den teigig-weichen Kurvaturen des Turmgiebels in seinem Formenrelief die ,,metallische Schdirfe" des Stiles der Jahrhundertmitte splirbar werden l~t.

23 tberprtifen wir beispielsweise das Ergebnis dieser Beobachtungen an einer Gegentiberstellung des Wiener mit dem um hundert Jahre

ilteren Freiburger Mtinsterturm: Die gleichen unterschied- lichen Formqualitditen, die in den plastischen Darstellungsmitteln eine Figur des weichen Stiles von einem Bildwerk aus der ersten H~ilfte des 14. Jhdts. abheben, lassen sich - mutatis mutandis - auch im Tektonischen wiederfinden. Unverjiingt und ohne das reich bewegte, filigrane MaD3- werkrelief - das am Stephansturm den um 1400 gebrdiuchlichen minuti6sen Faltenmodellierungen und Formverschleifungen verwandt erscheint - ragt das Freiburger Oktogon in statuarischer Festigkeit empor. Die sparsame lineare Straffheit seiner plastischen Oberfliche - betont durch die

fiber 30 m hohen Fenster und die aufsteigenden scharfgratigen Ecksporen - erinnert dagegen wiederum an die einfachen und tiefgekerbten Parallelfaltenbahnen einer stdirker an den Figuren- block gebundenen Plastik aus gleicher Zeit.

24 In der gegen 1390 ebenfalls von Michael Knab in Wiener Neustadt errichteten zierlichen ,,Spinnerin am Kreuz" (Donin, a. a. O., Abb. 14), scheint in der Tat seine monumentale Konzeption - gleichsam als ein ,,Stephansturm im Kleinen" - vorweggenommen. Die bei verwandter Grund- form einfacheren, aus der zeitlich frUiheren Entstehung zu erklirenden Details und fehlenden Formverschleifungen im Sinne des vollentwickelten weichen Stiles aber, bestitigen unsere Auf-

fassung in Anm. 20. 25 Die urkundlich belegte Grundsteinlegung (bei der Puchspaum - von dessen Hand mehrere

Grund- und Aufrisse erhalten sind - als ,,des gepaws rechter paumeister" genannt wird) erfolgte bereits 1450, doch kam es erst 1467 zum eigentlichen Baubeginn. 1511 wurde der Turmbau etwa in H6he der Firstlinie des Chordaches eingestellt. Obgleich der Ausbau in die zweite Jahrhundert-

hilfte fdillt, mul3 der Nordturm stilistisch als ein Werk der Jahrhundertmitte angesprochen werden, da die Ausfiihrung mit den Visierungen Puchspaums bis zu den obersten Bauschichten tiberein- stimmt. (Donin, a. a. O., Abb. 4, 5 a).

26 Grimschitz, a. a. O., Abb. 28-31. 27 Die nach Entwurf Puchspaums 1451/52 am Wienerberg errichtete ,,Spinnerin am Kreuz" (Donin,

a. a. O., Abb. 16) und das typusgleiche TUirmchen in Wiener Neustadt (vgl. Anm. 24) wiederholen im kleinen die aus vorstehendem Vergleich resultierenden Stilunterschiede. Puchspaum ersetzt die juwelenhafte Feinheit und Formenftille der zierlich aufstrebenden Andachtssiule durch eine schmucklosere und vergr6berte Gliederung. (U. a. kantig behauene Stitzen anstatt graziler Stiul- chen!) GemdiB des verdinderten Proportionsgeffihles der ,,realistischen" Baugesinnung der Jahr- hundertmitte, zeigt das in seinem starren Formcharakter verfestigte Werk einen zum prismatischen Block zusammengeschlossenen Umrif3 und unverjiingt standfesten Wuchs. (Die an vorstehenden Vergleichsbeispielen gewonnenen Einsichten hat der Verfasser bereits im Friihjahr 1947 in einem Seminarreferat vorgetragen und gesprdichsweise dem Herausgeber der erst ein Jahr spiter erschienenen Puchspaum-Monographie - in der diese in gewisser Hinsicht eine nachtrdigliche Be-

staitigung fanden - mitgeteilt.) 28 Zur Baugeschichte vergleiche Hans Reinhardt: La haute tour de la Cath6drale de Strasbourg,

in Bulletin de la soci6t - des amis de la Cath6drale de Strasbourg, 1939, 2. Serie, Nr. 5, p. 15 ff. 29 Dieser im Archiv des Berner Miinsters aufbewahrte Ril, den Ulrichs Sohn Math~ius dorthin

verbracht haben kibnnte, haitte das Freiburger Vorbild in der Weise modifiziert, ,,dal3 die Pyramide an ihrem Fulf mit einer konkaven Einziehung anltiuft, w~ihrend die Kanten mit kleinen Fialen (wie Wachskerzen auf einem Weihnachtsbaum) besetzt sind, wodurch ein reicher Schwung der

Umrillinien entsteht, der seinen Vorklang schon in den durchflochtenen Kielbagen fiber den Hauptfenstern des Oktogons hatte." (Dehio, a. a. O., p. 157).

30 Im Gegensatz zu allen bisherigen Meinungen datiert Reinhardt den ersten Entwurf von Hilltz mit iiberzeugender Begriindung bereits auf 1419.

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31 Wilhelm Pinder: Die deutsche Plastik der Hochrenaissance (Hdb. d. Kw.), Wildpark-Potsdam 1929, p. 254. - Der im zweiten Jahrhundertviertel in sdmtlichen KunstuBf3erungen immer vor- herrschender zum Durchbruch gelangende ,,kubische Vorstellungswille" mag auch die Ursache sein, daf die urspriinglich vorgesehene Bekrbnung jedes der in sieben dichten Krdinzen den Kernbau umhUillenden 52 Tilrmchen mit kleinen Pyramidenhelmchen schliefl3ich unterblieb. Damit tritt der fiir die Erscheinung der Turmspitze charakteristische und dieser Stilstufe besonders entsprechende hart abgetreppte Umril3 noch wesentlich klarer hervor.

32 Hans Tietze: Wien (Beriihmte Kunststitten, Bd. 67), Leipzig 1928, p. 69 f. 11 Ein wahres Kleinod einer ,,Architektur des weichen Stiles" besitzt diese Kirche ebenso in ihrer

juwelenhaft feingesponnenen, dem ilteren Turmstumpf wie eine durchsichtige Glocke fiberge- stillpten Maf3werkhaube von knospenhaft weichgerundetem Kontur.

34 Vgl. Pinder, a. a. O., p. 280. 35 Max Sdiume: Hinrich Brunsberg ein spitgotischer Baumeister, Diss. TH. Berlin 1926; gedruckt

in Baltische Studien, NF. Bd. XXVIII, Stettin 1926, Abb. 26. 36 Ernst Gall: Die Marienkirche zu Danzig, Burg bei Madeburg 1926, Abb. 47 und 49. 37 Gall, a. a. O., p. 8. 38 Dehio, a. a. O., Abb. 291. 39 Hans Karlinger: Die Kunst der Gotik (Propylien-Kunstgeschichte VII), Berlin 1926, Taf. 182.

,,Die enge Verwandtschaft mit den hanseatischen Rathiusern" und der starke Vertikalismus, der die Briigger Fassade gewissermaf3en zum nSrdlichen Gegenstiick der typisch siiddeutschen Front machen, berechtigt uns zur ausnahmsweisen Heranziehung dieses flimischen Beispieles. (Vgl. Karl Gruber: Das deutsche Rathaus, Mtinchen 1943, p. 35 f.)

40 Angesichts der allgemein anerkannten parallelen Stilentwicklung der gesamteuropdischen Malerei und Plastik des 15. Jhdts., w~ire ein analoger Stilwandel auch fiir die Architektur zu er- warten. Dal3 es etwa auch in der italienischen Baukunst einen weichen Stil gibt - (der ja bezeich- nenderweise auch ,,internationaler" Stil genannt wird) - soll hier zu behaupten nicht gewagt werden. Immerhin spiegelt die Gegenilberstellung von Bauwerken des ersten Jahrhundertdrittels mit solchen aus der Jahrhundertmitte einen zur deutschen Spitgotik vergleichbaren grundsitz- lichen Formenwandel: Die 1419 von Brunelleschi begonnene Fassade des Ospedale degli Innocenti in Florenz, ein leichter und aufgelockerter Gliederbau, zeigt gegeniiber den in schwerer Massig- keit kubisch-verfestigten Baukirpern eines Michelozzo und Alberti (z. B. San Francesco in Rimini, um 1450 begonnen) dieselben unterschiedlichen Formqualititen wie unsere deutschen Fassadenbeispiele. Nur ist wie in den figiirlichen Kiinsten - in welchen die der Konrad-Witz-Zeit verwandte Generation Donatellos und Masaccios die Kunst eines Ghiberti und Masolino mit polarem Pendelschlag ablbst - auch in der Architektur die Formel dieses Stilwandels im Norden gotisch, im Siiden antikisch-renaissancemdl3ig. (Vgl. Renate Rieger: Die Architektur von Nieder- isterreich im Verhiltnis zur Kunst der Renaissance, Osterr. Institut f. Geschichtsforsch., Wien 1950, ungedr. Manuskript.)

41 Peter Baldass: Hans Stethaimers wahrer Name, Wiener Jb. f. Kunstgeschichte, Bd. XIV (XVIII), p. 47 ff.

42 Wilhelm Pinder: Deutsche Dome des Mittelalters, 1912, p. XVI. 43 Picht, a. a. O., p. 23 f. 44 Als Planverfasser dieses bisher Conrad Roritzer zugeschriebenen Werkes macht die

neuere Literatur Conrad Heinzelmann namhaft, ohne Roritzers Verdienst zu schmilern, ,,der unter Aufgabe des Heinzelmannschen Planes einen fUr die innere Raumwirkung .. .von gr6f3ter Bedeutung gewordenen grof3zilgigen Baugedanken zur Ausffihrung brachte." (Otto Schulz: Der Chorbau von St. Lorenz zu Ntirnberg und seine Baumeister, ZDVKW, Bd. 10, Heft 1/2, 1943, p. 55 ff.)

45 Entsprechend dem allgemein zu beobachtenden Wellenrhythmus der Stilentwicklung, zeigt sich die Architektur der Jahrhundertmitte mit diesen auch bei anderen Bauten festzustellenden

Riickgriffen auf das 14. Jhdt. (vgl. auch die blindelpfeilerartigen Bildungen) den gleichzeitigen darstellenden Kiinsten verwandt. Doch ist die Ahnlichkeit der Bauten aus der Mitte des 15. Jhdts. mit denen des spiteren 14. Jhdts. ,,nicht niher als zwischen einer Gestalt der Konrad-Witz-Zeit und einer parlerischen." (Pinder).

46 Analog zum gegensitzlichen Figurenideal beider Stilphasen tritt im zweiten Jahrhundert-

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Page 26: "Weicher" und "Eckiger" Stil in der deutschen spatgotischen Architektur

drittel - wie wir bereits an den beiden Baldachinbauten des Wiener Stephansdomes beobachten konnten - fast durchwegs der st5mmige, meist achteckige Pfeiler an die Stelle des vom weichen Stil bevorzugten Rundpfeilers. Die bedeutendsten und grfl3ten Kirchenbauten Osterreichs aus der Jahrhundertmitte beispielsweise, weisen den wuchtig-gedrungenen Achteckpfeiler auf. (Grazer Domkirche, Pfarrkirchen in Braunau, M6dling, Knittelfeld, Hall i. Tirol u. v. a.)

47 Schulz, a. a. O., p. 62 und 70. 48 Wir erinnern an entsprechende Vorginge in der gleichzeitigen Malerei: Der um 1400 bevor-

zugte edelsteinbunte Glanz leuchtender Schbnfarbigkeit ,,verdiistert" sich - analog zur ,,Ver- h~lichung" im seelischen und formalen Bereich der realistischen Stilstufe - zu erdhaft-schmutzi- gen Farbtinen.

49 So 13t sich z. B. an Hand der Abwandlungen des von der Spitalskirche in Braunau (1417) ge- prigten und in den Brtlich benachbarten Pfarrkirchen von Eggelsberg, Hochburg und Handen- berg (1453) im Grund- und Aufrif3schema fibernommenen Raumtypus die Entwicklung vom weichen Stil zum Realismus der Jahrhundertmitte geradezu etappenweise illustrieren. Entsprechend ihrer sukzessiven zeitlichen Entstehung 1f3t sich an diesen Bauten die Verschwerung und Verfesti- gung des Raumgeffiges, die zunehmende Vergriberung in der Formbildung und die Trtibung der Lichtwirkung besonders augenfillig verfolgen. (Vgl. Die Kunstdenkmiler des pol. Bezirkes Braunau, Osterr. Kunsttop., Bd. XXX, Wien 1947.)

50 Noch in der im ausklingenden weichen Stil (1427) begonnenen und in gewisser Hinsicht als Vor- stufe zu Dinkelsbiihl geltenden Georgskirche von NSrdlingen - an der Nikolaus Eseler, der Bau- meister von Dinkelsbtihl, wesentlich mitbeteiligt war - werden die sechs Joche der dreischiffigen Halle durch mastendtinne Rundpfeiler mit je zwei achsendiagonalen grazilen Diensten gegliedert. Im friiher entstandenen, fast gleich langen, aber etwas einspringenden und durch das Pressen der Proportionen in den Seitenschiffen stirker als Steilraum wirkenden Chor, herrscht sogar noch der glatte Rundpfeiler vor. Im Gegensatz zum Dinkelsbilhler Bau aus der Jahrhundertmitte erfUillt die NSrdlinger Stadtkirche die vom weichen Stil bevorzugte aufgelockerte und wesentlich freiere Raumbewegung. Vgl. ebenso die steilere Wilbung in Ndrdlingen gegentiber der erheblich flacheren Decke in Dinkelsbtihl.

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