Zwischenruf
Zusammenfassung: in der rubrik „Zwischenruf “ werden laufend aktuelle Bezüge zu gesell-schaftlichen Themen aufgenommen, die jeweils aus individueller Perspektive diskutiert und re-flektiert werden.
Schlüsselwörter: soziale Probleme · freiheit · folgen von freiheit
What is of importance...
Abstract: The column “Zwischenruf” deals with current social topics, which are discussed and reflected from an individual perspective.
Keywords: social problems · freedom · consequences of freedom
soz Passagen (2012) 4:127–130DOi 10.1007/s12592-012-0102-6
Was Not tut…
Michael Winkler
© Vs Verlag für sozialwissenschaften 2012
Prof. Dr. M. winkler ()institut für Bildung und Kultur, universität Jena, Am Planetarium 4, 07737 Jena, Deutschlande-Mail: [email protected]
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wer sich mit den Auswirkungen gesellschaftlicher entwicklungen auf das Leben der sub-jekte befasst, fühlt sich gegenwärtig ziemlich irritiert: spätestens im Kontext der medialen inszenierungen um die wahl des neuen Bundespräsidenten ist ganz nach vorne gerückt, was Joachim Gauck als sein Leitmotiv benennt: nämlich das Thema „freiheit“, also die frage danach, wie es um freiheit, um Autotelie und Autonomie, endlich um Verantwor-tung in der Lebenspraxis so steht. Dabei irritiert an der frage nach der freiheit weniger, dass das Thema Konjunktur hat just in dem Moment, in welchem die bislang für dieses als zuständig erklärte Partei versenkt wird, ironischerweise von Piraten, die sich ihrer-seits zumindest für freiheit im internet für kompetent erklären – sofern man in diesem fall von Kompetenz überhaupt noch reden kann. Die Konjunktur des Themas verwundert vielmehr, weil in der überwiegenden Mehrzahl der Beiträge zu ihm die Analyse ein wenig dürftig erscheint. Dabei darf man Gaucks Büchlein sogar ausnehmen, weil er dem frei-heitskonzept doch gleich eines der Verantwortung und sorge gegenüber stellt, die in der elementaren Bindung der neugeborenen an erwachsene (et vice versa) gründet. Jüngere forschungen allzumal in der evolutionsbiologie geben ihm in diesem Punkt recht.
Am hype um freiheit überrascht aber vor allem, dass kaum der Blick darauf gerichtet wird, wie gegenwärtig die folgen von freiheit zu bewältigen sind: Die Liberalisierung der finanzmärkte, die Befreiung der staaten von sozialstaatlicher Verpflichtung, eine soziale und kulturelle entwicklung hin zu einer perversen Freiheit sind aber nicht zu übersehen, in welchen Menschen aus allen Zusammenhängen gerissen und auf sich verwiesen wer-den, mit der zynischen Aufforderung, dass sie nun Verantwortung für sich übernehmen müssten – zum nutzen und formen einer Gesamtheit, die nun definitiv wenig mit allen zu tun hat, für Bedingungen meist ihres Tuns, über die sie gar nicht verfügen. Die Auf-lösung von institutionen und regelungen, das Auswuchern der liquid society, wie sie – mit gelegentlicher Übertreibung und Blindheit für neue Verhärtungen – in vielfältigen schattierungen und effekten von dem polnisch englischen soziologen Zygmunt Bauman beschrieben wird, ist ziemlich aus dem Blick geraten. Oder genauer: da wird im namen von freiheit ideologie betrieben, die einmal mehr dann doch den herrschenden nützt, die sich ihrerseits wieder zu erkennen geben und sich nicht weiterhin hinter den Ab-straktionsprozessen des Kapitals verstecken – Maschmann und wulff mögen zwar kleine Geister in diesem Geschäft sein, dennoch ist ihr gemeinsames Auftreten symptomatisch für diese entwicklung.
All dem werden wohl einige noch zustimmen. Anders jedoch bei folgendem, zumal der Gedanke kompliziert ausfällt und mit der Dialektik im Begriff der freiheit zu tun hat, die zunehmend aus dem Bewusstsein geraten scheint: Verblüffen muss nämlich die ignoranz derjenigen gegenüber der freiheitsproblematik, die sich mit – im weitesten sinne des Ausdrucks – Arbeit am sozialen beschäftigen. sie reagieren zwar auf die öko-nomisch verordnete, zuweilen als Modernisierung oder gar als reform meist politisch durchgesetzte perverse freiheit – aber sie tun dies, indem sie selbst ein neues Determina-tionsregime durchsetzen: weder auf der ebene bildungs- noch auf der sozialpolitischer Programmatik oder Konzepte taucht nämlich Freiheit überhaupt noch auf, auch Autono-mie nicht, selbst emanzipation gehört zu den Begriffen, deren schreibweise wohl schon weitgehend vergessen ist.
in der sozial- und Bildungspolitik, in der sozialen Arbeit und in der schulpädagogik haben sich ein Denken und vor allem eine Praxis durchgesetzt, die schlicht und ergreifend
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radikal illiberal sind. sie berücksichtigen weder die Überlegung, dass freiheit als ein nicht hintergehbares Ausgangsdatum professionellen handelns in diesen feldern gedacht werden muss, noch, dass soziale Arbeit, Betreuung, erziehung oder unterricht damit zu tun haben, Menschen die freiheit zu sichern oder zu ermöglichen – sie zumindest jedoch darin zu unterstützen, sie zu erlangen. Die ganze Bildungsdebatte kommt ohne Gedanken an die freiheitsproblematik aus – und wer ihn als relevant reklamiert, wird mit dem satz abgefertigt, er würde einen Bildungsbegriff vertreten, der nicht mehr zeitgemäß sei. Mehr noch: Zu beobachten ist, wie unter den Vorzeichen sozialer Gerechtigkeit und verbes-serter Bildungschancen ganze Bevölkerungsgruppen und Lebenspraxen als risikofälle unter Verdacht gestellt werden – vorrangig übrigens familien, allzumal unter dem höchst seltsamen etikett ihrer, was auch immer das heißen soll, „sozialen schwäche“ – dann die sogenannte unterschicht oder jene, die eine prekäre existenz leben müssen. Als risiko-fälle, die dann so bearbeitet werden müssen, dass niemand zum störfall wird. schlichte Anpassung steht im Vordergrund – vermutlich, weil alle anderen sie unter dem etikett der Fitness selbst betreiben.
unzweifelhaft leiden die modernen Gesellschaften darunter, dass allein die frei-heit der Märkte gilt und ein als Liberalisierung vorangetriebener, dramatischer Prozess der Modernisierung die Lebensverhältnisse zerstört, ungewissheiten und unsicherhei-ten schafft. Gleichwohl propagieren sozial- und Bildungspolitik, soziale Arbeit, ja die gesamte Pädagogik stets die Ab- und Zurichtung von Menschen für eine Gesellschaft, die als solche oft tatsächlich gar nicht mehr zu fassen ist. schlimmer noch: sie reagieren mit einer doppelten negation von freiheit. Auf der einen Seite werden seltsam kurzschlüssig und locker die verfügbaren Befunde über die – um noch einmal Bauman aufzugreifen – liquefaction von Gesellschaft als bloß kulturkritisch beiseite geschoben; dass es viel-leicht sozialisationstheoretisch gute Argumente dafür gibt, familie zu unterstützen und jungen Menschen settings mit Peers zu schaffen, in welchen sie eine identität entwickeln könnten, die sie benötigen, um den irrsinn moderner Gesellschaften zu bewältigen, bleibt außer Betracht. nein: da wird dann flugs behauptet, dass Konzepte der identität heute irrelevant seien. Auf der anderen Seite aber beschwören soziale Arbeit und Bildungsprak-tiker institutionelle Lösungen, möglichst umfassend und langfristig, durch welche die freigesetzten Menschen schon früh eingefangen, diszipliniert oder kontrolliert werden. Das Ganze nennt sich dann zwar inklusion, mit der Pointe, dass man sich der Grund-bedeutung des Begriffs dann vorsichtshalber nicht vergewissert; vollstreckt wird es als „Bildung“, wobei keiner das Kleingedruckte liest, dass es nämlich um die employability nach Maßstäben der übergreifenden wirtschaftsorganisationen geht. freiheit, Autono-mie, emanzipation aus Zwängen, das kommt definitiv nicht vor, wer seinen eigenen Kopf hat, dem wird dieser mindestens zurecht gerückt.
Das Kernproblem besteht darin, dass in beiden fällen die konstitutive Problematik von freiheit nicht aufgegriffen wird. Die frage lautet jedoch: für wen betreibe ich soziale Arbeit oder Pädagogik? für eine Gesellschaft, die – so paradox das klingt – den eindruck erweckt, auf größere Teile ihrer Menschen verzichten zu wollen, oder für die Menschen, die als freie, selbstbestimmt Ziele setzen und regeln bestimmen – notabene können. Genau darin könnte nämlich die Aufgabe von sozialer Arbeit und an Bildung interes-sierter Pädagogik liegen. nicht nur zu begreifen, dass und wie Menschen als freie für das eigene handeln vorausgesetzt werden – was Achtung, Anerkennung und eröffnung
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von wirkungsmöglichkeiten, was vor allem die radikale Abwehr aller formen des Zwan-ges, der Pression und der unhinterfragten institutionalisierung bedeutet. Vielmehr muss gesehen werden, dass zu einer solchen, nur negativen freiheitsvorstellung eine positive hinzu treten muss, in der die subjekte zur wahrnehmung ihrer freiheit befähigt werden – wozu möglicherweise der capability-approach als Begründung nicht hinreicht, wozu aber Anregungen übrigens schon bei Janusz Korczak, bei isaaia Berlin und charles Taylor zu finden sind.
Gewiss, die sache lässt sich nicht mit trivialem Management oder mit sachbearbei-termentalität bewältigen, für die Bachelor-studiengänge perfekt vorbereiten. Vor allem wird man ohne dialektisches Denken die Problem- und Aufgabenstellung nicht begreifen, die mit der frage nach freiheit sich stellt. entkommen kann man ihr nur, wenn man sie ignoriert. Die Debatten um Bildung und soziale Gerechtigkeit tun dies gerade notorisch. Gelingt es aber, in ihnen die freiheitsproblematik aufzunehmen, dann könnte der aktuelle hype um freiheit die soziale Arbeit wieder zu dem inspirieren, was not tut: radikal und kritisch zu werden.