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Was ist Kunst? - Microsoft...nachahmende Kunst kann somit niemals mehr sein als gleichsam der...

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2020. 109 S. ISBN 978-3-406-75112-7 Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/30312378 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Michael Hauskeller Was ist Kunst? Positionen der Ästhetik von Platon bis Danto
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2020. 109 S. ISBN 978-3-406-75112-7

Weitere Informationen finden Sie hier:

https://www.chbeck.de/30312378

Unverkäufliche Leseprobe

© Verlag C.H.Beck oHG, München

Michael Hauskeller Was ist Kunst? Positionen der Ästhetik von Platon bis Danto

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Nie zuvor herrschte eine solche Unsicherheit wie heutehinsichtlich der Frage, welche Dinge als Kunst geltendürfen und welche nicht. Verdutzt steht man oft imMuseum und fragt sich: Soll dies wirklich Kunst sein?Offenbar wird es von manchen dafür gehalten, sonstwäre es nicht dort, aber warum? Knapp und konzis stelltMichael Hausskeller sechzehn verschiedene Theorienvor, die durch die Jahrhunderte der Frage nachgehen, wases mit der Kunst auf sich hat – von der Antike bis in dieGegenwart.

Michael Hauskeller ist Professor für Philosophie an derUniversität Liverpool in England. Bei C.H.Beck sindvon ihm erschienen: Versuch über die Grundlagen derMoral (2001); Ich denke, aber bin ich? PhantastischeReisen durch die Philosophie (22004) und Mögliche Wel-ten. Neue phantastische Reisen durch die Philosophie(2006).

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Michael Hauskeller

Was ist Kunst?

Positionen der Ästhetikvon Platon bis Danto

VERLAG C.H.BECK

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1. Auflage. 19982. Auflage. 19983. Auflage. 19994. Auflage. 19995. Auflage. 20006. Auflage. 20027. Auflage. 20048. Auflage. 20059. Auflage. 200810. Auflage. 2013

Originalausgabe

11. Auflage. 2020© Verlag C.H.Beck oHG, München 1998

Satz, Druck u. Bindung: Druckerei C. H.Beck, NördlingenUmschlagentwurf: Konstanze Berner, München

Umschlagabbildung: shutterstockPrinted in Germany

ISBN 978 3 406 75112 7

www.chbeck.de

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1. Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

2. Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

3. Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

4. Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

5. Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

6. Friedrich Schiller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

7. Arthur Schopenhauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

8. Georg Wilhelm Friedrich Hegel . . . . . . . . . . . . 51

9. Karl Rosenkranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

10. Benedetto Croce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

11. Walter Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

12. Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

13. Theodor W. Adorno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

14. Nelson Goodman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

15. Jean-François Lyotard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

16. Arthur C. Danto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

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Vorwort

Die sechzehn nachfolgenden Essays erschienen erstmalsvon Juli 1997 bis Januar 1998 in der Frankfurter Rund-schau. Initiator des Projekts war der Chef des FeuilletonsPeter Iden, der sich im April 1997 mit dem Vorschlag anmich wandte, jeweils auf zwei Zeitungsspalten in allge-meinverständlicher Sprache und doch philosophisch an-spruchsvoll die wichtigsten Positionen der Ästhetik vonden Anfängen bis heute darzustellen. Die Idee erschienmir heikel, aber reizvoll, und ich sagte zu.

Das erste Problem bestand in der zu treffenden Aus-wahl. Es hat natürlich während der letzten zweieinhalbJahrtausende weit mehr als sechzehn verschiedene Theo-rien über Kunst gegeben. Sie alle vorzustellen war nichtmöglich, und sicher wird man den ein oder anderen Au-tor vermissen. Beabsichtigt war, wenigstens die einfluß-reichsten, interessantesten und repräsentativsten Kunst-theorien in die Reihe aufzunehmen und dabei einen Ein-druck von der Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten zuvermitteln. Doch hätte man zweifellos auch anders ent-scheiden können.

Ein weiteres Problem, aber auch eine Herausforde-rung, war die durch das Zeitungsmedium erforderteKnappheit der Darstellung verbunden mit dem An-spruch auf allgemeine Verständlichkeit. Die betreffendenTheorien sind meist derart komplex und beruhen aufso vielen Voraussetzungen, daß es beinahe unmöglichschien, ihnen auf wenigen Seiten auch nur annähernd ge-recht zu werden. Unter solchen Bedingungen konnte es

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nur einen Weg geben, Oberflächlichkeit zu vermeiden:Jede philosophische Theorie besitzt einen Kern, einenGrundgedanken, den sie entfaltet. Wenn es gelingt, die-sen Gedanken zu finden und zu verstehen, fügen sich miteinem Mal die verschiedenen Aspekte der Theorie zu-sammen. Ich habe mich also darum bemüht, diesen phi-losophischen Kern von seinen wortreichen Schalen zubefreien, um von dort aus das jeweilige Kunstverständnisbegreiflich zu machen. Daß bei solcher Vorgehensweisemanche Feinheiten des Denkens unberücksichtigt blei-ben mußten, war nicht zu vermeiden. Daher sollte derLeser, wenn ihm eine in diesem Buch dargelegte Positionetwa schlecht begründet oder gar völlig abwegig er-scheint, sich stets daran erinnern, daß hieran auch dieDarstellung schuld sein könnte, und, bevor er zur Ver-dammung schreitet, den Originaltext zu Rate ziehen.

Allerdings habe ich mich selbst weitgehend der Kritikenthalten, um die Objektivität der Darstellung nicht un-nötig zu gefährden. Wer angemessen kritisieren will, mußzunächst verstehen, und das ist schwer genug.

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1. Platon

„Wenn es etwas gibt, wofür zu leben lohnt, dann ist esdie Betrachtung des Schönen.“1 – Kein Philosoph desAltertums hat der Schönheit eine solche Bedeutung bei-gemessen wie Platon (427–347 v. Chr.) und zugleich soentschieden das verurteilt, was später schöne Kunst ge-nannt wurde. Dabei soll Platon seine Laufbahn selber alsTragödiendichter begonnen haben, und vielleicht hätte eres auf diesem Gebiet zu einigem Ruhm gebracht, hätteihn nicht die Begegnung mit Sokrates dazu veranlaßt,seine dichterischen Bestrebungen aufzugeben und sichstatt dessen der Suche nach Wahrheit zu widmen. Dennwas immer es für ihn in der Kunst zu finden gab: Wahr-heit gehörte nicht dazu.

Nicht daß die zeitgenössische Kunst es nicht verstan-den hätte, Gestalten und Vorkommnisse der realen Weltmit bewundernswürdiger Genauigkeit wiederzugeben.Von dem Maler Zeuxis erzählte man sich, daß er einmalWeintrauben so realistisch gemalt habe, daß die Vögel inScharen angeflogen kamen, um sie aufzupicken. Nur läßtsich nicht sagen, daß Zeuxis’ Darstellung deshalb wahrergewesen sei als eine, von der sich die Vögel nicht hättentäuschen lassen. Allenfalls war sie richtiger, denn Wahr-heit hat nach Platon nichts mit Ähnlichkeit oder Über-einstimmung zu tun, sondern mit dem Seinsgehalt einerSache. Das klingt zunächst merkwürdig, weil wir darangewöhnt sind, „Sein“ für etwas zu halten, das einer Sacheentweder zukommt oder nicht zukommt: Entweder esgibt Zentauren oder es gibt sie nicht. Für Platon aber

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sind Dinge nicht einfach nur, sondern manches ist mehr,anderes weniger, und je mehr etwas ist, desto wahrer istes auch. Im vollkommenen Sinne wahr ist nur das, wasauch in höchstem Maße ist. Das aber kann nach ge-meingriechischem Verständnis nur etwas gänzlich Un-veränderliches und Unvergängliches sein, ein Immer-gleichseiendes. Da nun aber alles, was uns in dieser Weltbegegnet, der Zeit unterworfen ist, scheint es nichts zugeben, das sich immer gleich bleibt, und nichts, das nichtirgendwann zugrundegeht. Kaum ist etwas, so ist es auchschon nicht mehr. Wenn den Dingen überhaupt eine ge-wisse Existenz zukommt, dann nur, weil jedes von ihnenein ganz bestimmtes, wiedererkennbares Wesen besitzt,eine ihm eigentümliche Gestalt, ohne welche die Welt füruns statt aus Häusern, Stühlen, Menschen, Bäumen usw.nur aus einem buchstäblich unvorstellbaren Chaos suk-zessiver Eindrücke bestünde. Diese Wesensgestalten sindaber, auch wenn sie in die zeitlichen Dinge eingehen, sel-ber unzeitlich. Jeder einzelne Baum etwa kann und wirdirgendwann zugrundegehen, aber das, was ihn allererstzu einem Baum macht, seine Baumhaftigkeit, wird in ei-nem anderen Baum weiterleben. Selbst wenn es eines Ta-ges überhaupt keine Bäume mehr geben sollte, wird de-ren Wesen – das, was Platon die Idee des Baumes nennenwürde – weiterhin bestehen, weil es von dem Untergangder Einzeldinge überhaupt nicht betroffen wird. Das hatnichts damit zu tun, daß Bäume auch dann noch vomMenschen gedacht werden könnten. Ideen sind für Pla-ton keine bloßen Vorstellungsinhalte, sondern vielmehrso etwas wie die ewigen Urbilder alles Seienden, ohne diees die uns bekannte, sinnlich erfahrbare Welt gar nichtgäbe. Sie sind der feste Formenbestand, aus dem sich die-se Welt generiert; sie bringen Ordnung in die ständigenVeränderungen und gewährleisten so eine gewisse Kon-

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stanz. Vor allem aber sind sie das, was allein in vollemSinne wirklich und wahr ist.

Wie steht es nun unter solchen Voraussetzungen mitdem Wahrheitsgehalt der Kunst? Platon unterscheidetzwei Arten von Künstlern: erstens solche, die schöpfe-risch etwas herstellen wie etwa die Baumeister, Tischlerund Wagenbauer, und zweitens solche, die sich auf dieDarstellung oder Nachahmung (mímesis) des bereits Be-stehenden beschränken wie etwa die Maler, Bildhauerund Dichter.2 Erstere stehen der Wahrheit näher als letz-tere. Während jene nämlich immerhin noch die Ideen, diesie in ihrem Geist vorfinden, unmittelbar in einen einzel-nen, konkreten Gegenstand umsetzen, schaffen diesebloß ein Abbild solcher Gegenstände. Sie sind „Nach-ahmer“ des sichtbar Gegebenen. Wenn der Zimmermanneinen Stuhl herstellt, orientiert er sich an der Idee desStuhles; wenn der Maler hingegen mit Hilfe seiner Far-ben einen Stuhl herstellt, so schaut er schon nicht mehrauf die Idee, sondern auf das Werk des Zimmermanns: erschafft so ein Bild zweiter Ordnung, gewissermaßen dasBild eines Bildes, weil er nicht mehr das Seiende nachbil-det, sondern nur noch das Erscheinende. Der Maler ent-fernt sich so um noch eine weitere Stufe von der Wahr-heit. Daran ändert sich auch nichts, wenn er statt einesvom Menschen gemachten Gegenstandes irgendeinenNaturgegenstand abbildet, da auch dieser nur wechsel-hafte Erscheinung ist und somit nicht das eigentlich Sei-ende, die Idee. Um zur Wahrheit zu gelangen, muß manalle Erscheinung hinter sich lassen und darf nicht, wie esder nachahmende Künstler tut, die Erscheinung durcheine Art Spiegelung noch verdoppeln. Mehr als das kannder Künstler aber nicht tun, da die Idee zwar intellektuellgeschaut werden kann, aber sich aufgrund ihrer wesentli-chen Allgemeinheit nicht sinnlich darstellen läßt. Die

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nachahmende Kunst kann somit niemals mehr sein alsgleichsam „der Schatten eines Traums“.

Nicht einmal die unbestreitbare Tatsache, daß ihreWerke schön sind, kann die Kunst für sich geltend ma-chen, obwohl Platon keineswegs der Meinung war, daßdie Schönheit – die er als Maß, Proportion und Harmo-nie verstand – gering zu achten sei.3 Im Gegenteil ist esgerade die Erfahrung von Schönheit, die einen Menschennach der ewigen Wahrheit der Ideen streben läßt. Dennin allen Erscheinungen ist es allein die Schönheit, die un-sere Liebe erweckt. Was immer wir liebend begehren, er-scheint uns als etwas Schönes. Wäre die uns sinnlich be-gegnende Welt gänzlich ohne Schönheit, ließe sie unsgleichgültig. Entsprechendes gilt für die ewigen Wahrhei-ten: wären die Ideen frei von Schönheit, gäbe es keinenAnlaß, sie erkennen zu wollen. Die Schönheit der sinnli-chen Welt ist freilich nur ein schwacher Abglanz derewigen Schönheit, jener Idee, an der alle schönen Dingeteilhaben. Dieses „Schöne selbst“ nimmt unter den Ideeneine Sonderstellung ein, weil es mit seinem Glanz in diesinnlich erfahrbare Welt hinüberstrahlt und auf dieseWeise eine Brücke bildet zwischen dem Reich der Er-scheinung und dem der Ideen. Denn mehr als alles ande-re weist das erscheinende Schöne über sich hinaus: es istdas „Hervorscheinendste“,4 weil es dem Menschen amdeutlichsten die Herrlichkeit der urbildlichen Wahrheitzu Bewußtsein bringt und so in ihm eine starke Sehn-sucht danach erweckt. Das sinnliche Schöne zieht an,kann und soll dabei aber zugleich als ungenügend in Er-scheinung treten, nämlich als Abbild einer höherenSchönheit, die anzuschauen noch herrlicher zu sein ver-spricht. Denn schöner als die Schönheit der Körper istdie Schönheit der Seelen, noch schöner sind Gerechtig-keit, Besonnenheit und die übrigen Tugenden, durch

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welche die Seelen erst schön werden, und noch schönerist die klare Erkenntnis all dessen, die Schau der Urbilderjener Tugenden. Am schönsten aber ist die Idee desSchönen selbst, die mit der Idee des Guten zusam-menfällt und laut Platon die höchste Wahrheit darstellt.5So sind das Schöne, Wahre und Gute letztlich ein unddasselbe.

Der hohe Rang, den Platon der Schönheit zuerkennt,ändert allerdings nichts an seiner Geringschätzung dernachahmenden Künste. Grund hierfür ist die Ambiva-lenz der sinnlichen Schönheit, die zwar die Sehnsuchtnach Höherem, den Eros der Wahrheit, erwecken kann,dies aber keineswegs muß, da sie viele Menschen auchunmittelbar zu befriedigen und ihr Begehren zu stillenvermag. Wie die Schönheit wirkt, hängt sehr davon ab,auf wen sie wirkt. Ein und derselbe schöne Körper kannbeim einen scheue Bewunderung und damit die Bereit-schaft zur reflexiven Betrachtung erregen, während erbeim anderen bloß ungezügelte Gier entfacht. Doch sindauch die schönen Gegenstände nicht alle gleich. Manchefördern eher die Hinwendung zu einer höheren Schön-heit, andere hingegen reizen eher die körperlichen Be-gierden. Ein saftiger Braten lädt (den Nichtvegetarier)zur Einverleibung ein, kaum aber zur Kontemplationund Überschreitung des nur Sinnlichen. Der Kunst wirftPlaton vor, daß sie gerade dieser Tendenz, im Sinnlich-Körperlichen zu verharren, zuarbeitet. Zunächst be-schränkt sie sich weitgehend auf die Produktion schönerTöne, Farben und Gestalten und erweckt so den Ein-druck, als sei diese rein sinnliche Schönheit die eigentli-che und als gäbe es nichts Höheres. In der Kunst erhältdas Sinnliche und seine Schönheit einen Rang, der ihmnicht zusteht. Darüber hinaus ist es zumeist das Ziel derKunst, die Sinne und Leidenschaften des Betrachters

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oder Zuhörers zu erregen, und das heißt, die Herrschaftder Vernunft zu unterwandern und so die rechte Ord-nung der Seele zu zerstören. Da in dieser Ordnung aberdie Schönheit der Seele besteht, vernichtet die Kunst pa-radoxerweise gerade durch ihre übergroße Schönheit ei-ne andere, höhere Schönheit. Wenn die Kunst überhauptirgendeine Berechtigung haben soll, muß sie sich in denDienst des Guten stellen lassen. Das heißt, sie muß, wennsie schon nicht die Wahrheit der Ideen darzustellen ver-mag, wenigstens eine erzieherische, seelenbildnerischeFunktion übernehmen. Nur einer Kunst, die die Men-schen lehrt, ihre Leidenschaften zu kontrollieren, tu-gendhaft zu leben und der Wahrheit nachzustreben,kommt ein gewisser Wert zu. Denn letztlich gibt es fürden Menschen nur eine einzige Kunst, derer er wirklichbedarf, und das ist die Kunst des rechten Lebens, so daßalles, was nicht zum Erlernen dieser Kunst beiträgt,überflüssig oder gar verderblich ist.

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2. Aristoteles

Weil die Kunst den Betrachter von der Wahrheit ablenke,gestand ihr Platon, seiner eigenen unverkennbarendichterischen Begabung zum Trotz, nur wenig Wert zu.Doch ließ der Widerspruch nicht lange auf sich warten.Schon Platons eigenwilliger Schüler Aristoteles (384–322v. Chr.) entwickelte die erste systematische Literatur-theorie und legte damit den Grund für ein reflektierteskünstlerisches Selbstbewußtsein. Zwar äußerte sich Ari-stoteles vornehmlich zur Dichtung, und da vor allem zurTragödie, doch lassen sich viele seiner Überlegungen un-schwer auf die übrigen Künste übertragen.6

Wie Platon versteht auch Aristoteles die künstlerischeTätigkeit als Darstellung oder Nachahmung (mímesis),doch erhält der Begriff bei ihm eine positive Bedeutung.Ermöglicht wird dies zunächst durch die Preisgabe desplatonischen Wahrheitsidealismus. Die sinnlich-gegen-ständliche Welt gilt Aristoteles nicht mehr als flüchtigesund daher seinsvermindertes Abbild einer von ihr ge-trennten, eigenständigen Ideenwelt. Vielmehr existierendie Ideen, das heißt die Formen der Wirklichkeit, nun-mehr allein in der Wirklichkeit, haben also keinerleitranszendente Realität. Ebensowenig wie es einen unge-formten Stoff gibt, gibt es vom Stoff getrennte Formen.Alles, was ist, ist eine Einheit von Stoff und Form, diesich nur gedanklich, nicht aber real zergliedern läßt. Da-her macht es auch keinen Sinn zu sagen, die Erschei-nungswelt habe weniger Sein als die Formen und ahmediese nur in unvollkommener Weise nach. Platons Vor-

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wurf, der Künstler schaffe nur Abbilder einer bloßenScheinwirklichkeit, wird damit hinfällig. Dies gilt um somehr, als der Gegenstand der künstlerischen Nachah-mung gar nicht, wie Platon meinte, die erscheinendeRealität selbst ist, also etwas tatsächlich in Raum undZeit Existierendes. Aufgabe des Dichters ist es nämlichnicht, „mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondernvielmehr, was geschehen könnte“.7 Auch wenn es schein-bar einzelne Begebenheiten um ganz bestimmte, mitNamen bezeichnete Personen sind, die der Künstler zurDarstellung bringt – etwa der legendäre Krieg zwischenGriechen und Trojanern –, kommt es ihm doch gar nichtdarauf an zu zeigen, daß ein gewisser Odysseus oder eingewisser Achill dies oder jenes getan habe, sondern daßMenschen einer bestimmten Art in Situationen bestimm-ter Art auf bestimmte Weise handeln. Anders als den Ge-schichtsschreiber interessiert ihn also nicht das Beson-dere als solches, sondern das Allgemeine, das im Beson-deren zum Ausdruck kommt, oder mit einem Wort: dasTypische. Aus der Fülle der Erscheinungen filtert er diewiederkehrenden Muster heraus, erkennt im Zufälligendas Wesentliche und bringt dieses zur Darstellung. Daherist die Dichtung auch bei weitem philosophischer, dasheißt der überzeitlichen Wahrheit näher, als die sich amEinzelnen orientierende Geschichtsschreibung.

Um dieser Wahrheit willen besitzt der Künstler aucheine gewisse Freiheit in der Bearbeitung seiner Stoffe, dasheißt, er muß sich auch in der Darstellung geschicht-licher Ereignisse nicht unbedingt an das halten, was tat-sächlich geschehen ist. Wenn es für seine Zwecke not-wendig ist, kann der Dichter die Ereignisse in seinemSinne umschreiben. Ebenso kann der Maler auch Dingeabbilden, die es so in der Realität gar nicht gibt – soferner durch diese Unrichtigkeit die von ihm erstrebte Wir-

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kung leichter erzielt. Selbst wenn er sich der Unrich-tigkeit in seiner Darstellung gar nicht bewußt sein sollte,ist sein Irrtum doch verzeihlich, solange er nicht die Re-geln seiner Kunst verletzt. Unentschuldbar sind lediglichgenuin ästhetische Fehler, das heißt solche, die sich nichteinem Mangel an Faktenwissen, sondern an gestalteri-schem Können verdanken. Allerdings sollte sich derKünstler schon bemühen, die Dinge so darzustellen, wiesie sind. Wenn es aber der Zweck verlangt, darf er selbstvor der Darstellung des Unmöglichen nicht zurück-schrecken, denn das Unmögliche kann ästhetisch durch-aus richtig, ja notwendig sein. Entscheidendes Kriteriumist hier nicht die (objektive) Möglichkeit, sondern die(subjektive) Glaubwürdigkeit. In der Kunst ist darumdas Wahrscheinliche, auch wenn es unmöglich ist, grund-sätzlich dem Möglichen, aber Unwahrscheinlichen, vor-zuziehen.

Diese Ausführungen machen deutlich, daß sich fürAristoteles der Wert eines Kunstwerks nicht allein anseinem inneren Wahrheitsgehalt bemißt, sondern auch anseiner Wirkung auf den Betrachter. Ob ein Kunstwerkgut ist, hängt also nicht zuletzt auch davon ab, ob esfunktioniert. Wenigstens für die Tragödie (und die Mu-sik) hat Aristoteles die zu erzielenden Wirkungen auchnäher benannt: die Tragödie rufe nämlich „Mitleid“ und„Furcht“ hervor und bewirke dadurch eine mit Lust ver-bundene „Reinigung“ (kátharsis) von diesen Affekten.8Mit dieser These stellt sich Aristoteles erneut gegen Pla-ton, dem ja die Kunst, gerade weil sie solche Gefühle er-regt, als verderblich galt. Platon glaubte, der Zuschauerwerde durch die in der Tragödie dargestellten Leiden-schaften dazu ermuntert, sich den eigenen Leidenschaf-ten hinzugeben, anstatt, wie es doch richtig wäre, sichausschließlich von der Vernunft leiten zu lassen. Daß eine

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sittlich gute Lebensführung die weitestmögliche Unter-drückung aller affektiven Regungen voraussetzt, war fürPlaton noch selbstverständlich. Anders für Aristoteles.Seines Erachtens kann eine starke Erregung am rechtenOrt zur rechten Zeit sehr wohl moralischen Wert habenund insofern auch mit der Vernunft übereinstimmen.Wer etwa beim Anblick eines Unrechts keinen Zorn ver-spürt, beweist dadurch geradezu die Minderwertigkeitseines Charakters. Darüber hinaus ist der Mangel anZorn in diesem Fall auch unvernünftig, weil hier nur derZorn als angemessene Reaktion gelten kann. Ziel der mo-ralischen Erziehung darf es daher nicht sein, den Men-schen gänzlich von seinen affektiven Regungen zu be-freien. Vielmehr muß eine Art innerer Steuerungs-mechanismus geschaffen werden, der so wirkt, daß einbestimmtes Gefühl nur dann erregt wird, wenn es dieSituation erfordert. Offenbar ist Aristoteles der Auffas-sung, daß auch die Kunst hierzu einen wichtigen Beitragzu leisten vermag, wenn er der Tragödie die Aufgabe zu-weist, beim Zuschauer Mitleid und Furcht zu erregen.

Wie das im einzelnen vonstatten gehen soll, verrät unsAristoteles in den erhaltenen Schriften allerdings nicht.Unklar ist bereits, welche Affekte eigentlich gemeintsind. Die lange übliche (Lessingsche) Übersetzung „Mit-leid und Furcht“ ist ja schon eine Interpretation, undheute werden oft weniger objektbezogene Ausdrückewie Jammer und Schauder bevorzugt. Aristoteles erklärtlediglich, daß sich das eine (Mitleid bzw. Jammer) bei derDarstellung unverdienten Leidens einstelle, das anderehingegen (Furcht bzw. Schauder) dadurch, daß der Zu-schauer sich mit den Personen identifiziere. Um beideszu gewährleisten, dürften die Protagonisten weder ganzschlecht noch völlig ohne Tadel sein, weil sie sonst demdurchschnittlichen Zuschauer zu unähnlich wären und

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infolgedessen ihr Schicksal keinen der beiden Affekteerregen würde. Auch würde der Schlechte ja kein „Mit-leid“ verdienen, wie einer, der sich überhaupt nichtszuschulden hat kommen lassen, nicht die Strafe. DieFiguren der Tragödie müssen dem Zuschauer ähnlich,zugleich aber auch besser sein als er. Die Fehler, die not-wendig vom Helden begangen werden müssen, um sei-nem Leiden eine gewisse Rechtfertigung zu verleihen,dürfen die Größe seines Charakters nicht beein-trächtigen. Ödipus fällt aus eigener Schuld, aber er bleibtein großer König. Werden diese und andere Bedingungenbeachtet, kommt es zu den gewünschten Affekten.

Nun ist mit der Erregung der Affekte das eigentlicheZiel aber noch nicht erreicht, denn worauf es ankommt,ist ja nicht die Erregung selbst, sondern die durch die Er-regung zu erlangende Reinigung. Der Begriff läßt vermu-ten, daß der Zuschauer sich durch seine Erregung von ei-nem gewissen Affektüberschuß befreien soll. Vielleichtliegt hier die Vorstellung zugrunde, daß sich die Affekte,wenn sie ständig unterdrückt werden, aufstauen, bis sieirgendwann gewaltsam hervorbrechen. Schafft man ih-nen hingegen die Gelegenheit, sich von Zeit zu Zeit zuentladen, lassen sie sich im übrigen Leben viel leichter indie rechten Bahnen lenken. Die Kunst würde so gleich-sam als Ablaßventil der Affekte fungieren. Eine andereDeutungsmöglichkeit wäre, den Kunstgenuß als eine ArtTraining im rechten Umgang mit den Affekten zu ver-stehen. In jedem Fall aber beruht die Wirkung der Kunstdarauf, daß sie die Wirklichkeit nachahmt und dadurchden Schein der Nähe erzeugt. Nur weil sie Nähe sugge-riert, kann die Kunst Affekte erregen, und nur weil siedie Scheinbarkeit dieser Nähe nicht verbirgt, sondern alslustvolles Spiel inszeniert, kann sie zugleich eine reini-gende Wirkung entfalten. Mit anderen Worten hängt die

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Wirkung der Kunst davon ab, daß zwischen das Gesche-hen und den Betrachter die Darstellung tritt und so derErnst stets als nur gespielter bewußt bleibt.

Freilich ist die darstellende Kunst für Aristoteles allesandere als ein Spiel, das man genauso gut auch lassenkönnte und das keine ernsthafte Beschäftigung lohnt.Vielmehr gehört die nachahmende Tätigkeit ebenso sehrzum Wesen des Menschen wie die Vernunft. Kein Tier istin solchem Maße zur Darstellung befähigt wie derMensch. Von Geburt an treibt es ihn zur Nachahmung.Ihr verdankt er seine ersten Erkenntnisse, und da jederMensch sich am Erkennen freut, empfindet er stets einelebhafte Freude an Nachahmungen jeglicher Art. Selbstdas Häßliche und Schlechte erhält in der Darstellung ei-nen eigentümlichen Reiz. Es ist, als würde durch dieDarstellung das Anstößige der Wirklichkeit verschwin-den. Daher wäre es gar nicht nötig, die Nützlichkeit derKunst zu erweisen. Zu ihrer Rechtfertigung würde esschon genügen, daß sie Freude bereitet und auf dieseWeise zum menschlichen Glück beiträgt.

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