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Vorlesung_8

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Vorlesung_8
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Ernst Jandl Dozentur für Poetik: Elfriede Czurda "Sprache, Zeichen und Denken" 21.5.2014
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Ernst Jandl Dozentur für Poetik:

Elfriede Czurda

"Sprache, Zeichen und Denken"

21.5.2014

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Vorlesungen Elfriede Czurda

„WINDE, DIE IM BAUME RUHN": Was inszeniert die Rede der Poetik?

11.6.2014, 18.30 Uhr, Hörsaal 31

18.6.2014, 18.30 Uhr, Hörsaal 31

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1) Meyer: Das Stilgesetz der Poesie

In seinem Ansatz zum Sprachverstehen (1909) widmet Bühler ein ausführliches Unterkapitel den Besonderheiten des Verstehens von sprachlichen Kunstwerken. Dazu referiert und rekonstruiert er den Ansatz Theodor A. Meyers aus dessen Band "Das Stilgesetz der Poesie" (Meyer 1901/1990). Auch in diesem Abschnitt geht Bühler mit Meyer davon aus, dass es, wie beim Sprachverstehen überhaupt, nicht Vorstellungen und Anschauungen seien, die der Dichter in uns anregt, sondern Gedanken (Bühler, 124).

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"Das erste, was wir vom Dichtwerk erfassen, ist also sein gedanklicher Gehalt; aus ihm erst können sich Bilder entwickeln, die diesen Gehalt partiell zu versinnlichen vermögen. Der Dichter schafft also, symbolisch gesprochen, nicht von außen nach innen, wie die alte Lehre annahm, sondern von innen nach außen. Er gibt uns Gedanken, darum ist Poesie Gedankenkunst, nicht Vorstellungskunst; die Vorstellungen entwickeln sich erst aus den Gedanken oder wir müssen sie uns selbst hinzuproduzieren, wenn wir sie haben wollen." (Bühler, 124)

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Die auch Bühler überzeugende Begründung dafür, dass Dichtung Gedanken und nicht Vorstellungen anrege, sieht Meyer in ihrem Darstellungsmittel: der Sprache. Denn in Meyers Auffassung muss alles, was in Sprache eingehen soll, entsinnlicht werden:

"Schon die Wortbedeutungen sind nach Meyer keine Anschauungen; die Hauptmerkmale der Bedeutungsbewußtseinsinhalte sind ein hoher Grad von Abstraktheit, eine außerordentlich lockere Fügung der sie zusammensetzenden Teile und eine Sparsamkeit, die sich darin äußert, daß von ihnen nur das im Bewußtsein hervortritt, was zur Anknüpfung ans Vorausgehende und Folgende notwendig ist. All das gilt für die poetische Sprache ebensogut wie für die Prosa.

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Die Satzbedeutungen sind noch weniger anschauliche Vorstellungen oder Vorstellungsfolgen; man könnte im Sinne Meyers vielleicht so sagen: der Dichter kann zweitens deshalb nicht anschaulich auf uns wirken, weil er in Sätzen zu uns sprechen muß. Und endlich ist auch nicht eine ganze Rede, ja nicht einmal eine Schilderung, an Anschauungsgesetze gebunden. Die Sprache zerlegt mit souveräner 'Willkür einen darzustellenden Tatbestand, nimmt voraus, was zeitlich nachkommt und holt in Parenthese die Ursache eines Geschehens nach; sie überspringt ganze Phasen eines Prozesses, um dann zum Schlusse eine Momentaufnahme von ihm zu geben." (Bühler, 125)

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Anders als Bühler mit Meyer sieht Hubert Roetteken die Rolle der Poesie als Gedankenkunst weniger ausschließlich – auch sinnliche Vorstellungsbidler spielten Roetteken zufolge eine Rolle:

"Herr Roetteken: Theodor Meyer geht meiner Ansicht nach zu weit und verallgemeinert zu sehr; es gibt Verse, bei denen mir schon für das bloße Verstehen des Sinnes das Emportauchen anschaulicher Sinnenbilder nötig zu sein scheint. In Kleists Penthesilea verfolgt die Heldin den Achilles; ein Botenbericht teilt uns mit, daß Achilles hoch oben an einem steilen Abhang gestanden, und Penthesilea von unten her den pfadlosen Hang zu erklimmen sich angeschickt habe; dann heißt es:

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Der Helmbusch selbst, als ob er sich entsetzte,

Reißt bei dem Scheitel sie von hinten nieder.

Die Verse sind wohl nur dadurch zu verstehen, daß, wenn auch nur flüchtig und sehr unvollständig, ein optisches Phantasiebild auftaucht und uns zeigt, wie Penthesilea an dem Hange emporblickt und nur der Helmbusch von ihrem nach rückwärts übergebogenen Haupte frei und gerade herabfällt, so daß er den Eindruck der Schwere macht. Stellen sich außerdem entsprechende reproduzierte Körperempfindungen in Kopf und Nacken ein, so werden die Verse dadurch noch lebendiger und wirksamer." (Bühler, 127)

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Der Ästhetiker Theodor A. Meyer sieht die Möglichkeiten der Selbstbeobachtung beim Sprachverstehen insgesamt und beim Rezipieren von Gedichten erschwert, wenn auch nicht unmöglich: "Selbstbeobachtung auf dem Gebiet des Vorstellens ist außerordentlich schwierig. Ruh- und rastlos fliegen die durch die lebendige Rede oder die Lektüre geweckten Vorstellungen an uns vorüber und wollen sich nicht beschauen lassen. Versuchen wir es aber sie zum Stehen zu bringen, um sie nach ihrem Was und Wie auszufragen, so nehmen sie sofort andere Formen an, als sie in ihrem eilenden Flug an sich trugen: sie beginnen sich bald den Begriffen zu nähern mit ihrer scharfen verstandesmäßigen Bestimmtheit, bald sich in innere Wahrnehmungsbilder zu verwandeln. Man kann also nicht vorsichtig genug in der Selbstbeobachtung sein." (Meyer, 65)

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"Das sprachliche Vorstellen ist ein eigenes Vermögen unseres Geistes, das sich in eigenen Formen und nach eigenen Gesetzen bewegt; indem es sich über die Formen des anschaulich Gegebenen hinwegsetzt, offenbart es auf seinem Gebiete die Herrlichkeit und Freiheit unseres Geistes, der sich in der Verfolgung seiner Zwecke durch das Sinnliche nicht binden läßt – das ist das Ergebnis unserer Untersuchung über die Natur unseres Vorstellens." (Meyer, 74) Damit deckt sich Meyers Einschätzung der Sprache mit den Auffassungen des späteren Bühler (jenes als Autor der "Krise der Psychologie", vor allem aber mit seiner die Darstellungsfunktion der Sprache betonenden "Sprachtheorie"), für den Sprache kraft ihrer Zeichenfunktion, ihrer Fähigkeit, für etwas anderes zu stehen, ein besonderer Charakter zukommt:

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"das sprachliche Darstellungsgerät gehört zu den indirekt Darstellenden, es ist ein mediales Gerät, in welchem bestimmte Mittler als Ordnungsfaktoren eine Rolle spielen. Es ist nicht so in der Sprache, daß die Lautmaterie kraft ihrer anschaulichen Ordnungseigenschaften direkt zum Spiegel der Welt erhoben wird und als Repräsentant auftritt, sondern wesentlich anders. Zwischen der Lautmaterie und der Welt steht ein Inbegriff medialer Faktoren, stehen (um das Wort zu wiederholen) die sprachlichen Mittler […]." (Bühler 1934, 151)

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Meyer zufolge gelange gerade in der Dichtung dieser von Bühler angenommene ausgezeichnete Charakter der Sprache zu voller Entfaltung. Zu unterscheiden sei zwischen den sinnlich anschaulichen Teilen der Sprache, ihrem Klang ("sei es der Klang, der den Wörtern infolge ihrer lautlichen Beschaffenheit anhaftet, oder der Klang, in dem sie vom Redenden gesprochen wird" [Meyer, 77]), und den unanschaulichen Teilen der Sprache, als Ausdrucksmittel des Gedankens, allerdings: "Reden und Gedanken der Dichtungsgestalten wiederholen nicht noch einmal in verständlicherer Form, was schon in dem vom Dichter gegebenen Sinnlichen ausgedrückt wäre, sondern sie sind selbständige Ausdrucksmittel der Poesie." (Meyer, 77)

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Dennoch habe der Dichter mit dem so unanschaulichen Mittel der Sprache die Möglichkeit, auf den Rezipienten zu wirken: "Was der Dichter mit seinem unanschaulichen Mittel schafft, ist nicht innere Sinnlichkeit und innere Sinnenwahrnehmung, sondern nur Schein der inneren Sinnlichkeit und Sinnenwahrnehmung. Aber dieser Schein ist psychisch notwendig und darum ist die Täuschung für lebhafter empfindende Naturen so unentrinnbar. Der Begriff Illusion bedeutet also für uns etwas anderes als für den Anschauungsästhetiker. Dieser will damit sagen, die innere Sinnenwahrnehmung erreiche in der Poesie einen Grad der Lebhaftigkeit, daß uns zumute ist, als sei das innerlich Wahrgenommene auch äußerlich sinnlich gegenwärtig. Für uns ist schon die innere Sinnenwahrnehmung, die der Anschauungsästhetiker als Realität behauptet, eine Täuschung." (S. 232f.)

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2) Sprachrelativismus

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Der frühe (starke) Whorfianismus gilt weitgehend als widerlegt. Die Hypothese, dass die Inuits eine bedeutend größere Anzahl von Wörtern für die verschiedenen Arten von Schnee hätten als Sprecher anderer Sprachen, weil für jene "Schnee" von größerer lebensweltlicher Bedeutsamkeit sei als für diese, gilt unter dem Label "Eskimo-Hoax" ebenso als falsch, wie auch die berühmte Studie von Berlin und Kay, die den Einfluss von Wörtern für Farben auf Farbwahrnehmung, Farberinnern und Farbkategorisierung untersucht haben, gegen einen starken Whorfianismus spricht. (Vgl. Gumperz und Levinson 1996)

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Berlin und Kay fanden dabei, dass eine fixe Struktur unseres visuellen Systems die Ausgangsbasis zu sein scheint und dass unterschiedliche Sprachen zwar unterschiedlich viele Farbausdrücke aufweisen können, jedoch die jeweils hervorspringenderen ("salienteren") übereinstimmen. Wenn neue Farbwörter eingeführt werden, dann in einer bestimmten Ordnung, die diesem zugrunde liegenden visuellen (und somit sprachunabhängigen) System entspricht.

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Dennoch hat etwa seit den 1990er Jahren der Whorfianismus eine Wiederbelebung in seiner abgeschwächten Form (nicht als Sprachdeterminismus, sondern als "Sprachlicher Relativismus" erfahren). Es wird nun nicht mehr behauptet, dass Sprache das Denken forme und strukturiere (was letztlich zu der Annahme führen müsste, dass ohne Sprache bestimmte Gedankenprozesse nicht möglich wären), sondern es wird angenommen, dass verschiedene natürliche Sprachen bestimmte Arten von Gedanken und kognitiven Prozessen ihrer Sprecherinnen wahrscheinlicher machen als andere. (Slobin 1987)

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Einfluss, den Sprache(n) auf nichtsprachliche kognitive Prozesse in Fällen haben, wo Sprache nicht benützt wird (weder offen noch verborgen). Z.B. beim Lösen geometrischer oder mathematischer Probleme in der Vorstellung, oder bei Orientierung im Raum. (WIDERSPRÜCHLICHE AUFFASSUNGEN)

Demgegenüber verbringen Menschen im realen Leben einen Gutteil ihrer Zeit mit sprachlichen Handlungen unterschiedlicher Ausprägungsgrade, sei es, dass sie tatsächlich sprechen, oder sprachliche Handlungen planen respektive interpretieren, womöglich sogar innere Dialoge führen, in denen sie sich ihres Handelns vergewissern oder sich selbst moralisch bewerten.

(DIESE AUFFASSUNG IST FRAGWÜRDIG.)

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Die von Dan Slobin "Thinking for Speaking" genannte Spielart eines abgeschwächten Whorfianismus betrachtet die Relation von Sprache und Denken, wenn es sich bei den in Frage stehenden kognitiven Akten um solche handelt, die sprachliche Äußerungen (oder aber auch innere Rede) zu ihrem Ziel haben.

Denken nehme, wenn es mit dem Ziel des Sprechens sich vollzieht, eine besondere Form an. In der Zeitspanne der Vorbereitung von Äußerungen im Diskurs, aber wohl auch bei der Abfassung von geschriebenen Texten und mithin auch von literarischen Texten, fügt der Einzelne seine Gedanken in vorhandene sprachliche Formen.

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Damit sind Sprachäußerungen niemals direkte "Abbilder" einer objektiven oder wahrgenommenen Wirklichkeit oder von unweigerlichen und universellen mentalen Repräsentationen von Begebenheiten. Dies wird dadurch evident, dass innerhalb ein- und derselben Sprache dieselbe Begebenheit auf ganz unterschiedliche sprachliche Weisen wiedergegeben werden kann und dass unterschiedliche Sprachen mitunter ganz unterschiedliche grammatische Formen zur Wiedergabe eines Sachverhalts bereitstellen.

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In der kognitiven Linguistik, die sich stark auf Empirie aus der kognitiven Psychologie bezieht, wird in jüngster Zeit von einiger Evidenz dafür berichtet, dass natürliche Sprache das Denken formt und strukturiert. Wie in unterschiedlichen Sprachen räumliche und zeitliche Verhältnisse unterschiedlich bezeichnet werden, übe einigen Einfluss darauf aus, wie die Sprecherinnen dieser Sprache räumliche und zeitliche Verhältnisse denken. Dazu kurze Beispiele:

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Räumliche Verhältnisse: Die meisten Sprachen (und so auch Deutsch, Englisch etc.) benützen relationale räumliche Ausdrücke, um Positionen von Gegenständen in Abhängigkeit von der Sprecherin zu beschreiben: "links", "rechts", "vor", "hinter" etc. sind solche Ausdrücke für räumliche Verhältnisse in so genannten "ego-referenzierten" Systemen. Die Mayasprache Tzeltal aber beruht auf einem absoluten Referenzsystem ("geo-referenziert"), ähnlich dem deutschen Nord/Süd-System: Z.B. werden räumliche Relationen, die sich nördlich befinden, als "bergauf" bezeichnet, südliche als "bergab".

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Um nun den Einfluss dieser Bezeichnungen auf kognitive Leistungen zu untersuchen, hat Levinson Sprecherinnen des Holländischen und des Tzeltal u.a. wie folgt getestet: die Probandinnen saßen vor einem Tisch, auf dem ein Pfeil lag, der entweder nach rechts (Norden) oder nach links (Süden) zeigte. Dann wurden die Probandinnen um 180 Grad gedreht und so zu einem Tisch geführt, auf dem zwei in entgegengesetzte Richtungen weisende Pfeile lagen (einer nach links, einer nach rechts), und sie wurden gebeten, jenen Pfeil (durch darauf Zeigen) zu identifizieren, "der so ist wie der, den sie zuvor gesehen" hatten. Holländische Sprecherinnen zeigten auf den Pfeil, der nun nach rechts (und damit nach Süden, wie anstatt ursprünglich nach Norden) weist.

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Tzeltal Sprecherinnen verhielten sich genau entgegengesetzt: wenn der Pfeil auf dem ersten Tisch nach Norden zeigte, wählten sie auf dem zweiten Tisch den Pfeil, der auch (geo-referenziert) nach Norden zeigt (auch wenn er nun von der Probandin aus gesehen nach links weist und nicht nach rechts, wie der Stimulus). Daraus schloss Levinson, dass für die Tzeltal-Sprecherinnen die starke geo-referenzialisierte (also absolute) Fundierung ihrer räumlichen Beschreibungen auch ihre Interpretation und ihre Leistungen in einem nicht-sprachlichen Orientierungstest beeinflusst haben könnte.

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Kritik daran: Li und Gleitmann hinterfragen das zugehörige Experimentaldesign auf konzeptuelle Inkonsistenzen und schlussfolgern, dass die Ergebnisse in Levinsons Experiment nicht als Effekt von Sprache auf das Denken interpretiert werden sollten, sondern als ein Effekt, den Sprache auf Sprache ausübt. Denn die Anweisung an die um 180° Rotierten, die lautet: "Make them the same", sei aufgrund ihrer Unvollständigkeit doppeldeutig und könne entweder bedeuten: "Lay them out similarly in respect of egocentric space", oder: "Lay them out similarly in respect of geocentric space." Es sei in der jeweiligen Sprachgemeinschaft durch Gewohnheit zwar wahrscheinlicher, dass die eine oder die andere (je unterschiedliche) Bedeutung mit diesem Satz gemeint sei, und die Personen hätten dieser Hauptbedeutung entsprechend gehandelt.

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Nicht gesagt sei damit, dass die Tzeltal-Sprecherinnen Schwierigkeiten hätten, egozentrisch zu handeln, oder dass die Englisch-Sprecherinnen nicht geozentrisch handeln könnten, wenn sie angemessen (in Vollform des Satzes "Make them the same in respect of ...") dazu aufgefordert worden wären.

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Zeit: Die meisten Sprachen nützen räumliche Ausdrücke, um zeitliche Verhältnisse zu beschreiben – "vor", "nach" etc. sind für uns geläufig als aus der räumlichen Sphäre stammende horizontale Ausdrücke, um Vergangenes und Zukünftiges zu beschreiben; andere Sprachen verwenden aber andere räumliche Ausdrücke, so z.B. das chinesische Mandarin: Mandarin-Sprecherinnen nützen systematisch vertikale räumliche Ausdrücke, um über Zeit zu sprechen. Frühere Begebenheiten werden mit "oben" bezeichnet, spätere mit "unten". Der Test, ob Personen, die anders über Zeit sprechen, auch anders über Zeit denken, geht nun so:

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Wurde Mandarin-Sprecherinnen als Prime-Stimulus eine Reihe von vertikal aufeinander folgenden Gegenständen gezeigt, und wurden sie daraufhin gebeten, zu bestätigen, dass "März" vor "April" (vorgeführt in Englisch als "March" and "April") kommt, waren sie signifikant schneller darin, als wenn ihnen als Prime eine Reihe horizontal aufeinander folgender Gegenstände gezeigt wurde. Daraus schließt Boroditsky : Mandarin-Sprecherinnen denken vertikal an Zeit-Relationen, auch wenn sie englischsprachige Tests ausführen. Dasselbe treffe in umgekehrter Relation für Englisch-Sprecherinnen zu. Allerdings konnte in einem Folgeexperiment nachgewiesen werden, dass auch Englisch-Sprecherinnen, wenn sie über längere Zeit dazu angehalten wurden, mit vertikalen Ausdrücken über Zeit zu sprechen, ebenso wie die Mandarin-Sprecherinnen eine ähnliche Neigung dazu zeigten, Zeitverhältnisse vertikal zu denken, wie die Mandarin-Sprechrinnen.

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Daraus folgert Boroditsky:

"(1) language is a powerful tool in shaping thought and

(2) one's native language plays a role in shaping habituel thought […] but does not completely determine thought in the strong Whorfian sense (since one can always learn a new way of talking, and with it, a new way of thinking)."

(So weit, so gut, könnte man versucht sein, die Hypothese des sprachlichen Relativismus für bestätigt zu halten – hätte es da nicht ernsthafte Probleme gegeben, die von Boroditsky erzielten Ergebnisse zu wiederholen. Der Streitfall um den sprachlichen Relativismus scheint also bis heute nicht entschieden.)

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Gegenstände : Führt der Umstand, dass in manchen Sprachen auch Nomina, die unbelebte Gegenstände bezeichnen, ein grammatisches Geschlecht haben (im Deutschen z.B.: männlich/weiblich/sächlich), die Sprecherinnen dieser Sprachen auch dazu, an diese Gegenstände so zu denken, als ob sie ein (natürliches) Geschlecht hätten?

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Experimente scheinen diesen Schluss näher zu legen als sein Gegenteil: Sprecherinnen des Spanischen und des Deutschen wurden Bilder von Personen (männliche und weibliche) und Gegenstände (die in den jeweiligen Sprachen entgegengesetztes grammatisches Geschlecht haben) gezeigt mit der Aufgabe, diese hinsichtlich Ähnlichkeit/Unähnlichkeit zu bewerten: die Ergebnisse zeigten den signifikanten Unterschied, dass je entgegengesetzte Ähnlichkeiten festgestellt wurden: der Schluss, dass grammatisches Geschlecht dabei eine Rolle gespielt hat, liegt nahe.

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Helmut Heißenbüttels Poetik und Sprachlicher Relativismus

Mit Helmut Heißenbüttel als Höchstrichter (oder wenigstens als "nicht anerkanntem Gesetzgeber") hätte es der Whorfianismus wahrscheinlich um einiges leichter. Aber gerade daran entzündet sich die Kritik in der Forschungsliteratur zu Heißenbüttel: Bernd Scheffer hat in einem Artikel von 1986 unmissverständlich von dem Missverständnis gesprochen, die neue Literatur (darunter subsumiert: "Experimentelle Literatur", "Konkrete Poesie") vorwiegend oder ausschließlich sprachtheoretisch zu begründen und dies paradigmatisch an Heißenbüttels theoretischen Schriften nachzuweisen versucht.

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Scheffer stellt sich die Frage, ob Autorenpoetik "exterritorialen Status der Nichtkritisierbarkeit" habe, auch dann noch, wenn sich ihr "Verfasser auf Philosophen und Sprachwissenschaftler als Zeugen beruft", deren "theoretische Konzeptionen (sprach-)wissenschaftlich unzutreffend sind". Tatsächlich scheint Heißenbüttel in vielen seiner poetologischen Schriften auf den Whorfianismus Bezug zu nehmen, z.B. in folgendem Zitat:

"Solche Feststellungen [Heißenbüttels Plädoyer für eine 'antigrammatische' Dichtung] treffen nun mit anderen zusammen, die von der neueren Sprachwissenschaft gemacht worden sind. Dort wird gezeigt, daß bis zu einem gewissen Grade Weltverständnis und Weltinterpretation des Menschen von seiner Sprache vorformuliert werden, […] daß nur gedacht werden kann, was im syntaktischen Modell als Denkmöglichkeit vorgegeben ist." (Heißenbüttel 1995, 167 f.)

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Scheffer baut seine Thesen auf dem Urteil seines Gewährsmanns aus der Sprachwissenschaft auf, nämlich Harald Weinrichs Abrechnung mit einer uninformierten Literaturkritik: "Die literarische Kritik kann daher nicht hinter der Linguistik der Autoren zurückbleiben. Sie sollte sie vielleicht sogar überholen." (Harald Weinrich: Linguistische Bemerkungen zur modernen Lyrik. In: Akzente 15 (1968), S. 29-47, hier S. 45.)

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Überholen hat mitunter die lästige Eigenschaft, dem Zeitpfeil der wissenschaftlichen Entwicklung so eingezeichnet zu sein, dass der Überholer von den Entwicklungen der Wissenschaft selbst zurücküberholt werden kann: "Überholer überholen Überholte. Überholte aber werden Überholer. Und weil Überholte Überholer werden werden aus Überholten überholende Überholte und aus Überholern überholte Überholer. Aus überholten Überholern aber werden wiederum Überholer (überholte überholende Überholte). [...]", könnte man diesbezüglich abgewandelt Heißenbüttelisch kalauern. Über diesen Text, der im Original mit Verfolgern und Verfolgten handelt und den Titel "Politische Grammatik" trägt, befindet Scheffer:

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Verfolger verfolgen die Verfolgten. Aus Verfolgten werden Verfolger. Weil Verfolger Verfolgte verfolgen machten Verfolger Verfolgte zu Verfolgten. Weil Verfolgte zu Verfolgern werden (weil Verfolger mit Verfolgen angefangen haben) werden aus Verfolgten verfolgende Verfolgte und aus Verfolgern verfolgte Verfolger. Aber weil verfolgende Verfolgte verfolgte Verfolger verfolgen: werden schließlich die verfolgten Verfolger wiederum zu Verfolgern.

Zu verfolgenden verfolgten Verfolgern. Werden schließlich aus verfolgenden Verfolgten wiederum Verfolgte. Verfolgte verfolgende Verfolgte. Machen verfolgende Verfolgte. Machen Verfolger verfolgende Verfolgte. Machen verfolgende Verfolgte verfolgte Verfolger. Machen verfolgende Verfolgte verfolgende verfolgte Verfolger. Machen verfolgende verfolgte Verfolger: verfolgte verfolgende Verfolgte. […]

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"Heißenbüttels Text "Politische Grammatik" funktioniert nicht auf der Basis einer Eigendynamik der in den Vokabeln gespeicherten "Bedeutungshöfe", sondern auf der Basis der jeweils voraussetzbaren Vorkenntnisse des jeweils beteiligten Personals; dabei wird – aufs Ganze einer einzelnen, möglichen Rezeption gesehen – sehr wenig "aus der Sprache selbst" abgeleitet. Die notwendige Vorkenntnis, daß es Verfolger gibt und Verfolgte, die selber wieder Verfolger werden – diese Vorkenntnis wird lediglich verändert angestoßen und aktualisiert. (Im übrigen dürfte die Erfahrung des Verfolgtseins vermutlich eher körperlich "gespeichert" sein als sprachlich.)" (Scheffer, 1986)

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Ich hingegen habe den Eindruck, dass Heißenbüttel hier nicht auf in den Wörtern gespeicherte Bedeutungshöfe abzielt (ein solches Verfahren, das Konnotationen systematisch nützen könnte, spielt zwar in vielen Gedichten eine besondere, jedoch in diesem Text gerade keine herausragende Rolle), sondern dass Heißenbüttel mit dem Text die Beeinflussung von kognitiven Mustern durch grammatische Strukturen zeigen wollte: minimale Differenzen in den Endmorphemen lassen die Relation von Aktanten und Erleidenden deutlich werden.

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Anhand der poetischen Schriften Heißenbüttels will Harald Weinrich den Fortschritt der Linguistik kontrastiv herausstreichen, einen Fortschritt allerdings, dessen Grundannahmen im Lichte mancher gegenwärtiger kognitionslinguistischer Auffassungen seinerseits wiederum zweifelhaft geworden sind:

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"Es gibt, wie wir gesehen haben, linguistische Gründe dafür, die Syntax zugunsten der Semantik und Evokation des Einzelwortes zu reduzieren. Aber bei vielen Autoren der beschriebenen Richtung finde ich in diesem Zusammenhang vehemente Worte gegen die als durchaus unpoetisch angesehene Struktur Subjekt-Prädikat-Objekt, die wir angeblich mit unseren indogermanischen Sprachen der lebendigen Wirklichkeit überstülpen […]. In der Sprachstruktur ist nämlich, davon sind sie alle überzeugt, eine vorgängige und verführerische Interpretation der Welt enthalten. Der Linguist, der solche Sätze liest, weiß sogleich Bescheid: Aha, die These vom sprachlichen Weltbild: Humboldt, Sapir, Whorf, Weisgerber. Inzwischen wird diese These aber von mehr und mehr Linguisten als äußerst fragwürdig angesehen, und ich für meine Person zögere nicht, sie für grundfalsch zu erklären, weil sie in der Linguistik vor lauter Wörtern den Text nicht sieht." (Weinrich 1968, 45f.)

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Gewiss kann man aus manchen poetologischen Äußerungen Heißenbüttels eine für die Zeit ihrer Äußerung charakteristische Stereotypie feststellen, Welt und Sprache gleichzusetzen, vielleicht auch als abgesunkenes Reagieren auf das damalige Leitbild des sogenannten linguistic turn:

"Die syntaktische Verknüpfung beruht auf einem Grundmodell, dem von Subjekt-Objekt-Prädikat. Dieses Grundmodell besagt, daß die sprachliche Auseinandersetzung mit der Welt unter der Voraussetzung geschieht, daß es immer etwas gibt, auf das alles sich bezieht, und etwas anderes, das diesem Bezugspunkt gegenübersteht, beides aber in Form von Aktions- und Verhaltensweisen miteinander verbunden ist." (Heißenbüttel 1995, 240)

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Einige weitere Zitate weisen in diese Richtung: "In dieser Wechselseitigkeit von Sprache, Denken und Vorstellen ist beschlossen, daß auf keiner Seite eine Veränderung vorgehen kann, ohne daß sie auf der anderen entsprechende Spuren aufwirft." (Heißenbüttel 1995, 168). "Diese Gleichsetzung zwischen Sprache und Welt, Weltverständnis, Weltorientierung, wird heute immer mehr zur allgemeinen Überzeugung." "[Es] wird gezeigt, dass bis zu einem gewissen Grade Weltverständnis und Weltinterpretation des Menschen von einer Sprache vorformuliert werden [...] Zumindest besteht eine wechselseitige Einflussnahme." Und mit Bezug auf die sprachtheoretischen Grundlagen der Konkreten Poesie: "Daß unsere Erlebnisqualität und unsere Erlebnismaterialität sprachlicher Natur ist, das gilt es zurückzuentdecken." (Heißenbüttel 1978, 250)

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Ruft man sich das zu grammatischem Geschlecht von Gegenständen zuvor Gesagte (im Rahmen der präsentierten kognitionslinguistischen Studien) in Erinnerung, so verwundert die Gewissheit, mit der Scheffer in dem folgenden Zitat zwischen Subjekt als grammatischer Kategorie auf der einen Seite und Subjekt als psychologischer Kategorie auf der anderen unterscheiden zu können meint und von bloßen Äquivokationen spricht:

"Heißenbüttel unterliegt, ähnlich wie die meisten Autoren der 'Konkreten Poesie', der 'Illusion der Selbstevidenz von Sprache'. Nur aufgrund von Äquivokationen, nur aufgrund seiner erheblich verkürzenden Gleichsetzung von 'Subjekt' (als Erfahrungsinstanz) und 'Subjekt' (als Satzgegenstand) kann Heißenbüttel überhaupt zu der Annahme gelangen, der Angriffspunkt der Literatur habe das grammatische Grundmodell von Subjekt-Prädikat-Objekt zu sein;

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der ans Ende gekommenen Phänomenologie des Subjekts sei zu entsprechen durch 'antigrammatische' Verfahrensweisen: 'Satzsubjekte, Satzobjekte, Satzprädikate fallen weg, weil die Erfahrung, von der geredet wird, außerhalb der eindeutigen Subjekt-Objekt- Beziehung steht. Nur die Formulierung, die eines der Glieder im alten Grundmodell offen läßt, vermag darüber etwas zu sagen.' (Über Literatur) […] Weil sich ein Subjekt nicht mehr als Ausgangspunkt setzen lasse, versucht Heißenbüttel nun, 'Sprachmaterial' als Ausgangspunkt, als Instanz zu setzen: Sprache steht dann 'als Sprache selbst: als das letzte Reduzierbare'. (Scheffer, Akzente, Heft 2, 1965)

Page 45: Vorlesung_8

"Das klingt vielleicht paradox oder banal. Zwei Beispiele. Die indogermanischen Sprachen haben ein bestimmtes grammatisches Schema zur Grundlage. Dies Schema besteht in der Unterscheidung von Subjekt, Objekt und Prädikat. Das heißt, von allem Anfang an wird vorausgesetzt, daß die Erkennbarkeit der Welt, daß die Orientierungsmöglichkeit des Menschen auf der Fiktion beruht, es gäbe etwas, das, in sich ruhend, Mittelpunkte bilde, etwas anderes, das dem gegenüber stehe, und es gäbe von einem zum anderen die Verknüpfungen von Tätigkeiten, Reaktionen, Verhaltensweisen, Relationen. Alle Systeme der abendländischen Philosophien, Religionen und Literaturen lassen sich letzten Endes auf dieses Grundschema reduzieren." (Heißenbüttel 1995, 246)

Page 46: Vorlesung_8

Gewiss weisen eine ganze Reihe von Heißenbüttels poetologischen Äußerungen in diese Richtung – und sie tun dies auch häufig etwas holzschnitthaft, d. h., sie lassen den Übergang von einem an der Sprachwissenschaft orientierten allgemeinen Modell des Verhältnisses von Sprache und Denken hin zu normativen Äußerungen über die Aufgabe und Funktion der Literatur in dieser Hinsicht verschleifen. Das Grundmodell Subjekt-Objekt-Prädikat liefere die menschliche Orientierung in der Welt, Literatur habe die Aufgabe, jeweils darüber hinausgehende Sondermodelle bereitzuhalten.

Page 47: Vorlesung_8

3) Kritik an Introspektion

Page 48: Vorlesung_8

Im Gegensatz zu exakten Experimenten mit Zeitmessung, die der Rezeptionsseite vorbehalten scheinen, sind Introspektionen und introspektive Berichte auch für Fragen der Produktionsästhetik, z.B. nach der Wahl eines (polysemischen bzw. homonymischen) Worts, verwendbar. Allerdings: Wie ist es um die Verlässlichkeit solcher Introspektionen bzw. introspektiven Berichte bestellt?

Page 49: Vorlesung_8

Kritik an der Verlässlichkeit von Introspektion – AJ Marcel •i) Aufmerksamkeit kann das Objekt der Aufmerksamkeit beeinflussen •ii) Aufmerksamkeit kann ihr Objekt hervorbringen •iii) Aufmerksamkeit kann ihr Objekt verzerren •iv) Aufmerksamkeit kann Erfahrung zudecken

•Nisbett/Wilson Argument (1977)

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Argumente für die Verlässlichkeit von Introspektion – Alvin Goldman•Anstatt defensiv die Limitation der Reichweite von Introspektion und introspektivem Bericht zu beklagen, können auch offensiv die Möglichkeiten von introspektiven Berichten methodisch geschärft werden: z.B. in der Protokoll-Analyse von Ericcson. Die engste Verbindung zwischen Denken und wörtlichem Bericht sei dann gegeben, wenn Personen ihre Gedanken während des Ausführens von Aufgaben versprachlichen (Think Out Loud-Protokolle).

Page 51: Vorlesung_8

Wenn verbale Berichte nicht auf Vorgänge im Aufmerksamkeitsfokus beschränkt bleiben, so Goldman, seien die Aussichten auf ihre Verlässlichkeit nicht sehr gut. Besser würden die Aussichten, wenn die Berichte (cum grano salis) zeitgleich und nicht retrospektiv abgegeben werden. Zusätzlich spielen nicht nur die Nähe oder Ferne des Berichtszeitpunkts, sondern auch Zeitrelationen im zu introspizierenden Inhalt eine Rolle: Kurze Episoden, auch wenn sie bewusst sind und beachtet werden, könnten schwieriger zu introspizieren sein, als einzelne näher dem Statischen liegende Zustände.