Vorlesung Wintersemester 2016/17:
Geschichte der deutschen Literatur I:
Vom Barock zur Aufklärung.
Romane des Barock
Richard Alewyn
(1902-1979, Universitäten Paris, London,
Queens College NY, Köln, Berlin, Bonn):
Erzählformen des deutschen Barock.
In: Formkräfte der deutschen Dichtung
vom Barock bis zur Gegenwart. Göttingen 1963,
21-34.
Höfisch-galanter Roman
versus
Schelmenroman (Picaro-Roman).
Ständeklausel und Dreistillehre
als poetologischer Grundsatz auch der Prosaerzählung,
aber nur in den beiden Extremformen
Heroisch-galante Romane
• als aristokratische Liebes- und Abenteuerromane
• europäisches Phänomen mit sehr großer Wirkung
• hoher Sprach-Stil
• stereotypes Figurenarsenal, keine Entwicklungen
• exklusiv reiche und ehrbare Adlige
• repräsentieren dynastische Familien
• und Tugenden, als immer auch allegorische Personifikationen
• Schauplatzkonzeption: erlesene Schauplätze und Ausstattungen in
fernen und exotischen Räumen, oft in historischer Verfremdung
• Akteure, Handlungsmuster: biographisches Grundmuster, Lebensläufe;
zwei Helden als Paar – meist vervielfacht; fortwährende Maskierungen,
Verstellungen, Verwechslungen
→
• Geschehensimpulse durch Schauplatzwechsel; Analogie zum
griechischen Liebes- und Abenteuerroman,
• Verflechtung statt Verkettung, mehrsträngige Handlung, nicht-linear
erzählt; umfangreiche Rückblenden, u. U. tausend Seiten Abstand
zwischen zwei Sequenzen
• zumeist potenziertes Happy-End
• Kampf als heroische Bewährung
• Liebe als höfisch-moralisches Tugendsystem
• zusätzliche narrative Komplexität durch Binnenerzählungen, eingelegte
Novellen, Briefe, Gedichte, Lieder, auch ganze Schauspiele und
gelehrte Schriften
• zusätzliche stoffliche Komplexität durch gelehrte enzyklopädische
Anreicherungen
Grundprinzipien:
• Opposition von Schein und Sein
• Bewährung von stoischer constantia in einer Welt der fortuna
Pionier ist wieder Martin Opitz: Übs. von John Barclays Argenis.
Ritterhold von Blauen (d.i. Philipp von Zesen):
Ritterholds von Blauen Adriatische Rosemund:
Last hägt Lust
Amsterdam 1645,
2. Aufl. ebd. 1664,
3. Aufl. ebd. 1666.
Erster großer Barockroman in Deutschland
nach Übersetzungen aus dem Französischen,
Italienischen und Spanischen.
Allegorische Doppeldeutigkeit:
„Dan es ist zu wissen, daß unter meiner ahrt zu
schreiben, sonderlich unter den verblühmten
nahmen allezeit was anders, als es sich äußerlich
ansähen lässet, verborgen sei“.
Kurzer entwurf däs Venedischen Stat-Wäsens
u. a. Einlagen.
Philipp von Zesens Joseph-Roman:
Assenat. Das ist
derselben und des Josefs Heilige Stahts=
Lieb= und Lebens=geschicht,
mit mehr als dreißig schönen
Kupferstücken gezieret
Amsterdam 1670, 2. Aufl. Nürnberg 1872,
3. Aufl. ebd. 1679.
1.Teil einer geplanten Trilogie von Bibel-
Romanen
(2. Teil: Simson,
3. Teil: Moses, nicht mehr realisiert)
Riesiger gelehrter Apparat über Kultur-
und Religionsgeschichte der Ägypter,
vergleichsweise (!) straffe Roman-
handlung.
Daniel Casper (von) Lohenstein (Breslau,
1635-83): Groszmüthiger Feldherr Arminius
oder Herrmann, / Als Ein tapfferer Beschirmer
der deutschen Freyheit, / Nebst seiner
Durchlauchtigsten Thusznelda / In einer
sinnreichen Staats= Liebes= und
Helden=Geschichte / Dem Vaterlande zu
Liebe / Dem deutschen Adel aber zu Ehren
und
rühmlichen Nachfolge /
In Zwey Theilen
vorgestellet.
2 Teile zu je 9 Büchern,
posthum Leipzig 1689
(vollendet von Lohen-
steins Bruder, Sohn und
Christian Wagner)
Daniel Casper (von) Lohenstein
(Breslau, 1635-83):
Groszmüthiger Feldherr / Arminius Herman /
Als / Ein tapfferer Beschirmer der deutschen
Freyheit … Staats-, Liebes- und Helden-
Geschichte
• mit geographischem Register,
• Schlagwortregister für die Handlung,
• Geschlechtsregister,
• Figurenregister:
• Roman und Nachschlagewerk in einem
• Höhepunkt des heroisch-galanten
Barockromans
• mehrfacher Schriftsinn:
• enzyklopädische Weltdarstellung,
• heroisierende Darstellung‚deutscher Nation’,
• allegorische Geschichte Deutschlands,
• Fürstenspiegel
Anton Heinrich Buchholtz (Braunschweig):
Des christlichen teutschen Groszfürsten Hercules
und der böhmischen Königlichen Fräulein
Valeska Wunder=Geschichte
2 Teile, 8 Bücher
Braunschweig 1659/60 (2 Bde.), 2. Aufl. ebd.
1676, bearb. 3. Aufl. ebd. 1781-83.
Frei erfundene Handlung um frei erfundene
Figuren,
delectare et prodesse.
Heinrich Anselm von Zigler und Kliphausen
(1663-1697):
Die Asiatische Banise
Oder Das blutig- und doch muthige Pegu.
Leipzig 1689, 1690, 10 Neuauflagen bis 1766.
Kleines Buch, einer der größten Erfolge des Genres
und der Epoche, letzter und meist-gelesener heroisch-
galanter Barockroman.
Banisenmode; Fortsetzung von Johann Georg
Hamann d. Ä. 1724, mehrere Auflagen; 1743 in
Leipzig Banise-Trauerspiel; Deutsche Banise 1752,
Engelländische Banise von Christian Ernst Fidelinus
1754, Ägyptische Banise 1759;
Spuren in Mozarts Zauberflöte
und in Goethes Wilhelm Meister Lehrjahre.
Der Schelmen- oder pícaro-Roman
Das genaue Gegenstück zum Heroisch-galanten Roman.
Prinzipien hier wie dort:
vom Schein zum Sein;
aber constantia allein des Bösen – also entweder Böser unter Bösen sein
oder sich der Welt enziehen
• stereotypes Figurenarsenal, keine Entwicklungen
• nur die Initiation in die Bosheit der Welt (der Held bleibt unverändert,
die Welt wird immer neu demaskiert)
• niederer Sprach-Stil
• arme und ehrlose Leute, fahrendes Volk: Soldaten, wandernde Händler,
Schausteller und Schauspieler, Räuber, Bettler
• Repräsentanten des Nicht-Repräsentativen (der reinen Kontingenz)
• Schauplatzkonzeption: soziale Unterwelt und Marginalität – und die
Rückseiten der Oberwelt; kleiner Aktionsradius
• Kampf aller gegen aller
• Liebe als drastische Körperlichkeit
• Akteure und Handlungsmuster: biographisches
Grundmuster Lebenslauf; ein Held, meist zugleich als
Ich-Erzähler, nach dem Initiationserlebnis
Episodenstruktur
• scheinhafter Aufstieg bei faktischer Konstanz des
Niedrigen
• Verkettung statt Verflechtung der Episoden
• Varianten nach Geschlecht: männliche / weibliche
Helden, pícaro / pícara
• Varianten nach Rahmung: ungerahmt-offene
Episodenstruktur (fortuna) vs. gerahmt-geschlossene
Episodenstruktur (fortuna und conversio)
• einsträngige Handlung, linear erzählt
• Geschehensimpulse durch Schauplatzwechsel
• Ende als Negation der endgültig als sündhaft enthüllten
Welt: conversio als Weltabkehr des Helden
Spanische Modell-Romane:
Lazarillo de Tormes (anonym, schon 1552 / 54),
La vida de Lazarillo de Tormes y de sus fortunas
y adversidades: offene, prinzipiell
unabschließbare Episodenreihe
Mateo Alemán: Guzman
de Alfarache
(Madrid 1599):
conversio als Ende
und Rahmung
López de Ubeda:
La pícara Justina
(Madrid 1605)
Textbeispiel:
Lazarillos Initiation in die Welt
durch den blinden Bettler
(erste, anonyme Übersetzung
von 1614)
Der deutsche Pionier
des Schelmenromans:
Der Landstörtzer Gusman von
Alfarache,
übersetzt von Aegidius Albertinus
(Niederlande, Spanien, dann München,
riesiges erzählerisches Lebenswerk),
1615
zahlreiche Nachfolger in der deutschen
Literatur,
erster Höhepunkt…
Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen
(Gelnhausen 1621? – Renchen bei Freiburg 1676)
Pseudonyme: German Schleifheim von Sulzfort, Samuel
Greif(e)nsohn von Hirschfeld, Melchior Sternfeld von
Fuchshaim, Simon Leugfrisch von Hartenfels, Israel
Fromschmidt von Hugenfelß, Erich Stainfels von
Grufensholm, Philarchus Grossus von Trommenheim u. a.
Bäcker- und Gastwirtssohn aus ehemaligem protestantischem Adel,
bürgerlich geboren, strebt nach dem Adelstitel, konvertiert.
Mit etwa 13 Jahren erstmals Kriegserlebnis (in Frankfurt), danach öfter.
Bereits als Jugendlicher Soldat, wohl auch in Magdeburg, bis 1649.
Diverse Schreiber- und Verwaltungsaufgaben, nach unstetem Leben
Schultheiß (und Gastwirt) in Renchen. Ab 1666 die große Reihe der
„simplicianischen“ Schriften. 1673 nochmals im Krieg, mit Ludwig
XIV. gegen die Kaiserlichen am Oberrhein?
1668 (1669):
Der abentheuerliche Simplicissimus
Teutsch / Das ist: Die Beschreibung deß
Lebens eines seltzamen Vaganten /
genannt Melchior Sternfeld von
Fuchshaim / wo und in welcher Gestalt er
nemlich in diese Welt kommen / was er
darinn gesehen / gelernet / erfahren / und
außgestanden / auch warumb er solche
wieder freywillig quittirt. Überauß lustig
und männiglich nutzlich zu lesen.
An Tag geben von German Schleifheim
von Sulzfort.
Fünf Bücher. Fortgesetzt in der
Continuatio als dem sechsten Buch.