Gerd Enning: Tote Nachbarn 1940
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Vor 80 Jahren: Bombentote
an der Oberschlesier Straße
II. Weltkrieg 1939 – 1945
Vor 8o Jahren starben am 20. Juni 1940 an der Oberschlesier Straße sechs Menschen.
In Münster gab es die ersten Toten durch Fliegerbomben.
Vorwort
Paulheinz Wantzen, Schriftleiter der
Münsterschen Zeitung, schrieb während des
Zweiten Weltkriegs ein privates Tagebuch.
Die Aufzeichnungen beginnen September /
Dezember 1939, sie enden am 25.
September 1946. Im Februar 2000 erschien
eine vollständige Abschrift der Handschrift
im Verlag Das Dokument, Bad Homburg,
mit dem Titel: Das Leben im Krieg 1939 -
1946. Das Tagebuch besteht aus 19
Büchern mit insgesamt 6.060 Seiten
einschließlich der eingefügten
Zeitungsausschnitte, Lebensmittelkarten,
Raucher- und Kleiderkarten, Flugblätter
und vertraulichen Informationen für
Schriftleiter der Zeitungen. Die gedruckte
Version umfasst 1.657 Seiten im A-4-
Format.
Abbildung 1: Zeitungsanzeige vom 21. Juni 1940
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Ihr Blut kommt auf
Englands Schuldkonto
Bombenangriff auf die Stadt Münster
Je größer, je gewaltiger der Sieg wird, den die deutschen
Waffen auf dem Schlachtfelde in Frankreich erringen, um
so ohnmächtiger wird die Wut der britischen Kriegshetzer.
In ihrer Verzweiflungsstimmung greifen sie immer wieder
zu den ruchlosesten und gemeinsten Verbrechen, mit
denen sie noch eine Wendung glauben herbeiführen zu
können. Nach einem nunmehr schon bekannten Verfahren
führen sie unter dem Schutz der Nacht feige Angriffe auf
westdeutsche Städte und Dörfer aus, wo sie wahllos ihre
Bomben abwerfen, ohne sich um die völkerrechtlichen
Bestimmungen über den Schutz der Zivilbevölkerung zu
kümmern.
So wurden auch in der Nacht zum 20. Juni auf friedliche
Städte und Dörfer unseres Heimatgebietes solche
verbrecherischen Angriffe ausgeführt, die z.T. jenen
zweifelhaften „Erfolg“ hatten, wie er offensichtlich on der
Absicht Englands liegt. Weit ab von jedem militärischen
Ziel schlugen die Bomben in Straßen und Wohnhäuser, in
Bauernhöfe und auf freies Feld.
Leider hat der Angriff auf die unverteidigte Stadt Münster
auch das Leben mehrerer Volksgenossen gefordert. Fünf
Tote, ein Schwerverletzter und dreißig Verletzte sind das
Opfer dieses ruchlosen Anschlages. So wurden wahllos
Bomben auf eine Siedlung abgeworfen, wodurch zwei
Häuser zerstört wurden. Hier sind auch die fünf Toten und
mehrere Verletzte zu beklagen. Ihr Blut kommt auf das
Schuldkonto Englands, dem die Rechnung demnächst
präsentiert werden wird. In einem anderen Stadtteil ging
ebenfalls eine Bombe nieder, die erheblichen Schaden
anrichtete und einen Schwerverletzten forderte.
Eine weitere Sprengbombe schlug am Stadtrand, wo sich
keinerlei militärische Ziele befanden, ein. Das Gemeinste
ist, daß auch wahllos Brandbomben über der inneren Stadt
abgeworfen wurden, wo sie teilweise größeren
Sachschaden anrichteten. Selbst weit von der Stadt
entfernt, in dem rein landwirtschaftlichen Gelmer gingen
Bomben nieder, die leider ebenfalls das Leben eines
Volksgenossen forderten.
Die münstersche Bevölkerung weiß, daß dieser Krieg auch
von der Heimat ihre Opfer fordert. Mit dankbarer Freude
erkennt sie, was es heißt, daß der Führer und die siegreiche
Wehrmacht den Krieg von den Grenzen des Landes
ferngehalten haben. Sie läßt sich deshalb auch von diesen
gemeinen Verbrechen Englands nicht in ihrer Freude über
die gewaltigen deutschen Siege beeindrucken in der
Gewißheit, daß unsere stolzen Truppen bald dafür sorgen
werden, daß England die Lust zu solchen Gangsterstücken
der Kriegsführung gründlich verlieren wird.
Abbildung 2: Zeitung vom 22. / 23. Juni 1940 links und Abschrift rechts
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Kriegsbeginn
Schon vor dem Kriegsausbruch am 1. September 1939 zeichnete sich der mögliche
Kriegsbeginn ab. Bereits im Frühjahr hatte es immer wieder Kriegsgerüchte gegeben. Im Laufe
des Sommers ließ das sich verschlechternde Verhältnis zu Polen die Möglichkeit eines Krieges
wahrscheinlicher werden. Die Kriegsvorbereitungen gingen fast unbemerkt fieberhaft voran.
Tagsüber bildeten sich vor den Radiogeschäften Menschentrauben, die den Nachrichten
zuhörten. Die Einberufungen nahmen immer größeren Umfang an. Private Kraftfahrzeuge
wurden sogar auf offener Straße für das Militär eingezogen. Die Bevölkerung strömte in die
Einzelhandelsgeschäfte und kaufte, was zu bekommen war, wogegen die Cafés und Gaststätten
in den letzten Tagen des Monats vollkommen leer standen. Schon 1937 gab es erste
Luftschutzbaumaßnahmen.
Abbildung 3: Luftschutzunterstände in der Promenade am 14. April 1940
Links: Am Eingang in die Aegidiistraße. Rechts: Am Staatsarchiv
Am Sonntag, den 28. August 1939, vier Tage vor Kriegsbeginn, wurde für Lebensmittel eine
Einheitskarte ausgegeben, die vier Wochen galt. Diese Einheitskarte wurde bald durch
unterschiedliche Karten ergänzt oder ersetzt. Es gab Karten für Schwer- und Schwerstarbeiter,
Lang- und Nachtarbeiter, Karten für Brot, Fleisch, Fett, Eier, Marmelade/Zucker, Kleider,
Karten für Kleinst- und Kleinkinder, für Kinder bis zu sechs Jahren, für Jugendliche und
Erwachsene. Für Soldaten auf Urlaub gab es Urlaubskarten. In der BRD wurden alle Karten
1950, in der DDR 1958 abgeschafft.
Am 4. und 5. September ertönten zum ersten Mal die Alarmsirenen der Stadt. Sie wurden von
der Luftschutzwarnzentral (LWZ) ausgelöst. In der Nacht vom 4. auf den 5. September heulten
die Sirenen, Luftgefahr für Münster! Flakgeschütze gaben erste Schüsse ab. Ein Luftangriff
blieb vorläufig noch aus. „Das war mein erster Fliegeralarm“, schreibt Dr. Franz Wiemers in
seiner Kriegschronik.
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Abbildung 4: Die wöchentlichen Rationen eines Normalverbrauchers betrugen im Zweiten Weltkrieg
Am 01. September 1939 begann also der Krieg mit Polen, zwei Tage später, am 03. September,
kam die Kriegserklärung von England und Frankreich an Deutschland. Nächtliche
Fliegeralarme nahm die deutsche Bevölkerung noch mit ziemlicher Ruhe, fast mit Humor hin.
Frauen mit kleinen oder kranken Kindern waren sehr unruhig, sie fragten sich: wie soll das
weiter gehen? Bereits in den ersten Nächten gab es Fliegeralarm durch Sirenengeheul. Frauen
in dünnen Batisthemden, oft ohne Mantel und Fußbekleidung, ihre Kleinen auf dem Arm,
stolperten, fielen und schrien auf dem Weg zum Sammelschutzraum. Die Männer waren bald
wieder draußen, im Schutzraum durfte nicht geraucht werden. Sie standen beieinander und
klönten. Einige Flieger überflogen Münster und warfen Flugblätter in Mengen ab. Die Zettel
wurden von Soldaten eingesammelt und abgeliefert. Zahlreiche Blätter liefen in der
Bevölkerung von Hand zu Hand. (1* 1-2/3-7)
In der Kriegschronik schreibt Dr. Wiemers: „Am 9. September 1939 fand ich in der Zeitung die
erste Todesanzeige eines Gefallenen aus Münster: Hermann Glosemeyer, gestorben im Alter
von 22 Jahren.“
September / Dezember 1939: Erste Flugzeugabwehr
An mehreren Tagen war Flakfeuer (Schüsse der Flieger-Abwehr-Kanonen) zu hören. Auch die
schwere Flak, die bei Appelhülsen stand, bumste dazwischen, dass die Scheiben klirrten,
Scheinwerfer suchten den Himmel ab, MGs und leichte Flak bellten, bis auf ein wahres
Feuerwerk dutzender gelber und roter Raketen der ganze Zauber zu Ende ging. (1* 2/8)
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!!! Warnung !!!
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Präsident Roosevelt hat euch sowohl Frieden mit Ehren als
auch die Aussicht auf materielle Wohlfahrt angeboten. An
Stelle dessen hat eure Regierung euch zu dem
Massenmord, dem Elend und den Entbehrungen eines
Krieges verurteilt, den zu gewinnen sie nicht einmal
erhoffen können.
Nicht uns, sondern euch haben sie betrogen. Durch Jahre
hindurch hat euch eine eiserne Zensur Wahrheiten
unterschlagen, die selbst unzivilisierten Völkern bekannt
sind. Diese Zensur hält den Geist des deutschen Volkes in
einem Konzentrationslager gefangen. Wie sonst konnten
sie es wagen, die Zusammenarbeit friedliebender Völker
zur Sicherung des Friedens fälschlich als feindliche
Einkreisung darzustellen? Wir hegen keine Feindseligkeit
gegen euch, das deutsche Volk.
Diese Nazi Zensur hat euch verheimlicht, daß ihr nicht
über die Mittel verfügt, einen langen Krieg
durchzuhalten. Trotz erdrückender Steuerlast seid ihr am
Rande des Bankrotts. Wir und unsere Bundesgenossen
verfügen über unermeßliche Reserven an Manneskraft,
Rüstung und Vorräten. Wir sind zu stark, durch Hiebe
gebrochen zu werden und können euch unerbittlich bis zur
Erschöpfung bekämpfen.
Ihr, das deutsche Volk, habt das Recht, auf Frieden zu
bestehen jetzt und zu jeder Zeit. Auch wir wünschen den
Frieden und sind bereit, ihn mit jeder aufrichtig friedlich
gesinnten deutschen Regierung abzuschließen.
Abbildung 5: Teil eines englischen Flugblattes links und Abschrift rechts.
Gefunden am 5. September 1939 im holländischen Enschede. (1* 37/165)
3. Mai 1940: Neue Munition - Export nach Russland
Sehr interessant erzählte gestern mein Bruder Rudolf über Versuche mit den neuen, in
Norwegen angewandten Bomben, die so neu sind, dass man nicht einmal Schusstafeln von
ihnen besitze, die jetzt erst in Unterlüß (größtes Test- und Versuchsgebiet für Waffen und Munition in der
südlichen Lüneburger Heide) und auf einigen anderen Schießplätzen gemessen und berechnet
würden. Jedenfalls seien es aber sehr gute und durchschlagende Bomben. Erstaunlich sei,
welche Mengen an Waffen noch immer an ausländische Staaten geliefert würden, ein sicheres
Zeichen dafür, dass wir mehr als genug davon hätten. In besonders großen Mengen liefern wir
in letzter Zeit Waffen an Sowjetrussland, noch und noch. Vor allem auch Flak und darüber
hinaus sogar jene „schwerste“ Flak, die vor einem Jahr in Berlin bei der Parade vor dem Führer
das ganze Ausland in Erstaunen gesetzt habe. Die Schusstafeln seien zum Teil für die ganz
erheblich gesteigerten Sprengkugeln noch nicht fertig, nach Russland aber würden schon große
Mengen davon und auch sonst modernstes Gerät geliefert, während das übrige Ausland sonst
immer nur zweite oder dritte Garnitur bekomme. (1* 65-66/390-391)
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Der Nichtangriffspakt mit Russland (Hitler-Stalin-Pakt) vom 24. August 1939 machte das
möglich. Am 22. Juni 1941 geschah der Überfall auf Russland: Kriegsbeginn.
6. Mai 1940: Vorbereitung zum Einmarsch nach Holland
Bedeutungsvoller scheint mir die Beobachtung zu sein, dass einmal Leibstandarte und SS-
Verfügungstruppen noch immer hier an der holländischen Grenze liegen und dass diese
zweitens jetzt in großem Umfang mit Amphibienfahrzeugen arbeiten, die auf dem Lande und
im Wasser gleichermaßen beweglich sind. Über den Rhein und auch bei Rheine über die Ems
werden damit täglich Übungen unternommen. Diese Fahrzeuge wären ja geradezu ideal für die
holländischen Überschwemmungsgebiete. Und auch sonst scheint mir einiges für die
Möglichkeit zu sprechen, dass es bald gegen und in Holland losgehen könnte. Immerhin würde
es schnell möglich sein, Holland zu überrennen, da man dort in größtem Ausmaße Stukas
einsetzen könnte, die z. B. wegen der für sie erforderlichen Startbahn von 3 – 5 Kilometern für
den gesamten Norwegeneinsatz noch immer im dänischen Aalborg starten müssen.
Augenblicklich müssen, damit eine Startbahn für die Stukas angelegt werden kann, beim
Flughafen Handorf noch mehrere Bauernhöfe verschwinden. Es sollen 6-8.000 Mann
eingezogen werden für die Organisation Todt, um hier schnelle Arbeit zu leisten und in
kürzester Zeit die Startbahn zu schaffen. Möglich, dass die Startbahn vor einer Holland-Aktion
fertig werden soll. Übrigens erfuhr ich heute während des Nachtdienstes, dass der Tanzabend
des Stadttheaters am 29. und 30. Mai in Den Haag gastieren soll. Ich bin mal neugierig, ob es
dazu noch kommen wird. (1* 67/401-406)
10. Mai 1940: Einmarsch in Holland, Belgien, Luxemburg
Nun ist also, genau wie ich es vermutet hatte, der entscheidende Schlag gefallen: Einmarsch in
Holland und Belgien, dazu noch in Luxemburg. Ich wurde heute in aller Morgenfrühe gegen 5
Uhr durch ein geradezu tolles und an Lautstärke nicht mehr zu überbietendes Motorengebrumm
aus dem Schlaf geweckt. Hunderte von schweren Transportflugzeugen (nach Schätzungen
Sauerlands vom Städtischen Presseamt sollen es an die 1.000 gewesen sein) brummten über die
Dächer hinweg in Richtung Holland. Dazwischen sah man Jäger fortfliegen und dann auch
wieder Bomber aufsteigen, die sich über den beiden Flugplätzen Handorf und Loddenheide sehr
hoch in die Luft schraubten und dann den Kurs gen Holland und Belgien nahmen. Der Krach
hielt so an, dass an ein Schlafen nicht mehr zu denken war. (1* 70-72/430)
10. Mai 1940: Luftschutzbereitschaft und Erfolgsmeldungen
Im Betriebe wurde inzwischen bekannt gegeben, dass erhöhte Luftschutzbereitschaft
eingetreten sei und jeder seine Gasmaske überallhin, auch auf die Straße und nach Hause,
mitzunehmen hätte. Außerdem erhielt jeder ein Verbandspäckchen als ersten Schutz gegen
Kampfstoffverletzungen. Dann kam der Setzer Waegener mit der Nachricht, dass im Hüfferstift
schon wieder Verwundete aus Holland eingeliefert worden seien. Es handelt sich um
Verwundete von der Besetzung des Flughafens Ypenburg bei Rotterdam. Die erste dort in aller
Frühe landende deutsche Maschine habe 3 Tote und 8 Verwundete gehabt. Die Toten seien
sofort wieder mit nach Münster transportiert worden. Die Toten lägen in der Leichenhalle, die
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Verwundeten seien ins Hüfferstift gekommen. Eine andere Maschine sei mit nicht weniger als
500 Durchschüssen wieder in Münster gelandet. (1* 72-73/437-439)
13. Mai 1940: Sieges-Hybris
Unsere Luftwaffe muss in einer geradezu unvorstellbaren Weise rangehen und ganz tolle
Erfolge haben. Die Tommis werden jetzt wohl langsam merken, wie der wahre Krieg mit dem
nationalsozialistischen Deutschland aussieht. Der siegreiche Vormarsch durch Holland und
Belgien übertrifft noch bei weitem den in Polen. Es sieht so aus, als ob die Entscheidung sehr
schnell, in wenigen Wochen, fallen könnte und der Krieg unter Umständen rasch beendet sein
könnte. (1* 75/ 462-463)
16. Mai 1940: Erste Bomben auf Münster
Nun hat Münster den ersten Bombenangriff hinter sich und nur die allerwenigsten Münsteraner
haben etwas davon bemerkt, als um 1:24 Uhr 5 Bomben im Winttal zwischen Hansaring und
Dortmunder Straße herunterkamen. Wir haben es auch verschlafen, trotzdem mein Fenster
offen war und die Stelle zu Fuß in einer Viertelstunde zu erreichen ist. Ich erfuhr es erst, als ich
zur Zeitung kam und mir da der stets am besten orientierte Beckmann die Sache erzählte. Ich
habe mir dann von Zons die Anweisung des Reichspropagandaamtes geben lassen, meine Leica
geschnappt und bin dann mit einem Lieferwagen zum Hotel Haus Dorn gefahren, das schwer
mit seiner ganzen Umgebung getroffen wurde. Es hatte sich dort inzwischen eine riesige,
zumeist aus Frauen bestehende Menge, angesammelt, die von der Polizei und der SHD
(Sicherheits- und Hilfsdienst) nur mühsam zurückgehalten werden konnte. Ich ging dann in das
Lokal Haus Dorn, d.h. in den an der Dortmunder Straße angebauten Teil, der ein furchtbares
Bild der Verwüstung bot. In diesem Lokal waren der Polizeipräsident, SS-Obersturmführer
Heydrich und Polizeimajor Cyklam, den ich ja gut kannte. Vom Knipsen wollte er zunächst
unter keinen Umständen etwas wissen. Als ich den Auftrag des Reichpropagandaamtes
vorzeigte, wollte er auch noch nicht und erst beim Luftgau anfragen, aber der Polizeipräsident
erklärte dann, er wolle wohl die Verantwortung übernehmen. Ich ließ mir zur Vorsicht einen
Polizeibeamten mitgeben, was sich als sehr richtig erwies, da ich noch verschiedentlich, zum
Teil sehr energisch, angehalten wurde. Ich ging dann hinter die Häuser und bekam doch einen
ziemlichen Schrecken, als ich das ungeheure Bild der Verwüstung sah, das die Rückseite des
Hauses Dorn und die ganze Rückseite des langen Häuserblocks am Hansaring zeigte. Ebenso
die großen Lager von Stadtbäumer und Stroetmann, die je eine Bombe mitbekommen hatten,
während drei Bomben in einer Reihe hintereinander, ziemlich dicht zusammen, in den
Hofräumen heruntergekommen waren. (1* 81-83/489-494)
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Abbildung 6: Lageplan zur Kreuzung Hansaring – Hamburger Straße (1* 84/498)
Abbildung 7: Google Maps Darstellung der Kreuzung Hansaring - Dortmunder Straße im Frühjahr 2020
Abbildung 8: Links: Rückseite von Haus Dorn. Rechts: Bombentrichter vor den Garagen von Haus Dorn
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Abbildung 9: Kreuzung Hansaring - Dortmunder Straße im Frühjahr 2020
Der nächtliche Fliegerangriff
auf Münster
Fünf Bomben verursachten Sachschaden
Bei der in der Nacht zum Donnerstag gegen 1.30 Uhr
erfolgten Ueberfliegung der unverteidigten Stadt Münster
durch ein feindliches Flugzeug wurden fünf Bomben
angeworfen. Zwei Einschläge erfolgten im Hof des Hotels
„Haus Dorn“, ein dritter in einem in unmittelbarer Nähe
liegenden Schuppen und zwei weitere in die benachbarten
Hausgärten. Die Explosion der Sprengbomben richtete
Sachschäden an. Alle Garagen wurden stark beschädigt.
Die Hinterfront der Wohnhäuser, die in unmittelbarer
Nähe der Bombeneinschläge liegen, wiesen gleichfalls
beträchtliche Beschädigungen auf; es wurden sämtliche
Fensterscheiben eingedrückt, Hauswände und Dächer zum
Teil durch Sprengstücke durchlöchert. Der Schuppen ist
zerstört. Auch an den umliegenden Häusern wurden
zahlreiche Fensterscheiben zertrümmert. Es wurden
mehrere Personen verletzt.
Abbildung 10: Pressebericht in Münstersche Zeitung links und Abschrift rechts
20. Mai 1940: Luftschutzkeller - nicht alle gehen hinein
Inzwischen hat es in Münster zweimal längeren Fliegeralarm gegeben. Abends hatte ich dann
den üblichen Nachtdienst. Gerade hatte der Metteur Göbel gesagt, nun würden sie wohl bald
kommen, da heulten auch schon um 24:25 Uhr die Sirenen, nicht übermäßig laut. Ich
verständigte telefonisch die Rotation und den Setzmaschinensaal und Packraum, ließ im ganzen
Hause die Maschinen abstellen und das Licht ausdrehen. Wir versammelten uns dann unten im
Hof, da außer einigen schon älteren Setzern niemand in den Luftschutzkeller wollte, der ja bei
der Münsterschen Zeitung auch die reinste Mausefalle ist. Nach etwa 10 Minuten hörten wir
den Engländer dann auch in ziemlicher Höhe herankommen und seine Kreise ziehen. Unsrer
Schätzung nach waren es 2 oder 3 Maschinen, von denen im Verlaufe der nächsten zwei
Stunden wenigstens eine sehr tief herunter kam. Dabei wurden, wie von anderer Stelle
beobachtet werden konnte, einige Leuchtkugeln in der Gegend der Schleuse an Fallschirmen
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herabgelassen. Anscheinend konnten die Engländer in Münster kein richtiges Ziel ausmachen
(die beiden Flughäfen – besonders der in Handorf – sind nachts ausgezeichnet getarnt), denn es
fielen in Münster keine Bomben. Irgendwelches Flakfeuer erfolgte nicht. Wir saßen und
standen draußen herum und machten dumme Witze und Bemerkungen. Zwischendurch habe
ich einmal einen Abstecher in den einen ausgezeichneten Eindruck machenden öffentlichen
Schutzraum in der gegenüber liegender Musikhochschule gemacht, in dem etwa 50-60
Personen waren. Insgesamt haben wir während dieses Luftalarms, der bis 2:40 Uhr dauerte,
etwa 8-10 Bombenexplosionen in sehr weiter Ferne gehört. Im Laufe des Tages stellte sich
heute heraus, dass der Engländer bei Salzbergen das Ölwerk, den Bahnhof, die Fliegerkaserne
(brennt) und ein Gefangenenlager mit Polen angegriffen und mit Bomben belegt hat. (1* 87-
88/510-513)
21. Mai 1940: Angriffe auf Industrieanlagen
In der vergangenen Nacht ist in Münster kein Luftalarm gewesen und wir waren nicht böse,
ausschlafen zu können. Man hört nun, dass in der Nacht vorher bei Salzbergen etwa 35 Bomben
geworfen wurden, unter denen mehrere Blindgänger waren. Flak ist während des Angriffs
überhaupt nicht dagewesen, erst am nächsten Tage gekommen. Die Engländer sollen bis auf 50
m heruntergekommen sein. Die Ölraffinerie ist so beschädigt, dass die Arbeit (bisher in drei
Schichten) nicht wieder aufgenommen werden kann. Inzwischen hört man auch, dass in der
Nacht zu Montag auch der „größte Gasometer Europas“ beim Hydrierwerk in Buer von
Bomben getroffen und vernichtet wurde. Er war, gottlob, wie immer am Wochenende, leer. Ich
bin gespannt, ob und wann es in Münster wieder losgeht. (1* 93/533)
Den Gasometer Oberhausen kennt heute fast jeder wegen der tollen Ausstellungen.
Mein Größenvergleich:
Gelsenkirchen-Buer:
H = 145 m; D = 81,0 m; F = 5.000 m²; Nutzbare Höhe = 120 m; V = 600.000 m³
Oberhausen:
H = 117 m; D = 67,6 m; F = 3.500 m²; Nutzbare Höhe = 99 m; V = 347.000 m³
22. Mai 1940: Münsters Flughäfen tarnen
Die Engländer sind gottlob in der letzten Nacht wieder nicht gekommen, trotzdem sie anderswo
in West- und Norddeutschland waren. Anscheinend tarnen sich unsre beiden Flughäfen mit
ihren an jedem Abend neu aufgestellten “Dörfern“ so gut, dass dem Tommy nichts aufgefallen
ist. Na, hoffentlich bleibt es dabei, wir sind nicht scharf darauf, in den Keller zu gehen. (1*
97/540)
3. Juni 1940: Engländer in jeder Nacht
Die Engländer sind übrigens in jeder Nacht da, auch über Münster. Um die Arbeitskraft der
Bevölkerung zu schonen, wird aber nur noch Alarm gegeben, wenn wenigstens 3 kommen.
Man kann sie deutlich an dem hellen Summen ihrer Motoren erkennen. (1* 100/556)
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10. Juni 1940: Italien: Kriegsteilnahme, Glocken zerschlagen
Während ich auf dem Balkon bei einer guten Tasse Kaffee diese Zeilen schreibe, hörten wir
den holländischen Sender Hilversum, der sonst immer nette Unterhaltungsmusik bringt.
Plötzlich bringt Hilversum die Lieder der Legion Condor aus Spanien, in denen dauernd von
den italienischen Kameraden die Rede ist. Und dann sagt er plötzlich, dass um 19:00 Uhr der
Duce über die italienischen Sender sprechen werde. Ich sause im Laufschritt an den Rundfunk
und schalte auf einen deutschen Sender um, bekomme gerade noch das Englandlied. Also eine
Sondermeldung! Und hinter dem Englandlied die italienische Hymne! Das kann nur Italiens
Eintritt in den Krieg sein! Da heißt es auch schon: Übertragung von der Piazza Venetia mit der
Rede Mussolinis. Das ist Italiens Eintritt in den Krieg! Schulter an Schulter geht es nun in den
entscheidenden Kampf. Pauvre France!
Die Freude ist überall, wohin man kommt, groß, weil man annimmt, dass Italiens Losschlagen
wenigstens ein Abkürzen der Kriegsdauer zur Folge haben würde.
Alles ist nun gespannt, wo Italien zunächst angreifen wird und alles fiebert den ersten
Meldungen entgegen. In Münster werden nun auch an einigen Türmen die Kirchenglocken
heruntergeholt. An der Josephs- und an der Martinikirche hat man heute mit der umständlichen
und schweren Arbeit begonnen. Die Martini-Kirche muss z.B. ihre gesamten fünf Glocken mit
einem Totalgewicht von 9 Tonnen abgeben. Um den Turm mit seinem Mauerwerk nicht zu
beschädigen, werden drei von den 5 Glocken im Turm oben zerschlagen und halbiert oder
stückweise nach unten gebracht. Verhältnis wenig Zuschauer waren dabei vorhanden, in der
Hauptsache noch dazu Kinder. Pfarrer Krick stand mit einem kleinen Fotoapparat beiseite, um
wenigstens seine Glocken noch einmal im Bilde festzuhalten. (1* 109-110/585-593)
20. Juni 1940: Bomben auf Münster
Man soll die Nacht nicht vor dem Abend loben und den Tag nicht vor der Nacht. Jedenfalls
werden die Münsteraner die Nacht auf den heutigen Tag mit ihrem massierten Großangriff
englischer Flieger so schnell nicht vergessen. (1* 118/631)
Paulheinz Wantzen war mit seiner Frau und weiteren Bekannten bei Freunden eingeladen. Sie
hatten dort allerlei Pils gezischt und manchmal aus Jux „Luftalarm“ gebrummt und allerlei
Unfug getrieben. Um 1:10 Uhr gingen sie in der herrlich hellen Vollmondnacht heim. Sie hörten
verschiedene Motorgeräusche, sahen keine Scheinwerfer. Um 1:25 Uhr waren sie müde
zuhause und lagen wenige Minute später flach. Gegen 1:33 Uhr hörten sie leichte Flakabschüsse
und deutlich 4 oder 5 etwas entfernte Bombeneischläge. Danach kam laut und deutlich
Luftalarm. Wantzen war sofort wieder angezogen, ging nach unten, traf Nachbarn und im
nächsten Augenblick hörten sie fünf weiter Bombeneinschläge, die näher waren. Sie hörten
typische Geräusche englischer Flugzeugmotoren in geringer Höhe, so niedrig wie noch nie. Zu
fünft gingen sie in den Keller, konnten Flugzeuge hören und Abwehrfeuer von leichter und
schwerer Flak, Maschinengewehre und Explosionen von Bomben. Die Jalousien und die
Haustür klirrten, ein oder zweimal wackelte das ganze Haus. Gegen 3 Uhr war plötzlich alles
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ganz ruhig, bis dahin wurden etwa 50 Bombeneischläge gezählt. Gegen 3:57 Uhr kam
Entwarnung, Wantzen schlief sofort ein.
20. Juni 1940: Tote durch Bomben
Am Morgen, auf dem Wege zur Redaktion, erfuhr ich dann erste Einzelheiten, u.a. auch, dass
es Tote und Verletzte gegeben habe an der Oberschlesier Straße und dass irgendwo noch 2
Leute vermisst würden. In der Redaktion erfuhr ich dann schon eine ganze Menge mehr, zumal
einige unserer Setzer unmittelbar an dem am meisten getroffenen Gebiet wohnen. Alles in allem
hörte ich: An der Oberschlesier Straße wären 3 Häuser ziemlich ganz vernichtet und 10-20
weitere so schwer getroffen, dass sie wohl geräumt werden müssten, um eingerissen zu werden.
(1* 120/639-640)
Abbildung 11: Zerstörung der Häuser 86 und 88, Garten- und- Straßenansicht. Nur Reste vom Keller blieben.
Abbildung 12: Private Todesanzeige der Eheleute Wördemann
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Maria und Ludwig Wördemann waren seit dem 20. Juni 1899 verheiratet. Er stammte aus
Glandorf, sie aus Bad Laer. Ihre zerfetzten Leichen fand man erst gegen Mittag. In der
Sterbeurkunde steht: Todesursache: Durch Volltreffer einer Fliegerbombe getötet. Sie starben
nachts um 2:10 Uhr, beerdigt wurden sie am Dienstag, den 25. Juni auf dem Zentralfriedhof,
das feierliche Seelenamt war am Mittwoch um 8 Uhr in der Heilig-Geist-Kirche.
Abbildung 13: Die Häuser Oberschlesier Straße 88 und 86, Garten- und- Straßenansicht im Frühjahr 2020
20. Juni 1940: Zerstörte Häuser
Teilweise sei die Evakuierung schon vorgenommen worden. In eine Baulücke zwischen zwei
der nur leicht und meist nur mit Schwemmsteinen gebauten Häuser sei eine schwere Bombe
gefallen, habe die Keller eingedrückt und dadurch die Häuser einstürzen lassen. Es seien dabei
im Keller 6 Personen getötet und insgesamt in den Häusern 100 verletzt worden. Es wären 16
Bomben gefallen (hinterher amtlich: fünf), die eine verheerende Wirkung gehabt hätten. Der
völlig weiß gestrichene Baublock habe aus der Luft wohl den Eindruck einer Kaserne machen
können, außerdem liegt die Schliehenkaserne in unmittelbarer Nähe. Es lägen auch noch einige
Blindgänger in der Gegend und es sei sehr viel angerichtet worden. Die Straßen hätten voller
kleiner, aber auch sehr großer Sprengstücke gelegen, die eifrigst von den Jungen eingesammelt
worden seien. (1* 120/640)
Abbildung 14: Links: 4 Tote und mehrere Verletzte in den Häusern 107 und 109.
Im Hintergrund Häuser am Sudetenweg. Rechts: Der zerstörte Keller im Haus 107
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Abbildung 15: Die Häuser Oberschlesier Straße 107 und 109 im Frühjahr 2020.
Im Hintergrund Lärmschutzwand zur Umgehungsstraße.
30 bis 40 Verletzte wurden im Clemenshospital verbunden, ein Teil musste zur Behandlung
dort bleiben. Auch im Lazarett Franziskushospital wurden Verletzte behandelt und
untergebracht. Im Reserve-Lazarett Borromäum fand wenig später ein Konzert für Verwundete
statt. Schaulustige standen vor dem Tor; sie wollten Verwundete sehen.
Abbildung 16: Ein Militär-Sanitätsauto bringt Bombenverletzte zum damaligen Clemenshospital
Schriftsetzer Anton Friedrich Tkaczuk war 1870 in Laibach (Österreich) geboren, heiratete
1899 in Münster Sophia Drunkemöller, starb am 20. Juni 1940 um 2:10 Uhr. Als Todesursache
steht in der Sterbeurkunde: Zerreißung der Bauchorgane und Verletzungen des Schädels durch
Fliegerbombe. Auf dem Zentralfriedhof wurde er am 22. Juni 1940 um 10:45 Uhr beerdigt.
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Abbildung 17: Private Todesanzeigen von Anton Friedrich Tkaczuk und Franz Hoischen
Geboren wurde Franz Hoischen 1900 in Münster, heiratete in Münster 1924 Maria Lohkamp.
Er starb am 22. Juni 1940 um 2:10 Uhr, Todesursache: Verletzung des Kopfes und der
Halsorgane, Eröffnung der Brustorgane, durch Fliegerbombe. Beerdigt wurde er auf dem
Zentralfriedhof am 25. Juni 10:45 Uhr, das feierliche Seelenamt in der Heilig-Geist-Kirche war
um 9 Uhr. Er war Inhaber des Schutzwall-Ehrenzeichens.
Abbildung 18: Private Todesanzeigen von Hubert Lange und Heinrich Pieper
Hubert Lange wurde 1899 in Dahlhausen Kreis Hattingen geboren, 1929 heiratete er in Münster
Elisabeth Tapp, er starb am 20. Juni 1940 um 2:10 Uhr, Todesursache: Gefallen beim
feindlichen Fliegerangriff. Lange war Gefreite beim Stab des Landes-Schützen-Bataillons.
Seinen Tod meldete das Oberkommando der Wehrmacht, Wehrmachtauskunftstelle für
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Kriegsverluste und Kriegsgefangene in Berlin, beim Standesamt Münster am 08. Juli 1940.
Hubert wurde auf dem Zentralfriedhof beerdigt am Montag, den 24. Juni 1940 um 10:30 Uhr,
das Seelenamt in der Heilig-Geist-Kirche war am Dienstag um 8:30 Uhr.
Heinrich Pieper wohnte mit seiner Frau Karoline Welker in Münster Am Schützenhof Nr. 23.
Auf der Oberschlesier Straße wurde er schwer verletzt, zum Clemens-Hospital transportiert, wo
er am 20. Juni um 20 Uhr starb. Todesursache Leber- und Nierenzerreißung infolge
Fliegerangriffs, Kreislaufschwäche. Pieper wurde 1901 in Münster geboren, er war seit 1929
verheiratet. Beerdigt wurde er am Dienstag, den 25. Juni 1940 um 12:15 Uhr auf dem
Zentralfriedhof, am selben Tag war morgens um 8:30 Uhr das Seelenamt in der St. Josef-
Pfarrkirche.
20. Juni 1940: Münsteraner neugierig
Nachmittags klärte sich dann das Bild in Einzelheiten. An der Oberschlesier Straße ist es am
tollsten hergegangen. Hier waren auch die 6 Toten und 27 ernsthaft Verletzten zu verzeichnen.
Zwei alte Leute hatte man mittags gegen 11:30 Uhr noch tot unter den Trümmern
hervorgezogen. Ich rief beim Kommandanten der Schutzpolizei an, der mir vertraulich die
amtlichen, oben angegebenen Zahlen nannte und auch bestätigte, dass rund 60 Bomben gefallen
seien. (1* 121/643)
Halb Münster ist übrigens in völlig undisziplinierter Weise auf der Straße gewesen, um etwas
von dem Bombenangriff zu sehen. Die Polizei und der SHD waren machtlos gegen diese
Mengen, deren Verhalten bei einem neuen Angriff unübersehbare Folgen hätte
heraufbeschwören können. Auch zur Oberschlesier Straße hat eine wahre Völkerwanderung
unmittelbar nach dem Bombenangriff eingesetzt. Alle wollten sehen, wie die Toten und
Verwundeten geborgen wurden. Das Schreien und Jammern sei weithin zu hören gewesen. (1*
121/644)
21. Juni 1940: Noch mehr Bomben
Kurz vor 2 Uhr hatte ich wohl ein Dröhnen gehört, aber nicht darüber nachgedacht und es für
schwere Flak gehalten. Es sind um diese Zeit aber, wieder an der gleichen Stelle in der
Oberschlesier Straße, fünf schwere Bomben – die Angaben schwanken zwischen 225 und 500
Kilo – heruntergekommen, von denen drei explodierten und schweren Sachschaden anrichteten,
aber niemand töteten oder verletzten, und zwei Meter tief im Boden unmittelbar vor einigen
Häusern als Blindgänger stecken blieben. Wieder wurden einige Männer und Frauen aus
unserem Betrieb – darunter Göbel und Böcker – unmittelbar betroffen. Göbel hatte mit seiner
Familie und den übrigen Bewohnern im Keller auf einer niedrigen Bank gesessen. Alle wurden
durch den Luftdruck in den Keller geschleudert und durcheinandergeworfen. Mit weinenden
Frauen und schreienden Kindern muss es schrecklich Szenen gegeben haben! In allen
umliegenden Häusern mussten die Bewohner – größtenteils nur mehr als notdürftig bekleidet –
wegen der Gefährdung der Häuser bis gegen 7:45 Uhr im Keller bleiben. Die ganze Gegend bis
einschließlich Lichterbeck an der Weseler Straße wurde streng abgesperrt. Die Männer und
Frauen, die unbedingt in kriegswichtige Betriebe zur Arbeit mussten, durften dann in
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Begleitung von Kräften der Polizei und des SHD sich kriechend die wichtigsten
Kleidungsstücke aus den Wohnungen unter allen nur erdenklichen Vorsichtsmaßregeln holen
und zur Arbeit gehen. Alle anderen, etwa 300, davon zwei Drittel in dünnen Nachthemden oder
Schlafanzügen, wurden, wie sie waren, evakuiert und in dem Saal der Feuerwehrschule bei Gut
Insel untergebracht. Es müssen sich dabei unglaubliche Szenen abgespielt haben und noch toller
im Laufe des Tages im Saale. Morgens haben sie zunächst alle Kaffee bekommen und Brötchen.
Alle wären fast mit den Nerven völlig herunter gewesen und das Unbekleidetsein habe sich
schließlich immer peinlicher gezeigt, zumal die Münsteraner, von anderswo evakuiert, auch
hier wohnten und mit in die Feuerwehrschule gekommen waren. Unflätige Witze und Zoten
wären an der Tagesordnung gewesen, Mütter mussten im Nachthemd vor all den Männern im
Saal ihre Kinder stillen usw. Die Situation sei immer untragbarer geworden. Gegen Mittag
entschloss man sich, die Leute in ganz kleinen Trupps unter fachmännische Aufsicht in die
Wohnungen zu lassen, damit sie wenigstens das Nötigste sich besorgen konnten. Für die Kinder
sei auch mittags ausgezeichnet gesorgt worden, für Erwachsene habe die Verpflegung nicht für
alle gereicht. (1*124/656-657)
24. Juni 1940: Unterbringung in der Feuerwehrschule
Abends um 20:30 Uhr gab es am Bahnhof und in den Krankenhäusern und Kasernen schon
wieder höchste Alarmbereitschaft, da englische Massenangriffe befürchtet wurden und
angeblich der Anflug von 150 englischen Maschinen gemeldet worden war. Zu Beginn des
Nachtdienstes erzählte mir unser Metteur Göbel von Schicksal der 560 um die Oberschlesier
Straße, die unvorstellbar gut und wie rohe Eier behandelt würden. Seine Frau mit den Kindern
sei in Drensteinfurt untergebracht, die anderen Evakuierten seinen mit Autos in die Hotels
Fürstenhof, Freudiger, evang. Gemeindehaus usw. gebracht worden und hätten Gutscheine für
Frühstück, Mittagessen und Abendessen erhalten. Er selbst, Göbel, sei im Feuerwehrheim
fabelhaft aufgenommen worden und habe kostenlos ein blendendes Essen, Bohnenkaffee, Bier
und Zigaretten erhalten. Man habe ihm auch Quartier, Geld und Brotmarken angeboten.
Abbildung 19: Provinzial-Feuerwehrschule 1937-1943.
Links: Südliche Ansicht von Gut Insel. Rechts: Haupteingang am Inselbogen
Da seit Sonntagmittag nach der Unschädlichmachung von zwei Blindgängern die Weseler und
die Oberschlesier Straße, der Kappenberger Damm und ein Teil der Weseler Straße schon
Samstagabend wieder freigegeben seien, habe er wie viele andere in die vorderen Räume der
Gerd Enning: Tote Nachbarn 1940
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Wohnung wieder einziehen dürfen mit strengem Verbot, den rückwärts gelegenen Hausteil zu
betreten. Gesperrt seien noch die Rüpingstraße, Franz-Hitze-Straße, Eifelstraße und der mittlere
Teil des Kappenberger Damms, eine Bombe in der Eifelstraße, deren Uhrwerk man noch immer
ticken höre, sei nämlich in den Fließsand gerutscht. Bis Sonntagmittag habe man schon einen
fünf Meter tiefen Schacht hinter ihr hergegraben. Man wolle bis zur kritischen 72. Stunde
graben und dann die Bombe sprengen. (1* 126-127 / 671-673)
Wiederaufbau der zerstörten Häuser
Die schwer beschädigten Häuser Nr. 86 und 88 sowie Nr. 107 und 109 wurden schnellstmöglich
wiederaufgebaut. Die Gauhauptstadt Münster sollte möglichst keine Bombenschäden zeigen.
Die Arbeiten wurden ausgeführt von der Bauunternehmung Theodor Schneider, Ewaldistraße
29. Willi, 94 Jahre alt, ein Bekannter von Familie Hagedorn, hat mir erzählt, dass er als
Praktikant bei Fa. Schneider beschäftigt war und beim Wiederaufbau geholfen habe. Sein
Praktikum war erforderlich für den Besuch der Baugewerkschule in Münster, daraus wurde
später die Fachhochschule Münster.
Nach dem Wiederaufbau von Nr. 107 zog die Witwe Maria Hoischen wieder in Ihre Wohnung
ein. Die Witwe Elisabeth Lange bekam eine neue Wohnung im wieder aufgebauten Haus Nr.
86, wo das Ehepaar Wördemann umkam.
Weitere Luftangriffe
Nach dem ersten Luftangriff auf Münster am 16. Mai 1940 folgten bis Dezember 1940 weitere
23 Angriffe. Münster gehörte zu den ersten deutschen Städten, denen nächtliche
Flächenbombardements galten. Nach einem nächtlichen Großangriff am 12. Juni 1943 folgte
der erste Großangriff bei Tageslicht am 10. Oktober 1943 von 15:03 bis 16:30 Uhr. Weite Teile
der Innenstadt wurden zerstört, 473 Zivilpersonen und 200 Soldaten starben an diesem sonnigen
Sonntag.
Friedrich Sonntag, Oberschlesier Straße 74, starb am 22. Oktober 1944 gegen 14:30 Uhr beim
Fliegerangriff. Sein Wohnhaus wurde vollständig zerstört. Friedrich Sonntag wurde 1887 in
Borchertsdorf Kreis Pr. Holland geboren. Seine Eltern August Sonntag und Elisabeth Sonntag
geborene Podloch sind in Borchertsdorf beerdigt. Er heiratete Henriette Karoline Adolfine
Willberg. Haus Nr. 72 wurde beim Angriff stark, Nr. 76 weniger stark beschädigt.
Der letzte und gleichzeitig verheerendste Luftangriff verwüstete am 25. März 1945 die bereits
stark in Mitleidenschaft gezogene Altstadt. In einer knappen Viertelstunde zwischen 10:06 und
10:22 Uhr wurden 112 schweren Bombern und etwa 1.800 Spreng- und 150.000 Brandbomben
abgeworfen, insgesamt 441 Tonnen. Mehr als 700 Menschen starben bei diesem Angriff. Bei
Kriegsende lebten nur noch 17 Familien innerhalb des Promenadenrings. Am 2. April 1945
(Ostermontag) wurde Münster von amerikanischen und britischen Truppen kampflos
eingenommen.
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Nachwort
Schon früh gab es an der Oberschlesier Straße einen tödlichen Unfall. Ernst Franz Wilhelm
Käufer und seine Frau Agnes Katharina geb. Strohwasser zogen am 1. September 1931 in ihr
Haus Nr. 45 ein zusammen mit den fünf Kindern: Wilhelm Ernst (Erni) *1922, Katharina
Karoline (Käthe) *1923, Ernst Bruno *1925, Elisabeth Pauline (Liesel) *1926, Helmut *1928.
Käthe, 9 Jahre, konnte ihrer Mutter schon helfen: jüngere Geschwister beaufsichtigen,
einkaufen. Sie sollte am 4. August 1933 im Lebensmitteladen Rebbert, Oberschlesier Straße
62, einkaufen. Heute wohnt dort Familie Liesner. Käthes Schwester Liesel, folgte ihr, beachtete
nicht den Möbelwagen vor Nr. 45, verunglückte, kam schwer verletzt ins Clemens-Hospital,
wo sie nachmittags um sechs ein Viertel Uhr, 6 Jahre alt, verstarb. Sie war die erste Tote durch
Unfall an der Oberschlesier Straße!
Käthe (verheiratet Adorf) hat ihr ganzes Leben lang um ihre junge Schwester getrauert. Auch
im hohen Alter machte sie sich noch Vorwürfe: hatte sie nicht genügend auf ihre Schwester
geachtet?
Quellenangaben
1* Paulheinz Wantzen: Das Leben im Krieg 1939 – 1946
Verlag DAS DOKUMENT, Bad Homburg, 2000
Angaben im Text wie z.B. 52/259 bedeuten: Buch Seite 52, im Original-Tagebuch
Seite 259
2* Stadtarchiv Münster: Kriegschronik, Münster im II. Weltkrieg
www.muenster.de/stadt/kriegschronik/chronik.html
3* Stadtarchiv Münster: Zeitungen, Zeitungsausschnitte, Fotos, Sterbeurkunden
Fotos: Abb. 7: Google; Abb. 9, 13, 15: privat; alle anderen Abb.: Stadtarchiv Münster
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Danke
Schon bei „90 Jahre wohnen an der Oberschlesier Straße“ (August 2014) und bei der zweiten
Auflage „92 Jahre Wohnen an der Oberschlesier Straße“ (August 2016) sowie bei „Haus und
Park Sentmaring“ (Juni 2017), Jesuiterbrook“ (April 2018) und „St. Ignatius Kirche“ (August
2018) hat mein Nachbar Peter Büscher mir gute Hilfen gegeben, das Layout besorgt und alles
im Straßenblog veröffentlicht unter der Netzadresse http://oberschlesier.wordpress.com. Für
seine Hilfe danke ich ihm von ganzem Herzen.
Münster, im März 2020
Gerd Enning