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VOR 25 JAHREN FIEL DER EISERNE VORHANG INTERVIEW MIT … interviu cu AB.pdfAna Blandiana war 1989...

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Ausland Mittwoch 15. Oktober 2014 Ana Blandiana war 1989 eine der Symbolfiguren des Umbruchs in Rumänien. Unter Diktator Ceaușescu stand sie unter Hausar- rest und hatte Publikationsverbot. Bis heute lässt sich der Frei- geist von niemandem vereinnahmen. Putins Vorgehen in der Ukraine erinnert die 72-jährige Schriftstellerin und Bürgerrecht- lerin an Stalins Schamlosigkeit. «Auf der Strasse wusste ich nie, ob ich verf lucht oder geküsst würde» VOR 25 JAHREN FIEL DER EISERNE VORHANG INTERVIEW MIT ANA BLANDIANA Es ist wieder Krieg in Europa, in Ihrem Nachbarland Ukraine – 75 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges und 25 Jahre nach der Wende. Was läuft da falsch in Europa? Ana Blandiana: Europas grösste Schuld sehe ich im zu grossen Vertrauen, in der übertriebenen Höflichkeit gegenüber Russland. Sie grenzt an Schmeichelei. Ein berühmtes Zitat von Lenin heisst: «Die Kapitalisten werden uns noch den Strick verkaufen, mit dem wir sie aufknüpfen.» Was bedeutet das mit Blick auf die Ukraine? Frankreich will Schiffe verkaufen und Deutschland braucht Gas, Russland ist ein immenser Marktplatz geworden. Europa hat den russischen Präsidenten immer mehr unterstützt, als es dieser verdient hätte. Wladimir Putin hat seine Nachbarländer – ganz anders als Deutschland und auch anders als seine Vorgänger Jelzin oder Gorbatschow nie um Verzeihung gebeten oder die Verbrechen der Vergangenheit wenigstens als Verbrechen aner- kannt. Denken wir doch an die Zeit nach der Machtergreifung Hitlers. Die demokratischen Länder waren gegenüber NS- Deutschland viel zu nachgiebig. Es geht nicht, dass man nichts lernt aus der Geschichte. Was wollen die Russen, was will Putin? Schon zu Sowjetzeiten hätte ich nie pauschal gesagt, dass «die Russen» schlecht sind. Sie waren vielmehr das erste Opfer des so- wjetischen Imperialismus. Aber Putin akzeptiert nicht, dass die Sowjetunion Vergangenheit ist, er will das Imperium wiederher- stellen. Das ist alles. Dabei geht er mit exakt jener Schamlosigkeit vor, die auch Stalin eigen war. Wenn ich sehe, wie Putin lügt, wie zynisch er antwortet, erinne- re ich mich an Rumänien nach 1944, als der Eiserne Vorhang er- richtet wurde. Alles lief genau nach diesem Muster ab. Sie hatten unter Diktator Ceaușescu wiederholt Publika- tionsverbot. Vor der Wende standen Sie in Bukarest unter Hausarrest, die Securitate vor dem Haus, kein Telefon, keine Korrespondenz. Dachten Sie nie an Emigration? Ich wusste immer, dass man Ru- mänien nicht einfach Ceaușescu überlassen kann. In jener düste- ren Zeit legten Menschen bei un- serem Hauseingang Blumen hin, solche stillen Zeichen der Wert- schätzung haben mir Mut ge- macht. Vor 1989 gab es keinerlei Möglichkeiten, offen Solidarität zu zeigen. Wie war die Zeit nach Ceaușescus Sturz und dessen Hinrichtung? Es gab laufend Strassenkundge- bungen mit Hunderttausenden von Menschen. Durch einen simplen Hinweis in der Zeitung brachten wir Massen auf Plätze und Strassen. Wenn ich heute die Bilder von diesen Menschen- mengen anschaue, scheint es mir unglaublich, ich hatte nicht nur teilgenommen, sondern wir hat- ten diese Meetings organisiert – zu oft auch ganz theoretischen Themen wie «Reform und Wahr- heit». 1990 war für mich das ab- solut wahnsinnigste Jahr, viel schwerer als die Jahre davor. Ich dachte damals, wenn ich nichts tue, bin auch ich mitschuldig für das, was war. Isoliert in der eigenen Wohnung und dann plötzlich im Rampen- licht: Was hat der plötzliche Rol- lenwechsel mit Ihnen gemacht? Mein Leben geriet total aus den Fugen. Die Stimmung damals in Rumänien unter dem postkom- munistischen Präsidenten Ion Iliescu war über Jahre derart aufgeheizt, beinahe hysterisch. Wenn ich einem Unbekannten auf der Strasse begegnete, wusste ich nie, ob er mich verfluchen oder küssen würde. Die normale Reaktion einer Frau darauf wä- ren zwei Ohrfeigen. Doch mein Mann Romulus Rusan beruhigte mich: «Sie küssen dich nicht als Frau, sondern als Ikone.» In der Diktatur und in der Ein- samkeit hat Sie auch das Schrei- ben gerettet. Ich habe über Jahre mit der Zen- sur gekämpft. Doch mehr Angst als vor der realen hatte ich immer vor der inneren Zensur. Das ist ein mentaler Mechanismus, der viele Schriftsteller und nicht nur sie zerstört hat. Irgend- wann habe ich geschrieben und weitergeschrieben, ohne jeden Gedanken daran, ob der Text, ob das Buch zu meinen Lebzeiten je wird erscheinen können. Schriftstellerin, Dissidentin, Bürgerrechtlerin. Als Präsidentin der Bürgerallianz waren Sie eine charismatische Figur der Oppo- sition. Wie sehen Sie Ihre aktuel- le Rolle? Ich bin stolz darauf, heute wieder einfach Schriftstellerin zu sein. Ich habe nie andere Aufgaben gesucht. Meine Pflicht war und ist es, zu schreiben, was ich glau- be. Das hat jenen an der Macht nicht gefallen. In den 1990er- Jahren bin ich durch die Ereig- nisse und Umstände zur öffent- lichen Figur geworden, das hat mich geprägt, zum Schreiben blieb da keine Zeit mehr. Mit welchem Gefühl schauen Sie heute auf jene hektischen Jahre zurück? Ich würde alles wieder tun, aber die Opfer, die ich gebracht habe, zeitigten bei weitem nicht die Folgen, die ich mir fürs Land erhofft hatte. Lech Walesa zog kürzlich an einem Anlass ein er- nüchtertes Fazit seines Kampfes für die Freiheit: «Das Böse profi- tiert mehr von der Freiheit als das Gute.» So ist es. 1996 hat die von Ihnen gegrün- dete und geführte Bürgerallianz die Wahlen gewonnen, Profes- sor Emil Constantinescu löste Iliescu als Präsident ab. Doch 4 Jahre später kehrte der Post- kommunist an die Macht zurück. Was war da schiefgelaufen? In jener Zeit ist die Indifferenz enorm gewachsen. Daran sind wir, daran ist auch die Bürger- allianz mitschuldig. Und Emil Constantinescu. Auf ihm ruhten alle Hoffnungen, ihm vertrauten die Menschen. Es hatte nicht nur eine politische, sondern eine fast religiöse Dimension. Es ging um Gut und Böse. Kurz vor der Wahl war im Alter von 81 Jahren der charismatische Oppositionsfüh- rer Corneliu Coposu gestorben. Nur die gigantische Welle der Be- troffenheit darüber in der Gesell- schaft brachte uns den Sieg. Con- stantinescu hat die Menschen und ihre Anliegen nicht verraten, aber er war schwach, zu schwach, um sich gegen die Seilschaften von Parlament und Verwaltung durchzusetzen. Er war erstarrt wie das Kaninchen vor der Schlange. Die Zerstörung der Illusionen war da vorpro- grammiert. Wie zeigte sich seine Schwäche? Ich erfuhr etwa von einem em- pörten Augenzeugen, dass die persönliche Garde des Präsiden- ten, die früher Iliescu beschützte, Schiessübungen auf das Porträt- bild von Constantinescu machte. Als ich ihn darauf ansprach, sagte er nur: «Was kann ich machen, so ist das Land.» Nach 89 gab es in der Politik ein paar alte bürgerliche Ikonen der Unbestechlichkeit wie Corneliu Coposu. Heute sehen die Men- schen Politiker oft als Inbegriff der Korruption. Warum ist die Elitebildung so schwer? Es gibt keine Vorbilder mehr in der Politik. Ich sehe da eigentlich nur Monica Macovei. Das ist der einzige Mensch in der rumäni- schen Politik, in dem ich mich wiedererkenne. Doch im politi- schen Leben spielt sie eine peri- phere Rolle. In Rumänien ist sie eine moralische Instanz: Die Schriftstellerin und Bürgerrechtlerin Ana Blandiana. Bilder Beat Mathys «Unser Leid ist unsere Mitgift. Leid und Schmerz sind auch Teil des Kulturgutes eines Volkes.» «Putin akzeptiert nicht, dass die Sowjetunion Vergangenheit ist, er will das Imperium wiederherstellen.» Sie kandidiert am 2. November immerhin für die Präsident- schaft. Monica Macovei wäre perfekt dafür, doch sie wird kaum eine Chance haben. Meine Stimme aber hat sie. Und nicht Regierungschef Victor Ponta, der als Favorit gilt? Gott behüte. Im rechten Partei- enspektrum hat Klaus Johannis, der Bürgermeister von Sibiu, die besten Chancen. Wenn man Pon- ta verhindern will, müssen sich die anderen Parteien bei allen Vorbehalten wohl auf ihn ver- ständigen. Der Siebenbürger Sachse gehört heute der Libera- len Partei an, die sich durch viele fragwürdige Kompromisse dis- kreditiert hat. Aber als Person könnte Johannis ein ausgegliche- ner und ausgleichender Präsi- dent sein. Wenn es der 42-jährige Ponta aber doch schafft? Das Problem ist überall in der Welt das gleiche: Man soll nicht einer einzigen Person oder einer einzigen Partei zu viel Macht ge- ben, sonst erliegen diese der Ver- suchung. Das ist die Gefahr in Ru- mänien mit den Postkommunis- ten von Regierungschef Ponta. Er als Präsident und eine absolute PSD-Mehrheit im Parlament, das bedeutet Diktatur. Es bedeutet die Zerstörung des Rechtsstaa- tes. Gerade im Rechtsbereich hat man in den letzten Jahren einige Fortschritte gemacht, dank der früheren Justizministerin Ma- covei und dank dem abtretenden Präsidenten Traian Băsescu. Und das gefällt vielen Politikern über- haupt nicht. Seit 1989 und seit den Iliescu- Jahren hat sich dennoch einiges getan: Rumänien gehört seit 2004 der Nato an und ist 2007 der Europäischen Union bei- getreten. Unter Iliescu gab es Verbrechen, für die er verurteilt werden müsste, das ist klar. Jetzt spre- chen wir nicht mehr von Verbre- chen, sondern von Korruption und neuen Formen der Manipu- lation. Doch die politische Klasse ist erbärmlich, auch wenn gleich- zeitig das Mass an Gewalt gesun- ken ist. Zu Iliescus Zeiten gab es im Parlament immerhin noch et- wa zehn frühere politische Häft- linge, Menschen, die ich schätzte. Heute gibt es im Parlament kei- nen Einzigen, dem Respekt ge- bührt. Keinen Einzigen? Keinen Einzigen. Das Memorial in der Provinz- stadt Sighet, im Stalinismus einst ein düsterer Kerker, wurde durch Sie und Ihren Mann zum wichtigen Ort der Erinnerung in Europa. Sie führen dort eine Sommerakademie mit Wissen- schaftern und Studenten durch. So gesehen sind Sie eine öffent- liche Figur geblieben. Die Gedenkstätte ist aus meiner Frustration über die Politik ent- standen. Mir wurde klar, dass man bei der Erziehung beginnen muss, um die Dinge wirklich zu ändern. Wir müssen zuerst ein- mal wissen, wer wir sind. Das Me- morial weist deshalb nicht in die Vergangenheit, sondern in die Gegenwart. Wie macht man das konkret? Zum Beispiel sagt man immer «Maisbrei explodiert nicht», um den angeblichen rumänischen Fatalismus zu illustrieren. Die Polen haben Solidarność, die Un- garn 1956 – und wir den Maisbrei. Dabei kam es im Stalinismus bis 1962 in weit über hundert Dör- fern im ganzen Land zu Bauern- aufständen gegen die Kollektivie- rung der Landwirtschaft, die durch Securitate-Einheiten bru- tal niedergeschlagen wurden. Es gab also durchaus einen realen Widerstand. Und wir, die wir das schlicht nicht wussten, sagten: «Mamaliga explodiert nicht.» Nur mit einer Gedenkstätte wie dem Memorial in Sighet kann man heute die Spätfolgen des Kommunismus erklären und zu verstehen lernen. Welche Bedeutung hat das Memorial für Europa? Als ich unser Projekt beim Euro- parat vorstellte, erklärte ich es so: Wir wollen ein vereinigtes Euro- pa, aber wie können wir vereinigt sein, wenn sich immer alles nur um Wirtschaft und Politik dreht? Wir müssen auch die Obsessio- nen vereinigen. Unsere sind fun- damental anders als eure, ihr kennt uns überhaupt nicht. Un- ser Leid ist unsere Mitgift. Leid und Schmerz sind auch Teil des Kulturgutes eines Volkes. Man muss den anderen zuerst verste- hen, bevor man sich mit ihm ver- einigt. Können Sie da die Reserven der Schweiz gegenüber der EU ver- stehen? Ich kenne von meinen gelegent- lichen Aufenthalten als Autorin nur die idyllische Seite der Schweiz. Manchmal scheint mir die Art riskant zu sein, wie sich die Schweiz darauf versteift, sie selber bleiben zu wollen. Die Menschen sind bescheiden, sie nehmen nur, was sie brauchen, so wie die Norweger. Dort war ich einmal mit Freunden beim Fi- schen. Sie fingen vier Fische, zwei assen wir, zwei warfen sie zurück ins Wasser. So etwas ver- steht ein Rumäne nie. Interview: Andreas Saurer SCHRIFTSTELLERIN, DISSIDENTIN, BÜRGERRECHTLERIN Die Tschechoslowakei hatte Havel, Polen Walesa, und Deutschland hat Gauck. Rumä- nien aber hat Ana Blandiana. Zwar hat es die heute 72-Jährige am 27. Dezember 1989 abge- lehnt, Vizepräsidentin zu wer- den. Ihre Unabhängigkeit zu be- wahren, war ihr auch zwei Tage nach der Hinrichtung von Dikta- tor Nicolae Ceaușescu wichtiger. In ihrer Heimat aber kennt jeder die populäre Schriftstellerin und streitbare Bürgerrechtlerin. Sie ist durch ihre Standhaftigkeit zur moralischen Instanz geworden. Nach 1989 wurde sie beim Aufbau der Zivilgesellschaft zu einer Schlüsselfigur. Und fast jeder in Rumänien kennt Arpagic, jenen von ihr 1988 in einem Kindergedicht erfunde- nen Kater, in dem sich Diktator Ceaușescu wiedererkannte und der ihr Publikationsverbot und andere Repressalien einbrachte. Ana Blandiana, Diktator Ceaușescu und der Kater Arpagic Ana Blandiana hat bisher über 30 Bücher veröffentlicht, ihre Ro- mane, Erzählungen und Gedich- te sind in 24 Sprachen übersetzt worden. Bereits 1982 wurde sie in Wien mit dem Herder-Preis ausgezeichnet. Im Gespräch erwähnt Blandia- na auch düsterste Dinge mit ei- nem entwaffnenden Lächeln. Sie kennt die Repression im Real- sozialismus und die feineren Spielarten der Manipulation im Kapitalismus. Inzwischen ge- hört Rumänien seit 10 Jahren der Nato an und ist 2007 EU-Mitglied geworden. Ihre luzide Analyse der aktuel- len politischen Lage in Europa und in Rumänien, wo Anfang November Präsidentschaftswah- len stattfinden, unterbricht Blan- diana selbst immer wieder tem- peramentvoll durch Anekdoten aus ihrem Leben und durch Ex- kurse, die weit hinein in die Ge- schichte und in die Seele ihres Volkes führen. Im Rahmen der Rumänischen Kulturtage in Bern, die das Ru- mänische Kulturinstitut Berlin 25 nach der Wende organisiert hatte, war Blandiana kürzlich in der Schweiz. Geboten wurde in Bern dabei mit elf Veranstaltun- gen an fünf Tagen ein neugierig machender Querschnitt durch Film, Musik, Folklore und Lite- ratur. asr «WEG MIT DEM KOMMUNISMUS» «1990 war für mich das absolut wahnsinnigste Jahr», sagt Ana Blandiana im Gespräch. Auf dem Universitätsplatz in Bukarest protestierten in jenem Frühling Hunderttausende gegen die Postkommunisten von Ion Ilies- cu und dessen Palastrevolte in der rumänischen Hauptstadt. Die Demonstrierenden fühlten sich um die Früchte des Volksauf- standes betrogen. In den Weih- nachtstagen 1989 waren bei Kämpfen und Schiessereien über 1100 Menschen gestorben. asr 1990: Grosskundgebungen auf dem Bukarester Universitätsplatz Emanuel Parvu NORDKOREA Wochenlang war über sein Schicksal speku- liert worden – nun zeigte sich Nordkoreas Führer nach länge- rer Abwesenheit wieder in der Öffentlichkeit. Mit einem zufriedenen Grinsen inspiziert ein offenbar gut ge- launter Kim Jong-un einen neu gebauten Wohnkomplex für Wis- senschaftler in der nordkoreani- schen Hauptstadt Pyongyang. Neben Kim stehen seine wich- tigsten Berater, darunter Hwang Pyong-so, die faktische Nummer zwei in der Staatshierarchie. Der rund 30-jährige Kim stützt sich auf einen Stock. Gestern berich- tete die staatliche Nachrichten- agentur KCNA über seinen ers- ten öffentlichen Auftritt, nach- dem er sechs Wochen lang aus dem öffentlichen Leben ver- schwunden war. Zwar kam es in der Vergangen- heit öfter vor, dass sich nordko- reanische Staatschefs länger nicht in der Öffentlichkeit zeig- ten. Für Kim, der auch wichtigen politischen Treffen fernblieb, war das aber ungewöhnlich, da er sich zuvor beinahe täglich gezeigt hatte. Seine lange Abwesenheit hatte daher Gerüchte befeuert, er sei schwer krank oder gar ent- machtet worden. Beobachter spekulieren Das Staatsmedium verlor weder ein Wort über den Gesundheits- zustand des Machthabers noch über dessen lange Abwesenheit. Es blieb ausserdem unklar, wann er den Gebäudekomplex besuch- te, üblicherweise veröffentlicht KCNA derlei Meldungen aber am Tag danach. Kim gilt als starker Raucher, ausserdem nahm er jüngst deut- lich an Gewicht zu. Er soll unter anderem an Gicht, Diabetes und Bluthochdruck leiden. Das Staatsfernsehen sprach in einem Bericht Ende September von «Unwohlsein». «Es ist noch im- mer nicht klar, ob er sich davon erholt hat oder wie schwerwie- gend das war», sagte der Nordko- rea-Experte Kim Yeon-chul von der südkoreanischen Universität in Inje. Wichtig sei Pyongyang aber offenbar gewesen, der inter- nationalen Öffentlichkeit zu zei- gen, dass Kim das Land normal regiere. Andere Experten halten das wochenlange Schweigen für eine Taktik dafür, international im Gespräch zu bleiben. sda Kim Jong-un ist wieder aufgetaucht Wie krank ist er? Kim Jong-un zeigt sich der Öffentlichkeit. Keystone UKRAINE Orientierung nach Westen Sechs Monate nach Beginn der Operation gegen prorussische Separatisten in der Ostukraine hat die Führung in Kiew die Wei- chen für einen weiteren West- kurs gestellt. Das Parlament wählte den bisherigen Chef der Nationalgarde, Stepan Poltorak, zum neuen Verteidigungsminis- ter. Zudem beschloss es eine Re- form der Staatsanwaltschaft und Schritte gegen die ausufernde Korruption. sda MEXIKO Proteste gegen Regierung Wütende Studenten haben im mexikanischen Bundesstaat Guerrero den örtlichen Regie- rungssitz in Brand gesteckt. Hun- derte Dozenten und Studenten forderten am Montag Klarheit über das Schicksal von 43 Kom- militonen, die vor zwei Wochen in Guerrero von der Polizei ver- schleppt wurden und seitdem vermisst werden. sda IRAN Neue Gespräche zu Atomprogramm Unterhändler der sogenannten 5+1-Gruppe aus den UNO-Veto- mächten und Deutschland sollen morgen in Wien erneut mit dem Iran über sein umstrittenes Atomprogramm verhandeln. Es seien Gespräche in «kompakter und komprimierter, aber den- noch vollständiger Runde», sagte Russlands Vizeaussenminister Sergei Rjabkow gestern. Dem- nach soll auch die Europäische Union vertreten sein. sda USA Sieben erschossene Kinder pro Tag In den USA werden durch- schnittlich jeden Tag sieben Kin- der und Jugendliche erschossen. Das geht aus einer neuen Studie der Organisation «Brady Cam- paign to Prevent Gun Violence» hervor, die für schärfere Waffen- gesetze kämpft. Einige der Opfer würden ermordet, andere wür- den versehentlich erschossen oder hätten sich selbst – gewollt oder ungewollt – tödliche Schüs- se zugefügt, heisst es in dem Re- port, der sich auf Zahlen aus dem Jahr 2011 stützt. sda IRAK Selbstmordattentat auf Schiiten In der irakischen Hauptstadt Bagdad sind gestern bei zwei Bombenanschlägen mindestens 28 Menschen getötet worden. Das schwerste Attentat hätten Unbekannte abermals im schi- itischen Viertel Kadhimija ver- übt, teilten Polizei, Ärzte und Vertreter des Parlamentes mit. Dort seien 25 Menschen ums Le- ben gekommen. Unter ihnen sei ein Parlamentsabgeordneter. sda FRANKREICH Nur noch 50 Prozent Atomstrom Das Energiewendegesetz der so- zialistischen Regierung, das eine Reduzierung des Atomstroms vorsieht, hat gestern die erste Hürde genommen. Die franzö- sische Nationalversammlung stimmte in erster Lesung klar für die Vorlage. Sie geht nun in den Senat. Kern des Gesetzes ist die Senkung des Anteils der Atomkraft an der Stromproduk- tion von derzeit 75 auf 50 Prozent im Jahr 2025. sda In Kürze HONGKONG Bei den pro- demokratischen Protesten hat die Polizei gestern in grösse- rem Stil mehrere Barrikaden der Demonstranten weg- geräumt. Die Hongkonger Polizei hat ges- tern Morgen damit begonnen, Zelte von Demonstranten auf Lastwagen zu laden, welche eine Spur der Verkehrsader Queens- way blockierten. In der Nacht er- richtete Sperren aus Bambus und Holzpaletten wurden mit Ket- tensägen zerlegt und wegge- schafft. Die Fahrspur nach Wes- ten war damit erstmals wieder für den Verkehr frei. Der Hauptprotestort in Admi- ralty, wo Strassen nahe des Regie- rungssitzes mit Zelten und Sper- ren besetzt sind, wurde aber nicht geräumt. «Wir werden uns nicht zurückziehen», sagte Stu- dentenführer Alex Chow. Protestgegner mischen mit Die Proteste in der früheren bri- tischen Kronkolonie dauern seit mehr als zwei Wochen an. Mitt- lerweile machen auch Protest- gegner mobil, die hinter der Re- gierung und Peking stehen. Am Vortag gab es gewaltsame Ausein- andersetzungen zwischen ver- mummten Protestgegnern und friedlichen Demonstranten. Poli- tische Bemühungen zur Lösung der bislang grössten Krise in der chinesischen Sonderverwaltungs- region sind nicht in Sicht. sda Hongkonger Polizei räumt Protestlager BARCELONA Anstelle des un- tersagten Unabhängigkeitsre- ferendums will Katalonien sei- ne Bürger in einer nicht bin- denden Abstimmung zur Los- lösung von Spanien befragen. «Es wird Wahllokale, Urnen und Stimmzettel geben», kündigte der katalanische Ministerpräsi- dent Artur Mas gestern in Barce- lona an. Das Ergebnis der «alter- nativen Abstimmung» am 9.No- vember werde allerdings nicht definitiv sein. Vielmehr solle das Votum den Weg zu Neuwahlen mit plebiszitärem Charakter frei- machen. Mas hatte am Vorabend bei einem Treffen mit katalanischen Parteiführern seinen Verzicht auf das Referendum bekannt ge- geben. Er begründete dies damit, dass die rechtlichen Vorausset- zungen nicht gegeben seien. Die spanische Zentralregierung hat- te Verfassungsklage gegen das Referendum erhoben. Madrid hatte stets argumentiert, dass nur das gesamte spanische Volk über eine Loslösung Kataloniens entscheiden könne. «Die katalanische Regierung macht keinen Rückzieher», er- klärte Mas. Bei der alternativen Abstimmung sollten den Katala- nen dieselben Fragen gestellt werden wie beim ursprünglich geplanten Referendum, die Rechtsgrundlage werde aber eine andere sein. Die spanische Regie- rung erwägt, die Abstimmung ebenfalls vor dem Verfassungs- gericht anfechten zu lassen. sda Kein Referendum, aber trotzdem eine Abstimmung 15
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AuslandMittwoch15. Oktober 2014

Ana Blandiana war 1989 eine der Symbolfiguren des Umbruchsin Rumänien. Unter Diktator Ceaușescu stand sie unter Hausar-rest und hatte Publikationsverbot. Bis heute lässt sich der Frei-geist von niemandem vereinnahmen. Putins Vorgehen in derUkraine erinnert die 72-jährige Schriftstellerin und Bürgerrecht-lerin an Stalins Schamlosigkeit.

«Auf der Strasse wusste ich nie, ob ich verflucht oder geküsst würde»VOR 25 JAHREN FIEL DER EISERNE VORHANG INTERVIEW MIT ANA BLANDIANA

Es ist wieder Krieg in Europa, inIhrem Nachbarland Ukraine – 75Jahre nach Beginn des ZweitenWeltkrieges und 25 Jahre nachder Wende. Was läuft da falschin Europa?Ana Blandiana: Europas grössteSchuld sehe ich im zu grossenVertrauen, in der übertriebenenHöflichkeit gegenüber Russland.Sie grenzt an Schmeichelei. Einberühmtes Zitat von Leninheisst: «Die Kapitalisten werdenuns noch den Strick verkaufen,mit dem wir sie aufknüpfen.»Was bedeutet das mit Blick aufdie Ukraine?Frankreich will Schiffe verkaufenund Deutschland braucht Gas,Russland ist ein immenserMarktplatz geworden. Europahat den russischen Präsidentenimmer mehr unterstützt, als esdieser verdient hätte. WladimirPutin hat seine Nachbarländer –ganz anders als Deutschland undauch anders als seine VorgängerJelzin oder Gorbatschow – nieum Verzeihung gebeten oder dieVerbrechen der Vergangenheitwenigstens als Verbrechen aner-kannt. Denken wir doch an dieZeit nach der MachtergreifungHitlers. Die demokratischenLänder waren gegenüber NS-Deutschland viel zu nachgiebig.Es geht nicht, dass man nichtslernt aus der Geschichte.Was wollen die Russen, was willPutin?Schon zu Sowjetzeiten hätte ichnie pauschal gesagt, dass «dieRussen» schlecht sind. Sie warenvielmehr das erste Opfer des so-wjetischen Imperialismus. AberPutin akzeptiert nicht, dass dieSowjetunion Vergangenheit ist,er will das Imperium wiederher-stellen. Das ist alles. Dabei geht ermit exakt jener Schamlosigkeitvor, die auch Stalin eigen war.Wenn ich sehe, wie Putin lügt,wie zynisch er antwortet, erinne-re ich mich an Rumänien nach1944, als der Eiserne Vorhang er-richtet wurde. Alles lief genaunach diesem Muster ab.Sie hatten unter DiktatorCeaușescu wiederholt Publika-tionsverbot. Vor der Wendestanden Sie in Bukarest unterHausarrest, die Securitate vordem Haus, kein Telefon, keineKorrespondenz. Dachten Sie niean Emigration?Ich wusste immer, dass man Ru-mänien nicht einfach Ceaușescuüberlassen kann. In jener düste-ren Zeit legten Menschen bei un-serem Hauseingang Blumen hin,solche stillen Zeichen der Wert-schätzung haben mir Mut ge-macht. Vor 1989 gab es keinerleiMöglichkeiten, offen Solidaritätzu zeigen.Wie war die Zeit nach

Ceaușescus Sturz und dessenHinrichtung?Es gab laufend Strassenkundge-bungen mit Hunderttausendenvon Menschen. Durch einensimplen Hinweis in der Zeitungbrachten wir Massen auf Plätzeund Strassen. Wenn ich heute dieBilder von diesen Menschen-mengen anschaue, scheint es mirunglaublich, ich hatte nicht nurteilgenommen, sondern wir hat-ten diese Meetings organisiert –zu oft auch ganz theoretischenThemen wie «Reform und Wahr-heit». 1990 war für mich das ab-solut wahnsinnigste Jahr, vielschwerer als die Jahre davor. Ichdachte damals, wenn ich nichtstue, bin auch ich mitschuldig fürdas, was war.Isoliert in der eigenen Wohnungund dann plötzlich im Rampen-licht: Was hat der plötzliche Rol-lenwechsel mit Ihnen gemacht?Mein Leben geriet total aus denFugen. Die Stimmung damals inRumänien unter dem postkom-munistischen Präsidenten IonIliescu war über Jahre derartaufgeheizt, beinahe hysterisch.Wenn ich einem Unbekanntenauf der Strasse begegnete, wussteich nie, ob er mich verfluchenoder küssen würde. Die normaleReaktion einer Frau darauf wä-ren zwei Ohrfeigen. Doch meinMann Romulus Rusan beruhigtemich: «Sie küssen dich nicht alsFrau, sondern als Ikone.»In der Diktatur und in der Ein-samkeit hat Sie auch das Schrei-ben gerettet.Ich habe über Jahre mit der Zen-sur gekämpft. Doch mehr Angstals vor der realen hatte ich immervor der inneren Zensur. Das istein mentaler Mechanismus, derviele Schriftsteller – und nichtnur sie – zerstört hat. Irgend-wann habe ich geschrieben undweitergeschrieben, ohne jedenGedanken daran, ob der Text, obdas Buch zu meinen Lebzeiten jewird erscheinen können.Schriftstellerin, Dissidentin,Bürgerrechtlerin. Als Präsidentinder Bürgerallianz waren Sie einecharismatische Figur der Oppo-sition. Wie sehen Sie Ihre aktuel-le Rolle?Ich bin stolz darauf, heute wiedereinfach Schriftstellerin zu sein.Ich habe nie andere Aufgabengesucht. Meine Pflicht war undist es, zu schreiben, was ich glau-be. Das hat jenen an der Machtnicht gefallen. In den 1990er-Jahren bin ich durch die Ereig-nisse und Umstände zur öffent-lichen Figur geworden, das hatmich geprägt, zum Schreibenblieb da keine Zeit mehr.Mit welchem Gefühl schauen Sieheute auf jene hektischen Jahrezurück?

Ich würde alles wieder tun, aberdie Opfer, die ich gebracht habe,zeitigten bei weitem nicht dieFolgen, die ich mir fürs Landerhofft hatte. Lech Wałesa zogkürzlich an einem Anlass ein er-nüchtertes Fazit seines Kampfesfür die Freiheit: «Das Böse profi-tiert mehr von der Freiheit als dasGute.» So ist es.1996 hat die von Ihnen gegrün-dete und geführte Bürgerallianzdie Wahlen gewonnen, Profes-sor Emil Constantinescu lösteIliescu als Präsident ab. Doch4 Jahre später kehrte der Post-kommunist an die Macht zurück.Was war da schiefgelaufen?In jener Zeit ist die Indifferenzenorm gewachsen. Daran sind

wir, daran ist auch die Bürger-allianz mitschuldig. Und EmilConstantinescu. Auf ihm ruhtenalle Hoffnungen, ihm vertrautendie Menschen. Es hatte nicht nureine politische, sondern eine fastreligiöse Dimension. Es ging umGut und Böse. Kurz vor der Wahlwar im Alter von 81 Jahren dercharismatische Oppositionsfüh-rer Corneliu Coposu gestorben.Nur die gigantische Welle der Be-troffenheit darüber in der Gesell-schaft brachte uns den Sieg. Con-stantinescu hat die Menschenund ihre Anliegen nicht verraten,aber er war schwach, zu schwach,um sich gegen die Seilschaftenvon Parlament und Verwaltungdurchzusetzen. Er war erstarrt

wie das Kaninchen vor derSchlange. Die Zerstörung derIllusionen war da vorpro-grammiert.Wie zeigte sich seine Schwäche?Ich erfuhr etwa von einem em-pörten Augenzeugen, dass diepersönliche Garde des Präsiden-ten, die früher Iliescu beschützte,Schiessübungen auf das Porträt-bild von Constantinescu machte.Als ich ihn darauf ansprach, sagteer nur: «Was kann ich machen, soist das Land.»Nach 89 gab es in der Politik einpaar alte bürgerliche Ikonen derUnbestechlichkeit wie CorneliuCoposu. Heute sehen die Men-schen Politiker oft als Inbegriffder Korruption. Warum ist dieElitebildung so schwer?Es gibt keine Vorbilder mehr inder Politik. Ich sehe da eigentlichnur Monica Macovei. Das ist dereinzige Mensch in der rumäni-schen Politik, in dem ich michwiedererkenne. Doch im politi-schen Leben spielt sie eine peri-phere Rolle.

In Rumänien ist sie eine moralische Instanz: Die Schriftstellerin und Bürgerrechtlerin Ana Blandiana. Bilder Beat Mathys

«Unser Leid istunsere Mitgift.Leid und Schmerzsind auch Teildes Kulturguteseines Volkes.»

«Putin akzeptiertnicht, dass dieSowjetunionVergangenheit ist,er will das Imperiumwiederherstellen.»

Sie kandidiert am 2.Novemberimmerhin für die Präsident-schaft.Monica Macovei wäre perfektdafür, doch sie wird kaum eineChance haben. Meine Stimmeaber hat sie.Und nicht Regierungschef VictorPonta, der als Favorit gilt?Gott behüte. Im rechten Partei-enspektrum hat Klaus Johannis,der Bürgermeister von Sibiu, diebesten Chancen. Wenn man Pon-ta verhindern will, müssen sichdie anderen Parteien bei allenVorbehalten wohl auf ihn ver-ständigen. Der SiebenbürgerSachse gehört heute der Libera-len Partei an, die sich durch vielefragwürdige Kompromisse dis-kreditiert hat. Aber als Personkönnte Johannis ein ausgegliche-ner und ausgleichender Präsi-dent sein.Wenn es der 42-jährige Pontaaber doch schafft?Das Problem ist überall in derWelt das gleiche: Man soll nichteiner einzigen Person oder einereinzigen Partei zu viel Macht ge-ben, sonst erliegen diese der Ver-suchung. Das ist die Gefahr in Ru-mänien mit den Postkommunis-ten von Regierungschef Ponta. Erals Präsident und eine absolutePSD-Mehrheit im Parlament, dasbedeutet Diktatur. Es bedeutetdie Zerstörung des Rechtsstaa-tes. Gerade im Rechtsbereich hatman in den letzten Jahren einigeFortschritte gemacht, dank derfrüheren Justizministerin Ma-covei und dank dem abtretendenPräsidenten Traian Băsescu. Unddas gefällt vielen Politikern über-haupt nicht.Seit 1989 und seit den Iliescu-Jahren hat sich dennoch einiges

getan: Rumänien gehört seit2004 der Nato an und ist 2007der Europäischen Union bei-getreten.Unter Iliescu gab es Verbrechen,für die er verurteilt werdenmüsste, das ist klar. Jetzt spre-chen wir nicht mehr von Verbre-chen, sondern von Korruptionund neuen Formen der Manipu-lation. Doch die politische Klasseist erbärmlich, auch wenn gleich-zeitig das Mass an Gewalt gesun-ken ist. Zu Iliescus Zeiten gab esim Parlament immerhin noch et-wa zehn frühere politische Häft-linge, Menschen, die ich schätzte.Heute gibt es im Parlament kei-nen Einzigen, dem Respekt ge-bührt.Keinen Einzigen?Keinen Einzigen.Das Memorial in der Provinz-stadt Sighet, im Stalinismuseinst ein düsterer Kerker, wurdedurch Sie und Ihren Mann zumwichtigen Ort der Erinnerung inEuropa. Sie führen dort eineSommerakademie mit Wissen-schaftern und Studenten durch.So gesehen sind Sie eine öffent-liche Figur geblieben.Die Gedenkstätte ist aus meinerFrustration über die Politik ent-standen. Mir wurde klar, dassman bei der Erziehung beginnenmuss, um die Dinge wirklich zuändern. Wir müssen zuerst ein-mal wissen, wer wir sind. Das Me-morial weist deshalb nicht in dieVergangenheit, sondern in dieGegenwart.Wie macht man das konkret?Zum Beispiel sagt man immer«Maisbrei explodiert nicht», umden angeblichen rumänischenFatalismus zu illustrieren. DiePolen haben Solidarność, die Un-garn 1956 – und wir den Maisbrei.Dabei kam es im Stalinismus bis1962 in weit über hundert Dör-fern im ganzen Land zu Bauern-aufständen gegen die Kollektivie-rung der Landwirtschaft, diedurch Securitate-Einheiten bru-tal niedergeschlagen wurden. Esgab also durchaus einen realenWiderstand. Und wir, die wir dasschlicht nicht wussten, sagten:«Mamaliga explodiert nicht.»Nur mit einer Gedenkstätte wiedem Memorial in Sighet kannman heute die Spätfolgen desKommunismus erklären und zuverstehen lernen.Welche Bedeutung hat dasMemorial für Europa?Als ich unser Projekt beim Euro-parat vorstellte, erklärte ich es so:Wir wollen ein vereinigtes Euro-pa, aber wie können wir vereinigtsein, wenn sich immer alles nurum Wirtschaft und Politik dreht?Wir müssen auch die Obsessio-nen vereinigen. Unsere sind fun-damental anders als eure, ihrkennt uns überhaupt nicht. Un-ser Leid ist unsere Mitgift. Leidund Schmerz sind auch Teil desKulturgutes eines Volkes. Manmuss den anderen zuerst verste-hen, bevor man sich mit ihm ver-einigt.Können Sie da die Reserven derSchweiz gegenüber der EU ver-stehen?Ich kenne von meinen gelegent-lichen Aufenthalten als Autorinnur die idyllische Seite derSchweiz. Manchmal scheint mirdie Art riskant zu sein, wie sichdie Schweiz darauf versteift, sieselber bleiben zu wollen. DieMenschen sind bescheiden, sienehmen nur, was sie brauchen, sowie die Norweger. Dort war icheinmal mit Freunden beim Fi-schen. Sie fingen vier Fische,zwei assen wir, zwei warfen siezurück ins Wasser. So etwas ver-steht ein Rumäne nie.

Interview: Andreas Saurer

SCHRIFTSTELLERIN, DISSIDENTIN, BÜRGERRECHTLERIN

Die Tschechoslowakei hatteHavel, Polen Wałesa, undDeutschland hat Gauck. Rumä-nien aber hat Ana Blandiana.Zwar hat es die heute 72-Jährigeam 27.Dezember 1989 abge-lehnt, Vizepräsidentin zu wer-den. Ihre Unabhängigkeit zu be-wahren, war ihr auch zwei Tagenach der Hinrichtung von Dikta-tor Nicolae Ceaușescu wichtiger.In ihrer Heimat aber kennt jederdie populäre Schriftstellerin und

streitbare Bürgerrechtlerin. Sieist durch ihre Standhaftigkeit zurmoralischen Instanz geworden.Nach 1989 wurde sie beimAufbau der Zivilgesellschaft zueiner Schlüsselfigur.

Und fast jeder in RumänienkenntArpagic, jenenvon ihr1988in einem Kindergedicht erfunde-nen Kater, in dem sich DiktatorCeaușescu wiedererkannte undder ihr Publikationsverbot undandere Repressalien einbrachte.

Ana Blandiana, Diktator Ceaușescu und der Kater ArpagicAna Blandiana hat bisher über

30 Bücher veröffentlicht, ihre Ro-mane, Erzählungen und Gedich-te sind in 24 Sprachen übersetztworden. Bereits 1982 wurde siein Wien mit dem Herder-Preisausgezeichnet.

Im Gespräch erwähnt Blandia-na auch düsterste Dinge mit ei-nem entwaffnenden Lächeln. Siekennt die Repression im Real-sozialismus und die feinerenSpielarten der Manipulation im

Kapitalismus. Inzwischen ge-hört Rumänien seit 10 Jahren derNato an und ist 2007 EU-Mitgliedgeworden.

Ihre luzide Analyse der aktuel-len politischen Lage in Europaund in Rumänien, wo AnfangNovember Präsidentschaftswah-len stattfinden, unterbricht Blan-diana selbst immer wieder tem-peramentvoll durch Anekdotenaus ihrem Leben und durch Ex-kurse, die weit hinein in die Ge-

schichte und in die Seele ihresVolkes führen.

Im Rahmen der RumänischenKulturtage in Bern, die das Ru-mänische Kulturinstitut Berlin25 nach der Wende organisierthatte, war Blandiana kürzlich inder Schweiz. Geboten wurde inBern dabei mit elf Veranstaltun-gen an fünf Tagen ein neugierigmachender Querschnitt durchFilm, Musik, Folklore und Lite-ratur. asr

«WEG MIT DEM KOMMUNISMUS»

«1990 war für mich das absolutwahnsinnigste Jahr», sagt AnaBlandiana im Gespräch. Auf demUniversitätsplatz in Bukarestprotestierten in jenem Frühling

Hunderttausende gegen diePostkommunisten von Ion Ilies-cu und dessen Palastrevolte inder rumänischenHauptstadt.DieDemonstrierenden fühlten sich

um die Früchte des Volksauf-standes betrogen. In den Weih-nachtstagen 1989 waren beiKämpfen und Schiessereien über1100 Menschen gestorben. asr

1990: Grosskundgebungen auf dem Bukarester Universitätsplatz

Emanuel Parvu

NORDKOREA Wochenlangwar über sein Schicksal speku-liert worden – nun zeigte sichNordkoreas Führer nach länge-rer Abwesenheit wieder in derÖffentlichkeit.

Mit einem zufriedenen Grinseninspiziert ein offenbar gut ge-launter Kim Jong-un einen neugebauten Wohnkomplex für Wis-senschaftler in der nordkoreani-schen Hauptstadt Pyongyang.Neben Kim stehen seine wich-tigsten Berater, darunter HwangPyong-so, die faktische Nummerzwei in der Staatshierarchie. Derrund 30-jährige Kim stützt sichauf einen Stock. Gestern berich-tete die staatliche Nachrichten-agentur KCNA über seinen ers-ten öffentlichen Auftritt, nach-dem er sechs Wochen lang ausdem öffentlichen Leben ver-schwunden war.

Zwar kam es in der Vergangen-heit öfter vor, dass sich nordko-reanische Staatschefs längernicht in der Öffentlichkeit zeig-ten. Für Kim, der auch wichtigenpolitischen Treffen fernblieb,war das aber ungewöhnlich, da ersich zuvor beinahe täglich gezeigthatte. Seine lange Abwesenheithatte daher Gerüchte befeuert, ersei schwer krank oder gar ent-machtet worden.

Beobachter spekulierenDas Staatsmedium verlor wederein Wort über den Gesundheits-zustand des Machthabers nochüber dessen lange Abwesenheit.Es blieb ausserdem unklar, wann

er den Gebäudekomplex besuch-te, üblicherweise veröffentlichtKCNA derlei Meldungen aber amTag danach.

Kim gilt als starker Raucher,ausserdem nahm er jüngst deut-lich an Gewicht zu. Er soll unteranderem an Gicht, Diabetes undBluthochdruck leiden. DasStaatsfernsehen sprach in einemBericht Ende September von«Unwohlsein». «Es ist noch im-mer nicht klar, ob er sich davonerholt hat oder wie schwerwie-gend das war», sagte der Nordko-rea-Experte Kim Yeon-chul vonder südkoreanischen Universitätin Inje. Wichtig sei Pyongyangaber offenbar gewesen, der inter-nationalen Öffentlichkeit zu zei-gen, dass Kim das Land normalregiere. Andere Experten haltendas wochenlange Schweigen füreine Taktik dafür, internationalim Gespräch zu bleiben. sda

Kim Jong-un istwieder aufgetaucht

Wie krank ist er? Kim Jong-un zeigtsich der Öffentlichkeit. Keystone

UKRAINE

Orientierungnach WestenSechs Monate nach Beginn derOperation gegen prorussischeSeparatisten in der Ostukrainehat die Führung in Kiew die Wei-chen für einen weiteren West-kurs gestellt. Das Parlamentwählte den bisherigen Chef derNationalgarde, Stepan Poltorak,zum neuen Verteidigungsminis-ter. Zudem beschloss es eine Re-form der Staatsanwaltschaft undSchritte gegen die ausuferndeKorruption. sda

MEXIKO

Proteste gegenRegierungWütende Studenten haben immexikanischen BundesstaatGuerrero den örtlichen Regie-rungssitz in Brand gesteckt. Hun-derte Dozenten und Studentenforderten am Montag Klarheitüber das Schicksal von 43 Kom-militonen, die vor zwei Wochenin Guerrero von der Polizei ver-schleppt wurden und seitdemvermisst werden. sda

IRAN

Neue Gesprächezu AtomprogrammUnterhändler der sogenannten5+1-Gruppe aus den UNO-Veto-mächten und Deutschland sollenmorgen in Wien erneut mit demIran über sein umstrittenesAtomprogramm verhandeln. Esseien Gespräche in «kompakterund komprimierter, aber den-noch vollständiger Runde», sagteRusslands VizeaussenministerSergei Rjabkow gestern. Dem-nach soll auch die EuropäischeUnion vertreten sein. sda

USA

Sieben erschosseneKinder pro TagIn den USA werden durch-schnittlich jeden Tag sieben Kin-der und Jugendliche erschossen.Das geht aus einer neuen Studieder Organisation «Brady Cam-paign to Prevent Gun Violence»hervor, die für schärfere Waffen-gesetze kämpft. Einige der Opferwürden ermordet, andere wür-den versehentlich erschossenoder hätten sich selbst – gewolltoder ungewollt – tödliche Schüs-se zugefügt, heisst es in dem Re-port, der sich auf Zahlen aus demJahr 2011 stützt. sda

IRAK

Selbstmordattentatauf SchiitenIn der irakischen HauptstadtBagdad sind gestern bei zweiBombenanschlägen mindestens28 Menschen getötet worden.Das schwerste Attentat hättenUnbekannte abermals im schi-itischen Viertel Kadhimija ver-übt, teilten Polizei, Ärzte undVertreter des Parlamentes mit.Dort seien 25 Menschen ums Le-ben gekommen. Unter ihnen seiein Parlamentsabgeordneter. sda

FRANKREICH

Nur noch 50 ProzentAtomstromDas Energiewendegesetz der so-zialistischen Regierung, das eineReduzierung des Atomstromsvorsieht, hat gestern die ersteHürde genommen. Die franzö-sische Nationalversammlungstimmte in erster Lesung klarfür die Vorlage. Sie geht nun inden Senat. Kern des Gesetzes istdie Senkung des Anteils derAtomkraft an der Stromproduk-tion von derzeit 75 auf 50 Prozentim Jahr 2025. sda

InKürze

HONGKONG Bei den pro-demokratischen Protesten hatdie Polizei gestern in grösse-rem Stil mehrere Barrikadender Demonstranten weg-geräumt.

Die Hongkonger Polizei hat ges-tern Morgen damit begonnen,Zelte von Demonstranten aufLastwagen zu laden, welche eineSpur der Verkehrsader Queens-way blockierten. In der Nacht er-richtete Sperren aus Bambus undHolzpaletten wurden mit Ket-tensägen zerlegt und wegge-schafft. Die Fahrspur nach Wes-ten war damit erstmals wiederfür den Verkehr frei.

Der Hauptprotestort in Admi-ralty, wo Strassen nahe des Regie-

rungssitzes mit Zelten und Sper-ren besetzt sind, wurde abernicht geräumt. «Wir werden unsnicht zurückziehen», sagte Stu-dentenführer Alex Chow.

Protestgegner mischen mitDie Proteste in der früheren bri-tischen Kronkolonie dauern seitmehr als zwei Wochen an. Mitt-lerweile machen auch Protest-gegner mobil, die hinter der Re-gierung und Peking stehen. AmVortag gab es gewaltsame Ausein-andersetzungen zwischen ver-mummten Protestgegnern undfriedlichen Demonstranten. Poli-tische Bemühungen zur Lösungder bislang grössten Krise in derchinesischen Sonderverwaltungs-region sind nicht in Sicht. sda

Hongkonger Polizeiräumt Protestlager

BARCELONA Anstelle des un-tersagten Unabhängigkeitsre-ferendums will Katalonien sei-ne Bürger in einer nicht bin-denden Abstimmung zur Los-lösung von Spanien befragen.

«Es wird Wahllokale, Urnen undStimmzettel geben», kündigteder katalanische Ministerpräsi-dent Artur Mas gestern in Barce-lona an. Das Ergebnis der «alter-nativen Abstimmung» am 9. No-vember werde allerdings nichtdefinitiv sein. Vielmehr solle dasVotum den Weg zu Neuwahlenmit plebiszitärem Charakter frei-machen.

Mas hatte am Vorabend beieinem Treffen mit katalanischenParteiführern seinen Verzichtauf das Referendum bekannt ge-

geben. Er begründete dies damit,dass die rechtlichen Vorausset-zungen nicht gegeben seien. Diespanische Zentralregierung hat-te Verfassungsklage gegen dasReferendum erhoben. Madridhatte stets argumentiert, dassnur das gesamte spanische Volküber eine Loslösung Kataloniensentscheiden könne.

«Die katalanische Regierungmacht keinen Rückzieher», er-klärte Mas. Bei der alternativenAbstimmung sollten den Katala-nen dieselben Fragen gestelltwerden wie beim ursprünglichgeplanten Referendum, dieRechtsgrundlage werde aber eineandere sein. Die spanische Regie-rung erwägt, die Abstimmungebenfalls vor dem Verfassungs-gericht anfechten zu lassen. sda

Kein Referendum, abertrotzdem eine Abstimmung

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