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Von Der Selbsbestimmung Zur Autopoiesis. Bossolani, Iderpaulo C.

Date post: 12-Oct-2015
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Hans KelsenNiklas LuhmannSystemtheorieRechtswissenschaft
28
 Von der Selbstbestimmung zur Autopoiesis: die Selbstreferenz als ein Merkmal der Rechtssyst ematik Grundlagenseminar Methodenlehre und Dogmatik Thema 5: Systematik Prof. Dr. Jens Kersten Prof. Dr. Hans Christoph Grigoleit vorgelegt von: Iderpaulo Carvalho Bossolani Christoph-Probst-Straße 16, App. 430 80805 München [email protected] Fachsemester 02 - Austauschstudent Wintersemester 2013/14
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  • Von der Selbstbestimmung zur Autopoiesis: die Selbstreferenz als ein Merkmal der Rechtssystematik

    Grundlagenseminar Methodenlehre und Dogmatik

    Thema 5: Systematik Prof. Dr. Jens Kersten

    Prof. Dr. Hans Christoph Grigoleit

    vorgelegt von:

    Iderpaulo Carvalho Bossolani Christoph-Probst-Strae 16, App. 430

    80805 Mnchen [email protected]

    Fachsemester 02 - Austauschstudent

    Wintersemester 2013/14

  • ! 2!

    Inhaltverzeichnis

    LITERATURVERZEICHNIS!................................................................................................................................!3!

    1. EINLEITUNG: SYSTEMBEGRIFF UND FRAGESTELLUNG DER SYSTEMATIK!...........................!5!

    2. DAS UERE SYSTEM UND DAS INNERE SYSTEM!.............................................................................!6!

    3. DIE REINE RECHTSLEHRE HANS KELSENS!.............................................................................................!8!3.1 DAS INNERE SYSTEM DES POSITIVEN RECHTES: DAS RECHT UND SEINE SELBSTBESTIMMUNG!...........!8!3.2 GRUNDLAGEN DER REINEN RECHTSLEHRE HANS KELSENS!.............................................................................!10!3.3. RECHTSDYNAMIK DER REINEN RECHTSLEHRE: GRUNDNORM UND DELEGATION DER GELTUNG IN

    DEM STUFENBAU DER RECHTSNORMEN!........................................................................................................................!11!3.4 DIE GRUNDNORM ALS ELEMENT DER RECHTSWISSENSCHAFT UND ALS ELEMENT DES POSITIVEN

    RECHTS!.....................................................................................................................................................................................!14!3.5. FOLGE DES DOPPELTEN CHARAKTERS DER GRUNDNORM FR DIE SYSTEMTHEORIE KELSENS!.........!15!

    4. LUHMANNS THEORIE DER SOZIALEN SYSTEME!...............................................................................!17!4.1. LUHMANNS SUPERTHEORIE UND DER PARADIGMAWECHSEL IN DER SYSTEMATIK!................................!17!4.2. SYSTEM/UMWELT BEI DEM AUTOPOIETISCHEN PARADIGMA!........................................................................!18!4.3. DAS RECHT ALS SOZIALES SYSTEM!.......................................................................................................................!20!4.4. DIE VERFASSUNG ALS STRUKTURELLE KOPPLUNG ZWISCHEN POLITIK UND RECHT!...........................!22!4.5. KRITISCHE BEMERKUNGEN ZUR THEORIE LUHMANNS!.....................................................................................!24!

    5. SCHLUSSBETRACHTUNG: DIE ELEGANTE HOFFNUNG ALLER SYSTEMTHEORIEN!...........!26!

  • ! 3!

    Literaturverzeichnis Bobbio, Norberto, Dalla struttura alla funzione: nuovi studi di teoria del diritto, 2. Aufl., Mailand 1984 Baraldi, Claudio/Corsi, Giancarlo/Sposito, Helena, GLU: Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie Sozialer Systeme, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1998 Canaris, Claus-Wilhelm, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz: entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, 2. berarbeitete Aufl., Berlin 1983 Jestaedt, Matthias, Geltung des Systems und Geltung im System, JZ 2013, S. 1009-1060 Jestaedt, Matthias (Hrsg.), Reine Rechtslehre: Studienausgabe der 1. Auflage, Tbingen 2008. Kelsen, Hans, Allgemeine Theorie der Normen, hrsg. von Kurt Ringhofer u. Robert Walter, Wien/Manz 1979 Kelsen, Hans, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1961 Kelsen, Hans, Reine Rechtslehre, hrsg. von Matthias Jestaedt, Studienausgabe der 1. Auflage 1934, Tbingen 2008 Kelsen, Hans, Was ist die Reine Rechtslehre?, in Klecatsky/ Marcic/ Schambeck (Hrsg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule: Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, Wien (u.a.) 1968, Bd. 1, S. 611-629 Losano, Mario G., Sistema e Struttura nel Diritto: Dalle origini alla Scuola storica, Mailand 2002, Bd. 1 Losano, Mario G., Sistema e Struttura nel Diritto: Il novecento, Mailand 2002, Bd. 2 Losano, Mario G., Sistema e Struttura nel Diritto: Dal Novecento alla postmodernit, Mailand 2002, Bd. 3 Losano, Mario G., Das Systemdenken in den romanischen Lndern und die Rezeption des Buches von Canaris, in Festschrift fr Claus-Wilhelm Canaris zum 70. Geburtstag, Mnchen 2007, S.1201-1221 Losano, Mario G., Die elegante Hoffnung: Systembegriff und Systemdenken in der neueren Rechtsgeschichte, Hannoversche Vorlesung 1997/1998, Mailand 1998 Luhmann, Niklas, Das Recht der Gesellschaft, 1. Aufl., Frankfurt am Main 1993 Luhmann, Niklas, Rechtssoziologie, 4. Aufl., Wiesbaden 2008

  • ! 4!

    Luhmann, Niklas, Soziale Systeme: Grundri einer allgemeinen Theorie, 15. Aufl., Frankfurt am Main 2012 Merkl, Adolf, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in Klecatsky/ Marcic/ Schambeck (Hrsg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule: Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, Wien (u.a.), 1968, Bd. 2, S. 1311-1361 Neves, Marcelo, Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft: Von Luhmann zu Kelsen, ARSP 2007, S. 363-395. Neves, Marcelo, Symbolische Konstitutionalisierung, Berlin 1998 Neves, Marcelo, Von der Autopoiesis zur Allopoiesis des Rechts, in Rechtstheorie, Berlin 2003, S. 245-268 Neves, Marcelo, Zwischen Themis und Leviathan: Eine schwierige Beziehung - Eine Rekonstruktion des demokratischen Rechtsstaats in Auseinandersetzung mit Luhmann und Habermas, Baden-Baden 2000 Radbruch, Gustav, Zur Systematik der Verbrechenslehre, in Hegler (Hrsg.), Beitrge zur Strafrechtswissenschaft, Festgabe fr Reinhard von Frank, Tbingen 1930, Bd. 1, S. 158-173 Reese-Schfer, Walter, Niklas Luhmann zur Einfhrung, 5. ergnzte Aufl., Hamburg 2005 Verdross, Alfred, Die Rechtstheorie Hans Kelsens, in Klecatsky/ Marcic/ Schambeck (Hrsg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule: Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, Wien (u.a.) 1968, Bd. 2, 1301-1309 !

  • ! 5!

    1. Einleitung: Systembegriff und Fragestellung der Systematik

    Auf der Suche nach dem Wesen des Rechts benutzen Juristen und Philosophen oft das

    Wort System, ohne zu erklren, was man unter dem Begriff Rechtssystem verstehen soll. Da

    dieser Begriff verschiedene Bedeutungen hat, ist es nicht bertrieben zu behaupten, dass jeder in

    der Rechtsforschung engagierte Jurist ihn nach seiner eigenen Auffassung benutzt1.

    Es wrde ber den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen, die semantische Entwicklung des

    Wortes System darzustellen 2 . Man kann dasselbe auch ber die Entwicklung des

    Systemdenkens in der Jurisprudenz sagen. Tatschlich ist der Systemgedanke ein Thema, das die

    ganze Geschichte des Rechtsdenkens durchzieht und deswegen kann er dem Juristen bei der

    Beobachtung der ganzen Rechtsmaterie helfen3.

    Nach Canaris sind die Ordnung und die Einheit zwei besondere Merkmale der

    Definitionen des Systembegriffs4. Das Ziel dieser Arbeit ist, die Idee der Selbstreferenz auch als

    ein Merkmal der Rechtssystematik darzustellen.

    Die Selbstreferenz bezeichnet die Fhigkeit des Rechtssystems, seine eigene Erzeugung

    und Anwendung zu regeln, das heit, seine eigenen Grenzen zu bestimmen. Man wird sehen,

    dass diese Eigentmlichkeit des Rechts bei zwei verschiedenen Theorien, nmlich der Reinen

    Rechtslehre Hans Kelsens (unten, 3. Teil) und der Theorie der Sozialen Systeme Luhmanns

    (unten, 4. Teil), eine wesentliche Rolle spielt.

    Zunchst muss man sich jedoch mit der uerst wichtigen Frage der Systematik

    beschftigen. Die vielleicht umstrittenste Frage in diesem Zusammenhang ist, ob die

    Wissenschaften eine Ordnung in die Sachen hineinbringen, oder ob die Sachen schon eine innere

    Ordnung haben, die lediglich von den Forschern erkannt werden sollte. Liegt das System

    auerhalb der Sachen oder in den Sachen selbst? Genauer und durch eine philosophische !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!1Beim Systemgedanken handelt es sich um einen Komplizierten und disparaten Gegenstand, Christian Bumke, Relative Rechtswidrigkeit. Systembildung und Binnendifferenzierung im ffentlichen Recht, S. 23. Dazu Luhmann zum Begriff Systemtheorie: Das Wort referiert keinen eindeutigen Sinn; Niklas Luhmann, Soziale Systeme, S. 15. 2Diese Herausforderung hat Mario G. Losano in dem ersten Band seines Werkes Sistema e Struttura nel Diritto angenommen. Vgl. Storia semantica del termine Sistema, in Mario G. Losano, Sistema e Struttura nel Diritto Bd.1, S. 3-163. 3 So meint Mario G. Losano: Ich habe also das Systemgedanke - diese Sule des westlichen Denkens - als Polarstern gewhlt, um die ganze Rechtsmaterie zu ordnen; Mario G. Losano, Die Elegante Hoffnung. Systembegriff und Systemdenken in der neueren Rechtsgeschichte, S. 2. 4Vgl. Claus-Wilhelm Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 12.

  • ! 6!

    Terminologie ausgedrckt: Ist das System etwas Erkenntnistheoretisches oder etwas

    Ontologisches5?

    Laut Radbruch besteht neben der Logik des Denkens auch die Logik der Sache selbst, die

    zu einer sachlogischen Systematik fhrt6.

    Canaris schrieb ber die zwei Arten oder besser zwei Seiten des Systems, die man

    unterscheiden sollte: das System der Erkenntnisse einerseits (...) und das System der

    Gegenstnde der Erkenntnis andererseits7.

    Infolgedessen lassen sich zunchst diese zwei Anschauungen des Systembegriffs

    unterscheiden, die tatschlich zwei verschiedene Systemtheorien begrnden, nmlich das uere

    System - dessen Aufbau die Aufgabe jeder Wissenschaft sei - und das innere System - die innere

    Struktur, die zu dem Gegenstand einer bestimmten Wissenschaft gehrt8.

    2. Das uere System und das innere System

    Mario G. Losano betont, dass eine genauere Definition des Systembegriffes eine

    Trennung des ueren Systems von dem inneren System erfordert. Die Theorien des ueren und

    des inneren Systems sind Lehrgebude, die von Losano aus der Geschichte des Systembegriffs

    und des Systemdenkens entwickelt wurden und mit deren Hilfe man die wichtigsten Theorien des

    Rechtssystems untersuchen kann9.

    Alle Wissenschaften versuchen dem Wissen eine Ordnung zu geben. Die systematische

    Darstellung gilt als ein Ziel, das zu erreichen alle Wissenschaften anstreben. Das uere System

    besteht aus theoretischen Urteilen, das heit Aussagen, ber einen gegebenen Gegenstand, die

    beanspruchen, diesen Gegenstand zu beschreiben. Es ist ein System der wissenschaftlichen

    Aussagen, das in allen Wissenschaften die gleiche reine formallogische Struktur hat. Ein ueres

    System ist eine systematische Beschreibung eines bestimmten Gegenstandes. !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!5 Vgl. dazu Struttura presente e struttura assente, in: Mario G. Losano, Sistema e Struttura nel Diritto, Bd. 2, S. 8-14.!6Aber es gibt nicht nur eine Logik des Denkens, sondern auch eine Logik der Sache selbst und nicht nur formallogische Systeme(...), sondern auch die sachlogische Systematik, Gustav Radbruch, Zur Systematik der Verbrechenslehre, in Beitrge zur Strafrechtswissenschaft. Festgabe fr Reinhard von Frank. Herausgegeben von August Hegler, S. 158 7 Canaris, (Fn. 4), 13. 8 Dazu Losano: Man kann das System in der Sache selbst suchen (inneres System), oder man kann das System in die Sachen hineinbringen (ueres System), vgl. Losano, (Fn. 3), 2. 9!Fr die Ausdifferenzierung zwischen dem ueren und dem inneren System s. Per una terminologia pi rigorosa, in Losano, (Fn. 2), 167-172. !

  • ! 7!

    Andererseits ist das innere System ein System, das den Sachen innenwohnt,

    beziehungsweise ein System, dessen Struktur die Wirklichkeit des Gegenstandes der

    entsprechenden Wissenschaft widerspiegelt. Zum Beispiel hat das Recht als Gegenstand der

    Rechtswissenschaft eine einzigartige Struktur im Vergleich zu der Natur als Gegenstand der

    Naturwissenschaften.

    Whrend die allgemeine Theorie des ueren Systems eine Systemtheorie aller

    Wissenschaften sein will, ist der Aufbau einer inneren Systematik nur in Bezug auf einen

    spezifischen Gegenstand zu erkennen.

    Nach Losano hat das uere System die folgenden Voraussetzungen 10: (i) Anerkennung

    der Chaotizitt des Gegenstandes; es gibt keine innere Ordnung in der Sache. Diese Ordnung soll

    von den Systematiken hergestellt werden. (ii) Ausrichtung an der Wissenschaft und nicht am

    Gegenstand selbst. Beabsichtigt ist die Entwicklung einer logischen Struktur, die sich auerhalb

    des Gegenstands befindet. (iii) Logische Zusammenstellung der theoretischen Aussagen ber den

    Gegenstand. Die Beschreibung des Gegenstandes soll widerspruchslos sein. Tatschlich sei die

    Widerspruchsfreiheit die wichtigste Eigenschaft des ueren Systems11.

    Auf der anderen Seite sind die Voraussetzungen der Theorie eines inneren Systems die

    Folgenden: (i) Ein geordneter Gegenstand; die Ordnung besteht schon in der Sache selbst. (ii)

    Ausrichtung am Gegenstand und nicht an der Wissenschaft. Weil die Ordnung schon besteht, ist

    die Aufgabe des Systemtheoretikers, nur diese Ordnung zu erkennen. (iii) Die spezifische

    Beziehung zwischen den Elementen des Systems; ein inneres System hat eine einzigartige

    Struktur12.

    In der vorliegenden Arbeit interessiert nicht die Darstellung einer Systemtheorie aller

    Wissenschaften, sondern nur die Unterscheidung zwischen den Begriffen des ueren und

    inneren Systems. Die Klarstellung dieser Unterscheidung ist Voraussetzung zur Behandlung der

    Problematik der inneren Rechtssystematik, der die folgenden Abschnitte gewidmet sind.

    Ob das Recht ein derartiges inneres System aufweist, ist eine Frage, die schon von vielen

    Juristen aufgeworfen wurde, die nach dieser bestimmten Ordnung des Rechts suchten13. !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!10 Vgl. dazu I presupposti dun sistema esterno, in Losano, (Fn. 2), 172-175. 11 Losano stellt auch die Vollstndigkeit und die Unabhngigkeit als Eigenschaften des ueren Systems dar, diese seien aber nicht so notwendig wie die Widerspruchsfreiheit, vgl. Losano, (Fn. 2), 212. 12 Vgl. I presupposti dun sistema giuridico interno, in Losano, (Fn. 5), 4-8. 13 Folgendes Beispiel gibt Canaris in seinem Werk Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz: Der Gedanke der inneren Ordnung und Einheit bedarf daher einer Besttigung, die in der Struktur seines Gegenstandes selbst, also im Wesen des Rechts begrndet sein muss, Canaris, (Fn. 4), 15.

  • ! 8!

    In dem folgenden Teil wird gezeigt, welche Anforderungen eine bestimmte Theorie des

    inneren Systems des positiven Rechts, nmlich die Reine Rechtslehre Hans Kelsens, zu erfllen

    hat, und wie diese Theorie zu dem Konzept der Selbstbezglichkeit des Rechts beigetragen hat.

    3. Die Reine Rechtslehre Hans Kelsens

    3.1 Das innere System des positiven Rechtes: das Recht und seine Selbstbestimmung

    Der Begriff des positiven Rechts bezeichnet die Rechtsnormen, die durch menschliche

    Willensakte gesetzt sind. In diesem Sinne umfasst der Begriff nicht nur die allgemeinen Normen

    der Gesetze, die in einer Mehrzahl von Fllen anwendbar sind, sondern auch die sogenannten

    individuellen Normen, die fr einen bestimmten Rechtsfall erzeugt werden, insoweit beide Arten

    von Normen von einem Rechtsorgan gesetzt werden, d.h. einen menschlichen Willensakt

    voraussetzen.

    Bei der Untersuchung und Darstellung des positiven Rechts knnen sich die Juristen fr

    das uere System oder fr das innere System entscheiden.

    Ein Jurist kann das positive Recht als ein chaotisches Ganzes auffassen, das deswegen

    eine bestimmte Ordnung (die der Jurist in die Sache hineinbringt) braucht; z.B. kann er

    versuchen, den allgemeinen Teil des BGB anders als der Gesetzgeber zu systematisieren14. Die

    Ergebnisse seiner Arbeit liegen aber im Bereich der Rechtswissenschaft und nicht im Bereich des

    positiven Rechts.

    Der Jurist handelt aber anders, wenn er schon eine Ordnung im positiven Recht

    voraussetzt. Seine Untersuchung beschrnkt sich auf die formalen Aspekte des Rechts. Ihn

    interessiert nicht der wechselnde Inhalt der Rechtsnormen, sondern er konzentriert sich auf den

    Zusammenhang zwischen ihnen15. !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!14 !Radbruch unterscheidet die wissenschaftlichen Systeme von den didaktischen Systemen. Die didaktischen Systemen bedeuten nur eine Darstellungsform, whrend die wissenschaftlichen Systeme Erkenntniswert besitzen; vgl. Radbruch, (Fn. 6), 159. Nach Losano erkennt das uere System eine zuerst unscheinbare Ordnung in der Sache, die nur mit der Handlung des Systemtheoretikers ans Licht kommt. Das uere System hat infolgedessen eine Beschreibungsfunktion, die auch eine didaktische Funktion umfasst, vgl. Losano, (Fn. 2), 194. 15!Nach Kelsen kann man das Wesen des Rechtes berhaupt, seine typische Struktur, und zwar unabhngig von dem wechselnden Inhalt untersuchen, vgl. Hans Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre, in Hans Klecatsky/ Ren Marcic/ Herbert Schambeck (Hrsg.), Die Wiener Rechtstheoretische Schule: Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, Wien (u.a.), Bd. 1, S. 611-629 (611).

  • ! 9!

    Jemand, der die Struktur des positiven Rechtes untersucht, muss auf die angeblichen

    inneren Beziehungen zwischen den geltenden Rechtsnormen Rcksicht nehmen, um zu erkennen,

    wie diese Normen miteinander verknpft sind. Man orientiert sich am Wesen des positives

    Rechtes (einem normativen System, das aus geltenden Normen des menschlichen Verhaltens

    besteht), um seine Ordnung und seine Struktur zu erkennen.

    Der juristische Positivismus des 19. Jahrhunderts bezeichnet als Recht nur die Normen,

    die gem einem bestimmten Verfahren und von einer kompetenten Autoritt gesetzt worden

    sind. Nur diese besonderen Normen knnen als Rechtsnormen einer bestimmten Rechtsordnung

    gelten.

    Wer bestimmt nun dieses Verfahrens und die fr die Rechtserzeugung und fr die

    Rechtsanwendung kompetenten Autoritten? Der juristische Positivismus antwortet: Das Recht

    selbst, weil nur die Rechtsnormen eine kompetente normsetzende Autoritt ermchtigen knnen.

    Nur die Rechtsnormen knnen die Geltung anderer Rechtsnormen liefern16.

    Das ist tatschlich die Idee der Selbstbestimmung (oder Selbstreferenz) des Rechts: Das

    Recht ist ein System, das sich selbst reguliert17.

    Die Idee der Selbstbestimmung des Rechtssystems erscheint auch bei der luhmannschen

    Theorie der Sozialen Systeme, was in der Terminologie Luhmanns als Autopoiesis bezeichnet

    wird.

    Als Modell einer Darstellung der inneren Systematik des positiven Rechts wird in der

    vorliegenden Arbeit auf die Reine Rechtslehre Hans Kelsens abgestellt.

    Als Grund dafr ist die Anschauung des Rechtes als ein dynamisches Normensystem, die

    bei Kelsen zu finden ist, zu erwhnen. Das Recht erscheint bei der Reinen Rechtslehre als eine

    besondere strukturierte Ordnung, die sich als ein Stufenbau einander ber- und untergeordneter

    Normen darstellt. Es kommt noch hinzu, dass Kelsen einer der wichtigsten sogenannten

    Rechtspositivisten war und deswegen als Modell eines rechtspositivistischen Systemtheoretikers

    gilt18.

    !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!16 Kelsen bezeichnet die Regelung der eigenen Erzeugung und Anwendung als eine hchst bedeutsame Eigentmlichkeit des Rechts, vgl. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 73. Ferner: "Indem eine Rechtsordnung ihre eigene Erzeugung und Anwendung regelt, bestimmt sie den Beginn und das Ende der Geltung der zu ihr gehrigen Rechtsnormen", ebd. 213. 17 Nach Jestaedt ein System selbstregulierter Regulierung sozialer Relationen, vgl. Matthias Jestaedt (Hrsg.), Reine Rechtslehre, Studienausgabe der 1 Auflage, Vorwort, S. XXVI. 18 So schreibt Jestaedt: Hans Kelsen gilt - auch im Weltmastab - als einer der profiliertesten Rechtspositivisten; vgl. ebd., XXX.

  • ! 10!

    3.2 Grundlagen der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens

    Um die Konzeption des inneren Rechtssystems der Reinen Rechtslehre zu verstehen,

    muss man zunchst ihre wissenschaftlichen Ansprche und die von ihr geforderte

    Methodenreinheit der Rechtserkenntnis (im Gegensatz zu einem Methodensynkretismus) in

    Betracht ziehen.

    Nach Jestaedt hat die Reine Rechtslehre eine doppelte Zielsetzung: Die

    Eigengesetzlichkeit des Rechtes und die Eigengesetzlichkeit der Rechtswissenschaft zu

    schaffen19.

    Die Frage nach dem Wesen des Rechtes ist zwar eine fr eine innere Systemtheorie

    geeignete Frage: Eine Suche nach der differentia specifica des Rechts als normatives Phnomen

    im Vergleich zu anderen normativen Ordnungen wie der Religion beziehungsweise der Moral.

    Darum geht es bei der Eigengesetzlichkeit des Rechts: Um die Darstellung des Rechts als eine

    einzigartige normative Entitt.

    Eine innere/sachlogische Systematik ist nur mglich, wenn der Systematiker durch seine

    Anstze den Gegenstand selbst referiert. Die Trennung der Rechtswissenschaft von dem Recht ist

    deswegen unentbehrlich fr die Reine Rechtslehre. Es ist gerade die Trennung eines

    Gegenstandes (der Sache) von seiner entsprechenden Wissenschaft (der Erkenntnis), die es

    ermglicht, die spezifische Struktur des Objekts anzuerkennen.

    Nach Kelsen sollte man die Rechtsstze (als Ergebnisse der Beschreibung des Rechts von

    der Rechtswissenschaft) von den Rechtsnormen (als Ergebnisse der Rechtserzeugung bestimmter

    Autoritten, die nach der Rechtsordnung zur Rechtserzeugung ermchtig worden sind)

    unterscheiden20.

    Die Rechtsstze sind Urteile der Rechtserkenntnis ber ihren Gegenstand, die darauf

    abzielen, das Recht so wie es ist zu beschreiben. Die Rechtsnormen sind ihrerseits Gebote,

    Erlaubnisse und Ermchtigungen, die das menschliche Verhalten regeln. Die Rechtsorgane sollen

    zuerst das Recht erzeugen, damit die Beschreibung und die Erkenntnis des Rechts durch die

    Rechtswissenschaft ermglicht werden.

    Auerdem erhebt die Reine Rechtslehre das Postulat der Methodenreinheit: um die

    !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!19 Vgl. Jestaedt, (Fn. 17), XXV ff. 20 Vgl. Kelsen (Fn. 16) 73 ff.

  • ! 11!

    Rechtserkenntnis als Wissenschaft bezeichnen zu knnen21, sollte man eine werturteilsfreie

    beziehungsweise objektive Beschreibung des Rechts vornehmen. Es handelt sich um eine

    Entpolitisierung der Rechtswissenschaft, die nach einer reinen Erkenntnis des Rechts strebt.

    Fr Kelsen ist die Unabhngigkeit von anderen Wissenschaften (insbesondere von der

    Politik) eine Voraussetzung der Rechtswissenschaft22. Die Rechtswissenschaft muss autonom

    sein, muss sich von den anderen Sozialwissenschaften ausdifferenzieren. Zusammenfassend kann

    gesagt werden, dass die Rechtswissenschaft selbstbezglich sein muss und darum geht es bei

    ihrer Eigengesetzlichkeit.

    3.3. Rechtsdynamik der Reinen Rechtslehre: Grundnorm und Delegation der Geltung in dem Stufenbau der Rechtsnormen

    Eine Definition der Norm erfordert nach der Reinen Rechtslehre eine Trennung der Natur

    (Wirklichkeit) von dem Recht (Normativitt).

    Mit dem Begriff Norm bezeichnet man, dass etwas sein soll, oder besser, dass sich

    jemand in einer bestimmten Weise verhalten soll23. Daraus, dass etwas sein soll, folgt nicht, dass

    etwas ist, und darin besteht der Unterschied zwischen dem Sollen des Rechtes und dem Sein der

    Natur. Hinzu kommt, dass die Norm ein Sollen (Imperativ, Gebot oder Befehl) kommuniziert,

    das auch ein "Drfen" (Erlaubnis) und ein "Knnen" (Ermchtigung) umfasst24.

    Kelsen betont, dass es einen Zusammenhang zwischen Geltung und Wirksamkeit des

    Rechts gibt25. Die Wirksamkeit ist Bedingung der Geltung, insofern eine Rechtsordnung nur gilt,

    wenn sie im groen und ganzen wirksam ist, das heit tatschlich befolgt und angewendet

    wird. Die Wirksamkeit darf aber nicht mit der Geltung des Rechts verwechselt werden.

    Der Zusammenhang zwischen Geltung und Wirksamkeit bei der Reinen Rechtslehre ist

    schon viel diskutiert worden, weil trotz der Trennung der Wirklichkeit (Sein) von dem Recht

    (Sollen) die erstere von Kelsen als Bedingung des Rechts konzipiert wird26. !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!21 Kelsen macht auch Referenz auf das uere System der Wissenschaften, wenn er die Aufgabe der Rechtswissenschaft erklrt: "Die Rechtswissenschaft hat das Recht - gleichsam von auen her - zu erkennen und auf Grund ihrer Erkenntnis zu beschreiben", vgl. Kelsen, (Fn. 16), 74. 22 Vgl. Kelsen, (Fn. 15), 620: Aber die Wissenschaft vom Recht kann und muss von der Politik getrennt werden, wenn sie berhaupt den Anspruch erheben darf, als Wissenschaft zu gelten.!23 Vgl. Kelsen, (Fn. 16), 4. 24 Ebd., 81. 25 Ebd., 215 ff. 26 Eingehender zum Verhltnis zwischen der Wirklichkeit (Sein) und dem Recht (Sollen) La validit come elemento unificatore nel sistema di Kelsen, in Losano, (Fn. 5), 81-109.

  • ! 12!

    Die Rechtsordnung besteht aus geltenden Rechtsnormen, die gem dieser Rechtsordnung

    in bestimmten Verfahren und von ermchtigten Autoritten gesetzt werden und die intentional

    auf das menschliche Verhalten gerichtet sind. Was begrndet berhaupt die Einheit der

    Rechtsnormen einer Rechtsordnung und wie kann behauptet werden, dass eine Norm zu einer

    bestimmten Rechtsordnung gehrt? Diese Fragen fhren zu der Problematik des Geltungsgrundes

    der Rechtsnormen.

    Nach Kelsen ist die Geltung die spezifische Existenz einer Norm27. Der Geltungsgrund

    einer Norm kann nur die Geltung einer anderen Norm sein, weil nur Normen anderen Normen

    ihre Geltung liefern knnen. Hinzu kommt, dass eine Norm, die den Geltungsgrund einer anderen

    Norm darstellt, dieser gegenber die hhere Norm ist; z.B. ist die Verfassung der Geltungsgrund

    des BGB. Die Norm, die den Geltungsgrund einer anderen (deren Geltungsgrund in Frage steht)

    darstellt, ist in diesem System eine Norm einer hheren Stufe28.

    Die Suche nach dem Geltungsgrund einer Norm kann aber nicht unendlich sein.

    Infolgedessen muss es eine Norm geben, die als letzte und hchste Norm anzusehen ist.

    Diese letzte und hchste Norm, nmlich die Grundnorm, die den Geltungsgrund aller

    anderen Normen einer bestimmten Rechtsordnung darstellt, ist diejenige, die die Einheit des

    Systems konstituiert. Die Grundnorm ist der Grund fr die Geltung aller zu einer bestimmten

    Ordnung gehrenden Normen.

    Zwei Arten von Normensystemen lassen sich bei der Reinen Rechtslehre unterscheiden:

    das statische und das dynamische System29.

    Die Normen einer statischen Ordnung gelten kraft ihres Inhaltes; die Grundnorm dieses

    Systems gilt nicht nur als Geltungsgrund, sondern bestimmt auch den Geltungsinhalt anderer

    Normen. Der Inhalt der anderen Normen kann durch eine logische Operation vom Allgemeinen

    zum Besonderen deduziert werden oder das Besondere lsst sich unter das Allgemeine

    subsumieren (gem dem Inhalt der Grundnorm).

    Die Normen einer dynamischen Ordnung andererseits gelten nicht kraft ihres Inhalts,

    sondern weil sie auf eine bestimmte Weise erzeugt werden. Diese Weise wird von der

    Grundnorm bestimmt, insofern sie eine normsetzende Autoritt ermchtigt und ein

    normerzeugendes Verfahren bestimmt. In einer dynamischen Ordnung liefert die Grundnorm nur

    den Geltungsgrund anderer Normen und bestimmt nicht ihren Geltungsinhalt. !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!27!Kelsen, (Fn. 16), 9.!28!Ebd., 196.!29!Ebd., 198 ff.

  • ! 13!

    Nach Kelsen hat die Rechtsordnung im Wesentlichen einen dynamischen Charakter30, weil

    die einzelnen Normen eines Rechtssystems nicht logisch voneinander deduziert werden knnen.

    Sie sind von einem Setzungsakt abhngig und knnen jeden beliebigen Inhalt (insofern

    intentional auf das menschliche Verhalten gerichtet) haben.

    Dieses dynamische Normensystem hat nicht die Struktur eines Komplexes nebeneinander

    geltender Normen, sondern die Struktur eines Stufenbaus einander ber- und untergeordneter

    Normen31. Das wre die Darstellungsform der Normen einer Rechtsordnung: Eine Hierarchie

    zwischen superordinierten und subordinierten Rechtsnormen gem der Delegation der

    Geltung32. Im Hinblick auf diese Darstellungsform des Rechts hat die Reine Rechtslehre von der

    Stufenbaulehre Adolf Merkls profitiert33.

    Laut der Stufenbaulehre bestimmt die Norm hherer Stufe die Erzeugungsweise der

    Normen einer niederen Stufe. Tatschlich laufen die Prozesse der Rechtsanwendung und der

    Rechtserzeugung gleichzeitig; ein normativer Akt der Rechtsanwendung erzeugt eine neue

    Rechtsnorm (von den generellen Normen werden durch die Willensakte der kompetenten

    Autoritten individuelle Normen gesetzt/erzeugt).

    In einer Rechtsordnung, die sich als ein Stufenbau einander ber- und untergeordneter

    Normen darstellt, sind die Konflikte zwischen Normen derselben Stufen zu unterscheiden von

    den Konflikten zwischen einer Norm hherer und einer Norm niederer Stufe.

    Laut Kelsen knnen bei Konflikten zwischen Normen derselben Stufen Grundstze wie

    z.B. Lex posterior derogat priori (im Fall zweier einander widersprechender Normen, die aber zu

    verschiedenen Zeiten gesetzt wurden) angewendet werden, oder eine Norm kann die Geltung der

    anderen einschrnken. Andererseits kann zwischen einer Norm hherer und einer Norm niederer

    Stufe kein Konflikt bestehen, weil die hhere Norm die Erzeugungsweise der niederen

    bestimmt34. Wenn die Norm niedrigerer Stufe den Determinationen der Norm hherer Stufe

    widerspricht, hrt sie auf, Norm zu sein. !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!30 Kelsen, (Fn. 16), 200. 31 Ebd., 204. 32 Nach Verdross ist die Delegation der Grundbegriff der rechtlichen Systematik, weil zwei Normen nur eine Einheit bilden knnen, wenn entweder eine auf die andere verweist, oder wenn beide von einer hheren gemeinsamen Norm delegiert werden, vgl. Alfred Verdross, Die Rechtstheorie Hans Kelsens, in Hans Klecatsky/ Ren Marcic/ Herbert Schambeck (Hrsg.), Die Wiener Rechtstheoretische Schule: Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, Wien (u.a.), Bd.2, 1301-1309 (1303). 33 In Bezug auf die Stufenbaulehre Merkls siehe Adolf Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in Hans Klecatsky/ Ren Marcic/ Herbert Schambeck (Hrsg.), Die Wiener Rechtstheoretische Schule: Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, Wien (u.a.), Bd.2, 1311-1361. 34 Vgl. Kelsen, (Fn. 16), 210.

  • ! 14!

    Da die Reine Rechtslehre nicht die mglichen Fehler bei der Rechtserzeugung (oder die

    Rechtswidrigkeit der gesetzten Normen) ignoriert, beschreibt sie auch (mit Hilfe der Werke

    Merkls) den Mechanismus des Fehlerkalkls, der eine Technik der Kodifikation fr die

    Verbesserung fehlerhafter Akte oder auch fr die Geltung nichtiger Akte ist35. Nach Jestaedt

    handelt es sich um ein richtig ausdifferenziertes und abgestuftes Reaktionsarsenal, wie z.B. die

    Vernichtbarkeit, die Aufhebbarkeit, die Kndbarkeit und die Umdeutung36.

    Bevor man die innere Rechtssystematik der Rechtslehre Kelsens kritisch analysiert, sollte

    man das Wesen der Grundnorm nach der Reinen Rechtslehre als den meistdiskutierten Teil der

    Theorie Kelsens nher untersuchen.

    ! 3.4 Die Grundnorm als Element der Rechtswissenschaft und als Element des positiven Rechts

    Nach Bobbio sind die Grundnorm und die Stufenbaulehre die zwei wichtigsten Elemente

    der rechtsstrukturalistischen Theorie Kelsens37.

    Obwohl die Grundnorm den Geltungsgrund aller anderen positiven Normen darstellt,

    kann sie selbst keine positive Rechtsnorm sein. Das ist logisch; wenn die Grundnorm von einer

    Autoritt gesetzt wre, wre eine andere Norm einer hheren Stufe vorauszusetzen, die diese

    Autoritt zur Rechtserzeugung ermchtigen wrde. Die Grundnorm ist aber die hchste Norm,

    die Quelle der Geltung aller anderen Normen einer bestimmten Rechtsordnung.

    Kelsen erklrt, dass man den Geltungsgrund der Grundnorm nicht in Frage stellen darf,

    wenn man die Zwangsordnung des Rechts als ein System gltiger Rechtsnormen deuten will38.

    Sie wre dann keine positive Norm, sondern eine vorausgesetzte Norm, eine nur gedachte

    Norm, eine transzendental-logische Voraussetzung der Rechtserkenntnis, die deswegen auch

    zur Rechtswissenschaft gehrt39.

    Jestaedt macht eine interessante Bemerkung zur Entwicklung des Grundnorm-Konzepts

    in der Lehre Kelsens: Der Aufbau der Lehre war nicht an der Grundnorm orientiert, aber sie !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!35 Vgl. Merkl, (Fn. 33),1359 ff. 36 Vgl. Jestaedt, (Fn. 17), XXXIX, Fn. 34. 37 Vgl. Norberto Bobbio, Verso a una teoria funzionalistica del diritto, in Bobbio (Hrsg.), Dalla Struttura alla Funzione, Nuovi studi di teoria del diritto, S. 63-88 (86). 38Vgl. Kelsen, (Fn. 16), 206. 39 In einem spteren Werk, nmlich Die Allgemeine Theorie der Normen, das zu seinen Lebzeiten nicht publiziert wurde, charakterisiert Kelsen die Grundnorm als eine echte Fiktion im Sinne der Vaihingerschen Philosophie des Als-Ob, s. Hans Kelsen. Allgemeine Theorie der Normen, S. 206.

  • ! 15!

    gewinnt eine strkere Bedeutung mit der Perspektivenerweiterung von der Rechtsstatik (d.h. die

    Rechtsnormen in ihrem Ruhezustand, wobei die Geltung die spezifische Existenz der Norm

    bedeutet) auf die Rechtsdynamik (d.h. die Normen in ihrem Erzeugungs-/Anwendungs- (und

    Vernichtungs-)Zusammenhang, wobei die Geltung als Zugehrigkeit zur Rechtsordnung

    bezeichnet wird)40. Da die Reine Rechtslehre eine nomodynamische Betrachtung des Rechts

    privilegiert, kommt die Grundnorm als die Quelle der Delegation der Geltung der positiven

    Rechtsnormen und infolgedessen als Ursprung der Geltung und Einheit des ganzen

    Rechtssystems in Betracht.

    Ohne die Theorie der Grundnorm wrde der Geltungsgrund der Rechtsnormen in der

    Wirklichkeit (der Seins-Welt) liegen und nicht in dem Sollen des Rechts; sie gilt als Endpunkt

    der Fragestellung nach der Geltung der Rechtsnormativitt.

    Die Grundnorm bt bei der Reinen Rechtslehre nicht nur die Funktion des

    Geltungsgrunds aller anderen Rechtsnormen im Bereich des positiven Rechts aus, sondern auch

    eine erkenntnistheoretische Funktion im Bereich der Rechtswissenschaft. Sie ist die

    Voraussetzung der positivistischen Beschreibung des Rechtes als ein System gltiger

    Rechtsnormen.

    Ohne die Theorie der Grundnorm wre der Geltungsgrund der Rechtsordnung ein

    Gegenstand anderer Sozialwissenschaften wie der Soziologie oder der Politikwissenschaft, weil

    die Frage nach dem Geltungsgrund der Grundnorm schon auerhalb des Bereiches der

    positivistischen Rechtserkenntnis liegt. Die Frage nach dem Geltungsgrund der Grundnorm ist

    zwar die Frage nach dem Ursprung des Rechts, die das Recht selbst ohne die Fiktion der

    Grundnorm nicht beantworten knnte.

    3.5. Folge des doppelten Charakters der Grundnorm fr die Systemtheorie Kelsens

    Nach Losano ist der doppelte Charakter der Grundnorm eine groe Schwierigkeit fr die

    Ausdifferenzierung zwischen dem internen und dem externen Rechtssystem bei der Reinen

    Rechtslehre. Sie gehrt gleichzeitig zum Recht und zur Rechtswissenschaft, sie ist gleichzeitig

    Rechtsnorm und Rechtssatz41.

    Die innere Systematik des positiven Rechts ist bei der Reinen Rechtslehre abhngig von !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!40 Vgl. dazu Matthias Jestaedt, Geltung des Systems und Geltung im System, JZ 2013, S. 1009-1060. 41 Vgl. La norma fondamentale parte del diritto o della scienza del diritto?, in Losano, (Fn. 5), 76-80.

  • ! 16!

    einer Norm, die den Geltungsgrund aller anderen Rechtsnormen darstellt. Andererseits ist diese

    Norm auch eine Voraussetzung der Rechtserkenntnis; man kann nicht den Ursprung der Geltung

    ohne die Theorie der Grundnorm rechtlich, das heit ausschlielich durch das Instrumentarium

    der Rechtswissenschaft, erklren. Das bedeutet, dass das Recht von einem Element der

    Rechtswissenschaft abhngig wird. Das interne System ist abhngig von einem Element des

    externen Systems.

    Das ist tatschlich eine Folge der wissenschaftlichen Ansprche der Theorie Kelsens.

    Wenn man das positive Recht nur mittels der Rechtswissenschaft zu erkennen beabsichtigt, kann

    man seine Struktur besser, aber seinen Ursprung und seine Funktion schlechter erklren, weil

    nach einer rechtspositivistischen Ansicht diese letzten beiden Themen besser von anderen

    Sozialwissenschaften erklrt werden knnen.

    Kelsen ignoriert nicht, dass der Ursprung der Geltung auch von der Wirklichkeit abhngig

    ist, aber er will einfach, dass die Rechtswissenschaft sich nicht damit beschftigt, um einen

    Methodensynkretismus mit anderen Sozialwissenschaften zu vermeiden. Deswegen die Theorie

    der Grundnorm, um das innere System des positiven Rechtes rechtlich abschlieen zu knnen.

    Die Theorie Kelsens hat aber viel zur Analyse der Struktur des Rechts mit dem Konzept

    des positiven Rechts als einem dynamischen Normensystem, das sich als ein Stufenbau darstellt,

    beigetragen42. Hinzu kommt, dass laut Kelsen die Selbstbestimmung eine der wichtigsten

    Eigentmlichkeiten des positiven Rechtes ist, was auch bei den spteren Systemtheorien

    erscheint.

    Im folgenden Teil der Arbeit wird ein anderes Paradigma fr die Beschreibung des Rechts

    untersucht, das sich auch der Idee der Selbstbestimmung des Rechts bedient.

    Eigentlich wurde dieses neue Paradigma nicht von der Philosophie, sondern von der

    Soziologie mit Hilfe der Naturwissenschaften (insbesondere der Biologie) und der Kybernetik

    aufgebaut. Es handelt sich um eine andersartige Systematik, die bestrebt ist, die Gesellschaft als

    Ganzes zu beschreiben. Es geht um die sogenannte Theorie des Sozialen Systems von Niklas

    Luhmann.

    Dieses neue Paradigma der Systemtheorie erfordert die Nutzung von wissenschaftlichen

    Methoden und Begriffen, die frher den Geistes- und Sozialwissenschaften etwas fremd waren.

    Tatschlich erfordert die Theorie Luhmanns die Anwendung einer (Fremd)-Sprache, an die die

    Sozialwissenschaften nicht gewhnt waren. Begriffe wie z.B. Autopoiesis und strukturelle !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!42 So die Auffassung von Norberto Bobbio. Vgl. dazu Bobbio, (Fn. 37) ,70.

  • ! 17!

    Kopplung kommen in ihr sehr hufig vor.

    Die Rezeption dieser fremden Methoden und Begriffe in den Sozialwissenschaften

    erfolgte nicht unumstritten, aber sie hatte, wie zu zeigen ist, eine tiefe Wirkung auf die

    Behandlung der Systematik.

    4. Luhmanns Theorie der Sozialen Systeme

    4.1. Luhmanns Supertheorie und der Paradigmawechsel in der Systematik

    Das 1987 erschiene Buch Soziale Systeme mit dem Untertitel Grundriss einer allgemeinen

    Theorie enthlt, was Luhmann eine Supertheorie nennt, nmlich die Theorie selbstreferentieller

    (oder autopoietischer) Systeme. Nach Reese-Schfer kann man in diesem Werk die

    Grundentscheidungen und die Grunddefinitionen Luhmanns finden. Das Buch sei das

    Kompendium der Systemtheorie Luhmanns 43 , dessen Einleitung Paradigmawechsel in der

    Systemtheorie berschreiben ist.

    Als Erstens muss erklrt werden, dass fr Luhmann die sozialen Systeme in der

    Wirklichkeit bestehen 44 . Die Theorie der sozialen Systeme nhert sich an eine innere

    Systemtheorie an, wobei jedes System eine spezifische Ordnung besitzt.

    Luhmann unterscheidet die Supertheorien von den Leitdifferenzen, um zu erklren, wie sich

    der Paradigmenwechsel auf der Ebene der allgemeinen Systemtheorie auf seine Theorie der

    sozialen Systeme auswirkt45.

    Nach Luhmann haben die Supertheorien einen Universalittsanspruch, um sich selbst und

    ihre Gegner einzubeziehen. Sie haben sich selbst auch als ihren Gegenstand; sie sind

    selbstreferentiell und lernen von ihrem Gegenstand auch immer etwas ber sich selbst46. Die

    Leitdifferenzen sind die wesentlichsten Konzepte einer Theorie oder, wie Luhmann erklrt, die

    Unterscheidungen, die die Informationsverarbeitungsmglichkeiten der Theorie steuern47.

    Die Leitdifferenzen knnen sich in einer selbstreferentiellen Theorie organisieren, die den !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!43 Vgl. Walter Reese-Schfer, Niklas Luhmann zur Einfhrung, S. 77. 44 Der Systembegriff bezeichnet also etwas, was wirklich ein System ist, und lt sich damit auf eine Verantwortung fr Bewhrung seiner Aussagen an der Wirklichkeit ein; Luhmann, (Fn. 1), 30; ders.: Der Systembegriff steht (im Sprachgebrauch unserer Untersuchungen) immer fr einen realen Sachverhalt, ebd., 599. 45 Ebd., 18. 46 Ebd., 9 ff. 47 Ebd., 19.

  • ! 18!

    Status eines Paradigma gewinnen kann, oder es kann zu einem Paradigmawechsel kommen,

    wenn eine Supertheorie viele Leitdifferenzen enthlt und eine hohe Differenz-Zentralisierung

    erreicht. Die neuen Theorien berwinden die ihnen vorangegangenen, insofern sie komplexer und

    deswegen angemessener fr die Behandlung sozialer Sachverhalte sind. Als neues Paradigma der

    Systemtheorie schlgt Luhmann die Theorie der autopoietischen Systeme vor.

    Luhmann stellt zwei Paradigmawechsel in der Geschichte des Systemgedankens dar. Das

    erste Paradigma stammt aus der Tradition der Antike, die das System als Ganzheit, die aus Teilen

    besteht, betrachtet. Eine Beschreibung des Systems erkennt die Teile und die Beziehung

    zwischen ihnen. Es ist tatschlich die Systemauffassung der Reinen Rechtslehre, die die

    geltenden Normen als Teile der Rechtsordnung charakterisiert.

    Dieses traditionelle Paradigma wurde von der Ausdifferenzierung zwischen System und

    Umwelt berwunden. Die Umwelt ist alles, was auerhalb des Systems liegt, und kann sinnvoll

    oder sinnlos fr das System sein.

    Mit der System/Umwelt-Differenzierung kann man die offenen Systeme von den

    geschlossenen Systemen unterscheiden. Whrend die offenen Systeme mit der Umwelt

    kommunizieren, hat die Umwelt keine Bedeutung fr die geschlossenen Systeme. Die offenen

    Systeme erreichen eine hhere Komplexitt durch die Kommunikation mit der Umwelt, d.h., sie

    knnen von der Umwelt lernen.

    Die Theorie selbstreferentieller Systeme wre das neue Paradigma der Systematik, ein

    anschlieender Schritt von berbietender Radikalitt 48 , der keine Entgegensetzung von

    geschlossenen und offenen Systemen erkennt. Die autopoietischen Systeme sind gleichzeitig

    geschlossen und umweltoffen, was wie ein Paradox klingt. Wie kann Gleichzeitigkeit von

    Geschlossenheit und Offenheit mglich sein?

    Um dieses Paradox aufzulsen muss man die Beziehung zwischen System/Umwelt anhand

    der Systemtheorie Luhmanns untersuchen.

    4.2. System/Umwelt bei dem autopoietischen Paradigma

    Der Begriff Gesellschaft bezeichnet in der luhmannschen Theorie etwas anders als in der

    klassischen Soziologie. Nach Luhmann besteht die Gesellschaft nicht aus Menschen, sondern aus

    !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!48Vgl. Luhmann, (Fn.1), 24.

  • ! 19!

    Kommunikation, d.h., sie kommt nur durch Kommunikationsakte zustande49.

    Die Hochkomplexitt ist ein Hauptmerkmal der modernen Gesellschaft. Unter Komplexitt

    versteht Luhmann die Tatsache, dass es immer mehr Mglichkeiten gibt, als aktualisiert werden

    knnen. Komplexitt fhrt deswegen zum Selektionszwang 50 . Um diese Hochkomplexitt

    effizienter zu bearbeiten, erfolgt innerhalb der Gesellschaft eine funktionelle Ausdifferenzierung

    der sozialen Systeme.

    Die sozialen Systeme sind ausdifferenzierte Funktionssysteme, die autonom operieren. Die

    Gesellschaft ist deswegen das umfassendste soziale System, das alle andere soziale Systeme und

    seine Umwelten enthlt, weil keine Kommunikation auerhalb der Gesellschaft mglich ist.

    Laut Luhmann kommt diese Ausdifferenzierung nur durch die Selbstreferenz (Autopoiesis)

    zustande51.

    Die Idee der Autopoiesis (aus dem Griechischen auts = selbst und poesis= das

    Produzieren) kommt ursprnglich aus der Biologie und bezeichnet die Fhigkeit eines Systems,

    seine Elemente selbst zu produzieren und zu reproduzieren 52 , mit anderen Worten

    Selbstschpfung oder Selbsterzeugung.

    Ein autopoietisches System ist ein rekursiv-geschlossenes System53, was dem System eine

    Einheit gibt. Die operative Schlieung ist die Grundlage der Autonomie eines Systems und

    ermglicht die Unterscheidung von seiner Umwelt. Tatschlich schrieb Luhmann, dass die

    Herstellung der Einheit eines Systems nur in Differenz zur Umwelt erfolgen kann54. Die Umwelt

    sei ein Negativkorrelat des Systems und immer sehr viel komplexer als das System selbst55.

    Autonomie eines Systems bedeutet aber keine Autarkie, das heit seine Umweltlosigkeit.

    Die sozialen Systeme stehen stndig im Kommunikation mit ihrer Umwelt; sie sind

    selbstreferentiell (oder autopoietisch oder operativ geschlossen) aber auch umweltoffen und

    digitalisieren die Hochkomplexitt der Umwelt intern gem ihrer Codierung und ihrer

    Programmierung. Daraus ergibt sich die Gleichzeitigkeit von operativer Schlieung und

    Umweltoffenheit.

    Luhmann weist darauf hin, dass man die Umwelt von den Systemen in der Umwelt !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!49Reese-Schfer, (Fn. 43), 13. 50 Vgl. Luhmann, (Fn. 1), 47; s. auch Komplexitt in Baraldi/ Corsi /Sposito; GLU, Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie Sozialer Systeme, S. 93-97. 51 Luhmann, (Fn. 1), 25. 52 Vgl. zu dem Begriff Autopoiesis in Baraldi/ Corsi/ Sposito, (Fn. 50), 29. 53 Vgl. Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, S. 355. 54 Ebd. 55 Luhmann, (Fn.1), 249.

  • ! 20!

    unterscheiden muss56. In der Umwelt eines Systems gibt es mehr oder weniger komplexe

    Systeme, mit welchen das System kommunizieren kann. Diese anderen Systeme bilden trotzdem

    noch fr das System seine Umwelt. Infolgedessen unterscheiden sich die Intersystembeziehungen

    von den System/Umwelt-Beziehungen.

    Man kann diese Intersystembeziehungen und diese System/Umwelt-Beziehungen anhand

    des Beispiels vom Recht als sozialem System besser verstehen.

    4.3. Das Recht als Soziales System

    Das Recht als autopoietisches System hat seine eigene Funktion, seinen eigenen Code und

    seine eigenen Programme, die gleichzeitig seine Autonomie und die Kommunikation mit der

    Umwelt ermglichen.

    Nach Luhmann hat die Funktion des Rechts mit Erwartungen zu tun57; die Struktur des

    Rechts besteht aus Normen, die als kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen zu

    verstehen sind58.

    Luhmann unterscheidet die normativen Erwartungen von den kognitiven Erwartungen. Er

    betont, dass als Reaktion auf Erwartungsenttuschungen zwei Alternativen fr die sozialen

    Systemen zur Verfgung stehen. Man kann die enttuschten Erwartungen ndern, um sie an die

    enttuschende Wirklichkeit anzupassen oder man kann an den enttuschten Erwartungen als

    Protest gegen die enttuschende Wirklichkeit festhalten.

    Nach Luhmann sind diese zwei Alternativen eigentlich zwei Strategien des Weiterlebens;

    man kann von den Enttuschungen lernen (kognitiver Modus des Erwartens) oder nicht lernen

    (normativer Modus des Erwartens). Die normativen Erwartungen sind nicht anpassungsfhig oder

    sind lernunwillig gegenber den Enttuschungsfllen. Andererseits besitzen die kognitiven

    Erwartungen eine Lernbereitschaft, eine lernwillige Einstellung zu den Enttuschungsfllen59.

    Luhmann weist aber darauf hin, dass es beim kognitiven Erwarten die Mglichkeit gibt,

    trotzdem nicht zu lernen, und beim normativen Erwarten die Mglichkeit, trotzdem zu lernen.

    Das passiert z.B., wenn die Formulierung einer Norm Anpassungsvorgnge ermglicht. Es fllt !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!56 Luhmann, (Fn.1), 249. 57 Vgl. Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 125. 58 Luhmann, (Fn. 53), 43. 59 So formuliert auch Marcelo Neves. Vgl. dazu Marcelo Neves, Grenzen der Autonomie des Rechts in einer asymmetrischen Weltgesellschaft: Von Luhmann zu Kelsen, ARSP 2007, S. 372.

  • ! 21!

    auf, dass die Grenzen zwischen normativen und kognitiven Erwartungen flieend sind.

    Nach dieser Unterscheidung von kognitiven und normativen Erwartungen definiert

    Luhmann das Recht als eine Struktur, die auf kongruenter Generalisierung normativer

    Verhaltenserwartungen beruht 60 .Die Funktion des Rechts besteht darin, normative

    Verhaltenserwartungen zu stabilisieren61, wodurch Erwartungssicherheit mglich wird.62

    Luhmann erklrt, dass fr die Ausdifferenzierung und operative Schlieung des

    Rechtssystems nicht nur die funktionale Spezifikation des Rechts wichtig ist, sondern auch

    bestimmte Strukturentwicklungen wie die Codierung und die Programmierung wichtig sind63.

    Die operative Schlieung des Rechtssystems erfordert die Anwendung eines binren Codes,

    nmlich der Code-Differenz von Recht und Unrecht. Dieser zweiwertige Schematismus wird

    vom Recht benutzt, um seine eigenen Operationen zu strukturieren und sich an der Gesellschaft

    auszudifferenzieren64.

    Die Ausdifferenzierung des Rechts erfolgt, wenn die Kontrolle des Codes Recht/Unrecht

    nur zu dem Rechtssystem gehrt. Dank des binren Codes kann das Rechtssystem (durch

    Selbstbeobachtung oder Selbstreferenz) bestimmen, was recht und was unrecht ist. Die

    Autopoiesis (Selbstreferenz) des Systems ist durch den Code garantiert, weil auerhalb des

    Rechts keine Disposition ber Recht oder Unrecht erfolgen kann65.

    Die Programmierung hat die Funktion, die Codierung zu ergnzen oder mit Inhalt zu

    fllen. Die Programme (wie Rechtsprechung, Vertrge, Gesetze, Verfassungsnormen) erlauben,

    dass der Code operativ wird.

    Die praktische Umsetzung des Codes Recht/Unrecht hngt von den Programmen ab, weil

    die Programme Umwelteinflsse in das Rechtssystem einfhren66. Die Programme ermglichen

    die Verknpfung von Selbstreferenz und Fremdreferenz (System/Umwelt-Beziehung). Die

    Fremdreferenz ist aber durch den Rechtscode auf das Rechtssystem umzuschalten.

    Die operative Schlieung (d.h. die Selbstreferenz durch funktionale Spezifikation,

    Anwendung des binren Codes Recht/Unrecht und Herstellung von spezifischen Programmen)

    ermglicht die Umweltoffenheit (Fremdreferenz) des Systems. Das Rechtssystem kann mit der !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!60 Luhmann, (Fn. 53), 105. 61 Luhmann, (Fn. 57), 131. 62 Ebd., 153. 63 Ebd., 163. 64 Ebd., 176. 65 Ebd., 178. 66!Vgl dazu Programme in Baraldi/ Corsi /Sposito (Fn. 50), 139-141; ders. Neves, (Fn. 59), 376.

  • ! 22!

    Umwelt kommunizieren und infolgedessen beim Vollzug eigener Operationen von der Umwelt

    lernen und komplexer werden so erfolgt die Evolution der sozialen Systeme.

    Deswegen definiert Luhmann das Rechtssystem als ein normativ geschlossenes, aber auch

    kognitiv offenes System67. Das Rechtssystem wird nicht direkt durch die umweltlichen Faktoren

    beeinflusst, sondern durch die Verarbeitung dieser fremden Faktoren nach eigenen Kriterien.

    Neves erklrt, dass die Lernfhigkeit des Rechtssystems gegenber der Umwelt (kognitive

    Offenheit) seine Anpassung an die Hochkomplexitt der Umwelt ermglicht, whrend die

    normative Geschlossenheit die Verschmelzung von Rechtssystem und Umwelt vermeidet und die

    interne Digitalisierung von umweltlichen Informationen umsetzt68.

    Um diese gleichzeitig normative Geschlossenheit und kognitive Offenheit des Rechts

    genauer zu verstehen, muss man das Verhltnis zwischen dem Rechtssystem und der Politik

    betrachten, zwei sozialen Systemen, die nach Luhmann durch den Mechanismus der

    strukturellen Kopplung verbunden sind.

    4.4. Die Verfassung als Strukturelle Kopplung zwischen Politik und Recht

    In dem luhmannschen systemtheoretischen Modell bezeichnet der Begriff des Rechtstaates

    die Form eines wechselseitigen-parasitren Verhltnisses zwischen Politik und Recht69.

    Laut Luhmann sind Politik und Recht in der modernen Gesellschaft zwei auseinander

    differenzierte soziale Systeme, das heit zwei verschiedene operative geschlossene/umweltoffene

    Systeme, jedes mit seinem einigen Code, seinen eigenen Programmen und seiner eigenen

    Funktion70, aber trotzdem sind sie in ihrer Strukturentwicklung voneinander abhngig71.

    Der Begriff des Rechtsstaates umfasst die juristische Beschrnkung der politischen Gewalt

    und die politische Instrumentierung des Rechts, die durch den Mechanismus der strukturellen

    Kopplung zustandekommen. Nach Luhmann ist die strukturelle Kopplung eine Form, die die

    Einflsse der Umwelt auf das System gleichzeitig beschrnkt und erleichtert72; eine strukturelle

    Kopplung trennt und verbindet die Systeme zugleich. !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!67!Luhmann, (Fn. 57), 77.!68!Vgl. dazu Marcelo Neves, Zwischen Themis und Leviathan: eine schwierige Beziehung. Eine Rekonstruktion des demokratischen Rechtsstaates in Auseinandersetzung mit Luhmann und Habermas, S. 71. 69!Luhmann, (Fn. 57), 426.!70Ebd. 71 Ebd., 422. Luhmann benutzt den Begriff structural drift von dem Biologen Maturana, der koordinierte Strukturentwicklungen bedeutet, vgl. ebd., 495. 72 Vgl. Luhmann, (Fn. 57), 441.

  • ! 23!

    Die Verfassung spielt die Rolle einer strukturellen Kopplung zwischen Politik und Recht,

    insofern sie wechselseitige, stndige und intensive Einflsse zwischen beiden Systemen

    ermglicht und gleichzeitig ihre Ausdifferenzierung verwirklicht.

    Luhmann betont, dass die Gesetzgebung der Ort ist, wo die Transformation von Politik in

    Recht und die rechtliche Beschrnkung von Politik erfolgen73, und zwar liegen die politischen

    Entscheidungen unter der Rechtskontrolle, whrend die Rechtssetzung von der politisch

    kontrollierten Gesetzgebung abhngt74.Es lsst sich behaupten, dass diese synallagmatische

    Beziehung zwischen politischem System und Rechtssystem wechselseitige Leistungen mit sich

    bringt. Andererseits hat die Verfassung aber fr jedes System einen unterschiedlichen Sinn.

    Unter dem Gesichtspunkt des Rechts ist die Verfassung (als normative Struktur, das heit

    als Grundgesetz) die Selbstbegrndung des positiven Rechts, damit das Rechtssystem seine

    operative Autonomie erreicht75.

    Nach Neves vermeidet die Verfassung bei dem autopoietischen Paradigma, dass

    wertbezogene, moralische und politische Kriterien unmittelbare Geltung innerhalb des

    Rechtssystems gewinnen. Die Verfassung bestimmt sozusagen die Grenzen des Rechtssystems,

    d.h., die verfassungsnormativen Strukturen bestimmen inwieweit sich das Rechtssystem von der

    Umwelt beeinflussen lsst und von ihr lernen kann (kognitive Offenheit), ohne seine Autonomie

    zu verlieren (normative Geschlossenheit)76.

    Die Verfassung kann von dem politischen System im doppelten Sinne genutzt werden, fr

    die instrumentelle (Zustnde verndernde) Politik und fr die symbolische (Zustnde nicht

    verndernde) Politik 77 . Luhmann betont, dass in manchen Lndern (wie in vielen

    Entwicklungslndern) die Verfassung fast nur als Instrument symbolischer Politik verwendet

    wird.

    Neves bezeichnet diese Hypertrophie der symbolischen Funktion des Verfassungstexts in

    manchen Lndern als Symbolische Konstitutionalisierung78. Seiner Meinung nach kann die

    symbolische Funktion der Verfassung sowohl in einem negativen, als auch in einem positiven

    Sinn verstanden werden79. !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!73 Ebd., 429. 74 Neves, (Fn. 68), 76. 75 Luhmann, (Fn. 57), 478. 76 Neves, (Fn. 68), 83.!77!Luhmann, (Fn. 57), 478.!78 Vgl. Marcelo Neves, Symbolische Konstitutionalisierung. 79 Ebd., 79 ff.

  • ! 24!

    Im negativen Sinne bedeutet sie die mangelnde Konkretisierung des Verfassungstexts im

    Vergleich zu der Verfassungswirklichkeit wegen einer stetigen und strukturellen Blockierung der

    Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Kriterien/Programme durch die direkte Einwirkung

    anderer Differenzcodes (z.B. Haben/Nichthaben als Code der Wirtschaft und Macht/Ohnmacht

    als Code der Politik) auf das Rechtssystem.

    Im positiven Sinn spielt die symbolische Funktion eine politisch-ideologische Rolle, die das

    politische System einerseits gegen andere verfassungsndernde Alternativen immunisiert,

    andererseits fr das Recht eine illusorische Darstellung in Bezug auf die Verfassungswirklichkeit

    bedeutet. Damit werden partikularistische Interessenkonstellationen garantiert, whrend die

    Lsung wesentlicher Probleme, wie die soziale Inklusion/Exklusion, dadurch auf eine ferne

    Zukunft verschoben wird, was eine die Zustnde nicht ndernde Politik bedeutet.

    Diese Situation fhrt zu einer Diskrepanz zwischen einer exkludierenden

    Verfassungsrealitt und einem symbolisch inkludieren Verfassungstext; die Subintegrierten, die

    keinen Zugang zu den Rechten haben, bleiben trotzdem streng den Pflichten, Verantwortungen

    und freiheitsbeschrnkenden Strafen unterworfen, whrend es bei den berintegrierten genau

    umgekehrt ist. Neben der Verfassungsnormativitt besteht infolgedessen eine

    entkonstitutionalisierende Rechtspraxis80.

    Nach Neves trifft die symbolische Konstitutionalisierung den Kern des Rechtssystems und

    belastet seine ganze operative Struktur81. Sie bildet ein typisches Problem der peripheren

    Staaten82 und hngt mit einer unzureichenden Ausdifferenzierung des Rechtssystems zusammen,

    was zu einer der kritischen Bemerkungen hinsichtlich der Theorie Luhmanns fhrt, die im

    folgenden Teil dargestellt werden wird.

    4.5. Kritische Bemerkungen zur Theorie Luhmanns

    Von den zahlreichen Kritikpunkten, die man gegen die Theorie der Sozialen Systeme

    vorbringen kann, beschrnkt sich diese Arbeit auf vier Punkte, die insbesondere im Bereich der

    Jurisprudenz wichtig sind. Diese vier Punkte sind: (i) die Rezeption der Autopoiesis in den

    Sozialwissenschaften, (ii) die Dunkelheit des luhmannschen Diskurses, (iii) die Grenzen der !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!80 S. Marcelo Neves, Von der Autopoiesis zur Allopoiesis des Rechts, Rechtstheorie 2003, S. 265. 81 Neves, (Fn. 78), 86. 82 Ebd., 138 ff.

  • ! 25!

    Theorie der Sozialen Systeme fr die Rechtserkenntnis und (iv) die Systemkorruption, die zur

    Alopoiesis des Rechts fhrt.

    Losano schlgt vor zu reflektieren, inwieweit die Sozialwissenschaften von einer

    bernahme der Methoden aus den Naturwissenschaften profitieren knnen83.

    Die bernahme des Begriffes Autopoiesis von der Biologie in eine soziologische

    Theorie, um die Gesellschaft als umfassendstes soziales System, das aus anderen

    funktionaldifferenzierten Systemen besteht, beschreiben zu knnen, ist umstritten. Inwieweit sind

    sich die lebenden Systeme der Biologie und die sozialen Systemen der Gesellschaft hnlich?

    Hinzu kommt, dass Begriffe wie Codierung, Programmierung, strukturelle Kopplung

    im luhmannschen Diskurs verwendet werden, um die Theorie aufzubauen. Die Theorie

    Luhmanns ist selbstreferentiell und muss allen Begriffen, die wesentlich fr die Theorie sind (den

    Leitdifferenzen), einen bestimmten Sinn geben. Deswegen bezeichnen Begriffe wie

    Gesellschaft in der Theorie der Sozialen Systeme etwas anderes als im normalen Sprachgebrauch.

    Diese (Fremd-)Sprache mit einer hohen Eigenkomplexitt und die entsprechende Abstraktheit der

    Begriffe fhren nicht selten zu einer Dunkelheit der Schriften Luhmanns, die das Verstndnis der

    Theorie kompromittieren kann84.

    Aber nicht nur die hohe Komplexitt der Theorie wird diskutiert, sondern auch ihre

    Fhigkeit, das Wesen des Rechts zu erkennen. Die Theorie der Sozialen Systeme ist

    hauptschlich eine soziologische Theorie des Rechts, die aber keine Rechtstheorie fr die

    juristische Dogmatik zu liefern beansprucht85. Fr die Theorie der Sozialen Systeme sind die

    Rechtstheorien Formen der Selbstbeschreibung des Rechtssystems, mit denen eine soziologische

    Theorie des Rechts nicht verwechselt werden darf.

    Laut Luhmann liefert die Soziologie nur eine Auenbeschreibung des Rechtssystems, weil

    sie sich mit allem, was an Sozialem zu bedenken ist, beschftigt. Nach Losano untersucht die

    Theorie Luhmanns das Recht in der Systemtheorie und nicht die Systemtheorie im Recht86.

    Da die Theorie der Sozialen Systeme die Ausdifferenzierung der sozialen Systeme

    voraussetzt, ist nach Neves die bertragung des luhmannschen Paradigmas der Autopoiesis des

    Rechts besonders in den peripheren Lndern, wo man eine mangelhafte Autonomie bzw. !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!83 Mario G. Losano, Sistema e Struttura nel Diritto, Bd. 3, S. 332. 84 Luhmann betrachtet diese hohe Komplexitt und Abstraktheit als Nachteil der Systemtheorie, wenn es denn ein Nachteil ist, vgl. Luhmann, (Fn. 57), 24. Mehr ber die Dunkelheit bei Luhmann: Luhmann oscuro?, in Losano, (Fn. 83), 240-247. 85 Luhmann, (Fn. 53), 360 ff. 86 Vgl. Losano, (Fn. 83), 348.

  • ! 26!

    unzureichende Ausdifferenzierung des Rechtssystems beobachten kann, unhaltbar87. Es handelt

    sich um eine empirische Einschrnkung des luhmmanschen Modells durch das Problem der

    Allopoiesis (aus dem Griechischen llos fremd und poesis das Produzieren) des

    Rechts, das heit eine Negation der operativen Selbstreferenz des Rechts.

    Im Gegensatz zu autopoietischen Systemen reproduzieren sich die allopoietischen Systeme

    durch Kriterien, Programme und Codes ihrer Umwelt. Die Umwelt hat unmittelbare

    Einwirkungen auf die allopoietischen Systeme, wobei die Differenz System/Umwelt keinen Sinn

    mehr hat. Nach Neves erfolgt in manchen peripheren Lndern eine generalisierte

    Systemkorruption mit der berordnung anderer Differenzcodes ber den Code Recht/Unrecht,

    was der operativen Autonomie des Rechts schadet. Als Beispiel dafr dient, wie schon gezeigt

    wurde, die symbolische Konstitutionalisierung.

    Da das Gesellschaftssystem in den peripheren Staaten eine Ausdifferenzierung des

    Rechtssystems nicht leistet, ist die Theorie der Sozialen Systeme kein adquates

    Erklrungsmuster88 fr eine Situation, die unvereinbar mit der Idee der Autopoiesis ist, nmlich

    die Allopoiesis des Rechts wegen der generalisierten Systemkorruption.

    5. Schlussbetrachtung: Die elegante Hoffnung aller Systemtheorien

    Ziel dieser Arbeit war es nicht, das Konzept der Autopoiesis in der Theorie Luhmanns an

    das Konzept der Selbsterzeugung/Selbstanwendung des Rechts in der Lehre Kelsens anzunhern.

    Der Meinung von Neves, dass diese Annherung den radikalen Unterschied zwischen den

    theoretischen Grundlagen der beiden Begriffsmodelle bersieht89, ist zuzustimmen. Es lsst sich

    aber behaupten, dass beide Theorien - jede mit ihrem eigenen theoretischen Instrumentarium - zu

    einer Betrachtung des Rechtssystems als ein selbstreguliertes System beigetragen haben.

    Zusammenfassend kann man sagen, dass die Theorie Luhmanns fr sich in Anspruch

    nimmt, eine Erklrung der sozialen Einflsse auf das Rechtssystem zu geben, whrend diese

    Einflsse in der Lehre Kelsens als rechtswissenschaftlich irrelevant betont werden. Mit der Figur

    der Umwelt und ihrer Kommunikation mit dem System, bringt die Systematik Luhmanns Licht in

    das, was auerhalb des Systems liegt und erklrt, wie sich diese Elemente zu den

    Systemelementen verhalten. !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!87 Vgl. dazu Neves, (Fn. 80), 257 ff.; ders., (Fn. 59), 382 ff. 88 Neves, (Fn. 80), 268. 89 Vgl. Neves, (Fn. 59), 363.!

  • ! 27!

    Diese Arbeit hat sich dieser zwei Theorien bedient, um ihre Zielsetzung zu erfllen,

    nmlich die Darstellung der Selbstbestimmung als ein Merkmal der Definition des Begriffes des

    Rechtssystems. Wie die Arbeit auch gezeigt hat, haben beide Systemtheorien umstrittene

    Aspekte, die trotz aller Bestrebungen nach einer Erklrung seitens ihrer Theoretiker, vielleicht

    noch umstrittener werden.

    Aufgrund seiner Studien der Geschichte des Systemdenkens behauptet Losano, dass die

    Ergebnisse nie den Wnschen des Systematikers entsprechen90. Seine Bemhungen lassen sich

    als eine elegante Hoffnung in Sinne der Erzhlung Die Bibliothek von Babel von Jorge Luis

    Borges bezeichnen, in der ein lterer Bibliothekar versucht, Ordnung in eine unendliche

    Bibliothek zu bringen. Eine mgliche Ordnung der Bibliothek ist die elegante Hoffnung des

    Bibliothekars, was seine Einsamkeit berhrt91.

    Und so geht es bei vielen Rechtstheoretikern, die das Recht als System betrachten: Die

    gewnschte Ordnung des Rechts erweist sich immer als unerreichbar. Das Streben nach diesem

    Ziel kann sich trotzdem als durchaus fruchtbar erweisen.

    !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!90 Losano, (Fn.3), 2. 91 S. die Einfhrung Lelegante speranza, in Losano, (Fn. 2), XV-XXIX.

  • ! 28!

    Hiermit versichere ich, dass ich die vorliegende Seminararbeit selbstndig verfasst und keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe

    Mnchen, 26.11.2013

    ___________________ ! ! ! ! ! ! ! !Iderpaulo!Carvalho!Bossolani!


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