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Vom »Menschheitsfrühling« zu »Neuform Heil!«€¦ · Die Autorin Dr. Florentine Fritzen, 30,...

Date post: 19-Oct-2020
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nationalsozialistische Deutschland einzupassen. Das rettete die Neu- form-Genossenschaft davor, verbo- ten oder in die Selbstauflösung ge- drängt zu werden wie viele andere Gruppen der so genannten Lebens- reformbewegung erging. Bis 1939 stieg die Zahl der Neuform-Reform- häuser auf 2000. Neuform-Genossenschaft im Zentrum der Lebensreformbewegung Als Hitler an die Macht kam, war die Reformwarenbranche eine kleine, aber fest etablierte Sparte des deutschen Konsumgüter- markts. Die Mitte der 1920er Jahre gegründete Neuform-Ge- nossenschaft verstand sich selbstbewusst als Kern der Lebens- reform, jenes lose verwobenen Ge- flechts aus verschiedenen Bewe- gungen, die seit dem späten 19. Jahrhundert der Wille einte, eine bessere Gesellschaft zu schaffen. Ve- getarier gehörten dazu und Absti- nenzler, Anhänger der Naturheil- kunde und der Freikörperkultur, Kleidungsreformer und Künstler. Sie alle gründeten Vereine und wollten möglichst viele Menschen dazu bringen, gesünder zu leben. Auf diesem Weg sollte zugleich das als krank empfundene Gemeinwe- sen genesen, eine »neue Zeit« an- brechen. Die Produkte für ein ge- sünderes Leben gab es seit der Jahr- hundertwende im Reformhaus: Vollkorngrieß und Haferflocken, Trockenobst und Hefebrühe, Schwitzapparaturen und Hautöle, poröse Wäsche und Gesundheits- schuhe. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme sahen viele Le- bensreformer die erhoffte »neue Zeit« gekommen: »Was das Re- formhaus, was die Lebensreformer lange Zeit für sich allein anstrebten, das ist heute allgemeines Ziel. Das macht unsere Arbeit leichter. Nicht nur deshalb, weil sie heute eher verstanden wird und Widerhall fin- det, sondern vor allen Dingen auch, weil unsere eigene Kraft verviel- facht wird durch das Bewusstsein, dass wir ganz unmittelbar damit dem großen Ganzen dienen.« Schon 1926 hatte sich die Kunden- zeitschrift »Das Reformhaus« über mangelnde »Führung« im »Staats- Im »Dritten Reich« bewahrte sich die Lebensreform viel von ihrer eigenen Bildsprache. Die »neuzeitliche Frau« war gesund und strahlte »Schönheit von innen« (siehe oben rechts) aus. Zugleich stellte sich die Reform- bewegung in den Dienst des Natio- nalsozialismus. In ihren Zeitschriften berichtete sie da- von, wie sie half, das deutsche Volk wehrhaft zu ma- chen. Immer wie- der betonte die Lebensreform, dass sie dem Staat diene: »Soldaten lernen kochen.« Vom »Menschheitsfrühling« zu »Neuform Heil!« Wie Lebensreformer 1933 den Umbruch von der »Neuen Zeit« zur »großen deutschen Revolution« vollzogen Im Frühjahr 1933 traf der Vorstand der »Neuform Vereinigung Deut- scher Reformhausbesitzer und Re- formwarenhersteller« die »notwen- digen Maßnahmen (…), die in der heutigen Zeit erforderlich sind«. Dabei sahen sich die Vorsitzenden der Genossenschaft in »einer be- sonders glücklichen Lage«: Von den 1200 Reformhäusern, die der Neu- form-VDR angeschlossen seien, be- fänden sich »nur vier in jüdischen Händen«. Fünf Monate, nachdem die Genossenschaft die wenigen Ju- den unter ihren Mitgliedern ausge- schlossen hatte, verkündete die Branchenzeitschrift »Neuform- VDR-Fachblatt«: »Die deutsche Re- formwarenbranche ist gleichge- schaltet worden! Gleichgeschaltet dem neuen Aufbau in Deutschland, gleichgeschaltet dem Bemühen, Deutschland wieder zur Blüte zu bringen, der Landwirtschaft und der Industrie und damit dem deut- schen Volke zu helfen!« Die Bran- che gab sich also schon in den ers- ten Monaten nach der Machtüber- nahme sichtlich Mühe, sich in das Forschung aktuell 63 Forschung Frankfurt 4/2006
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Page 1: Vom »Menschheitsfrühling« zu »Neuform Heil!«€¦ · Die Autorin Dr. Florentine Fritzen, 30, wurde 2004 am Fachbereich Philo-sophie und Geschichtswissenschaften promoviert. Ihre

nationalsozialistische Deutschlandeinzupassen. Das rettete die Neu-form-Genossenschaft davor, verbo-ten oder in die Selbstauflösung ge-drängt zu werden wie viele andereGruppen der so genannten Lebens-reformbewegung erging. Bis 1939stieg die Zahl der Neuform-Reform-häuser auf 2000.

Neuform-Genossenschaft im Zentrum der Lebensreformbewegung

Als Hitler an die Macht kam, wardie Reformwarenbranche einekleine, aber fest etablierte Spartedes deutschen Konsumgüter-markts. Die Mitte der 1920erJahre gegründete Neuform-Ge-nossenschaft verstand sichselbstbewusst als Kern der Lebens-reform, jenes lose verwobenen Ge-flechts aus verschiedenen Bewe-gungen, die seit dem späten 19.Jahrhundert der Wille einte, einebessere Gesellschaft zu schaffen. Ve-getarier gehörten dazu und Absti-nenzler, Anhänger der Naturheil-kunde und der Freikörperkultur,

Kleidungsreformer und Künstler.Sie alle gründeten Vereine undwollten möglichst viele Menschendazu bringen, gesünder zu leben.Auf diesem Weg sollte zugleich dasals krank empfundene Gemeinwe-sen genesen, eine »neue Zeit« an-brechen. Die Produkte für ein ge-sünderes Leben gab es seit der Jahr-hundertwende im Reformhaus:Vollkorngrieß und Haferflocken,Trockenobst und Hefebrühe,Schwitzapparaturen und Hautöle,poröse Wäsche und Gesundheits-schuhe.

Nach der nationalsozialistischenMachtübernahme sahen viele Le-bensreformer die erhoffte »neueZeit« gekommen: »Was das Re-formhaus, was die Lebensreformerlange Zeit für sich allein anstrebten,das ist heute allgemeines Ziel. Dasmacht unsere Arbeit leichter. Nichtnur deshalb, weil sie heute eherverstanden wird und Widerhall fin-det, sondern vor allen Dingen auch,weil unsere eigene Kraft verviel-facht wird durch das Bewusstsein,dass wir ganz unmittelbar damitdem großen Ganzen dienen.«Schon 1926 hatte sich die Kunden-zeitschrift »Das Reformhaus« übermangelnde »Führung« im »Staats-

Im »Dritten Reich«bewahrte sich dieLebensreform vielvon ihrer eigenenBildsprache. Die»neuzeitlicheFrau« war gesundund strahlte»Schönheit voninnen« (sieheoben rechts) aus.Zugleich stelltesich die Reform-bewegung in denDienst des Natio-nalsozialismus. Inihren Zeitschriftenberichtete sie da-von, wie sie half,das deutsche Volkwehrhaft zu ma-chen. Immer wie-der betonte dieLebensreform,dass sie dem Staatdiene: »Soldatenlernen kochen.«

Vom »Menschheitsfrühling« zu »Neuform Heil!«Wie Lebensreformer 1933 den Umbruch von der »Neuen Zeit« zur »großen deutschen Revolution« vollzogen

Im Frühjahr 1933 traf der Vorstandder »Neuform Vereinigung Deut-scher Reformhausbesitzer und Re-formwarenhersteller« die »notwen-digen Maßnahmen (…), die in derheutigen Zeit erforderlich sind«.Dabei sahen sich die Vorsitzendender Genossenschaft in »einer be-sonders glücklichen Lage«: Von den1200 Reformhäusern, die der Neu-form-VDR angeschlossen seien, be-fänden sich »nur vier in jüdischenHänden«. Fünf Monate, nachdemdie Genossenschaft die wenigen Ju-den unter ihren Mitgliedern ausge-schlossen hatte, verkündete dieBranchenzeitschrift »Neuform-VDR-Fachblatt«: »Die deutsche Re-formwarenbranche ist gleichge-schaltet worden! Gleichgeschaltetdem neuen Aufbau in Deutschland,gleichgeschaltet dem Bemühen,Deutschland wieder zur Blüte zubringen, der Landwirtschaft undder Industrie und damit dem deut-schen Volke zu helfen!« Die Bran-che gab sich also schon in den ers-ten Monaten nach der Machtüber-nahme sichtlich Mühe, sich in das

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Die Mutter mitvielen Kindern warmehr ein Idealbilddes Nationalsozia-lismus als der Le-bensreformbewe-gung. Trotzdemwählte die FirmaPauly, Vorläuferinvon »Milupa«, die-ses Ideal für ihreWerbung – es ent-sprach dem Zeit-geist.

im »Dritten Reich« als pazifistischund bolschewistisch. Bis 1934 lös-ten sich die meisten Vegetarier-Ver-bände unter dem Druck der »Deut-schen Gesellschaft für Lebensre-form« selbst auf. Diese Dachorgani-sation war im Zuge der Gleichschal-tung neu gegründet worden undkontrollierte fortan alle ihr ange-schlossenen Verbände.

Die Feigen-Banane aus Kamerun – Ein »deutsches Produkt«

Die Reformwarenwirtschaft erwiessich als biegsamer und langlebiger.Die Neuform-VDR unterstand alswirtschaftliche Organisation der»Reichsgruppe Handel«. Aus denKundenzeitschriften der Reform-häuser verschwand schnell allesÜberschießende, Schwärmerische,oft auch verflacht Philosophische.Seit 1933 gab sich die Genossen-schaft Mühe zu beweisen, »dass dasReformhaus nicht Tummelplatz fürunnötige ausländische Produkte ist,wie von den Gegnern behauptet«.Solche Aussagen waren zwar nichtvöllig neu, und das weist wiederum

auf eine gewisse Nähe des lebensre-formerischen Gedankenguts zu ei-nigen nationalsozialistischen Ideenhin. Dass die Feigen-Bananen ausdem Reformhaus »ein deutschesErzeugnis« seien, weil sie aus »derehemalig deutschen Kolonie Kame-run« kamen, hatte die Kundenzeit-schrift »Neuform-Rundschau« ih-ren Lesern auch schon 1932 mitge-teilt. Im »Dritten Reich« wurdensolche Aussagen aber häufiger undverschärften sich zugleich in Tonund Inhalt. Nichts, was in Deutsch-land wachse, dürfe ungenutzt blei-ben, hieß es seit Mitte der 1930erJahre in den Reformhauszeitschrif-ten, und nur, was unbedingt nötigsei, solle eingeführt werden.

körper« und über die Schwerfällig-keit beklagt, an der die demokrati-sche Staatsverwaltung kranke. DieReformer empfanden die Welt alsChaos, sahen aber in der »zusam-menbrechenden Zivilisation« unddem »Ungeist einer versinkendenEpoche« eine neue Zeit sich schonankündigen. Seit 1932 schien sichder Umbruch gewaltiger zu vollzie-hen als noch Ende der 1920er Jah-re, als nur wenige den »Mensch-heitsfrühling« schon wahrnahmen,und erst recht als zur Zeit der Jahr-hundertwende, als die Lebensrefor-mer die gesündere Zukunft noch indas utopische Jahr 2000 projizier-ten. Anfang 1933 modelten die Le-bensreformer den Umbruch in die»große deutsche Revolution« um.Dem neuen Staat entspreche einneuer Mensch, der »außer der neu-en Gesinnung eine erneuerte Leib-lichkeit« brauche.

Der am 30. Januar 1933 an dieMacht gekommene Reichskanzler,vermutete das »Neuform-VDR-Fachblatt« Anfang April 1933, steheder Lebensreform nahe, weil er Ve-getarier sei. Den deutschen Vegeta-rier-Vereinen sollte es nichts nüt-zen, dass Adolf Hitler tatsächlichweitgehend auf Fleisch verzichtete.Der organisierte Vegetarismus galt

Der »wirhafte« Mensch – kein Heimchen, kein Star,kein Tölpel

In der Kundenzeitschrift der Re-formhäuser tauchten immer wiederThemen auf, die vom Gedankengutdes Nationalsozialismus angeregtwaren. Im Juli 1934 schrieb derSchriftleiter der »Neuform-Rund-schau«, Werner Altpeter, über »DieNase als Charaktermerkmal«. DenArtikel begleitete eine Grafik mitverschiedenen Nasentypen: der»Kindesnase«, der »Slawennase«,der »Deutschen Nase«, der »Grie-chischen Nase«, der »Römernase«und der »Judennase«. Im Textselbst kam übrigens die »Judenna-se« nicht vor. Im September dessel-ben Jahres fragte die Zeitschrift:»Passt Dein Charakter ins DritteReich?«. Der nationalsozialistischeStaat brauche »wirhafte Men-schen«, heißt es dort, keine »ich-haften« wie die »Heimchen«, derenbeschauliches Leben aus Bratäpfeln,Limonade und mündelsicherenRenten bestehe, keine von Beifallund Bewunderung abhängigen

»Stars«, keine »Tölpel«, die ausFurcht vor Niederlagen von vorn-herein auf alles verzichteten, undkeine herrschsüchtigen »Cäsaren«.Die Frage nach der charakterlichenEignung für das »Dritte Reich« hei-ße also: »Wie weit bist Du nochHeimchen oder Star oder Tölpeloder Cäsar?« Weiterhin verwies dieReformbewegung oft darauf, wiewichtig sie für den nationalsozialis-tischen Staat sei. So meldete die»Neuform-Rundschau« im August1934, die 28.SS-Standarte, Ham-burg, sei bei einem Gepäckmarschvon Reformhäusern verpflegt wor-den und »siegreich gewesen«. Dassei klar auf die Reformnahrung zu-rückzuführen.

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Lebensreformerin-nen waren mitneuzeitlicher Kü-chenführung ver-traut, hatten aberoft auch einen Be-ruf. Das Reform-haus bot Erleich-terungen im Haus-halt: mit zweck-mäßigen Küchen-geräten etwa undgesunder Instant-Kost.

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Der Haut widmeten die Lebensreformer größte Aufmerk-samkeit. Ausführlich beschrieben die Kundenzeitschrif-ten der Reformhäuser, wie sie zu reinigen und zu pfle-gen sei. Der Mensch sollte viel Licht und Luft an dieHaut lassen. Im Reformhaus gab es Massagebürstenund Schaber zum Reinigen, pflegende Öle, Packungenund Heilbäder.

Im Zwiespalt zwischen »Neuform Heil« und eigener Tradition

Die Reformwarenwirtschaft warbald von Sprache, Zeichen undSymbolen des »Dritten Reichs«durchdrungen. Funktionäre derNeuform-Genossenschaft unter-schrieben Briefe mit der Grußfor-mel »Neuform Heil« und sprachenseit 1936 von ihrem »Genossen-schaftsführer« und dessen »Gefolg-schaft«. Das entsprach dem Voka-bular des »Gesetzes zur Ordnungder nationalen Arbeit« vom 20. Ja-nuar 1934. Gleichzeitig wehrte sichder Neuform-Geschäftsführer Al-fred Liebe im Januar 1935 aber da-gegen, von »alter« und »neuer«Reformbewegung zu sprechen.Denn das müsse von den Reform-hausbetreibern, die »jahrelang ihrePflicht getan haben, in den letzteneineinhalb Jahren auch taten undsie auch in Zukunft tun werden«,als »etwas Überhebliches« angese-hen werden. Damit verwies Liebeauf die eigene Tradition der Re-formhäuser, die er nicht erst 1933beginnen lassen wollte. Hanns Ge-org Müller, der Leiter der offiziösen»Deutschen Gesellschaft für Le-bensreform«, betonte hingegen imSeptember 1934 in seiner Zeitschrift»Leib und Leben«: »Die Reformbe-

wegung desJahres 1934 stellt etwas ande-res dar, als diejenige des Jahres1932. Das ist eine Tatsache, mag sieauch noch nicht jedem einzelnenzum Bewusstsein gelangt sein.«

Der Anspruch des Nationalsozia-lismus auf Anpassung setzte sich inder Lebensreform also nicht voll-ständig durch. Auch bei den Mar-kennamen der Reformprodukteverteidigte die Reformwarenbran-che ihre Traditionen. Diese wareninsofern in Gefahr, als viele Re-formprodukte keine deutschen Na-men trugen. Zahlreiche Waren hat-ten griechisch oder lateinisch an-mutende Namen wie »Frugipan«,»Granola«, »Layadont«, »Makrobi-on«, »Nussana« oder »Vitam-R«.Andere trugen Phantasienamen wie»KiKaKana«, was sich aus den An-fangssilben der Inhaltsstoffe desProdukts – Kieselerde, Kalzium, Ka-lium und Natrium – zusammensetz-te, oder »Olbas«, eine latinisierteZusammenziehung aus »BaselerÖl« (oleum basileum). Auch wenndie Sprache des »Dritten Reiches«selbst laut Victor Klemperer »vonZeit zu Zeit den volltönendenFremdausdruck liebte«, wollte dieseBuntheit nicht recht zur »LinguaTertii Imperii« passen, die Klempe-rer »bettelarm« genannt hat.

Im September 1935 druckte das»Neuform-VDR-Fachblatt« einenAuszug aus der Zeitschrift »Mutter-sprache« des »Deutschen Sprach-

vereins« ab, dernicht nur »Mischlinge« wie dieWörter »Lebensreform« und »Re-formhaus« »unerfreulich« nannte,sondern auch ausländisch anmu-tende Warennamen: »Gewiss, dieMehrzahl der Warenbezeichnungen

KiKaKana ist eineZusammenzie-hung aus Kiesel-säure, Kalium,Kalzium und Na-trium. Das Mittel»Flüggelin« dieserMarke sollte ent-schlacken undden Menschenvon allen unge-sunden Stoffenbefreien.

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Der Hefeextrakt Vitam-R gehört zu denältesten Reformhauswaren. Viele Pro-dukte erhielten in den 1920er JahrenNamen, in denen das Wort »vita«, Le-ben, steckte.

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Die Autorin

Dr. Florentine Fritzen, 30, wurde 2004 am Fachbereich Philo-sophie und Geschichtswissenschaften promoviert. Ihre beiProf. Dr. Lothar Gall entstandene Dissertation erschien 2006unter dem Titel »Gesünder leben. Die Lebensreformbewegungim 20. Jahrhundert«. Die Arbeit wurde 2005 mit dem Fried-rich-Sperl-Preis ausgezeichnet; dieser Preis wurde 1968 vonFriedrich Sperl, Wirtschaftsmanager im Widerstand gegen Hit-ler und später engagierter Förderer von Kultur und Wissen-schaft, für hervorragende geschichtswissenschaftliche Arbei-ten gestiftet. Florentine Fritzen ist Redakteurin in der Politi-schen Redaktion der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«.

Sebastian Kneippaus Wörishofenschrieb 1897 sei-ne »Wasserkur«.Die Lebensrefor-mer verehrten denPfarrer aus demAllgäu und wand-ten seine Hinwei-se an – im Freien,aber auch zu Hause.

te jeder seine Lebensmittel, seineKleidung, seine Haushaltswarenund seine Körperpflegemittel imReformhaus kaufen und in einem»Reformhaushalt« leben. Ein Volkvon Reformern, davon waren dieLebensreformer überzeugt, wäreein gesünderes Volk. Zugleich lie-ßen sie keinen Zweifel daran, dasssie sich unter dieser Gesamtheit dasdeutsche Volk vorstellten. Aus-drücklich erwähnten sie das erstnach 1933. Das Ziel, den »Volkskör-per« zu stählen, radikalisierte sichauch in der Lebensreform, vor al-lem nach Kriegsbeginn: Die Bewe-gung wollte nunmehr das deutscheVolk zum gesündesten aller Völkermachen.

Reformhäuser nach 1945

Im Weltkrieg herrschte auch in denReformhäusern Warenmangel. SeitAnfang 1940 fehlten Trockenfrüch-te, Nüsse und Margarine; später gabes fast gar nichts mehr. Bombenzerstörten viele Reformhäuser, undauch die Neuform-Zentrale in Ber-lin wurde beschädigt. Als das »Drit-te Reich« im Jahr 1945 Geschichtewurde, veränderte sich die Lebens-reform abermals. Der Nationalsozia-lismus hatte die Vitalität der Bewe-gung eingedämmt, aber nicht ver-nichtet. Bald nach 1945 öffneten imWesten Deutschlands wieder Re-formhäuser, und die Neuform-Ge-nossenschaft gründete sich neu. Inder DDR gab es zwar weiterhin pri-vat geführte Reformhäuser, aberkeinen Zusammenschluss mehr.

Im späten 20. Jahrhundert be-gann, vorerst schleichend, die Erosi-on des lebensreformerischen Gedan-kenguts. Während das gesündereLeben des einzelnen Menschen im-mer wichtiger wurde, rückte derübergeordnete Zweck, eine bessereGesellschaft zu schaffen, aus demBlickfeld. Die Reformhäuser wurdenzu einem Anbieter von vielen aufdem kaum noch überschaubarenMarkt für Gesundheitsprodukte. ◆

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gegen Zivilisationsschäden und dieReform der Lebensweise bliebenwichtiger.

Der Nationalsozialismus insze-nierte nicht nur gesunde und alsschön empfundene Körper, sonderner schloss zugleich aus, was seinemBild von Gesundheit und Schönheitzuwiderlief. Andere »Rassen«,schwache und kranke Menschenwurden, wie es im Sprachgebrauchder Nationalsozialisten hieß, »aus-gemerzt«. Die Lebensreformer woll-ten hingegen seit dem späten19. Jahrhundert eine gesündere Ge-sellschaft durch eine Reform allerihrer Glieder schaffen, sie strebteneine organische Umgestaltung an,nicht Ausschluss und Vernichtung.Die Vegetarier, die Naturheil- unddie Reformhausbewegung be-kämpften menschliche Angewohn-heiten wie fettes Essen, Alkohol-konsum und Bewegungsmangel,aber nie den Menschen selbst odereinzelne Menschen. Die grundguteNatur brachte in ihrer Sichtweisekein »lebensunwertes Leben« her-vor. Wohl in dieser Traditionschrieb Werner Altpeter noch kurzvor dem Beginn des Zweiten Welt-kriegs: »Voraussetzung für jedes ge-sunde Gemeinschaftsleben ist dieAchtung vor dem eigenen undfremden Körper.« Idealerweise soll-

in den Reformgeschäften istdeutsch; aber die fremdsprachli-chen, die Kunstwörter und dieMischlinge aus deutsch und fremdnehmen zu. (…) Deutsche Namenfür deutsche Waren? Altmodisch!›Neuformer‹ formen neue, ›natur-gemäße‹ ›Reformnamen‹ – ›da wen-det sich der Gast mit Grausen‹.« Ineiner Replik schrieb die Neuform-VDR, das Reichspatentamt schützeeben keine »offenen deutschenWörter«. Daher müsse man »seineZuflucht nehmen zu fremden Be-zeichnungen oder Kunstwörtern.Denn nicht immer lässt sich mitdem Firmennamen allein (…) einegenügend schutzfähige Bezeich-nung schaffen.«

»Volksgesundheit«, »Lebenskraft« und »Rassenhygiene«

Gesundheit, das oberste Ziel der Le-bensreform, galt im »Dritten Reich«nicht mehr als Privatangelegenheit,sondern ausschließlich als Pflichtdes Einzelnen gegenüber seinemVolk. Die Nationalsozialisten ver-suchten, die Volksgesundheit aufzweifache Weise zu erreichen: ei-nerseits durch Steigerung der Le-benskraft, indem sie die Lebensge-wohnheiten des Volkes zu ändernsuchten, andererseits durch »Ras-senhygiene«. Der erste der beidenAnsätze, also die Lebensweise derMenschen zu verändern, war schonseit der Jahrhundertwende ein An-liegen auch der Lebensreform ge-wesen. Die »Rassenhygiene« hinge-gen spielte in der Lebensreformbe-wegung nur eine vergleichsweisegeringe Rolle. Nach der Machtüber-nahme der Nationalsozialisten hieltsie dann zwar Einzug in die Reform-hauszeitschriften, aber der Kampf

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