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Vom Leben der Kanonissen im MittelaIter* · 2019. 9. 20. · Vom Leben der Kanonissen im...

Date post: 26-Jan-2021
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Vom Leben der Kanonissen im MittelaIter* Gtinter E. Th . Bezzenberger t Einleilung Will man sich mil dem Leben der Kanoniss en im Mittelaller beschartigen, stoGt man sog leich auf einen merkwtirdigen Sachverhall. Monumente, die an ehemalige Kan o ni sse nstifte erinnern, haben si ch in Deut schland, Frankreich und England in nichl un erheblichem Urn fang erhalten. Ich de nke hier in Hes- sen an die Stiftskirche in We tter , die zugleich auch an die beiden schottischen Stifterinnen Almudis und Dincmudis (A delmudi s und Digmudis) e rinn ert ; odeT an di e Stiftskirche des Heiligen Kr e uze s in Kaufungen, erwachsen aus einer K10 s lergrtindung der Kaiserin Kunigund e im Jahre 1017. Wiihrend diese beiden KiTch en oach einiges vam Leben der Kanonissen erzahlen, ist der Karls turm oder Schwarze Turm in Eschwege als letz ler Re st des Kanoni sse n- stifles 51. Cyriakus wie ein aufragender Menhir, der erinnert, abeT schweigt. Auch auGerhalb von Hessen s ind uns gewiB di e Namen e ini ger Kanonisse n- stifte gegenwiirtig: etwa westlich des Harzes Gandersheim und ostlich des Har zes, hochg elege n auf einem Felsen, das Stift Quedlinburg und ganz in der Niihe Germerode . Hingewi ese n se i auch a uf di e bedeutenden Stifte in Essen- und in Koln Sancta Ma ri a im Kapitol. Trolz solc her erinnernden Monum ente weil3 man im allgemeinen recht wenig von dem Leben, das einst sie erfLillte, gaoz im Gegen sa tz zu dem, was man von den mon as ti sc hen Orden, vam Leben in den Kl 6s tern weiB. WiT ken- nen die drei monaslisc hen Geltibde : Gehorsam, Keuschh eit und Armul. Im Bli ck auf die von Ben ed ikt von Nur sia (geb. urn 480, gesl. nach 542) auf dem Monte Cassi no bei Neapel gegrtindete abendliindische Lebe nsform der K1o- sterge mein schaft ist un s das Leitwort ORA ET LABORA (bete und arbeite) gegenwartig; mil den Ritteror den verbinden wir den Schutz des eroberten Heiligen Land es und den Hospitatdiens t. Bei den Zisterziensern assoziieren wir KJo s teranla ge n in abgelegenen Gebieten, Landwirtschafl, strenge Schlichlheit im Kirchenbau . Mit den Franziskanern und Dominikanern ver- binden si ch die Stichworter: Bettelorden, Stadtklosler , Pr ediglkirchen. Die Barmherzigen Schwestern erinnern uns an Krankenpflege, Ursulinerinnen und Englische Friiulein an Schulen. Man konnt e wie in einem Spiel solche Asso ziationsreihen fortset ze n. Doch , wie gesagt, si nd un s irn Gegensatz dazu kaum Kenntnisse Uber die Entstehung und die Leben swe ise def Kanonissen gegenwartig, wohl kaum 3uch die Namen van Kanonis se n. Als Ausnahme mag Roswitha van Ganders- heim gel ten, die erste un s bekannte Dichterin Deut sc hland s, die ihre nHor- 5piele" - mod e rn gesagt - ihre sechs Dramen, in mittellateinischer Sprache schri eb. Sie lebte urn die Mitte des 10. Ja hrhundert s (urn 935 bis vermutlich nach 962). *} Ma nu s kript einer Rede vaT Eschweger Hore rkr eis aus dem NachlaB van Oberlandeskirchenrat G. E. Th . B ez ze nb erger (Kaufungen). Der Text fo1gt ohne Ei ngriffe in di e Vorlage . - Su . 13
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  • Vom Leben der Kanonissen im MittelaIter*

    Gtinter E. Th. Bezzenberger t

    Einleilung

    Will man sich mil dem Leben der Kanonissen im Mittelaller beschartigen, stoGt man sogleich auf einen merkwtirdigen Sachverhall. Monumente, die an ehemalige Kano nissenstifte erinnern, haben si ch in Deutschland, Frankreich und England in nichl unerheblichem Urn fang erhalten. Ich denke hier in Hes-sen an die Stiftskirche in Wetter, die zugleich auch an die beiden schottischen Stifterinnen Almudis und Dincmudis (Adelmudis und Digmudis) erinnert ; odeT an die Stiftskirche des Heiligen Kreuzes in Kaufungen, erwachsen aus einer K10slergrtindung der Kaiserin Kunigunde im Jahre 1017. Wiihrend diese beiden KiTchen oach einiges vam Leben der Kanonissen erzahlen, ist der Karlsturm oder Schwarze Turm in Eschwege als letzler Rest des Kanonissen-stifles 51. Cyriakus wie ein aufragender Menhir, der erinnert, abeT schweigt.

    Auch auGerhalb von Hessen sind uns gewiB die Namen einiger Kanonissen-stifte gegenwiirtig: etwa westlich des Harzes Gandersheim und ostlich des Harzes, hochgelegen auf einem Felsen, das Stift Quedlinburg und ganz in der Niihe Germerode. Hingewiesen sei auch auf die bedeutenden Stifte in Essen-und in Koln Sancta Maria im Kapitol.

    Trolz solcher erinnernden Monumente weil3 man im allgemeinen recht wenig von dem Leben, das e inst sie erfLillte, gaoz im Gegensatz zu dem, was man von den monastischen Orden, vam Leben in den Kl6stern weiB. WiT ken-nen die drei monaslischen Geltibde : Gehorsam, Keuschheit und Armul. Im Blick auf die von Benedikt von Nursia (geb. urn 480, gesl. nach 542) auf dem Monte Cassino bei Neapel gegrtindete abendliindische Lebensform der K1o-stergemeinschaft ist uns das Leitwort ORA ET LABORA (bete und arbeite) gegenwartig; mil den Ritterorden verbinden wir den Schutz des eroberten Heiligen Landes und den Hospitatdienst. Bei den Zisterziensern assoziieren wir KJosteranlagen in abgelegenen Gebieten, Landwirtschafl, strenge Schlichlheit im Kirchenbau . Mit den Franziskanern und Dominikanern ver-binden si ch die Stichworter: Bettelo rden, Stadtklosler, Prediglkirchen . Die Barmherzigen Schwestern erinnern uns an Krankenpflege, Ursulinerinnen und Englische Friiulein an Schulen. Man konnte wie in einem Spiel solche Assoziationsreihen fortsetzen.

    Doch, wie gesagt, si nd uns irn Gegensatz dazu kaum Kenntnisse Uber die Entstehung und die Lebensweise def Kanonissen gegenwartig, wohl kaum 3uch die Namen van Kanonissen. Als Ausnahme mag Roswitha van Ganders-heim gel ten, die erste uns bekannte Dichterin Deutschlands, die ihre nHor-5piele" - modern gesagt - ihre sechs Dramen, in mittellateinischer Sprache schrieb. Sie lebte urn die Mitte des 10. Jahrhunderts (urn 935 bis vermutlich nach 962).

    *} Manu skript einer Rede vaT Eschweger Hore rkreis aus dem NachlaB van Oberland esk irchenrat G. E. Th . Bezzenberger (Kaufungen). Der Text fo1gt ohne Eingriffe in di e Vorlage . - Su .

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  • Zu Unrecht sind die Erinnerung an die Kanonissenstifte und ihre Bestim-mung derart zurtickgetreten, denn sie tradierten eine besondere Form des geistlichen Lebens, der Spiritualitat, wie man es heute gem nennt, deren WUT-zein bis in die Zeit der fruhen Christenheit zurilckreichen. Und somit ist es ein kirchengeschichtliches und geistlich bestimmtes Thema, das ich Ihnen heute darbiete, - ein Thema ohne spektakulare Ereignisse und Gegebenheiten. Doch scbeint es mir, man kiinne dazu ein Wort des Tbeologen, Philosophen, Bach-Interpreten und Urwalddoktors Albert Schweitzer gewissermaBen als Leitwort voranstellen:

    "Von dem in der Menschheit vorhandenen idealen Wollen kann immer nur ein kleiner Teil zu iiffentlich auftretender Tat werden. Allem ubrigen ist es bestimmt, si ch in vielem Unscheinbaren zu verwirklichen, das miteinander einen Wert darstellt, der denjenigen des Tuns, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht, tausendfach und abertausendfach ubertriffl. Es verhalt sich zu ihm wie das tiefe MeeT zu den Wellen, die seine OberfHi.che bewegen ,"

    Da es das erbetene Ziel dieses Vortrags sein soli, Struktur, Wesen, Lebens-form und kirchengeschichtlichen Platz der Kanonissenstifte darzustellen, kann ich nicht naher auf die besondere Gescbichte des Eschweger Cyriakus-stiftes eingehen. VieUeicht kann aber dieser Abend dennoch dazu beitragen, auBer dem erhaltenen Schwarzen Turm Fundamente freizulegen, die ahnen und erkennen lassen, welcher Geist einst die Frauen bestimmte, die auf die-sem Hugel lebten.

    Wer sich mit der Geschichte des Eschweger Stiftes befassen miichte, der sei aufdie vorzugliche Arbeit von Albert Huysken "Die Kliister der Landschaft an der Werra" (Marburg 1916) hingewiesen. Sie enthalt u. a. 485 Regesten von Urkunden des Cyriakusstiftes in heutigem Deutsch. Die Urkunden geben auch interessante Einblicke in die Eigenwilligkeit der mittelalterlichen Eschweger. Davon hat sich wohJ - wenn ich richtig orientiert bin - einiges bis heute erhalten und auch auf Neuburger ubertragen.

    Auf ein gewisses Dilemma muB ich einleitend noch hinweisen. Wissen-schaftliche Literatur, die sich mit dem Kanonissenwesen beschaftigt, ist nur sehr mager vorhanden. Es gibt in deutscher Sprache bisher nurein zusammen-hangendes Werk. Es tragt den Titel "Die Kanonissenstifte im deutschen Mit-telaiter - ihre Entwicklung und innere Einrichtung im Zusammenhang mit dem aitchristlichen Sanktimonialentum". Das Buch stammt von dem katholi-schen Theologen Karl Heinrich Schafer und ist 1907 in Stuttgart erschienen. Ein Reprint erfolgte 1965 im Verlag P. Scbippers, Amsterdam.

    Fur die fruhchristliche Zeit konnten kirchengeschichtliche Werke herange-zogen werden. Fur die Darstellung der mittelaiterlichen Entwicklung erwie-sen si ch u. a. Urkunden aus Kaufungen, Eschwege und Wetter ni.itzlich.

    Meinem ublichen Brauch folgend und urn Ihnen Reflektionen daruber zu ersparen, wann endlich mein Vortrag sein Ende erreicht, mochte ich noch vor-ausschicken, daB er nach dieser Einleitung aus sechs Teilen und einer ganz kurzen SchluBbetrachtung bestehl.

    I. Frauengemeinscharten in der fruhen Christenheit

    Zur Phanomenologie der Religionen gehiiren allgemein aufgenicherte Gemeinschaftsformen. So gibt es einerseits die familiare, sippenhafte, wohn-gemeinschaftliche Bindung urn eine gemeinsame Kuitstatte, wie etwa im

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  • Christentum die Ortsgemeinde urn ihre Gemeindekirche. lnnerhalb der Reli-gionen haben sich daneben aber stets auch andere Gemeinschafts- und Friim-migkeitsformen herausgebildet. Sie konnen entweder in einem engeren Bezug zu den iirtlichen Religionsbindungen stehen, ebenso aber auch getrennt davon ein Eigenleben mhren . Beispiele damr sind die Kliister mit ihren Miin-chen oder Nonnen. Und schlieBlicb finden sich individualistische Formen, zum Teil in Absonderung von der Gemeinschaft, man denke an die Bewegung der Anachoreten, der Einsiedler, die zur friihchristlichen Zeit in der agypti-schen Thebais entstand, oder in RuBland an die Starzen. Ebenso gehiiren Menschen zu dieser Gruppe, die sich personlich zu einer besonderen, fUr sie verbindlichen Friimmigkeitsform im Rahmen der iirtlichen Gemeinde ent-schieden.

    Schon im Riimerbrief des Apostels Paul us hiiren wir (Kap. 16, 1) von einer Frau, die in der griechischen Hafenstadt Kenchreii (Korinth) im Dienst der Gemeinde stand. Wiirtlich heiBt es, sie sei ein Diakon (=Helfer) der Gemeinde; und diese Frau namens Phiibe wurde beauftragt, den Paulusbrief der christlichen Gemeinde in Rom zu iiberbringen. Das Amt weiblicher Dia-konen wurde im zweiten lahrhundert ausgebaut, und so begegnen uns dann in den Gemeinden - und hier mussen WiT vornehmlich an Stadtgemeinden den-ken, von denen die christliche Mission ausging - die Gruppen unverheirateter Frauen od eT Witwen, die wohl zunachst aHein oder im Familienverband leb-ten, sich abeT in der weiteren Entwicklung 3uch zu Gemeinschaften zusam-menschlossen.

    [n einem anderen neutestamentlichen Brief, im 1. Timotheusbrief, def wohl oach dem lahre 100 in paulinischerTradition verfaBt wurde, und damit in einer Zeit entstand, in der sich die kirchlichen Amter profilierten, wird ein» Witwen-amt" erwahnt, flir das Wit wen ausgewahlt werden konnten, die sich als glaub-wilrdige Christinnen erwiesen hatten. Inhaltlich werden an dieser Stelle nicht ihre Aufgaben beschrieben, sondem lediglich die Voraussetzungen flir die Zulassung genannt:

    »Es soli keine Witwe ausgewiihlt werden unter sechzig Jahren; sie soli eines einzigen Mannes Frau gewesen sein und ein Zeugnis guter Werke haben: wenn sie Kinder aufgezogen hat, wenn sie gastfrei gewesen ist, wenn sie den Heiligen die FUBe gewaschen hat, wenn sie den Bedrangten beigestanden hat, wenn sie alien guten Werken nachgekommen ist" (Kap. 5, 9-10).

    Als dritter 8egriffftir Christinnen, die sich in einer besonderen Weise ver-.,flichteten, begegnet uns in der frlihen Kirche die Bezeichnung »Jungfrauen". Damit sind Frauen gemeint, die sich unter Verzicht auf Ehe oder als Witwen auf eine weitere Ehe flir die Nachfolge Christi im gemeindlichen Dienst ver-schrieben hatten.

    Nun ist es aufGrund der QuellenIage gar nicht einfach, diese drei Gruppie-rungen - Diakonissen, Witwen, Jungfrauen - zu differenzieren, zumal sie in der friihchristlichen Literatur zum Teil synonym gebraucht werden. Vermut-lich waren die Diakonissen zunachst mit der Kranken- und Armenpflege betraut.

    Aber sie nahmen dann auch neben den Diakonen gottesdienstliche Aufga-ben wahr und hatten eine Aufsichtsfunktion gegeniiber den anderen Frauen-gruppierungen. Das ergibt sich aus der Form ihrer Weihe durch den Orts-

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  • bischofunler Handauflegung. Sie slanden also in der Rangordnung der h6he-ren Weihen. In einem nestorianischen Weihegebet heiBt es:

    "Gib ihr, 0 Herr, die reehte Einsicht, daB sie die Jungfrauen fleil3ig ermah-ne, leile und mil Vertrauen und Milde zurechtweise, daB sie die Fremden beherberge und deine Geheimnisse erkHire, damit deine Dienerinnen (andl-lae tuae = Gottgeweihlen) in Zuchl und Keuschheilleben" (Schiifer, S. 55).

    Zu den lilurgischen Funktionen geh6rlen Diakonendienste bei der Taufe weiblicher Kalechumenen, bei der Spendung der Eucharislie, des Abend-mahls, an Frauen und Kinder und an weiblicbe Kranke. Die Wilwen und Jung-frauen , die man dem niederen Klerus zuordnete, widmeten sich vornehmlich der Kranken-, Armen- und Waisenpflege, der Unlerrichlung von Taufbewer-berinnen, der Milhilfe bei Begriibnissen sowie der Reinigung und Ausschmlik-kung der gottesdienstlichen Riiume. Schlossen sie sich zu einer Kongregalion zusammen, so erhiell auch die aus ihrer Mitte beslimmle Leilerin die Diako· nissenweihe. Die im Dienst der Kirche stehenden Frauen wurden dUTch Zuwendungen aus den Gemeinden versorgt.

    Es isl kennzeichnend fUr diese Frauen (die wie Verheiralele einen Schleier lrugen) und fUr ihre Zusammenschltisse, daB sie si ch freiwillig und bewuBI fUr den Diensl in den Gemeinden zur VerfUgung slelllen und ein geistlich geform-les Leben zu fUhren suchlen, gepriigl von Gedanken aus dem 84. Psalm :

    "Meine Seele verlangt und sehnt sich oach den Vorhofen des Herrn ; mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Golt. Denn ein Tag in deinen Vorh6fen isl besser als sonsllausend."

    Personifiziert begegnel uns dieses Lebensmoliv in der Geslall der Prophe-tin Hanna, van def es in der neutestamentlichen Geschichte van der Darstel-lung Jesu im Tempel heiBI:

    "Sie war hochbelagl und halle sieben Jahre mil ihrem Mann gelebl, nach-dem sie geheiratet hatte, und war nun eine Witwe an die vierundachtzig lahre ; sie wich nichl vom Tempel und dienle GOll mil Faslen und Belen Tag und Nacht. Die Iral auch hinzu zu der selbigen Slunde und pries Goll und redele von ihm zu alien, die auf die Erl6sung Jerusalems wartelen" (Lukas 2, 36-38).

    Zum geistlichen Leben der Sanklimonialen (Iat. sanctimonialis = fromm, heilig), wie man zusammenfassend die Frauen dieser frlihchristlichen Bewe-gung nennl, geh6rten das dreimalige liigliche Gebel (wohl ursprlinglich urn neun, zw61f und drei Uhr) und das Fasten an bestimmten Wochentagen. Im librigen leglen sie keine Geliibde ab und verfUglen weilerhin, soweil vorhan-den, uber ihren Besilz. Sie konnlen auch aus ihrer bisherigen Gemeinschaft auslrelen und heiralen. Es handelle sich also urn eine freie Bindung.

    In unserer siikularisierten Gesellschaft mag ein solches Engagement, eine solche Lebensentscheidung fremd und ungewohnt erscheinen. Doch verkor-perl sie das, was der Theologe Friedrich Schleiermacher im vergangenen Jahr-hunderl als "freie Geislesmachl" bezeichnel hal, die unser Leben millriigl und halt, etwa dUTch die stellvertretende FUrbitte, die weithin versiegt ist. Neue Gemeinschaften, die da und dort in unserer Zeil enlslanden sind und deuI-liche Bedeulung finden - ich denke beispielsweise an Taize oder in unserem Land an die Kommunitat in Imshausen - , lassen erkennen, daB der gehorte Ruf in die Nachfolge Chrisli slels auch wieder zu neuen Formen der VerfUg-barkeil fUhr!.

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  • Fur die Frauen, die sich dem Dienst der Kirche weihten, bildete sich im 4. Jahrhundert der Name canonica (= Kanonisse) heraus. Abgeleitet ist dieser BegritTvon dem griechischen Wort Kanon, das uns auch in den Paulusbriefen begegnet (2. Korinther 10, 3-16; Galater 6, 16) und "MaBstab, Regel , Richt-schnur" bedeutet. Es handelt sich also bei den Kanonissen urn Frauen, die nach einer bestimmten Richtschnur leben, die sie zugleich zu dieser Lebens-form legitimiert. (Ebenso wurden auch die im Neuen Testament zusammen-gefaBten Schriften kanon genannt und damit als die Schriften gekennzeichnet, die Grundlage und Richtschnur des christiichen Glaubens sind.)

    Das Sanktimonialentum war in der alten Kirche - d. h. im Raum des Romi-schen Reicbes - tiberall verbreitet und zeigt beispielbaft die Mitgestaltung des gemeindlichen Lebens durch Frauen . Pauschale feministische Urteile tiber Frauenfeindlichkeit in der fruhen Christenheit, wie sie mitunter heute zu horen sind, beruhen haufig auf unzureichender Kenntnis geschichtlicher Gegebenheiten.

    Allerdings setzte - ich nenne als runde Zahl: ab 400 - eine Entwicklung ein, die das Sanktimonialentum eingrenzte und schlieBlich aufloste. Bei den Aus-ei nandersetzungen mit haretischen und schismatischen Kirchen (z. B. Aria-nem) und neuen Religionsformen (z. B. Neuplatonikem, Manichaem) bildete sich immer massiver eine straffe hierarchische Ordnung der Kirche heraus, die in der monarchischen Stellung des Bischofs und gesondert des Bischofs von Rom gipfelte. Das Amt gait neben dem Kanon der Heiligen Schrift und dem Glaubensbekenntnis als Garant fUr die rechte Tradition des Glaubens. Die-sem strafTen hierarchischen Ordnungsprinzip entsprachen nicht die "freien Geistesmachte", die vielfliltigen Gemeinschaften, die si cb in der Kirche ent-wickelt hatten. Zudem verdrangte das maskulin orientierte KJerikerverstand-nis das frauliche Mitwirken beim liturgischen und sakramentalen Vollzug.

    Damit verband sich immer kraftiger der asketische Gedanke, daB Altar-dienst und Ehe nicht vereinbar seien. Wirksam wurden hier Ideale des Monchstums, das von Agypten her deutiichen EinfluB in der Kirche gewann. Seinem Wesen nach handelt es sich dabei urn eine Protestbewegung, die an die altkirchlicbe Askese ankntipfte und sich gegen die urn si ch greifende Ver-weltiichung der Kirche im konstantinischen Zeitalter wandte.

    Erwahnt wurde schon Benedikt von Nursia, der mit der Grtindung des Klo-sters auf dem Monte Cassino im Jahre 529 ei n Modell fUr das abendlandische Monchstum schuf und mit seiner Musterregel asketischen MiBstanden Ein-halt gebieten wollle. In der Folgezeit wurde demenlsprecbend der monasti-sche ZusammenschluB, die Weltentsagung im Kloster, die weithin einzige kirchlich legitimierte Form geisti icher Lebensgemeinschaften fUr Manner und fUr Frauen . Das Sanktimonialentum in den Gemeinden geriet ins Abseits, und

    •• die Institution der Kanonisse als kirchliches Amt verschwand fast ganz. Uber-raschenderweise entstand jedoch andernorts in veranderter Form eine neue Sanktimonialenbewegung (die an die frtihchristiicben Gemeinschaften ankntipfte).

    2. Entstehung und Ausbreitung der mittelalterlichen Kanonissen Unsere bisherige Betrachtung befaBte sich mit den Gebieten des Riimi-

    schen Reiches, in denen das Christen turn FuB faBte, ,efigio ficita, und schlieB-lich Staatsreligion wurde. Nun wo lien wir uns dern merowingisch-frankischen

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  • und sachsischen Raum zuwenden, der zunachst van dieser Entwicklung nicht erreicht wurde .

    • Fur unseren Zusamrnenhang ist es dabei wichtig, die unterschiedlichen

    Gegebenheiten der Missionspraxis im Auge zu haben . Die urchristliche und fruhchristliche Mission ging zellenartig voran, van Stadt zu Stadt, van einer Provinz zur anderen. Es handelte sich dabei, wenn man es soziologisch aus-driicken will, urn eine Bewegung "von unten". Ich zitiere in diesem Zusam-menhang einen exemplarischen Hinweis des Apostels Paulus aus dem 1. Korintherbrief (I, 26-29):

    "Seht doch auf eure Berufung, Bruder! Da sind nicht viele Weise im irdi-schen Sinn, nicht viele Miichtige, nicht viele Vornehme, sondern das Tiirichte in der Welt hat Gott erwiihlt, damit kein Mensch si ch ruhmen kann vor Gott."

    Im merowingisch-friinkischen Raum faBte dagegen die christliche Mission zuniichst FuB an den Sitzen des Adels und der Stammesoberhiiupte. 496 lieB sich der Frankenkiinig Chlodewech taufen, und ihm folgte bald die Mehrzahl der Freien nach. Ahnlich vollzog sich die bonifatianische Mission, die von den frankischen Zentren in Hessen und Thuringen ausging. Ich nenne die franki-schen Herrschaftszentren Amiineburg, Kesterberg (Christenberg) und Bura-berg bei Fritzlar. Oder den ken wir an die Christianisierung Norwegens urn das Jahr 1000 durch den Ubertritt des Konigs Olafund wenige Jahre zuvor (987) an den Beginn der Christianisierung RuBIands durch die von dem GroBfUrsten Wladimir von Kiew veranlaBte Dnjepr-Taufe des Volkes der Russen. Paralle-len finden si ch auch in der Obersee-Missionsgeschichte der Neuzeit.

    Im merowingisch-frankischen und sachsischen Raum entstanden nun mit der Mission die Kanonissenstifte, in denen die Tradition aus dem alten Romi-schen Reichsgebiet aufgegrifTen und umgeformt wurde. Diese Kanonissen-stifte waren dem Missionsansatz entsprechend Stiftungen des Adels, vor-nehmlich des Hochadels. Als Stiftungen zeugen sie von der "Stifterfriimmig-keit" im Mittelalter. Die Abgaben aus eigenem Besitz fUr fromme Zwecke geschahen zugleich urn des eigenen Seelenheils willen und wegen des Seelen-heils von Angehorigen und Vertrauten, wie dies Stiftsurkunden belegen. Die oft recht unterschiedlichen Stiftungen hatten additiv das Ziel, eine autarke Wirtschaftsstruktur fUr die initiierte Einrichtung zu schafTen.

    Karl Heinrich Schiifer stellt in seinem Buch uber die Kanonissenstifte drei Bluteperioden des kontinentalen mittelalterlichen Kanonissenwesens heraus (S. 70-75):

    a) vorn 6. bis 9. Jahrhundert im merowingisch-friinkischen Raum mit Stiften z. B. in Metz (S. Glodolindis; vor 600), Vienne, Reims (urn 600), Poitiers, Auxerre (urn 635), Trier (S. Irminen ; vor 722), Koln (S . Maria irn Kapitol ; urn 700), Odilienberg (ElsaB; Ende 7. Jahrhundert).

    b) Hauptsiichlich irn 9. Jahrhundert folgt die wesWilische Blutezeit mit Stiften in Essen (urn 852), Herford, Neuenheerse, Herdecke.

    c) Die dritte Epoche, die siichsische, umfaBt den Zeitraum vom 9. bis zum H. Jahrhundert rnit Stiftungen in Gandersheim (Mitte 9. Jahrhundert), Quedlinburg (937), Gernrode (urn 960), Eschwege (994), Wetter (vermut-lich 1015) und durch Umwandlung des Benediktinerinnen-Klosters auch Kaufungen (ca. HOO).

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  • Wir kiinnen also eine West-Ost-Bewegung feststellen, die auch in derweite-ren Geschichte des Kanonissenwesens eine Rolle spielt.

    3. Zur Struktur der mittelalterlichen Kanonissenstifte ••

    Ahnlich wie es beim Sanktimonialentum der Alten Kirche der Fall war, weckte die Annahme des Christentums im frankischen und sachsischen Raum den Wunsch oach besonderen, entschiedenen Formen eines Zusammenle-bens in christlicher Gemeinschaft. Dabei verwoben sich verschiedene Aspekte und lieBen neben der Grundung von Kliistem eine komplexe Sonderform christlicher Frauengemeinschaften, das mittelalterliche Kanonissenstift, ent-stehen.

    Seinem Wesen nach war es eine geistliche Gemeinschaft. Gottesdienst und Gebet bestimmten den Tagesablauf. Daraufwird noch naher einzugehen sein. lm Gegensatz zur Klostergemeinschaft handelt es sich aber urn eine Gemein-schaft mit individueller Freiheit. D. h., das Stift bot seinen Mitgliedem, den Kanonissen, auch Freiraum fUr individuelle Lebensgestaltung und forderte keine Weltentsagung. Die Kanonissen konnten sich beurlauben, urn ihre Angehorigen und befreundeten Familien zu besuchen, wobei es kaum zeitli-che Begrenzungen gab. Sie konnten auch wieder aus dem Stift austreten; in wohl selteneren Fallen geschah das aus Heiratsabsichten. Mit dem Eintritt in ein Kanonissenstifi war kein Verzicht auf Privateigentum verbunden.

    Freiheit und Gemeinschaft zeigten sich auch in der Wnhnweise. Tagsuber hatten die Kanonissen ihren eigenen Wohnbereich in einem besonderen Trakt des Stifles oder in besonderen Hausern. AIs gemeinsame Schlafstatte standen ihnen zunachst ein Dormitorium und fUr die Mahlzeiten ein Refektorium zur VerfUgung.

    Spater lebten sie wohl meist ganz in den ihnen zugewiesenen Wohnstatten und erhielten die notwendigen Viktualien zugeteilt. Furdie HaushaltsfUhrung hatten sie eigene Bedienstete.

    Die Stifle waren - wie gesagt - vornehmlich oder ausschlieBlich Einrichtun-gen fUr Madchen und Frauen aus dem Ade!. Die Leitungsfunktion als Abtissin hatte haufig eine Angehiirige des Hochadels inne. Die erste Abtissin von Quedlinburg war z. B. Mathilde, eine Tochter Ottos des GroBen, und die Abtissin Sophie von Gandersheim war eine Schwester Ottos 1IJ. Die Kanonis-senstifte waren also auch Orte fUr die standesgemaBe Versorgung von Tiich-tern aus dem Hochadel , soweit sie unverheiratet blieben . Dabei muB man sich vergegenwartigen, daB Ehen damals unter anderen Voraussetzungen geschlossen wurden als heute und die Zahl der unverheiratet Lebenden wesentlich hoher war.

    Die Standortfrage der Stifle ist noch nicht hinreichend untersucht. Wir ken-nen Stifte, die abseits von Verkehrswegen entstanden. Andere finden si ch an wichtigen Handels- und HeerstraBen. Einige haben als Reichsstifle besondere Bedeutung erlangt und vorhandenen Ansiedlungen wirtschaftlichen Auf-schwung gebracht. Dies trifft z. B fUr das Cyriakusstifl in Eschwege zu. Von ihrer Ausstattung her als Reichsstifle dienten sie zugleich auch als kiinigliche Pfalzen und als Versammlungsorte fUr Furstentage etc.

    Fur Madchen, die gewiihnlich als Anwarterinnen mit sieben Lebensjahren aufgenommen werden konnten, gab es in den Kanonissenstiften eigene Schu-len. Sie hatten die Aufgabe, auf das selbstandige Leben als Kanonissin vorzu·

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  • bereilen und die Vorausselzungen fUr die aktive Teilnahme am Chordiensl zu schafTen. DaTum zahllen 3uch Latein- und Gesangsunterricht zum Pensum. Diese Stiftsinternate. in denenjeweils mehr Miidchen unterrichtet wurden als Kanonissenpfrunde vorhanden waren, gehorten in der damaligen Zeil zu den wenigen Stiillen der Frauenbildung.

    Die Kanonissenstifte waren fern er, wie die KJoster, Zentren def Diakonie. In vielen befanden si ch Hospitaler, und auch die ArmenpOege gehorte zu den selbslverslandlichen Aufgaben. Daran waren die Kanonissen durch beson-dere Naluralienprabenden (Zuweisungen, Pfrunde), die sie erhiellen (z. B. Armenbrole zum Ausleilen), direkl beleiligt.

    Fur die Gottesdiensle, den Chordienst und die Seelsorge war ein eigener Sliftsklerus erforderlich. Daher gab es besondere Pfrunde fUr sog. Hebdoma-dare (wortlich uberselzt : "Wochner"), die jeweils fUr eine Woche den Diensl tibernahmen. Sie wohnten teils am Sliftsort, hatten aber teils auch ihre Stifts-pfrtinde andernorts und reisten zu ihrem Wochendienst jeweils an. Die Zahl der Sliftsgeistlichen war je nach Einrichlung verschieden und schwankte zudem durch die Zeitlaufe. In Essen gab es 20 Priester, 12 in Quedlinburg, 6 in Kaufungen, 4-5 in Esehwege, 4 in Wetter.

    Die Stifte ubernahmen aueh die geistliche Versorgung fUr die vom Slift besoldelen Arbeitskrafte (Kneehle, Heizer, Magde, Backer, Sehlaehler, Sehreiber ele.). Diese bildeten mil ihren Familien eine eigene Sliftsgemeinde mil Parochialcharakter. Ferner wurde der Pfarrdiensl in den zum Slift geho-renden Ortschaften tibernommen.

    Damit sarglen die Stifte flir eine Intensivierung def Seeisorge, die damals weilhin noch nieht Oaehendeckend war.

    Die Stiftskirehen selbsl waren meisl aueh Grablege der Slifterfamilien und damil Statten der Furbitte pro defunctis (= fUr die Verslorbenen). Das lenkt zurtick auf das, was von def .,Stifterfrommigkeit" ausgefUhrt wurde.

    Damil isl die komplexe Slruklureines Kanonissenstiftes angedeulel, das im Gegensatz zum frtihchristliehen Sanktimonialenlum nicht in die Ortsgemein-de integriert, sandern eine eigensHindige Einrichtung war. Bei einer 816 in Aachen lagenden Bischofssynode wurde als Rechtsgrundlage und Richtlinie flir die Kanonissenstifte die sag. "Aachener Regel" (institutio sanctimonia/i-cum) erlassen, die fUr gleiche Grundsatze bei der Gestaltung des Kanonissen-wesens Sorge lragen soli le.

    Die Zahl der in den einzelnen Sliften lebenden Kanonissen war sehr unter-schiedlich. Sie hing von der Anzahl der gestifteten Pfrunde ab. Zudem konnte die Zahl der Bewerberinnen und Stiftsinsassen aus maneherlei Grunden schwanken. Beobaehtet ist Z. H. ein deutlieher Ruckgang in den groBen Pest-zeiten und - wie wir sehen werden - im spaten Mittelalter.

    Bei der Festlegung der Anzahl der Pfrunde berueksichligle man gern d ie im Mittelalter bedeutungsvolle Zahlensymbolik. Die Zwolf-, Zehn-, Funf- und Dreiz~hl und ihr Vielfaehes spiel ten eine bedeutende Rolle. Zwolf gait als Hinweis auf die zwolf Jiinger Jesu oder auf die zwolf Haupttugenden, die in dem fruhchristlichen Werk "Der Hirte des Hermas" genannt werden (Sehafer, S. 131). Zehn oder fUnferinnern an das Gleichnis Jesu von den mnfklugen und fUnft6richten Jungfrauen (Matthaus 25, 1-13). Drei verkorpert die trinitarische Einheit Gottes und gait als Zahl der Vollkommenheit. In Essen gab es 50 Pfrunde, in Gandersheim 24, andere Stifte hatten 12 Pfrunde ; Zahlen mr die

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  • hessischen Stifle sind nicht iiberlieferl. Bei der Auilosung des Eschweger Stif-tes 1527 werden IQ Kanonissen und 20 Laienschwestern erwahnl.

    4. Vom geistlichen Leben der Kanonissen

    Pragender Mittelpunkt des geme inschaftlich en Lebens der Kanonissen waren die Teilhabe an Gottesdienst, Chorgebet und anderen religiosen Hand-lungen. Die erhaltenen Statuten des Stifles Kaufungen sind damr ein anschau-licher Beleg. Sie wurden zwischen 1413 und 1432 niedergeschrieben, basieren aber auf altereD Traditionen.

    Wahrend die Kanonissen sich gewohnlich in ihren Wohnungen nach dem Zeitgeschmack kleideten, trugen sie bei den gottesdienstlichen Handlungen einen e inhe itlichen Habit. Er bestand meist aus e iner weiBen Leinentunika, dariiber wurde ein schwarzer wollener Mantel getragen, und als Kopfbedek-kung dienten ein Schleier oder Kopftuch. Die kiinstlerisch hervo rragend gestalte te groBe Grabplatte der Abtissin Anna von der Borch (gesl. 1512) im no rdlichen QuerschilT der Kaufunger Stiftskirche gibt die Kanonissengewan-dung wieder.

    Die klerikalen Gegner der Kanonissenbewegung auBerten sich iibrigens kritisch zu der unterschiedlichen K1eiderordnung. Kardinal Jakob von Vitry schrieb anfangs des 12. Jahrhunderts :

    "In kostbaren Kleidern van Seide uDd Purpur, mil Pelz verbramt UDd in gelocktem Haar, kann man sie sehen, entsprechend der Pracht ihrer Kirchen" (Schafer, S. 232).

    Bei den gottesdienstlichen Handlungen und Stundengebeten in den Stifts-kiTchen waren ihnen besondere PHi.tze oder besondere Chorraume zugewie-sen. In romanischen Kirchen hatte man fLir sie haufig eine eigene Western pore errichtel. In der Kaufunger Stiftskirche stand ihnen zu nachst die sog. Kaiser-em pore zur Verftigung. Spii ter dann, oach der Errichtung eines LettDers, der Laien UDd Klerus treonte , war ihnen e ine Empo re im sudlichen QuerschifT vorbehalten, die einen Zugang vom Kreuzgang her hatte.

    Zum Tagesablauf gehorte die Teilnahme an den sieben Tageszeiten, ange-fangeD van der Matutin zwischen drei uDd vier Uhf uDd dann alle drei StuDden bis zu r Komplet vor 21 Uhr (Prim, Terz, Sext, No n, Vesper). Die Kanonissen waren singend am Stundengebet beteiligl. Aus den Kaufunger Statu ten wissen wir, daB sie bei den Sonn- und Festtagsgottesdiensten einen Doppelchor fUr Gesang der liturgischen Stiicke bildeten. Die an besonderen Tagen zu singen-den Intro iten, Psalmen und Hymnen waren zudem genau festgeiegt. Ferner fanden an 24 besonderen Fesltagen Prozessionen mit Stationen in den Stifts-kapellen statl. SchlieBlich beteiligten sich die Kanonissen auch an den Gedachtnismessen fUr versto rbene Stifter, Almosengeber, Abtissinnen etc. Die Teilnahme war freiwillig. Bei Anwesenheit erhielten sie ein Prasentgeld aus der betreffenden MeBpfriinde.

    Flir das heute weithin sakularisierte und umo rientierte Denken und Emp-find en mag dieses starke gottesdienstliche Engagement fremdartig wirken. Dach mUssen wir uns die auBerordentliche Anziehungskraft vergegenwarti-gen, d ie fUr den mitelalterlichen Menschen von der Liturgie ausging. Liturgie bedeutete ein Miteinstimmen in die musica coelestis, sie offnete die Tore zum himmlischen Jerusalem, urn es in der Sprache der Hymnen zu sagen. Vie l-leicht konnen wir diese Anziehungskraft nachempfinden, wenn wir etwa an

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  • Weihnachten oder in der Osternacht mitten unterden Gliiubigen einem ortho-doxen Gottesdienst beiwohnen.

    Angemerkt sei ooch, daB die Kanonissen, im Gegensatz zu den Nonnen, die nicht iiber Besitz verfUgten, eine personliche Gabe zu den gottesdienstli-chen Kollekten (oblationes) beisteuerten.

    5. Amter uDd Organe der KaDonissenstifte Die vielfaltige Struktur eines Kanonissenstiftes erforderte entsprechende

    Amter und Organe mit unterschiedlichen Aufgaben und Vollmachten. An der ••

    Spitze stand die Abtissin als verantwortliche Leiterin und Reprasentantin des Stifts. In einigen Stiften hatte sie den Rang einer ReichsfUrstin. Ihr unterstan-den die gesamte Vermogensverwaltung und die bauliche Unterhaltung der Kirche und der anderen Gebiiude. Sie hatte die Aufsicht und Disziplinarge-wait iiber die Kanonissen, und ihr oblag die geistliche Fiihrung des Konvents.

    Die Wahl der Abtissin erfolgte durch das Stiftskapitel, zu dem die vollbe-rechtigten Kanonissen und die Stiftsgeistlichen gehorten, und das allgemein als Beratungsgremium fUr die Abtissin in Stiftsangelegenheiten fungierte . DaB andererseits gelegentlich auch Stifterfamilien auf Wahlen EinfluB nah-men, steht auf einem anderen Blatt. FUr die Wahl war das sog. "Kanonische Alter" (40 Jahre) erforderlich; auBerdem muBte sich die zur Wahl Anstehende zur Ehelosigkeit verpflichten. Sie iibernahm ihr Amt nach Bestiitigung durch den Diozesanbischof und wurde von ihm feierlich eingefUhrt. Man nannte dies Investitur oder Benediktion.

    Fiir die verschiedenen Rechtsgeschiifte und AmterUbertragungen, die im Mittelalter eine Frau nicht ausUben durfte, stand der Abtissin ein capellanus abbatissae (Kaplan der Abtissin) zur Seite, der meist aus dem Kreis der Stifts-geistlichen stammte.

    Weiter sind folgende Amter bekannt: Als Stellvertreterin der Abtissin die Propstin (praeposita). Sie wurde von der Abtissin ernannt. Den Chordienst der Kanonissen ordnete die Dekanin (decana). Eine Kustodin oder Kiisterin (the-sauraria) verwaltete die Kirchenschatze. Kelche, Paramente etc. und sargte fLir die Kerzen in der Kirche, fUr MeBwein und Hostien. Die Stiftsschule leitete eine Scholastic3. Femer gab es eine Kapianisse, wohl eine Art .. personliche Referentin" der Abtissin , eine Kellermeisterin fUr die Vorrate und ihre Vertei-lung, eine Cameraria, die das Rechnungswesen unter sich hatte. Die PfOrtne-rin (portaria) iiberwachte die Tore und achtete auf die Einhaltung der Stifts-

    •• immunitat. Mitunter wurden verschiedene Amter zusammengefaBt und von einer Kanonisse ausgeiibt. In Eschwege lag z. B. das Amt der Schul- und Sing-meisterin (Dekanin und Seholastiea) in einer Hand. Die Amtsinhaberinnen erhielten zusiitzliche Stipendien (Geld- od er Fruchtrenten) und Priibenden (Viktualien).

    6. Die romische Ablehnung des mittelalterlichen Kanonissenwesens

    Eingangs sahen wir, daB es in der Alten Kirche zu einer klerikalen Abwer-tung und Ablehnung des Sanktimonialentums kam. Ahnliches ereignete si ch im Mittelalter. Im Jahre 1059 wurde bei einer Synode in Rom die irrige Ansicht vertreten, Kanonissen gabe es nur in einem verschwindend kleinen Winkel Deutschlands, sonst habe man sie wed er in Europa noch in Afrika und Asien gekannt (exeepto uno minimo angulo Germaniae nee scivit nee recipit, Schafer,

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  • S. 3). Augustinus, der Bischof von Hippo Regius (354-430), hatte z. B. eine Gemeinschaft von unverheirateten Frauen gegrtindet, die unter Leitung sei-ner Schwester Perpetua stand. Besonders warf man den Kanonissen den Besitz van Privateigentum VQr und behauptete, unhegrtindet, bis ZUT "A ache-ner Regel" sei keiner Sanktimonialen Privateigentum erlaubt gewesen. Prota-gonist dieser ablehnenden Haltung war der aus dem Monchsstand kommende Archidiakon Hildebrandt (geb. urn 1020), der spate re Papst Gregor VII. Er bewirkte die Verurteilung der Aachener Rege!. Da als Norm fUr geistiiches Gemeinschaftsleben grundsatzlich die monastische Lebensform herausge-stellt wurde, entstand immer deutiicher ein ungiinstiges K1ima fUr das mittel-alterliche Kanonissenwesen.

    Auffranzosischem Boden auBerte sich die Reimser Synode von 1148 abwer-tend tiber die Sanktirnonialen, "die man Kanonissen nennt". Sie wurden auf-gefordert, aufihre Vorrechte zu verzichten und wirkliche Nonnen zu werden. "Damit war der Institution der Kanonissen flir Frankreich das Todesurteil gesprochen" (Schafer, S. 5). In der Mitte des 12. Jahrhunderts gab es dann tat-sachlich in Frankreich keine Kanonisse mehr, wie ein Visitationsbericht des Erzbischofs Rigaud von Rouen erkennen laBt. Ahnliches wie in Frankreich ereignete sich in England, und Papst Bonifatius VIII. erklarte urn 1300, er erkenne die Institution der Kanonissen nieht an.

    Die fehlende kirchliche Forderung der Kanonissenstifte lieB auf die Dauer auch in Deutschland keine Entfaltung mehr zu. Zwar von ihren Stifterfamilien gesehiltzt, zugleieh aber aueh abhangig, lebten sie wohl weiter, aber die Aus-strahlung wurde sehwaeher. Sie wurden mehr und mehr Versorgungseinrieh-tungen fUr Unverheiratete. Zudem nahm die Zahl der Kanonissen in den Stif-ten ab.

    Parallel zur Ablehnung des Kanonissenwesens entstanden mit papstliehen Privilegien Orden, deren Mitglieder sich zwar Kanonissen nannten, aber unter monastischen Regeln lebten. Es handelt sich hierbei urn die Pramonstraten-ser- und Augustiner-Chorfrauen. Kloster dieser Orden gab es hierzulande in Homberg/Efze, St. Georgen gegriindet kurz vor 1239, in Germerode (Pramon-stratenser), Spieskappel (ebenso) und Immichenhain (Augustiner). Die Pra-monstratenser wurden 1119 von Norbert, einem Edelmann aus Xanten, gegriindet; 1256 erfolgte die Griindung des Ordens der Augustinerinnen.

    Beachtenswert ist nun, daB sich in der gleichen Zeit im Zusammenhang mit der neuentstandenen Amtsbewegung urn 1200 in Brabant aus dem Volk eine neue Form sanktimonialen Lebens ohne Geliibde und ohne Ordenszugeho-rigkeit entwickelte und groBe Ausstrahlung auch nach Frankreich und Deutschland hatte. Die Angehorigen dieser Bewegung wurden nBeginen" genannt. 1311 erlebten sie ein kirchliches Verbot, das aber wieder aufgehoben wurde. Es ware ein eigenes Vortragsthema, auf diese Bewegung naher einzu-gehen. Wer einmal in Briigge war, wird sich gewiB an den eindrucksvollen stil-len Beginenhof mit seinen Hausehen und Gemeinschaftseinriehtungen erin-nern.

    Gegen Ende des Mittelalters lassen sich allgemein Verflachung und Auf-losungserscheinungen bei den geistiichen Gemeinschaften beobachten. Reformversuehe blieben weithin steeken oder wurden von der beginnenden reformatorischen Bewegung, die von Martin Luther ausging, iiberrollt (1504

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  • Reform von Eschweg~, 1509 von Kaufungen nach der Bursfelder Observanz, jeweils wurden neue Abtissinnen eingesetzt, s. Huysken Nr. 180 u. UBK).

    (Die Bursfelder Reform entstand 1433 und breitete sich rasch aus. Ihre Kennzeichen waren jahrliches Generalkapitel, dazu einheitliche Leitung, Liturgie, Kleidung. Mit 180 Konventen war sie die grtiBte benediktinische Reformbewegung. Sie fand erst 1803 durch die Sakularisation ein Ende.)

    In den evangelischen Herrschaften bewirkte die reformatorische Bewegung die Aufltisung der Kltister. Docb blieb auch in den Territorien, die sich der Reformation offneten, eine Reihe van Stiften erhalten, und einige Kloster nahmen deren Spatform als Versorgungseinricbtungen an. Das Reichsstift Gandersheim wurde 1568 in ein evangelisches Damenstift umgewandelt und bestand bis zu seiner Auflosung dUTch Jerome, den Beuder Napeleons, im lahre 1810. Im ehemaligen Gebiet der Landgrafschaft Hessen hat sich bis heute das Adelige Damenstift Fischbeck (Grafschaft Schaumburg) erhalten. Ebenso wurden die flinf ehemaligen Calenberger Kltister im Hanntiverschen zu Damenstiften umgewandelt (Wennigsen, Barsinghausen, Marienwerder, Mariensee, WUlfinghausen).

    (Hinweisen mtichte ich aucb auf das freiadelige Damenstift Wallenstein, das sich bis 1830 im Homberg befand und dann nach Fulda Ubersiedelte; seit 1834 im ehemaligen Palais von Busek.)

    Eine reizvolle Schilderung beschaulicher Herbststimmung in einem adeli-gen Damenstift am Ende des vorigen lahrhunderts findet sich in Theodor Fontanes Roman "Der Stechlin" (Kap. 7-9). Er erzahlt von einem Besuch des jungen Stechlin mit zwei Freunden bei seiner alten Tante, der Domina des Damenstiftes Kloster Wutz. (Fontane greift in seine m Roman das Stift Lindow am Wutzsee auf. Fontane I/IV S. 402 If.)

    Ein gaoz erstaunlicher Neuansatz sanktimonialen Lebens ereignete sich innerhalb der reformatorischen Kirchen mit dem Entstehen der Diakonissen-mutterhauser in der ersten Halfte des 19. lahrhunderts unter Theodor Flied-ner und lohann Hinrich Wichern. Es bildete sich eine Lebensform heraus, die viele unverheiratete Frauen in der Zeit der beginnenden Industrialisierung mit all ihren bedrUckenden Folgen anzog. Sie fanden als Diakonissen Aner-kennung, Lebenserflillung und Geborgenheit in christlicher Gemeinschaft. Sie wurden motiviert zu aufopfemdem diakonischen und zugleich seelsorger-lichen Dienst, der in seiner Wirkung nicht hoch genug eingeschatzt weeden kann. Heute haben sich die Mutterhauser geleert, und die groBe Zeit auch die-ser Bewegung neigt sich dem Ende zu.

    SchluR Ich habe versucht, das mittelalterliche Kanonissenwesen in seine VOT- und

    Nachgeschichte einzubinden. Bei diesem erzahlenden Gang durch die Zeiten konnte deutlich weeden, daB sich immer wieder neue Formen sanktimonialen Lebens entwickelt haben, die aufgeblUht und unter den geschichtlichen Gege-benheiten auch wieder vergangen sind. Man konnte das Sanktimonialentum mit einem unterirdischen FluBlauf vergleichen, der im Gang der Gescbichte der Cbristenheit immer wieder wie eine Quelle hervorbrach.

    Das nun HiBt die Frage ZU, ob darin Elemente vorhanden sind, die auch in unserer Zeit von Bedeutung se in konnten. Ich denke an das Problem der Ver-wabung, der Vereinzelung von Menschen in unserem gesellschaftlichen Ge-

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  • fUge quer durch die Generationen. lch denke auch an die Suche nach bergen-den Religionsformen in unserer Zeit und an die HofTnung, sie in Meditations-praktiken des Ostens, in Esoterik oder Mystik, zu finden. All das weist auf einen vorhandenen Mangel hin. Nun lassen si ch religiose Gemeinschaftsfor-men gewiB nicht konstruieren oder planen, denn Konstrukte diirften sich rasch als nicht lebensfahig erweisen. Doch als Zukunftsperspektive ist wohl ein Gedanke erlaubt, zu dem der franzosische Theologe Henri de Lubac in sei-nem Buch "Sur Les Chemins de Dieu" (Vber die Wege Gottes) ein Motiv gib!. Er schreibt:

    "Gott ist tot! (behauptet man) oder wenigstens erscheint es uns so. Bald aber finden wir ihn wieder lebendig hinter der nachsten Wegbiegung."

    Vielleicht laBt sich dieser Hinweis als Zukunftsperspektive auch aufsolche Gemeinschaftsformen iibertragen, die sich auf den lebendigen Gott einlassen und deren Geschichte wir ein wenig verfolgt haben.

    Literatur: Sch1lfer, KaTI Heinrich : Die Kanonissenstifte im deutschen Mittelalter. Stuttgart 1907 (Reprint Amsterdam 1965).

    Leipoldt, lohannes: Die Feau in der antiken Welt und im Urchristentum. 2. Auflage, Leipzig 1955. v. d. Goltz: Oer Dienst der Frau in der christlichen Kirche. Potsdam (Oaten passim),

    Zscharnack, Leopold: Oer Dienst der Frau in den ersten lahrhunderten der christlichen Kirche . 1902.

    Kalsbach, A. : Die altkirchli che Einrichtung der Diakonissen his zu ihrem Erloschen. Frankfurt 1926.

    Huysken, Albert: Die Kloster der Landschaft an der WerTa. Regesten und Urkunden. Marburg 1916.

    Eisentrager, M. u. Krug, E. : Territorialgeschichte der Kasseler Landschaft. Marburg 1935.

    Hamann, Manfred u. Ederberg, Erik: Die Calenberger K1oster. Hannover 1977. Wenckebach, Karl: Zur Geschichte der Stadt, des Stiftes und der Kirche zu Wetter in Hessen. 2. Aufl., Wetter 1987. v. Roques, Hermann : Urkundenbuch des K10sters Kaufungen in Hessen. 2 Bde., Kassel 1900 u. 1902.

    Schauer, Hermann: Frauen entdecken ihren Auftrag. Gottingen 1960. Die Diakonisse, ein Dienst der Frau in der heutigen Welt. Studien des Okumenischen Rates der Kirchen. Genf 1966.

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