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Völkerrechtlicher Vertrag als „Gestaltungsinstrument“ der Verfassunggebung: Das Daytoner...

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Völkerrechtlicher Vertrag als „Gestaltungsinstrument“ der Verfassunggebung: Das Daytoner Verfassungsexperiment mit Präzedenzwirkung? Author(s): Edin Šarčević Source: Archiv des Völkerrechts, 39. Bd., 3. H. (September 2001), pp. 297-339 Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KG Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40800003 . Accessed: 16/06/2014 20:27 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Mohr Siebeck GmbH & Co. KG is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Archiv des Völkerrechts. http://www.jstor.org This content downloaded from 62.122.72.104 on Mon, 16 Jun 2014 20:27:43 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions
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Völkerrechtlicher Vertrag als „Gestaltungsinstrument“ der Verfassunggebung: Das DaytonerVerfassungsexperiment mit Präzedenzwirkung?Author(s): Edin ŠarčevićSource: Archiv des Völkerrechts, 39. Bd., 3. H. (September 2001), pp. 297-339Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KGStable URL: http://www.jstor.org/stable/40800003 .

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Volkerrechtlicher Vertrag als „Gestaltungsinstrument" der Verfassunggebung: Das Daytoner Verfassungs-

experiment mit Präzedenz wirkung? Dr. iur. Edin Sarcevic

Privatdozent an der Juristenfakultät Leipzig

I. Einleitung: Sachverhalt und Problematik

Kann eine nationale Verfassung im Rahmen eines internationalen Ver- trages vereinbart werden? Diese Frage knüpft an die Verfassung von Bos- nien-Herzegowina in der Fassung des Daytoner Abkommens an: Das „Dayton Peace Agreement"1 fungiert in der Sache als ein Vertragspaket, in dessen Mittelpunkt sich der „Annex 4", also die neue Verfassung des Gesamtstaates Bosnien-Herzegowina, befindet.2 Das Abkommen steht am Ende eines mehrjährigen Krieges und zwar als ein Erfolg der Realpo- litik,3 die sich vor dem Vertragsabschluss in etlichen, restlos abgelehnten

1 Das allgemeine Rahmenabkommen wurde zusammen mit 12 Anhänge (Annexe), einem separaten Paraphierungsabkommen und einigen Begleitschreiben („Side Letters") am 21. November 1995 auf dem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Wright-Patterson/Dayton (Ohio/USA) paraphiert und wurde abschließend am 14. Dezember 1995 in Paris förmlich unterzeichnet. An diesem Trag traten das Allgemeine Rahmenabkommen und seine 12 Anne- xe in Kraft. Das Daytoner Abkommen ist in ILM 35 (1996), S. 75 ff., die deutsche Überset- zung des Allgemeinen Rahmenabkommens mit den Annexen 1 A und 1 B in IP 1/1996, S. 80 ff. veröffentlicht. Zur Vorgeschichte des Abkommens liefert einen solid begründeten Überblick das Buch von M.-J. Calie, Krieg und Frieden in Bosnien-Herzegowina, 2. Aufl., 1996; die detaillierte Besprechung des Abkommensinhalts bei O. Dörr, Die Vereinbarung von Dayton/Ohio, AVR Bd. 35 (1997), S. 129 ff.; W Graf Vitzthum/M. Mack, Multiethnischer Föderalismus in Bosnien-Herzegowina, in: W. Graf Vitzhum (Hrsg.), Europäischer Födera- lismus, 2000, S. 81 ff.

2 Vgl. E. Sarcevic, Die verfassungsrechtliche Lage Bosnien-Herzegowinas nach dem Abkommen von Dayton, in: VSO 14. Lieferung - Dezember 1997, S. 3 ff.; S. Yee, The New Constitution of Bosnia and Herzegovina, EJIL 7 (1996), S. 176 ff. und H. Schneider, Frieden für Bosnien-Herzegowina? Das Vertragswerk von Dayton als Herausforderung für Europa, Integration Bd. 19 (1996), S. 1 ff.

3 Vgl. Calie (Fn. 1), S. 217 ff.; A. Wohlsteter, Wie man ein Groß-Serbien schafft, FAZ v. 9. September 1994, S. 12 f.;/. Vollmer, Dayton - eine Pax Americana, Europäische Rundschau 2/1996, S. 3 ff.; instruktiv auch F. W. Ruh, Vom multiethnischen Staat zum Genozid, KritJ 2/1999, S. 163 ff.; vgl. auch die sorgfältigen Analysen des bosnischen Staatsrechtslehrers N. Pohric, Ustavno pravo (Verfassungsrecht), Sarajevo, 2000, S. 110.

Archiv des Völkerrechts, Bd. 39 (2001), S.297-339 © 2001 Mohr Siebeck - ISSN 0003-892-X

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Friedensplänen4 „eingeübt" hatte. Fünf Jahre nach dem Inkrafttreten des Vertrages lassen sich eine unwillige Durchführung, schwache Folgewir- kungen im innerstaatlichen Geltungsbereich und eine ersichtliche Festi- gung der Politik der ethnischen Säuberung als wichtigste Ausflüsse der vertraglich geregelten Staatlichkeit von Bosnien-Herzegowina konstatie- ren.5

Vor diesem Hintergrund wird fraglich, ob sich eine seit längerer Zeit zu beobachtende Krise des völkerrechtlichen Handlungsinstrumentariums6 nur auf das Versagen der diplomatischen und politischen Instrumentarien reduzieren lässt.7 Kann die Völkervertragslehre aus dem (unzulänglichen) Anwendungspotenzial - so die Vermutung - des völkerrechtlichen Vertra- ges (hier also eines diplomatischen Produkts „Daytoner Abkommen") in exklusiv „inneren Angelegenheiten" der Staaten erkenntnisgewinnende Impulse ableiten?

4 Chronologisch sind folgende zu erwähnen: Der Cutilheiro-Plan (Februar-März 1992) definierte ein Schweizer Kantonsmodell, der Wance-Owen-Plan (Januar/Februar 1993) befürwortete ein Regionalisierungsmodell, der Owen-Stoltenberg-Plan (Sommer 1993) ging von einem Konföderationsmodell aus und der Plan der Kontaktgruppe (Sommer 1994) basierte auf einem Modell einer Zweistaaten-Union. Überblick bei M.-J. Calie (Fn. 1), S. 188 ff.; P. Raffone, Der Weg nach Dayton: Diplomatische Stationen eines Friedensprozesses, Blätter für deutsche und internationale Politik Bd. 41 (1996), S. 231 ff.

5 Der Verfassungsgerichtshof von Bosnien-Herzegowina (B-HVerfGH) hat in seiner neu- erlichen Entscheidung (U 5/ 98 III v. 30. Juni/ 1. Juli 2000, Sl. glasnik BiH [Amtsblatt v. B-H] Nr. 23/2000, S. 472 ff.) zutreffend festgestellt, dass die beiden bosnischen Entitäten als Ein- richtungen zur Erhaltung der Ergebnisse der ethnischen Säuberung fungierten (vgl. für Ser- bische Republik in conclusio Abs. 95 und für Föderation B-H in conclusio Abs. 138 iVm 129; detaillierte Besprechung der Entscheidung bei C. Stahn, Die verfassungsrechtliche Pflicht zur Gleichstellung der drei ethnischen Volksgruppen in den bosnischen Teilrepubli- ken - Neue Hoffnung für das Friedensmodell von Dayton?, ZaöRV 2000, S. 663 ff.). In diese Richtung auch International Crisis Group (ed.), Is Dayton Failing? Bosnia Four Years after the Peace Agreement, 1999, im Internet veröffentlicht unter http: // www.crisisweb.org, Stichwort: Bosnia, (im folgenden zitiert: ICG, ed.); H. Riegler, Einmal Dayton und zurück: Perspektiven einer Nachkriegsordnung im ehemaligen Jugoslawien, 1999, S. 12 ff.;/. Vollmer (Fn. 3); M. Novak, Is Bosnia and Herzegovina Ready for Membership in the Council of Europe? The Responsibility of the Committee of Ministers and of the Parlamentary Assem- bly, HRLJ 7-11/2000, S. (285 ff.) 288 f.; W. Petritsch, Interview, Slobodna Bosna, Sarajevo, Nr. 255 v. 8. März 2001, S. 16 f.; auch in der Deklaration des Friedensimplementierungsrats (PIC) über die Umsetzung des Friedens in B-H (Brüssel 23./24. Mai 2000) wird einleitend zwar Fortschritt in bestimmten Bereichen bei dem Aufbau des Staates B-H konstatiert, dann aber eine ganze Reihe von Punkten aufgeführt, die gar nicht oder ungenügend erfüllt sind (vgl. im Internet unter: www.ohr.ind/docu/p20000524a.html).

6 Unterstützt wird diese Auffassung in S. Oeter, Jugoslawien und die Staatengemeinschaft, KritJ 1/1996, S. 15 ff., 19 und L Friedman, Why the West Failed, Foreign Policy, 97/1994- 95, S. 53 ff., 57 f.

7 Vgl. die Rekonstruktion der Verhandlungsdiplomatie im Verlauf des „jugoslawischen Krieges" bei Calie (Fn. 1), insb. Untertitel „Probleme einer Friedenslösung im ehemaligen Jugoslawien", S. 186 ff.; beim Verständnis der realen Dimensionen des Problems verhelfen die Ausführungen von A. de Zayas (Das Recht auf die Heimat, ethnische Säuberungen und das internationale Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien, AVR Bd. 35 [1997], S. 29 ff., 32 f.), die beispielhaft zeigen, „wie Völkerrecht und Moral chauvinistischen und rassistischen Phantasien untergeordnet werden" (S. 32).

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Ausgehend von der bosnisch-herzegowinischen Erfahrung und von den dort durchgeführten experimentellen Prozessen gewinnt dieses Problem an völkerrechtlicher Bedeutung: Soweit die völkerrechtlichen Verträge als Hauptrechtsquelle des Völkerrechts von der zwischenstaatlichen Ebene, wo sie als vorherrschendes Instrument zur Entwicklung der internationa- len Rechtsordnung fungieren,8 auf die innerstaatliche Ebene, und zwar als entscheidendes Instrument der Verfassunggebung, übertragen werden, wird die traditionelle Funktion des Völkerrechts in Frage gestellt. Vom Regulator der Beziehungen zwischen den Staaten9 könnte es schrittweise zum Regulator der inneren Ordnung der Staaten werden. Der völker- rechtliche Vertrag würde dann - wie dies die Verfassunggebung in Bosni- en-Herzegowina beispielhaft belegt - bis in die Einzelheiten gehende Sachverhalte regeln, die vornehmlich dem Entscheidungsbereich einer „verfassunggebenden Versammlung" zuzuschreiben sind.10 Wird daher gefragt, ob der völkerrechtliche Vertrag das geeignete Gestaltungsinstru- ment für die Verfassunggebung darstellt bzw. ob sich die bosnisch-herze- gowinische Praxis unter bestimmten Umständen verallgemeinern und für die Aspekte des Völkervertragsrechts produktiv nutzen lässt, widmet sich die Analyse einem schwer überschaubaren Sachverhalt, der sich zwischen den Polen des Staatsrechts und des Völkerrechts bewegt.11

Dieser Befund bestimmt den Vorgang der Analyse: Nachdem zuerst die rechtliche Natur der bosnisch-herzegowinischen Verfassung geklärt und diese dann am Völkervertragsrecht geprüft wird, soll die Prüfung der Bedingungen, unter welchen der völkerrechtliche Vertrag als Gestaltungs- instrument der nationalen Verfassunggebung fungieren darf, in Betracht gezogen werden. Es wird sich zeigen, dass eine differenzierte Betrach- tungsweise diese Möglichkeit nicht ausschließt, sie aber an klar identifi- zierbare und enge Bedingungen bindet.

II. Die rechtliche Natur des „Annexes 4"

1. Vorbemerkung Die rechtlich notwendige Kategorisierung des „Annexes 4" des Dayto-

ner Abkommens betrifft sowohl die Frage seiner rechtlichen Einordnung, also ob der „Annex 4" seiner Natur nach eine staatliche Verfassung oder aber einen völkerrechtlichen Vertrag darstellt, als auch die Maßstäbe sei- ner rechtlichen Bewertung.

8 Vgl. H. v. Heinegg, in K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl., 1999, § 9, Rn. 4. 9 Das lässt sich zur traditionellen Funktion des Völkerrechts einrechnen. Vgl. S. Oeter (Fn.

6), S. 20; K. Ipsen (Fn. 8), § 1, Rn. 1 ff. 1U Zu den klassischen Vorstellungen über die „Verwirklichung einer Verfassung vgl.

instruktive Ausführungen bei K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundes- republik Deutschland, 20. Aufl., 1995, Rn. 41 ff.

11 So auch zutr. O. Dörr (Fn. 1), S. 164.

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Der „Annex 4" ist nicht formal als eine Vertrags- sondern als eine Ver- fassungsurkunde gestaltet.12 Sein Vertragscharakter ergibt sich jedoch aus den drei einseitigen Erklärungen,13 die dem Text angehängt sind. Mit die- sen Erklärungen bewilligen die Vertreter der Republik Bosnien-Herzego- wina, der Föderation Bosnien-Herzegowina und der Serbischen Republik (Republik Srbska) die „Verfassung von Bosnien-Herzegowina nach Fas- sung des Annexes 4 des Allgemeinen Rahmenabkommens".14 Somit berei- tet selbst die Bestimmung der rechtlichen Natur des „Annexes 4" erhebli- che Schwierigkeiten, da die Art seiner Erlassung, sein materieller Gehalt, die Konstruktion des Institutionengebäudes, seine Akzeptanz bei der Bevölkerung und bei den politischen Parteien und nicht zuletzt seine Durchsetzungsmöglichkeit im Spannungsfeld von Verfassungs- und Staatslehre einerseits und Völkerrechts- und Vertragsvölkerrechtslehre andererseits liegen.

2. Völkerrecht als verfassunggebende „ Quelle" Das Völkerrecht gründet auf der Maxime der souveränen Gleichheit der

Staaten (kodifiziert in Art. 2 Nr. 1 UN-Charta)15 und setzt die souveränen Verfassungs-Staaten als konkrete Bedingung ihrer eigenen Existenz vor- aus.16 Dieser schlichte Befund impliziert einen geschützten Raum der staatlichen Eigenverantwortung, der völkerrechtlich auch durch das Gewalt- und Interventionsverbot (Art. 2 Nr. 4 und Art. 2 Nr. 1 und 7 UN-Charta) geschützt ist.17 Dieser Raum beinhaltet die Verfassung- gebung. Diese bleibt also als exklusive Domäne der rechtlichen Selbst-

12 Annex 4 ist als „Verfassung von Bosnien und Herzegowina" betitelt; zudem sprechen Nr. 1 (a) der Übergangsvorschriften in Annex II, sowie Art. VI.3, X.I., XII 1 und 2 und XL des Annexes IV von Verfassung bzw. von Verfassunestext.

13 Vgl. auch O. Dörr (Fn. 1), S. 174; ders., Die föderale Staatsstruktur als Element der völ- kerrechtlichen Friedenssicherung? Lehre aus dem Friedensabkommen von Dayton, in /. Aulehner u.a. (Hrsg.), Föderalismus - Auflösung oder Zukunft der Staatlichkeit, 1997, S. (207 ff.) 227; E. Sarcevic, Ustav i politika (Verfassung und Politik), Ljubljana/Sarajevo 1997, S. 125 f.

14 Im Originaltext: „The Republic of Bosnia and Herzegovina (The Federation of B-H, The Republika Srpska) approves the Constitution of Bosnia and Herzegovina at Annex 4 to the General Framework Agreement." Vgl. hierzu Fn. 69 zusammen mit dem Haupttext.

15 Vgl. Ch. Gloria, in K. Ipsen (Fn. 8), § 26, Rn. 7 ff. Dies ist auch ein Ausfluss der restlos angenommenen Auffassung, wonach der souveräne Staat, der nach außen als Wirkungsein- heit auftritt, ein geborenes Völkerrechtssubjekt ist. Vgl. A. Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität, in HdbStR der BRD I, § 15, Rn. 25; A. Verdroß, Die völkerrechtliche und poli- tische Souveränität der Staaten, in FS f. F. A. Frhr. von der Heydte, Bd. 1, 1997, S. 703 ff., 707.

16 In diese Richtung M. Zuleeg, Zum Standort des Verfassungsstaats im Geflecht der inter- nationalen Beziehungen, DÖV 1977, S. 462 f.; /. Isensee, Staat und Verfassung, in Isensee/Kirchhof, HdbStR der BRD, Bd. I, 1987, § 13, Rn. 28 ff.

17 Vgl. G Tomuschat, Der Verfassungsstaat im Genecht der internationalen Beziehungen, WDStRL Bd. 36 (1978), S. (7. ff.) 10; H. Fischer, in K. Ipsen (Fn. 8), § 59, Rn. 51.

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konstituierung ausschließlich dem Staat vorbehalten.18 Nur damit kann er überhaupt im völkerrechtlichen Sinne als souveränes Vertragssubjekt fun- gieren. Folglich ist das Völkerrecht grundsätzlich von einer nahezu gren- zenlosen Offenheit und Gleichgültigkeit gegenüber der inneren Staatsor- ganisation geprägt.19

Dieser Befund könnte angesichts zwei nachfolgend erörterter Aspekte ein Stück weit zu korrigieren sein.

(1) Das Verfassungsrecht bestimmt die „Haltung eines Staates zum Völkerrecht".20 Dar- aus folgt, dass eine (Selbst-)Beschränkung der verfassunggebenden Gewalt in einem ihr vor- behaltenen Bereich als ein Gebot der „praktischen Vernunft" erscheinen muss.21 Der Ideal- typus eines „kooperativen Verfassungsstaates",22 der schon auf dem nationalen Plan die Interdependenz mit dem Völkerrecht arrangiert, ist hierfür illustrativ: Die Verfassunggebung soll unter anderem die reibungslose Eingliederung des Staates in das Völkerrecht ermögli- chen. Sie muss also die Interdependenz als rechtlichen Normalzustand23 statuieren. Dies besagt lediglich, dass Völkerrecht und Verfassungsrecht auf Konformitätskurs gebracht wer- den müssen.24 Dem nationalen Verfassunggeber kommt dabei die Aufgabe zu, in vielen Bereichen (etwa Menschenrechte, Diplomatenrecht, Friedenssicherungsrecht etc.) die völ- kerrechtlichen Maßstäbe zu beachten.

(2) Nichts anderes ergibt sich aus der völkerrechtlichen Kategorisierung der Souveränitäts- problematik. Wenn hierzu zwischen einer „inneren" und einer „äußeren" Souveränität dif- ferenziert wurde,25 führt diese Einteilung zu einer weiteren Konstruktion, nämlich zur Völ- kerrechtsunmittelbarkeit des Staates.26 Dieses Konstruktionselement des Völkerrechts beschreibt einen Zustand, in dem der Staat keiner anderen staatlichen Gewalt, sondern aus-

18 Zu den im Völkerrecht anerkannten und typischen inneren Zuständigkeiten der Staaten gehören „the choice of a political, economic, social and cultural system and the formulation of foreign policy" (ICJ Rep., 1986, S. 108). Auch in der „Friendly Relations" -Deklaration (hier insb. „Der Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker" und „Der Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten" lit. e]) ist dokumentiert, dass zu den ausschließlich staatlichen Angelegenheiten insbesondere die Verfassungs- und Wirtschafts- ordnung eines Staates sowie die sozialen und kulturellen Angelegenheiten gehören. Das staatliche Recht auf Selbstbestimmung des gesellschaftlichen und politischen Systems wird auch unmittelbar aus dem Grundsatz der Gleichheit der Staaten abgeleitet (vgl. Gh. Gloria, Fn. 15, Rn. 11), womit die Verfassunggebung im Wesentlichen getroffen ist.

19 Dieser Aspekt bezieht sich vornehmlich auf die Stellung des Bundesstaates im Völker- recht, die in der Maxime von der „Verfassungsblindheit" gipfelt. Vgl. i. d. S. G. Dahm, Völ- kerrecht, Bd. I, 1958, S. 88; neuerlich bei O. Dörr, (Fn. 13), S. 208 f. Zur völkerrechtlichen Neutralität gegenüber der nationalen Verfassung A. Verdross/B. Simma, Völkerrecht, 3. Aufl., 1984, § 687;/. I sensée (Fn. 16), Rn. 36.

20 K. Stern, StR der BRD Bd. 1, 2. Aufl., 1984, S. 477. 21 I. d. S. ist die Feststellung bei G Tomuschat (Fn. 17, S. 10) zu verstehen: „Wird die Ver-

fassung als das Mittel zur Bestimmung der materiellen Basis nationaler Identität eingesetzt, so müssen schwere Spannungen eintreten, sofern nicht der Einklang mit der völkerrechtli- chen Lage hergestellt ist."

22 Vgl. Diskussionsbeitrae von P. Haberle, WDStRL 36 (1978), S. 129 f. 23 C.Tomuschat (Fn. 17), S. 16. 24 Vgl. schon/. S. Nye, Independence and Interdependence, Foreigen Policy, 22/1976, S.

130 ff.; H. Huber, Weltweite Inderdependenz. Gedanken über die grenzüberschreitenden gesellschaftlichen Verhältnisse und die Rückständigkeit des Völkerrechts, in ders., Rechts- theorie, Verfassungsrecht, Völkerrecht, 1970, S. 601 ff.; G Tomuschat (Fn. 17), S. 17 f.; ders., Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in I sensée/ Kirchhof, HdbStR BRD, Bd. 7, 1992, § 172, Rn. 2.

25 Statt vieler A. Randelzhofer (Fn. 15), Rn. 23 ff.; V. Epping, in K. Ipsen (Fn. 8), § 5, Rn. 7; R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 2. Aufl., 1994, S. 22 f.

26 Vgl. V. Epping (Fn. 25), § 5 Rn. 7; O. Dörr (Fn. 13), S. 210 f.

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schließlich und unmittelbar den Normen des Völkerrechts unterworfen ist. Das Völkerrecht rechnet also mit einem im Inneren souveränen Staat, zu dessen originärem Tätigkeitsfeld die autonome Gestaltung des eigenen Verfassungssystems gehört. Ein grundsätzlich ungebun- dener Verfassunggeber muss jedoch, soweit sein Verfassungswerk als normative Grundlage der völkerrechtlich übernommenen Verpflichtungen überhaupt fungieren soll, jeweils die völkerrechtlichen Vorgaben einkalkulieren, um überhaupt am Völkerrecht teilhaben zu kön- nen.

Aus den beiden erwähnten Fällen erwachsen dem nationalen Verfas- sunggeber keine völkerrechtsverbindlichen Vorgaben. Das Völkerrecht beschäftigt sich weder mit dem Verfahren der Verfassunggebung noch mit den möglichen Inhalten einer Verfassung: Das Völkerrecht interessiert grundsätzlich nicht das innere Verfassungssystem, sondern nur, ob der Staat durch sein Verfassungssystem in der Lage ist, sämtliche Rechte und Pflichten eines Völkerrechtssubjektes zu erfüllen. Ihm kann im Verfahren der nationalen Verfassunggebung höchstens die Funktion eines unbetei- ligten normativen Maßstabes zukommen. Aus den etablierten Gefügen der zeitgenössischen Völkerrechtsordnung taucht so die Verfassungge- bung als exklusive Angelegenheit der (nationalen) verfassunggebenden Versammlung auf, deren Offenheit für völkerrechtliche Standards höch- stens als ein Zeichen politischer Klugheit des Verfassunggebers begriffen werden kann.

Hinter diesem Befund steht das Problem der Legitimität und der Rechtsgültigkeit eines, von einer verfassunggebenden Versammlung als Verfassung verabschiedeten, völkerrechtlichen Dokumentes. Im Rahmen des Daytoner Abkommens konkretisiert sich dies in der Annahme der verfassungsrechtlichen Qualität eines Annexes der völkerrechtlichen Rah- menvereinbarung. Seine Gültigkeit, Legitimität und rechtliche Fundiert- heit, soweit er tatsächlich eine Vollverfassung darstellt, kann nicht völker- rechtlich beurteilt werden. Das Problem bedarf zuerst einer theoretischen Analyse.

3. Verfassungstheoretische Perspektive

a) Regelungsinhalt und Selbstbezeichnung Der „Annex 4" regelt in der Tat verfassungsrechtlich relevante Sachver-

halte. Nach der einleitend akzentuierten Präambel folgen zwölf Artikel, die die völkerrechtliche Kontinuität (Art. I), die Menschenrechte (Art. II), den Staatsaufbau und die Kompetenzverteilung (Art. III) sowie die Orga- nisation der staatlichen Gewalt (Art. IV bis VIII) regeln. Darüber hinaus sind in Art. IX die allgemeinen Bestimmungen zum Dienst- und Tätig- keitsverbot für die vor dem Internationalen Jugoslawien-Tribunal in Den Haag27 angeklagten Personen, in Art. X das Änderungsverfahren und der

27 Das Internationale Tribunal für das ehemalige Jugoslawien wurde mit Resolution 827 des Sicherheitsrates vom 25. Mai 1993 errichtet. Vgl. deutsche Übersetzung in Vereinte Nationen 1993, S. 156; zur Einsetzung des Tribunals durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vgl. L. Lehmer, Die Strafbarkeit von Vertreibungen aus ethnischen Gründen im bewaffneten nicht-internationalen Konflikt, 1999, S. 114 ff. Übersetzung des Statuts des Tri- bunals in WGO-MfOR 1994, S. 35 ff.

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Schutz der menschenrechtlichen Gewährleistungen vor jeder Verfassungs- änderung, in Art. XI Übergangs- und in Art. XII Inkraftsetzungsbestim- mungen geregelt. Neben der bereits erwähnten Selbstbezeichnung als Ver- fassung28 und der in den übereinstimmenden Erklärungen von Republik und Föderation Bosnien-Herzegowina und der Serbischen Republik29 proklamierten Verfassungsqualität des „Annexes 4" sprechen ihm auch die einzelnen Annexe der Rahmenvereinbarung den Rang einer staatlichen Verfassung zu.30

Diese Selbsterhebung des „Annexes 4" zur Verfassung eines Staates und seine partielle Verfassungsbestätigung durch das Rahmenabkommen kon- stituiert an sich noch keine Verfassungsqualität. Sonst könnte jede beliebi- ge Ordnung der staatlichen Verhältnisse31 als Verfassung proklamiert und danach auch anerkannt werden.32 Es sind weitere Gesichtspunkte heran- zuziehen, um die tatsächliche Natur des „Annexes 4" zu bestimmen.

b) Theoretische Entschlüsselung der rechtlichen Natur Für die rechtliche Identifizierung einer Verfassung bedient sich die Ver-

fassungs- und Staatslehre der idealtypischen Differenzierung zwischen einer Verfassung im materiellen und einer solchen im formellen Sinne.33 Allerdings machen erst beide Elemente zusammen, wenn sie auch ihrer- seits in verschiedener Weise bestimmt werden können,34 das Charakter- istische einer Verfassung aus.35 Sie führen die wesentlichen Merkmale einer Verfassung auf ein positiviertes, urkundlich fixiertes und mit erhöh- tem normativen Rang ausgestattetes „Staatsgrundgesetz" (Verfassung im formellen Sinn) einerseits und auf die Summe der normativ und institu- tionell geschützten und als den „Staat" konstituierenden Werte (Verfas-

28 Vgl. oben Fn. 12. 29 Vgl. oben Fn. 14 zusammen mit dem Haupttext. 30 Art. 5 des Allgemeinen Rahmenübereinkommens (deutsche Übersetzung in IP, Fn. 1)

und Art. 1 des Annexes 1 1 nehmen ausdrücklich Bezug auf die „Verfassung von Bosnien und Herzegowina", „wie sie in Anhang 4 aufgeführt" ist. Art. I Nr. 14 des Annexes VI verweist auf die Rechte und Freiheiten, „angeführt in dem Annex der Verfassung". Zudem spricht man in Nr. 1 a) der Übergangsvorschrift in Annex II zum Verfassungstext von „the imple- mentation of the Constitution of Bosnia and Herzegovina" und in Nr. 2 vom Inkrafttreten „der" bzw. „dieser Verfassung" („...when the Constitution enters into force...").

31 Hierzu schon W. Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, S.49.

32 Auf dieser Linie liegt heute die deutsche Staatswissenschaft, vgl. statt vieler K. Stern (Fn. 20), S. 75 m. w. Hinw.

33 Vgl. hierzu K. Stern (Fn. 20), S. 72 f.; T. Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 30. Aufl. 1998, S. 31 f.; E.-W. Böckenförde, Begriff und Probleme des Verfassungsstaates, in ders., Staat, Nation, Europa, Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, 1999, S. 127 ff.

34 Hierzu E. Denninger, Menschenrechte und Grundgesetz, 1994, S. 16 f.; über die Aus- nahmen bzw. eine Nichtdeckung der beiden Elemente Maunz/Zippelius (Fn. 33), S. 31 f.

35 Vgl. schon H. Heller, Staatslehre (Erstveröff. 1934), in Gesammelte Schriften, Bd. III, 2. Aufl., 1992, S. (79 ff.), 362.

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sung im materiellen Sinn) andererseits zurück. Für die hier zur Erörterung stehende Frage bietet diese Gliederung jedoch keine tragfähige Basis. Sie ist funktionsindifferent, zumal sie jedem hoheitlich erlassenen Rechtsakt eigen ist. Die Verfassung als „Ordnung des Politischen"36 oder als „Selbst- zeugnis des sich verfassenden Volkes"37 wäre sicherlich sehr unzulänglich und unspezifisch erfasst, verstünde man darunter eine normativ-rechtliche Rangordnung, die ein Wertsystem institutionell, normativ-befehlend und politisch-prozedural konstituiert und rechtlich absichert.

Die Entschlüsselung der rechtlichen Natur des als Verfassung bezeich- neten „Annexes 4" des Daytoner Abkommens kann demzufolge erst auf- grund einer genaueren Analyse der unterschiedlichen Funktionen einer Verfassung erfolgen.38 Solche Funktionen sind längst kodifiziert39 und bil- den für die bosnisch-herzegowinische Staatsverfassung den einschlägigen Maßstab.40 Über deren grundlegende Bedeutung für die theoretische Be- wertung eines Rechtsaktes, der als Verfassungsurkunde gilt, besteht in moderner Verfassungslehre weithin Konsens.41

c) Verfassungsfunktionen als maßgebliche Kriterien Den modernen Verfassungen, folgt man der Idee eines „Mindestmaßes

an sozialer Homogenität" von Rudolf Smend42 und Hermann Heller43 bis

36 U. K. Preuß, Einleitung: Der Begriff der Verfassung und ihre Beziehung zur Politik, in ders., (Hrsg.), Zum Begriff der Verfassung. Die Ordnung des Politischen, S. 7 ff.

J/ t. Uenninger {tn. J4j, b. 18. 38 Zu Verfassungsfunktionen grundlegend K. Stern (Fn. 20), S. 82 ff.; H.-P. Schneider ; Die

Funktion der Verfassung, in D. Grimm (Hrsg.), Einführung in das öffentliche Recht. Ver- fassung und Verwaltung, 1985, S. 1 ff.; A. Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunk- tion, AöR Bd. 119 (1994), S. 35 ff. insb. 46 ff.

39 Die tragenden Funktionen der modernen Verfassungen lassen sich auf folgende zurück- führen: Bildung und Erhaltung staatlicher Einheit, Ordnungs- und Organisationsfunktion, Stabilisierungsfunktion, Leitbildfunktion, Kontroll- und Rationalisierungsfunktion und abschließend Schutzfunktion. Vgl. Angaben in Fn. 38.

40 Nicht deshalb, weil dem Annex 4 bestimmte zielorientierte Funktionen zugrunde gelegt waren, sondern vielmehr wegen der damit etablierten Kriterien zur theoretischen bzw. ratio- nalen Beurteilung der Verfassungsnatur eines Rechtsaktes.

41 Das belegt vornehmlich die im Fachschrifttum anzutreffende Methode der Typisierung einer Verfassung aufgrund ihrer unterschiedlichen Funktionen. Erst eine funktionale Analy- se ermöglicht es in den meisten Fällen, die qualitative Sonderstellung einer Verfassung bzw. des Verfassungsrechts nachzuweisen. Zum letzteren vgl. z.B. die Identifizierung von „Rigi- dität und Flexibilität" von Verfassungsrecht in Bezug auf Verfassungsfunktionen bei G. F. Schuppen, Rigidität und Flexibilität von Verfassungsrecht. Überlegung zur Steuerungsfunk- tion von Verfassungsrecht in normalen wie in „schwierigen Zeiten", AöR Bd. 120 (1995), S. (32 ff.) 52 f.; vgl. auch die „verfassungstypisierende Methode" bei E. Denninger (Fn. 34), S. 16 f.; K. Hesse (Fn. 10), S. 5 ff.; A. Voßkuhle (Fn. 38).

42 R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl., 1994, S. 189.

43 Vgl. H. Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität (Erstveröff. 1928), in Gesammelte Schriften, Bd. II, 1971, S. (421 ff.) 424; ders., Souveränität (Erstveröff. 1927), aaO., S. (31 ff.), 133; ders. (Fn. 35), S. 361.

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Volkerrechtlicher Vertrag als „ Gestaltungsinstrument" 305

Konrad Hesse44 und Erhard Denninger45, liegt die ökonomische, kulturel- le und „konventionale" Integrationsfunktion zugrunde. Die Verfassungs- lehre variiert diese These. Die Schwerpunkte werden je nach Ausgangs- position und argumentativ-technischem Bedürfnis des jeweiligen Autors auf die Bildung der politischen Einheit des Staates,46 auf die rechtliche Affirmation des gesellschaftlichen Grundkonsenses,47 auf die breite Zustimmung bei der Bevölkerung und den politischen Parteien48 oder auf die politische Form der Selbstkonstituierung eines Volkes49 gelegt. Der integrative Leitgedanke wird so - bei genauerer Betrachtung - aufge- fächert in eine Ordnungs- und Stabilisierungsfunktion, eine integrative Wirkung, eine Leitbild-, Kontroll-, Rationalisierungs- und Schutzfunkti- on.50 Alle diese Variationen führen zum Ergebnis, dass die verfassungs- rechtliche Qualität eines Dokuments in seiner jeweiligen Erheblichkeit für die gesellschaftliche Integration beurteilt werden muss.51 Die Funktion der gesellschaftlichen Integration gewinnt als logischer Ausfluss der wich- tigsten und theoretisch anerkannten Funktionen sachliche Relevanz: Inhaltlich umfasst sie die Bildung und Erhaltung des Verfassungskonsen- ses oder die Schaffung einer dauernden, stabilisierenden Ordnung mit Kontroll-, Schutz- und Rationalisierungseffekten52 und gibt dem Begriff der Verfassung seinen spezifischen „verfassungsstaatlichen" Sinn. Sucht man den Wirkungszusammenhang von „politischer Einheit", „Staat" und

44 K. Hesse (Fn. 10), S. 5 f.; ders., Verfassung und Verfassungsrecht, in Benda/ Maihof er/ Vogel (Hrsg.), HandB des VerfR, Bd. 1, 2. Aufl., § 1, Rn. 5 ff.

45 E. Denninger (Fn. 34), S. 16 f. 46 So K. Hesse (Fn. 10), S. 5; ders. (Fn. 44), Rn. 4; A. Voßkuhle (Fn. 38), S. 46; vgl. auch

schon „Verfassung im absoluten Sinne" bei G Schmitt (Verfassungslehre, 1928, S. 4), wo Ver- fassung als „konkrete, mit jeder existierenden politischen Einheit von selbst gegebene Daseinsweise" definiert wurde.

47 In diese Richtung z. B. U. Scheuner, Konsens und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem, in G. Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, 1976, S. (33 ff.) 62; D. Grimm, Verfassungsrechtlicher Konsens und politische Polarisierung in der Bundesrepublik Deutschland, in ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 298 ff.; E. Denninger (Fn. 34), S. 19; in Bezug auf das GG Th. Würtenb erger, Wiedervereinigung und Verfassungskonsens, JZ 1993, S. 745 ff.; in Bezug auf die Österreichische Verfassung P. Pernthaler, Grenzen der Ver- fassungsänderung, OTT Bd. 1/2, 1999, S. 11 f.

48 Vgl. A. Kimmel, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen: Grundrechte, Staatsziel- bestimmungen und Verfassungsstrukturen, in Gabriel/ Brettschneider (Hrsg.), Die EU-Staa- ten im Vergleich, 2. Aufl., 1994, S. (23 ff.) 27; ders., Einführung, in Die Verfassungen der EG- Mitgliedstaaten, 3. Aufl., 1993, S. XII f.

49 U. K. Preuß (Fn. 36), S. 20 ff.; K. Stern (Fn. 20), S. 146 ff.; P. Pernthaler (Fn. 47), S. 8 f.; P. Haberle, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat - eine verglei- chende Analyse, AöR Bd. 112 (1987), S. 54 ff.

50 Vgl. oben Fn. 38 und 40 zusammen mit Haupttext. 51 Dabei ist unerheblich, ob die Verfassunggebung die gesellschaftliche Homogenität vor-

aussetzt oder sie erst mit der Verfassung „produziert" wird. 52 Wenig behilflich können dabei die klassischen, machteinschränkenden Funktionen

(Machterzeugung, Machtbegrenzung und Machtlegitimation) sein, da sie jedem hoheitlich erlassenen Rechtsakt eigen sind und kaum eine exakte Ausdifferenzierung der staatlichen Verfassung in ihrer spezifischen Bedeutung ermöglichen.

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„Gemeinwesen", erhält man erst mit der gesellschaftsintegrierenden Funktion positive Impulse für die Identifizierung eines Verfassungsdoku- ments. In dieser Funktion kann der Verfassungsbegriff auch als ein Akt staatlicher bzw. gesellschaftlicher Integration im Sinne einer „Grund- norm" bzw. eines „Grundgesetzes" sinnvoll Anwendung finden. Schließ- lich lässt sich auch nur vor dem Hintergrund der gesellschaftsintegrieren- den Funktion den rationalisierenden Wirkungen einer Verfassung53 prak- tische Geltung verschaffen.

Allein anhand dieser Überlegung lässt sich jedoch die tatsächliche Bedeutung der Verfassungsfunktionen für die Bestimmung der verfas- sungsprägenden Kriterien noch nicht ausreichend festlegen. Sie ist im Ergebnis erst aus dem Blickwinkel der Lehre über den verfassunggeben- den Willen des pouvoir constituant zu verstehen: Aus der inneren begrif- flichen Notwendigkeit kann nämlich nur das Volk dessen Träger sein.54 Die gesellschaftsintegrierende Funktion einer Verfassung nimmt so in allen ihren konkreten Formen unmittelbar auf die Volkssouveränität Bezug.55

d) Keine verfassungsrechtliche Qualität Von diesem Standpunkt her lässt sich die Verfassungsqualität des

„Annexes 4" nicht mehr bejahen. Drei Gründe sprechen eindeutig gegen die theoretische Anerkennung seiner verfassungsrechtlichen Qualität: „Annex 4" zerstört zum Ersten die politische Einheit des bosnischen Staatsvolkes, raubt zum Zweiten dem Staatsvolk seine verfassunggebende Eigenschaft und wirkt sich zum Dritten auf die staatliche Gemeinschaft völlig desintegrativ aus. Das Zusammenwirken dieser drei Elemente wird

53 Zum Verständnis der Verfassung als Beschränkung und Rationalisierung der Macht vgl. H. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, S. 88 f.; ders., Prinzipien der Verfas- sungsinterpretation, WDStRL Bd. 20 (1963), S. 61 ff.

54 So zutreffend E.-W. Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes - Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, in ders., Staat, Verfassung, Demokratie, Studien zur Ver- fassungstheorie und zum Verfassungsrecht, 1991, S. 90 ff.; bejaht bei U. K. Preuß (Fn. 36), S. 20 und G. F. Schuppen (Fn. 41), S. 38; in diese Richtung wohl auch R Haberle, (Fn. 49), S. 55 ff.

55 Dass hierbei das Volk zugleich ein Volk im natürlichen Sinne sein kann, ist unstrittig. Es muss aber nicht ausschließlich das „natürliche Volk", sondern darf vielmehr das „politische Volk" (Nation, Beispiel Schweiz) sein. Dies ergibt sich auch als zwingende Konsequenz des Selbstbestimmungsrechts der Völker: Teilt man das Selbstbestimmungsrecht in eine äußere und eine innere Komponente, ist das Staatsvolk (Nation) zweifellos Träger des inneren Selbstbestimmungsrechts, wodurch es nach seinem Willen die innere Ordnung (die Verfas- sung) des Staates gestaltet. Hierzu einschlägige Ausführungen bei D. Murswiek, Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht, Der Staat Bd. 23 (1984), S. (523 ff.) 532; H.-J. Hein- ze, in K. Ipsen (Fn. 8), § 28, Rn. 7; E.-W. Böckenförde (Fn. 24), S. 96 f.;/. Habermas, Der Europäische Nationalstaat - Zu Vergangenheit und Zukunft von Souveränität und Staats- bürgerschaft, in ders., Die Einbeziehung des Anderen, 1999, S. (128 ff.) 130 ff., 138 ff. Wei- tere informationsreiche Analysen mit anschaulichen Beispielen liefert die Studie von U. Altermatt, Das Fanal von Sarajevo: Ethnonationalismus in Europa, 1996.

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Volkerrechtlicher Vertrag als â Gestaltungsinstrument" 307

erst dann anschaulich, wenn die Verabschiedung des âAnnexes 4" mit zwei objektiven Kriterien - d.h. mit der Chronologie der Ereignisse vor und nach dem Inkrafttreten des Daytoner Abkommens einerseits und mit der âStatistik" der rechtlichen Auswirkung des âAnnexes 4" auf die gesamtstaatliche Konsolidierung andererseits - in Verbindung gebracht wird.56

Der Erörterung dieser Punkte geht die Frage voraus, ob die Existenz des bosnischen Staatsvolkes überhaupt rechtlich nachweisbar war. Sie ist dahingehend zu beantworten, dass durch die verschiedenen Rechtsakte57 und die Referendumsentscheidung58 schon 1992 zum Ausdruck gebracht wurde, dass die ethnische Heterogenität der Bevölkerung für die Frage des Bestehens eines Staatsvolkes und damit für die internationale Unabhän- gigkeit auch keine Rolle spielte.59 Das bosnische Staatsvolk, geprägt durch

56 Zu diesen Fragen verweise ich im Einzelnen auf das einschlägige Schrifttum, z.B. W. Rüb (Fn. 3), insb. S. 179 ff.; M.-J. Calie, Düstere Aussichten für Bosnien-Herzegowina, Europa- Archiv, 1994, S. 71 ff.; dies. (Fn. 1), S. 206 ff.; H. Riegler (Fn. 5), S. 46 ff.; ICG, Ed. (Fn. 5), S. 53 ff.; vgl. auch N. Pobric (Fn. 3), S. 58 ff., 70 ff., 107 ff.

57 Z. B. die Unabhängigkeitserklärung (aufgrund des am 29. Februar/1. März 1992 abge- haltenen Referendums erklärte Bosnien-Herzegowina formell seine Unabhängigkeit; vgl. FAZ vom 4. März 1992, S. 1; S. Baer> Der Zerfall Jugoslawiens im Lichte des Völkerrechts, 1995, S. 94), die Republikverfassung (vgl. Art. 184 bis 269 der Verf. der Rep. B-H, Sl. 1. Rep. BiH [GB1. Rep. B-H] Nr. 4, 1974, deutsche Ãbersetzung in Brunner/ MeiÃner [Hrsg.], Ver- fassungen der kommunistischen Staaten, 1980, S. 125; über die Ãnderungen und Anpassun- gen der Verfassung in dem hier einschlägigen Zusammenhang vgl. E. SarcevicÃ- Die Schluss- phase der Verfassungsgebung in Bosnien und Herzegowina, 1996, S. 14 ff.) und das Staats- angehörigkeitsgesetz (zur Zeit der Unabhängigkeitserklärung und völkerrechtlicher Aner- kennung galt in Bosnien-Herzegowina das Staatsangehörigkeitsgesetz vom 7. April 1977 [Sl. 1. Rep. BiH Nr. 10, 1977] mit der Durchführungsverordnung vom 20. Dezember 1978 [Sl. 1. Rep BiH Nr. 1, 1979] und mit den Ãnderungen vom 21. Mai 1987 [Sl. 1. Rep. BiH Nr. 14, 1987]; das Gesetz wurde 1992 ausdrücklich aufgehoben, wobei die Republik B-H am 6. Oktober 1992 [Sl. 1. BiH Nr. 18, 1992] ein eigenes Staatsangehörigkeitsgesetz [bereinigte Fas- sung vom 11. September 1996, Sl. 1. Rep. BiH Nr. 30, 1996] erlieÃ).

58 Den Forderungen der EG entsprechend (vgl. Leitlinien für eine Anerkennung von Neu- staaten in Osteuropa und in der Sowjetunion, Bulletin-Presse und Informationsamt der Bundesregierung, Nr. 144 v. 19. Dezember 1991) führte die bosnische Regierung am 29. Februar und 1. März 1992 ein Bürgerreferendum über die Unabhängigkeit und Souveränität der Republik B-H durch (vgl. Odluka o provodjenju referenduma [Entscheidung über die Durchführung des Referendums] GBl. Rep. B-H Nr. 3 1993). Die Referendumsentscheidung traf das bosnische Parlament am 25. Januar 1992 nach einer zweitägigen Sitzung, die zwei politische Parteien (SDS=Srpsak demokratska stranka=Serbische demokratische Partei und SPO=Srpski pokret obnove=Serbische Erneuerungsbewegung) boykottierten. Die Referen- dumsfrage lautete: âSind Sie für ein unabhängiges und souveränes Bosnien und Herzegowi- na - einen Staat der gleichberechtigten Bürger, der Völker Bosnien-Herzegowinas: Moslems, Serben und Kroaten?" Nach dem Bericht der Referendumskommission nahmen insgesamt 2.073.568 bzw. 64,31% von 3.253.847 Stimmberechtigten an dem Referendum teil. Davon votierten 2.061.932 bzw. 63,95% der Stimmberechtigten für die Unabhängigkeit der Repu- blik (die Angaben nach der Wahlkommission bei K. Begic, Bosna i Hercegovina od Vanceo- ve misije do Daytonskog sporazuma: 1991.-1996. [Bosnien und Herzegowina von Vance- Mission bis zum Daytoner Abkommen: 1991-1996], Sarajevo, 1997, S. 77 f.).

59 Zutreffend S. Baer (Fn. 57), S. 109 ff., 309; vgl. auch Erwägung unter Nr. 14 der Reso- lution 48/88 der Generalversammlung der UN vom 20. Dezember 1993. Ãbersetzung in EA 1994, S.(D 217 ff.) D 225.

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die Republikverfassung60 und das bosnisch-herzegowinische Staatsan- gehörigkeitsrecht,61 fungierte in der international anerkannten Republik als einziger Träger der verfassunggebenden Gewalt.62

Gerade dies annulliert „Annex 4". Er definiert schon in der Präambel Bosniaken, Kroaten und Serben als „konstitutive" (d.h. staatstragende) Völker63 und bestimmt diese als Verfassungsurheber. Damit erscheinen als tatsächliche Träger der verfassunggebenden Gewalt die drei Ethnien64 und nicht das bosnische Staatsvolk als Gesamtheit.65 Wird hierzu die Funktion der für die Vertragsparteien handelnden Personen mitberücksichtigt,66 ergeben sich vornehmlich die drei Ethnien (Serben, Kroaten und Bosnia- ken) als die eigentlichen Verfassunggeber.

60 In der neu anerkannten Republik wurde zuerst die Staatsanghörigkeitsbestimmung der Republik-Verfassung (1974, vgl. oben Fn. 57) aus Art. 6 geändert, indem die Absätze II und III, die auf Gesamt-Jugoslawien verwiesen hatten, aufgehoben wurden, so dass nur noch Abs. I übrig blieb: „Für Bürger der Republik Bosnien und Herzegowina besteht die Staats- angehörigkeit der Republik Bosnien und Herzegowina". Damit wurden alle Bewohner von Bosnien-Herzegowina als Staatsangehörige beansprucht.

61 Die Gliedstaaten innerhalb des alten Gesamtstaates Jugoslawien hatten unterhalb der Ebene der Gesamtstaatsangehörigkeit jeweils eine eigene originäre Republikzugehörigkeit. Diese war durch besondere Staatsangehörigkeitsgesetze geregelt (vgl. oben die Ang. in Fn. 57). Dies bestätigte auch das neue Staatsangehörigkeitsgesetz vom 6. Oktober 1992 (vgl. Fn. 57). Weitere Gesichtspunkte bei H. Hecker, Die Staatsangehörigkeit in Bosnien und Herze- gowina seit dem Friedensabkommen von Dayton/Ohio, WGO-MfOR 1996, S. 105 ff.; E. Sarcevic, Zum neuen bosnisch-herzegowinischen Staatsangehörigkeitsgesetz, WGO - MfOR 1998, S. 331 ff.

62 Die drei konstitutiven bosnischen „Nationen" (Serben, Kroaten und Muslime) hatten nur als Staatsbürger - also nicht als ethnische Gruppe - ihre Rechte in der Verfassungsord- nung. Das ergibt sich eindeutig aus dem Staatsorganisationsrecht, zumal verfassungsrechtlich kein Staatsorgan als Repräsentant der einzelnen ethnischen Gruppen existierte. Ein zweihäu- siges Parlament repräsentierte zum einen die gesamten Staatsbürger von B-H (Vijece gradja- na = Bürgerrat) und zum anderen territoriale Einheiten (Vijece opstina = Gemeinderat). In Art. 87 der Verf. wurde darüber hinaus ausdrücklich festgelegt, dass die Bürger weder ver- pflichtet sind, sich zu erklären, welchem Volk sie angehören, noch sich für die Zugehörigkeit zu einem dieser Völker zu entscheiden. Weitere Gesichtspunkte E. Sarcevic, (Fn. 67), S. 14 ff.

63 „Bosniacs, Croats, and Serbs, as constitutient peoples (along with others), and citizens of Bosnia and Herzegovina hereby determine that the Constitution of Bosnia and Herzego- vina is as follows: (...)" (letzter Abs. der Präambel).

64 Zu dem hier zugrundegelegten Begriff Ethnos/Ethnie grundlegend T. Haveric, Ethnos et démocratie: le cas de la Bosnie-Herzégovine, Diss. Paris - X Nanterre, insb. S. 276 - 292; vgl. auch C. Leggewie, Ethnizität, Nationalismus und multikulturelle Gesellschaft, in H. Berding (Hrsg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, S. 46 ff., insb. Kap. II „Eth- nos und Demos", S. 54 ff.; U. Altermatt (Fn. 55), S. 47 ff. und 231 ff.; H. Buchheim, Das Prin- zip „Nation" und der neuzeitliche Verfassungsstaat, ZfP Bd. 42 (1995), S. 60 ff.

65 Obwohl an der gleichen Stelle auch die „Bürger von Bosnien-Herzegowina" erwähnt sind, ändert sich nichts in der Sache selbst, da der abstrakte Staatsbürger als Träger der ver- fassunggebenden Gewalt nach der Nennung in der Präambel aus dem staatsorganisatori- schen Teil (Art. 4-7) und dem ganzen Text des Annexes 4 vollkommen entfernt ist. Im Ein- zelnen E. Sarcevic (Fn. 2), S. 7 ff.; ders. (Fn. 57), S. 42 ff.; ders. (Fn. 13), S. 53 ff.; vgl. auch Erwähnung bei O. Dörr (Fn. 13), S. 227 und W. Rüb (Fn. 3), S. 166.

66 Im Annex 4 M. Sacirbey für die mit der Daytoner Friedensvereinbarung eliminierte Republik Bosnien-Herzegowina einerseits; andererseits für die neuentstandenen Entitäten K. Zubak im Namen der Föderation Bosnien-Herzegowina und der jugoslawische Außen- minister M. Milutinovic im Namen der Serbischen Republik.

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Diese Behauptung erscheint insofern sowohl überraschend als auch problematisch, als die Republik Bosnien-Herzegowina durch die für sie handelnde Person von ihrer Fähigkeit, Verträge zu schließen, einerseits als Vertragssubjekt des „Annexes 4" (der Verfassung) und andererseits als Vertragssubjekt des mit den Nachbarstaaten (Kroatien und BR Jugoslawi- en) abgeschlossenen Allgemeinen Rahmenabkommens Gebrauch machte. Dabei könnte man vermuten, dass gerade der Republikpräsident Izetbe- govic As Verhandlungspartner das gesamte bosnische Staatsvolk repräsen- tierte. Eine genauere Analyse seines rechtlichen Mandats, seines politi- schen Selbstverständnisses und nicht zuletzt des Verständnisses seiner Position im einschlägigen Schrifttum lässt die Schlussfolgerung zu, dass der Präsident der Republik Bosnien-Herzegowina zur Zeit des Abschlus- ses des Daytoner Friedensabkommens lediglich die ethnische Gruppe der Bosniaken und nicht das gesamte bosnische Staatsvolk vertrat.67

67 Das Verständnis seines Auftrags zum Zeitpunkt der Vertragsparaphierung setzt fun- dierte Kenntnisse der Ereignisse in B-H von 1990 bis Ende 1995 voraus, insbesondere über die Funktionsweise der Staatsorgane der Rep. B-H und über die politische Positionierung des Präsidenten Izetbegovic und seiner Partei (SDA=Partei der Demokratischen Aktion, bosniakische nationalistische Partei) während des Kriegszustands. Seit 1993 lässt sich - grob dargestellt - ein Sinneswandel in Izetbegovics politischer Praxis erkennen sowie eine Ten- denz, die zu einem Funktions- und Mandatswandel hinführt. Vom Präsidenten aller Staats- bürger (gem. Art. 220 der Verf. der Rep. B-H wurde Izetbegovic unmittelbar von den bos- nischen Staatsbürgern gewählt) verwandelte sich seine innerstaatliche Position nach und nach in diejenige eines exklusiven Vertreters der Bosniaken (Muslime). Nicht nur die Wahl- ergebnisse aus dem Jahre 1990 und der verfälschte Auftrag der Siegerparteien, wonach aus- schließlich den drei nationalistischen Parteien, der SDA für die Bosniaken, der HDZ für Kroaten und der SDS für die Serben, das exklusive Vertretungsrecht zusteht, sondern viel- mehr seine Akzeptanz bei der Bevölkerung, die partei-politischen Rituale und die etablierte Verhandlungspraxis der Friedensvermittler, die schon seit dem Wance-Owen-Plan Izetbego- vic als Moslemführer den selbsternannten Serben- und Kroatenführern (Radovan Karadzic, SDS und Mate Boban, HDZ) gleichgestellt haben, rechtfertigen diese Schlussfolgerung. Die- ser Trend setzte sich bis zu den Daytoner Friedensverhandlungen fort, wo es dazu kam, dass die Delegation der „bosnischen Kroaten" aus der gemeinsamen bosnischen Delegation mit Izetbegovic an der Spitze im Rahmen der Verhandlungen ausgeklammert war und einen eigenen Vorschlag der Verfassungsordnung für B-H unterbreitete. Izetbegovic selbst defi- nierte seine eigene politische Position oft als Vertretung der bosniakischen nationalen Inter- essen (vgl. Die zwölf staatlichen Aufgaben, Oslobodjenje, Ljubljana/Sarajevo, 26. Januar - 2. Februar 1995, S. 3, die Interviews in Ljiljan, Ljubljana/Sarajevo, 16. März 1994, S. 6 f. und 14. Dezember 1994, S. 6 sowie die Rede anlässlich der Militärparade - Bihac, Oslobodjenje, Sarajevo 23. April 1996, S. 1), zudem verlängerte er seit der Erklärung des Kriegszustandes sein eigenes Mandat durch ein Gesetz (Gesetz über Einstellung der Anwendung des Art. 220 Abs. 2 der Verf. der Rep. B-H, Sl. 1. Rep. BiH Nr. 21, 1993 i.V.m. Nr. 13, 1994) auf den Zeit- raum von über vier Jahren und traf anschließend im kollektiven Präsidium die wichtigsten Entscheidungen fast ausschließlich allein oder im engsten Führungskreis der SDA-Funk- tionäre (vgl. Erklärung des damaligen Präsidiumsmitglieds /. Komsic in Oslobodjenje, Sara- jevo, 2. September 1996) vornehmlich als Moslem/Bosniaken-Führer. So gesehen, stellt die Einengung seines Daytoner Auftrages auf die Vertretung einer Ethnie eine logische Folge der Ereignisse dar, die seit der Proklamation der „Republik des serbischen Volkes in B-H" durch zwei parlamentarische Parteien (9. Januar/28. Februar 1992) und spätestens seit der Er- klärung der Kroatischen Republik Herzeg-Bosna durch die HDZ (18. November 1991/24.

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310 Edin Sarcevic

Das gleiche gilt für den im Namen der Föderation Bosnien-Herzegowi- na handelnden Vertreter. Der hochrangige Funktionär der HDZ und des von ihr begründeten kroatischen Phantom-Staats „Herzeg-Bosna",68 Kresimir Zubak, bewilligte im Namen der „konsumtiven Völker und Bürger" der Föderation69 den „Annex 4". Die Föderation wurde jedoch vor der Vertragsparaphierung als „Miteigentum" von zwei Ethnien (Kro- aten und Bosniaken) konstituiert und verfassungsrechtlich abgesichert.70 Demzufolge war sie als eine mechanische Summe der durch die HDZ repräsentierten kroatischen und der durch die SDA repräsentierten bosni- akischen Bevölkerungsgruppe in die Daytoner Verhandlungen involviert. Eine eigene Delegation hatte sie jedoch nicht. In der einheitlichen bos- nisch-herzegowinischen Delegation fungierte der kroatische Delegati-

August 1993) zusammen mit der diplomatischen Verhandlungspolitik der „drei Kriegspar- teien" Izetbegovics Verhandlungsposition konstitutiv prägen. Will man trotzdem der Fakti- zität der Ereignisse entkommen und Izetbegovic in der Funktion des Staatsvertreters sehen, wird seine Vertragsabschlußkompetenz nicht nur in der Verhandlungs- und Paraphierungs- phase, sondern auch in der Phase des innerstaatlichen Zustimmungsverfahrens und der Unterzeichnung materiell-rechtlich fraglich: Art. 5 der Verf. der Rep. B-H regelt eindeutig, dass das Territorium der Rep. B-H einheitlich und unteilbar ist und die Grenzen der Rep. B-H nur aufgrund einer im Wege des Bürgerreferendums und mit 2/3-Mehrheit getroffenen Entscheidung geändert werden können. Soll folglich Izetbegovic als handlungsbefugt für die Rep. B-H angesehen werden, muss er vornehmlich als Vertreter einer Ethnie betrachtet wer- den. Diese Tatsache ist in der bosnisch-herzegowinischen Fachliteratur schon eindeutig als „herrschende Auffassung", jeweils mit unterschiedlichen Folgen angesichts der Gültigkeit des Daytoner Abkommen, artikuliert worden. Da sie im deutschsprachigen Raum kaum berücksichtigt ist, seien an dieser Stelle einige Titel erwähnt, die oben genannte Thesen untermauern /. Festic, Bosna i ustav (Bosnien und Verfassung), Republika, Sarajevo, Novem- ber 1996, S. 7 ff.; ders., Stvarnost iluzije (Wahrheit einer Illusion), Republika, Sarajevo, 7/1996, S. 6 ff.; ders., Otvorena pitanja ustavnosti u Bosni i Hercegovini (Open Questions of Constitutionality in Bosnia and Herzegovina), Godisnjak Pravnog fakulteta u Sarajevu, Bd. XL (1997), S. 89 ff.; N. Duvnjak, Neka pitanja Suvereniteta Bosne i Hercegovine (Some que- stions of Bosnia and Herzegovina souvereignty), op. cit., S. 76 ff.; N. Pobric, Ustav u BiH i teritorijalna distribuera vlasti (Verfassung in B-H und territoriale Gewaltdistribution), in Drzavnost BiH i Dejtonski mirovni sporazum (Staatlichkeit von B-H und Daytoner Frie- densabkommen), Sarajevo 1998, S. 211 ff.; ders., Standardi Vijeca Evrope i bosanskoherce- govacka pravno-politicka i drustvena stvarnost (Standards des Europarates und bosnisch- herzegowinische rechtspolitische und soziale Wirklichkeit), Ljudska prava, Sarajevo, 1/2000, S. 114 ff.; E. Sarcevic, (Fn. 13), insb. 2. Teil, S. 65 ff.; K. Begic(Fn. 58), passim; zur serbischen Betrachtung siehe das Lehrbuch des Präsidenten des VerfGH der Serbischen Republik R. Kuzmanovic, Ustavno pravo (Verfassungsrecht), Bd. 2, Banja Luka 1997, S. 64.

68 Über ihre rechtliche Position im Einzelnen vgl. E. Sarcevic, Die Auflösung der „kroati- schen Republik Herzeg-Bosna", WGO - MfOR 1997, S. 327 ff.

69 Insoweit unterscheidet sich seine Erklärung von denjenigen der Vertreter von Bosnien- Herzegowina und der Serbischen Republik: Während die beiden letztgenannten im Namen der Republik B-H bzw. der „Serbischen Republik" den Annex 4 bewilligten, heißt es für die Föderation : „... on behalf of its constituent peoples and citizens, approves the Constitution of Bosnia and Herzegovina at Annex 4 ...".

70 Verfassung der Föderation B-H, SN FBiH (Amtsblatt der Föderation Bosnien-Herze- gowina) Nr. 1. 1994, vgl. E. Sarcevic (Fn. 57), S. 31 ff.; in diese Richtung wohl auch H. Schneider (Fn. 2), S. 2; bestätigt von K. Zubak, Interview, Oslobodjenje, Sarajevo 22. April 1996.

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Volkerrechtlicher Vertrag als „ Gestaltungsinstrument" 311

onsteil71 selbstständig, der lediglich die wichtigsten Entscheidungen im Einvernehmen mit der kroatischen Staatsdelegation traf.72 Des weiteren muss man berücksichtigen, dass der bosniakische Teil durch die Republik B-H {Izetbegovio) vertreten wurde, wobei das Verhandlungsteam den kroatischen Delegationsteil in der Regel über die kroatische Staatsdelega- tion (Tudjman) kontaktierte und disziplinierte.73 Unter Zugrundelegung dieser Fakten kann die Akzeptanz des „Annexes 4" durch die für die Föderation handelnde Person de facto nur als Willensäußerung einer bos- nischen Ethnie - des kroatischen Volkes - gesehen werden.

Für die Funktion des „Vize-Präsidenten" der Serbischen Republik Nikola Koljevic scheint diese Abgrenzung wesentlich einfacher zu sein, da er lediglich im Namen der Serben (der Serbischen Republik) den „Annex 4" unterschrieb. Auffällig ist dabei, dass dieses Dokument zuerst vom damaligen Präsidenten der Republik Serbien Slobodan Milosevic signiert und erst später vom Vertreter der bosnischen Serben unterzeichnet wurde.74 Dies entspricht dem verbreiteten Selbstverständnis sowohl der serbischen militärischen, religiösen, politischen und akademischen Eliten als auch dem der großen Mehrheit der jugoslawischen Serben während des Krieges in Slowenien, Bosnien, Kroatien bis hin zum Kosovo-Krieg, wonach der Präsident aller Serben der damalige Präsident der Republik

71 Vertreten durch die HDZ- und Herzeg-Bosna-Funktionäre Jadranko Prlic und Kresimir Zubak.

72 Vgl. die Angaben über das Funktionieren der bosnisch-herzegowinischen Delegation, die auch die Vertragspflichten als „Partei" der einzelnen Annexe entweder als Rep. und Föderation B-H gemeinsam oder lediglich als „Föderation B-H" übernahm, bei K. Begic (Fn. 58), S. 281 ff. und R. Holbrooke, To end a war, 1998, deutsche Übersetzung: Meine Mis- sion: Vom Krieg zum Frieden in Bosnien, 1999, S. 268, 404. Informationsreich ist i.d.S. das „Dayton-Tagesbuch" des damaligen bosnischen Präsidiumsmitglied /. Komsic in Slobodna Bosna v. 1. Februar 1995, Sarajevo, S. 5 ff.

73 Vgl. R. Holbrooke (Fn. 72), passim insb. Kapitel 8, S. 181 ff. 74 Vgl. hierzu Holbrooke (Fn. 72), S. 474. Die Vertreter der „Serbischen Republik" waren

bei den Friedensverhandlungen anwesend, wobei die „Serbische Republik" nicht Vertrags- partei des Abkommens war. Den Annex 4 signierte im serbischen Namen der serbische Prä- sident Milosevic unter dem Vorbehalt, die Unterschriften der selbsternannten Vertreter des serbischen Volkes aus B-H binnen zehn Tagen nach seiner Rückkehr vorzulegen, was auch in einem an US- Außenminister W. Christopher gerichteten Schreiben garantiert wurde. All dies geschah als Folge einer dem serbischen Präsidenten Milosevic aufgrund der Vermittlung der orthodoxen Kirche und einer internen serbischen Vereinbarung (sog. Patriarchenpapier vom 30. August 1995 nach Radio-Belgrad) erteilten Befugnis, das Friedensabkommen im Namen der Serbischen Republik abzuschließen und in Streitfragen selbständig zu entschei- den. Vgl. den 4. Erwägungsgrund der Präambel zum Allgemeinen Rahmenabkommen und Art. II des gesonderten Paraphierungsabkommens; weitere Gesichtspunkte bei P. Gaeta, The Dayton Agreements and International Law, EJIL Bd. 7 (1996), S. (147 ff.) 151 f.; S. Hille, Die gegenseitige Anerkennung zwischen der „Bundesrepublik Jugoslawien" und Bosnien- Herzegowina und der Status der „Serbischen Republik" im Lichte des Friedensabkommens von Dayton, ZÖR Bd. 51 (1996), S. (209 ff.) 219; H Riegler (Fn. 5), S. 15; K. Begic (Fn. 58), S. 275 in Fn. 4; R. Holbrooke (Fn. 72) S. 170 f.

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312 Edin Sarcevic

Serbien, Slobodan Milosevic, ist.75 Dementsprechend lässt sich die Ver- handlungsposition der serbischen Delegation vornehmlich als die Reprä- sentanz der ethnisch-serbischen Interessen verstehen.

Die sich oft überschneidenden Verhandlungsmaterien fokussierten so in folgendem Punkt: Die Friedensverhandlungen, die Paraphierung und der rechtsverbindliche Abschluss des Rahmenabkommens, insbesondere aber seines „Annexes 4"stellen sich de facto als eine Friedensvereinbarung zwi- schen drei jugoslawischen, in unterschiedlichen Staaten angesiedelten eth- nischen Gemeinschaften dar.76 Die daraus folgende Ethnisierung der Ver- fassunggebung77 ist nicht die Ursache, sondern die Folge der gesamten in- ternationalen Friedensstrategie auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawi-

75 Seit der Erklärung der serbischen Autonomie in Kroatien (vgl. den Text der Deklarati- on aus Srb v. 25. Juli 1990 in Politika, Beograd, 26. Juli 1990) bis zum Vertragsabschluss in Dayton galt Milosevic als symbolischer, inoffizieller Präsident aller Serben, vgl. hierzu die Zitate und instruktiven Analysen bei O. Milosavljevic, Jugoslavia kao zabluda (Jugoslawien als Irrtum), Republika Nr. 135-136, Beograd 1996, S. I ff. insb. XIV f. Die friedensstiftende Strategie im ehemaligen Jugoslawien ging in der Regel davon aus, dass Milosevic die Serben „in allen serbischen Ländern" (d.h. sog. Krajina-Serben aus Kroatien, bosnische Serben und jugoslawische Serben) zu repräsentieren hat. So erscheint er auch in Dayton primär als Repräsentant aller Serben (vgl. oben Fn. 74). Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Tat- sache erklären, dass Milosevic damals als Präsident der Republik Serbien (er war erst zwi- schen 1997 und Nov. 2000 Präsident der BR Jugoslawien, vgl. FAZ v. 7. Oktober 2000) auf- grund einer internen serbischen Vereinbarung (vgl. oben Fn. 74) von den Friedensunter- händlern und anderen Parteien als verhandlungs- und abschlussbefugt iSd Völkerrechts angesehen wurde, obwohl ihm nach den bisherigen Erkenntnissen vom damaligen jugosla- wischen Präsidenten Z. Lilie nie eine Vollmacht erteilt wurde. Nach Art. 96 I der Verf. der BR Jugoslawien ist nämlich der Präsident BR Jugoslawiens befugt, das Land nach außen zu vertreten, was auch die Vertragsabschlußkompetenz einschließt. Was Milosevics Position insgesamt betrifft, gingen offensichtlich die Unterhändler zusammen mit den anderen Ver- tragsparteien von der Position der realen Macht (R. Holbrooke: „...war es meine erste Begeg- nung mit dem Mann, der unserer Ansicht nach die Hauptverantwortung für diesen Krieg trug", Fn. 72, S. 16) und nicht von seiner verfassungsrechtlichen Position aus. I. E. lässt sich seine Position während des Krieges im ehem. Jugoslawien als „Hüter des Serbentums" beschreiben.

76 Dies wurde zutreffend von dem amerikanischen Präsident, Bill Clinton am 22. Dezem- ber 1997 im Volkstheater in Sarajevo festgestellt (IP 4/1995, S. 101): „Sie müssen den Füh- rern aller Volksgruppen ihren Wunsch nach Frieden und einer gemeinsamen Zukunft deut- lich machen" (Hervorhebung v. E. §.). Zutreffend erkannt bei H. Schneider (Fn. 2), S. 2 f.; dokumentiert bei der gesamten Rekonstruktion der Friedensverhandlungen bei C. Stahn (Fn. 5), S. 663 f.; R. Holbrooke (Fn. 72); vgl. auch M.-J. Calie (Fn. 56), S. 71 ff.; ICG, Ed. (Fn. 5), lit. C ff., S. 85 ff. Im Übrigen wird diese These durch die ausdrückliche Bestätigung der in den Annexen getroffenen Vereinbarung (Art. II bis VIII des Rahmenabkommens) doku- mentiert, da hier u.a. die Repräsentanten aller drei Nationen ihre Unterschriften leisteten: Es handelte sich bei den Präsidenten aller drei Staaten (Rep. B-H, Rep. Kroatien und BR Jugos- lawien) jeweils um die eigentlichen Repräsentanten aller drei „Völker".

77 S. Yee (Fn. 2) schreibt m.E. zutreffend über „Ethnic souvereignity"; im ICG-Bericht (Fn. 5) ist über „clearly designed 'ethnic* country" die Rede (S. 58).

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Volkerrechtlicher Vertrag als „ Gestaltungsinstrument" 313

ens.78 Besonders klar kommt diese Logik bei der Verwirklichung des „Annexes 4" zum Ausdruck.79

e) Weiterführende Argumente Für die Frage der verfassungsrechtlichen Qualität des „Annexes 4"

spielt all dies noch keine entscheidende Rolle.80 Erst aufgrund der Beur- teilung seiner Auswirkung auf die demokratische und rechtsstaatliche Konsolidierung des Gesamtstaates lässt sich diese bejahen oder verneinen: Denkbar ist nämlich, dass durch die drei „konstitutiven Völker" das bos- nische Staatsvolk umfassend und ausreichend repräsentiert ist, so dass dadurch der gesellschaftliche Grundkonsens bewirkt und die gesellschaft- liche Integration ermöglicht wird. Unter diesen Voraussetzungen müsste der „Annex 4" als Staatsverfassung eingestuft werden, zumal auf diese Weise das Staatsvolk als souveräne, verfassunggebende politische Einheit repräsentiert wäre.

Gerade das leistet „Annex 4" keinesfalls: Zuerst einmal schließt er kon- sequenterweise vom politischen System etwa 8 % der bosnischen Staats- bürger aus,81 die keiner der staatstragenden Ethnien angehören, so dass

78 Diese Praxis wurde schon im Rahmen des unter den Vermittlungen der EG (März 1992) in Lissabon vereinbarten Föderalisierungskonzepts angedeutet und mit der Lord-Owens- Mission fortgesetzt. Den eigentlichen Wendepunkt stellt der von den USA, Russland, GB, Spanien und Frankreich initiierte „Gemeinsame Aktionsplan" (22. Mai 1993) dar, der erst- malig das weitere diplomatische Vorgehen von den geschaffenen militärischen Tatsachen und den drei ethnisch geprägten Verhandlungsparteien Muslime/Bosniaken, Serben und Kroaten abhängig machte. Vgl. M.-J. Calie (Fn. 1), S. 215 ff.; dies. (Fn. 56), S. 72;/. Vollmer (Fn. 3), S. 8 ff. Vgl. auch Kommunique des Außenministertreffens der Kontaktgruppe zu B-H vom 5. Juli 1994 (EA 1994, S. D 634 ff.), wonach die verfassungsrechtlichen Regelungen die Bezie- hung „zwischen bosniakisch-kroatischen und bosnisch-serbischen Einheiten" definieren sollen.

79 Sie ist gut dokumentiert im Buch „Prva konstitutivna sednica Narodne skupstine Repu- blike Srpske" (Erste konstitutive Sitzung der Volksvertretung der serbischen Republik), Pale/Trebinje 1996. Dasgleiche belegen insbesondere die im seriösen Schrifttum aufgetauch- ten Interpretationen der Föderation Bosnien-Herzegowina als „muslimisch-kroatische" oder als „bosniakisch-kroatische Föderation" (so z.B. S. Baer, Fn. 57, S. 300; S. Hille, Fn. 74, S. 219, 223; M.-J. Calie, Fn. 1, S. 270; H. Riegler, Fn. 5, S.15;/. Vollmer, Fn. 3, S. 13), die Dar- stellung der „Serbischen Republik" als serbischer Staat (yg'.J.-M. Calie, Fn. 1, S. 258 sowie die offizielle und herrschende Auff. in der Serbischen Rep., prägnant illustriert durch die Ausführungen bei A. Kuzmanovic, Fn. 67, S. 18, 39 ff.) sowie die Handhabung des Topos „Diskurs zwischen den Völkern" (M.-J. Calie, Fn. 56, S. 71).

80 Dafür spricht z.B. die in der Verfassungslehre bei C. Schmitt herausgearbeitete vertrag- liche Natur der Verfassung, die in der Annahme des Vertragscharakters des Staates und des Vereinbarungscharakters der Verfassung wurzelt (vgl. ders., Fn. 46, § 7 S. 61 ff.). Soweit die Entstehung einer Verfassung durch die gegenseitigen Vereinbarungen mehrer Subjekte der verfassunggebenden Gewalt (S. 44) definiert und diese Konstellation von der des Sozialver- trages klar abgegrenzt wird, eröffnete sich hiermit die relevante theoretische Grundlage zur Erläuterung der bosnisch-herzegowinischen Verfassunggebung als eine „Ethnien- Vereinba- rung". 81 Die bosnischen Staatsbürger, die sich nicht als Bosniaken, Serben oder Kroaten beken- nen, können nach den Wahlvorschriften, die aufgrund der Rahmenvereinbarung (Annex 3) erlassen wurden, weder in die Staatsorgane gewählt werden, noch eigene Repräsentanten

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314 E din Sarcevic

schon dadurch dem bosnischen Staatsvolk die verfassunggebende Eigen- schaft genommen wurde. Darüber hinaus werden die militärisch geschaf- fenen Fakten als Grundlage des neuentstandenen Verfassungssystems nor- miert, womit die „ethnische Säuberung"82 durch die Entitäten und Kan- tone in der Föderation Bosnien-Herzegowina territorialisiert wird.84 Sodann verlangt „Annex 4", dass die wichtigsten staatlichen Organe und beide Häuser (Kammern) der Parlamentarischen Versammlung von „eth- nischen Delegierten" besetzt werden:85 Danach werden die ethnischen Serben ausschließlich in der Serbischen Republik und die Kroaten und Bos-niaken ausschließlich in der Föderation B-H getrennt gewählt.86 So

wählen. Vgl. die detaillierte Darstellung m. w. Ang. in ICG, Ed., (Fn. 5), zu Annex 3, S. 37 ff. sowie E. Sarcevic, (Fn. 2), S. 14 ff.

82 Da der Begriff „ethnische Säuberung" erst durch den Krieg in Bosnien-Herzegowina geprägt wurde, verweise ich auf die Notwendigkeit seiner Anknüpfung an die Ereignisse in B-H zwischen 1992 und 1996. Dabei steht die durch die spezifische Zielsetzung geprägte Politik im Mittelpunkt, eine Ethnie (ethnische Bevölkerung) systematisch aus einem ihr tra- ditionell zugehörigen Gebiet zu entfernen. Zum Begriff vgl. /. Seidl-Hohenveldern, Völker- recht, 8. Aufl., 1994, S. 349; S. Oeter, Kriegsverbrechen in Konflikten um das Erbe Jugosla- wiens, ZaöRV Bd. 53 (1993) S. (1 ff.) 2; D. Sharga/R. Zaklin, The International Criminal Tri- bunal for the Former Yugoslavia, EJIL Bd. 5 (1994), S. 360; L Lehmler, Die Strafbarkeit von Vertreibungen aus ethnischen Gründen im bewaffneten nicht-internationalen Konflikt, 1999, S. 68 ff.; T. Mazowiecki, Berichte, UN Doc. A/47/666 und S/24809 vom 17. Novem- ber 1992; Sixt periodic report on the situation of human rights in the territory of the former Yugoslavia vom 21. Februar 1994, UN Doc. E/CN.4/1 10 (1994) § 283; Interim Report of the Commission of Experts Established Pursuant to Security Council Resolution 780 (1992), UN Doc. S/25274 (1993), Annex I, § 55.

83 So z. B. waren 45,73% der Einwohner der heutigen „Serbischen Republik" nach der Volkszählung aus dem Jahre 1991 nichtserbisch, wobei Ende 1997 hier 3,21% und Ende 1999 zwischen 3 und 5% der nichtserbischen Bevölkerung lebten. Angaben nach der E des B-HVerfGH (Fn. 5), Abs. 86-88; vgl. auch ICG, Ed. (Fn. 5), vgl. insb. Ang. in Fn. 94, S. 51 sowie die Erläuterungen zum Annex 7, S. 83 ff.; K. Trnka, Ustavno pravo (Verfassungsrecht), Sarajevo, 2000, S. 352 f.

84 Besonders klar belegt dies die territoriale Abgrenzung zwischen den Entitäten („Inter- Entity Boundary Linie" aus Annex 2), wonach die „Serbische Republik" 49% der ethnisch gesäuberten Territorien als ein exklusiv serbisches Territorium bekam. Dasselbe gilt für die Föderation B-H, in der von insgesamt 10 Kantonen jeweils 3 als kroatisch, 5 als bosniakisch und 2 ethnisch „gemischt" konstituiert sind. Dabei wird in den „kroatischen Kantonen" das Rechtssystem der Rep. Kroatien angewendet, sogar in den sog. „gemischten Kantonen" wird de facto in den Gemeinden mit kroatischer Mehrheit das kroatische Rechtssystem in verfas- sungswidriger Weise zur Anwendung gebracht. Vgl. ICG, Rule over Law: Obstacles to the Development of an Indepedent Judiciary in Bosnia and Herzegowina, Balkans Report N° 72, Bosnia Legal Project Report N° 1,5. Juli 1999, S. 4 m. w. Ang.; M. Rub, „Srpsko Saraje- vo" - ein Ergebnis von Gewalt und Vertreibung, FAZ v. 11. Dezember 1995, S. 2.

85 Vgl. S. Fee(Fn.2),S. 187 f. 86 Es handelt sich hier um die verfassungsrechtliche Konstruktion der Parlamentarischen

Versammlung, die sich aus dem Haus der Völker und dem Repräsentantenhaus zusammen- setzt (Art. 4). Das Haus der Völker besteht aus 15 Delegierten, von denen laut Verfassung je 5 Bosniaken, Kroaten und Serben - also als „ethnische Delegierte" - von dem Parlament der Föderation (Bosniaken und Kroaten) bzw. von der Versammlung der Serbischen Republik (Serben) entsandt werden. Auch das kollektive Staatspräsidium, der Ministerrat (die eigent- liche Regierung) sowie das Verfassungsgericht müssen nach dem ethnischen Prinzip von Kroaten, Bosniaken und Serben besetzt werden, wobei das exklusive Recht, eine Ethnie auf der gesamtstaatlichen Ebene zu vertreten, für die Serben die Serbische Republik und für die

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Volkerrecbtlicber Vertrag als „ Gestaltungsinstrument" 315

gesehen, kodifiziert „Annex 4" alles in allem den ethnischen Determinis- mus87 und stellt die kollektiven Rechte der drei anerkannten Ethnien den individuellen Menschenrechten gegenüber.88 Abschließend favorisiert „Annex 4" die Annahme, dass ein im Voraus gegebenes „ethnisches Inte- resse" bestehe und sichert dieses zusätzlich durch das Institut des „vitalen Interesses des Volkes": Hiernach kann jede Entscheidung der Parlamenta- rischen Versammlung (Art. IV.3.d.) und des Staatspräsidiums (Art. V.2.d.) für „destructive of a vital interest" einer Ethnie („konstitutives Volk") erklärt werden.89 Da solche Interessen weder definiert noch näher bestimmt sind, kann grundsätzlich für jede Frage eine „Verletzung des vitalen Interesses" behauptet und eine entsprechende Prozedur in Gang gesetzt werden, was das ganze Entscheidungssystem auf staatlicher Ebene blockiert.90

f) Zwischenergebnis Verknüpft man nun die bereits grob dargestellten Elemente der verfas-

sungsrechtlichen Normierung des „Annexes 4" mit den düsteren Ergeb- nissen der fünfjährigen Implementierung des Daytoner Abkommens91 auf

Bosniaken und Kroaten die Föderation hat. Nach dem gleichen ethnischen Prinzip sind das kollektive Staatspräsidium und der Ministerrat (Art. 5), das Verfassungsgericht (Art. 6) und die Zentralbank (Art. 8 des Annexes 4) zusammengesetzt. Kritisch hierzu E. Sarcevic, (Fn. 1), passim; ders. (Fn. 13) S. 47 ff., 53 f.; ders. (Fn. 57), S. 34 ff., 47 f.

87 Das politische System des Daytoner Bosnien-Herzegowinas lässt sich insofern als eth- nokratisch bezeichnen. Vgl. hierzu S. Dizdarevic, Die verfassungsrechtliche Lage von Bos- nien-Herzegowina und die Menschenrechte, in Hanusch/Sarcevic/Thoma-Venske (Hrsg.), Flüchtlinge, Verfassungsrecht und Menschenrechte, 1997, S. 13 ff.; E. Sarcevic, (Fn. 2), S. 10; in diese Richtung wohl a. G Stahn (Fn. 5), S. 676 f. („ethnische Demokratie").

88 Die Menschenrechte sind i.ü. im Rahmen des Daytoner Systems ausreichend gewährlei- stet. Ob sich in einem solchen System diese effektiv durchsetzen lassen, ob nämlich der Annex 4 die kollektiven Rechte des „konsumtiven Volkes" zugunsten der individuellen Menschenrechte einschränkt, ist zweifelhaft und kann hier offen bleiben. Näher darüber H. Alefsen, Zastita ljudskih prava u BiH (Menschenrechtschutz in B-H), in W. Benedek u.a. (Hrsg.) Ljudska prava u BiH: znanost i praksa (Menschenrechte in B-H: Wissenschaft und Praxis, Sarajevo, 1999, S. 47 ff.; 2. Pajic, A Critical Appraisal of Human Rights Provisions of the Dayton Constitution of Bosnia and Herzegovina, Human Rights Quarterly, Bd. 20 (1998), S. 125 ff.; über die Gewährleistung der Grundrechte in B-H vgl. Vitzthum/Mack (Fn. 1), S. 109 ff.; M. Nowak, Die Menschenrechtsinstitutionen aufgrund des Dayton- Abkommens, EuGRZ 1998, S. 7 ff.; ders., Die Rechtsprechung der Menschenrechtskammer für Bosnien und Herzegowina, in G. v. Arnim u.a. (Hrsg.), Jahrbuch für Menschenrechte - 1999, 1998, S. 191 ff.; D. Rauschning, Die Menschenrechts-Kammer für Bosnien und Her- zegowina, EuGRZ 1998, S. 11 ff.

89 Zum Institut vgl. E. Sarcevic, (Fn. 2) S. 11 f.; S. Yee (Fn. 2), S. 188; K. Trnka (Fn. 83), S. 382 f.; TV. Pobric (Fn. 3), S. 264 ff.

90 Im Schrifttum wird dieses Institut zutreffend als ein Veto-Instrument zur Blockade des Entscheidungs- und Gesetzgebungsverfahrens gesehen vgl. oben Fn. 87 sowie die Analyse in ICG, Ed. (Fn. 5), Kap. VI., lit. D und E, S. 56 ff.; C Stahn (Fn. 5), S. 677.

91 Hierzu vgl. die Fn. 5.

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316 Edin Sarcevic

dem Gebiet der Gesetzgebung,92 der Rückkehr der Flüchtlinge,93 der Tätigkeit der gemeinsamen Institutionen94 oder bloß mit der täglichen Arbeit des Staatspräsidiums und des Ministerrates95 zeigt sich die dauer-

92 Die parlamentarische Versammlung war von Anfang an vollkommen unfähig, die Tätig- keit eines Gesetzgebungsorgan auszuüben. Wegen andauernder Auseinandersetzungen, Boykotts und Nutzung des Vetorechts war schon 1 997 der Hohe Vertreter gezwungen, seine Befugnisse aus dem Art. I und II des Annexes 10 i.V.m. Punkt X. des Schlussdokuments der PIC (Bonn, 9./10. Dezember 1997, Übersetzung in IP 4/1998, S. 68 ff., 90) wahrzunehmen und das Staatsangehörigkeitsgesetz selbst zu erlassen. Die Liste der vom Hohen Vertreter G Westendorp erlassenen Entscheidungen und Gesetze erweiterte sich bis zum Juli 1999 auf insgesamt 55 Rechtsakte, wovon auf der gesamtsstaatlichen Ebene die Gesetze über Flagge und Siegel, über die Politik der direkten ausländischen Investitionen, über die militärischen Uniformen, über Telekommunikationen und über die Privatisierung der Unternehmen und der Banken erlassen wurden. Seit August 1999 bis März 2000 erließ sein Nachfolger W. Petritscb weitere 22 Entscheidungen und Gesetze (unter anderem das Gesetz über den Grenzdienst). Quelle: OHR-Legal Department, Decisions by the Haigh Representative, Stand: Juni 2000, alles unter www.ohr.int/decisions.htm. Die Parlamentarische Versammlung erließ bis Ende 1999 jährlich etwa 8 Gesetze. Die demokratisch legitimierte parlamentarische Gesetzgebung wurde i.E. in den wichtigsten Fragen durch die „gesetzgeberische Tätigkeit" des Legal Department des OHR ersetzt. Kurz und instruktiv hierzu ICG, Ed. (Fn. 5), S. 62 f. („Legislative Ineffectives") sowie Declaration of the Peace Implementation (Fn. 5) zusam- men mit dem Annex to the PIC Declaration (ebda.), Erwägung zu „Institutions" sowie K. Trnka (Fn. 83). S. 333. 93 Nach den UNHCR- Angaben vom 31. August 1999 sind insgesamt 340.919 Flüchtlinge nach B-H und davon 93% in die Föderation und 7% in die Serbische Republik wovon wie- derum nur 0,7% der nichtserbischen Bevölkerung zurückgekehrt sind (vgl. Statistichs Pack- age, UNHCR Sarajevo, Operation Unit, 1. Oktober 1999). Durch den Krieg wurden etwa 2,2 Mio bosnischer Bürger vertrieben und übersiedelt, so dass die Rückkehrprozentzahl nach dem Day toner Friedensabkommen insgesamt 27,8% beträgt. Die detaillierte Informa- tionen über die Bevölkerungsübersiedlung in Bosnia and Herzegovina Human Development Report 1998, UNDP Sarajevo, 1999, S. 79 ff.; vgl. auch die Angaben bei P. Neussl, Bosnia and Herzegovina Still Far From the Rule of Law - Basic Fact and Landmark Decisions of the Human Rights Chamber, HRLJ 2000, S. 290 ff. Die Hinderung der Rückkehr in die Serbi- sche Republik ist alles in allem evident, so dass Annex 7 des Daytoner Abkommens fünf Jahre nach Inkrafttreten unangewendet bleibt. In diese Richtung mit weiteren Ang. auch ICG, Ed. (Fn. 5), S. 83 ff. 94 Hierzu verweise ich auf die Erläuterungen zu Annex 4 lit. F aus ICG, Ed. (Fn. 5), S. 60; vgl. auch Erwägungen unter Nr. III. („Fostering and Consolidation Institutions") aus der Deklaration (Fn. 5) und unter „Institutions" aus dem Annex to the PIC (ebda.); B-HVerf- GHE (Fn. 5), Abs. 46.

95 Besonders illustrativ ist hierzu die sog. Ministerratskrise: Nach dem Rücktritt des Mini- sterpräsidenten H. Silajdzic (14. Februar 2000, vgl. Oslobodjenje, Sarajevo, 11. Februar 2000) konnte sich das Staatspräsidium vier Monate lang nicht über einen neuen Regierungschef einigen. Als für diese Funktion der serbische Kandidat S. Tusevljak vorgeschlagen und abschließend am 6. Juni 2000 vom Repräsentantenhaus der Parlamentarischen Versammlung gewählt wurde (vgl. Oslobodjenje, Sarajevo, 6. Juni 2000), zeigte sich, dass Tusevljak für die Regierungsführung kaum Kompetenzen besitzt. Die Präsidiumsmitglieder einigten sich dabei ohne nähere Konsultationen mit den parlamentarischen Parteien oder mit dem OHR über sein Mandat (vgl. die Vorwürfe des Hohen Vertreters W. Petritsch, in Oslobodjenje, Sarajevo, 7. Juni und 9. Juni 2000), da er aus bosniakischer Perspektive nicht als serbischer Ultranationalist einzustufen war (vgl. die Erklärung des Regierungschefs der Föderation B-H E. Bicakcic in der Parlamentssitzung, Oslobodjenje, 6. Juni 2000). Über das weitere konfliktgeladene und verfassungswidrige Verhalten der Präsidiumsmitglieder sowie über die verfassungswidrige Praxis des Ministerrates vgl. ICG, Ed. (Fn. 5) zu Annex 4, lit. J und K, S. 63 ff.

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Volkerrechtlicher Vertrag als „ Gestaltungsinstrument" 317

haft desintegrative Wirkung des „Annexes 4" auf die staatliche Gemein- schaft. „Annex 4" bietet demnach keine tragfähige Basis für die rechtliche Gestaltung einer selbsterhaltenden, reproduktionsfähigen staatlichen Gemeinschaft. Dieses Dokument begünstigt das Hervorbrechen poli- tischer und ethnischer Konflikte96 und lebt gerade von dem willkürlichen Chaos der nationalistischen Wunschvorstellungen der tragenden politi- schen Kräfte. Folglich kann dem „Annex 4" keine Verfassungsqualität zugeschrieben werden.

4. Völkerv ertragsrechtlich e Perspektive

a) Völkervertragsrechtliche Prämisse Ein anderer Ansatz zur rechtlichen Einordnung ergibt sich aus dem ver-

tragsrechtlichen Charakter des „Annexes 4" (vgl. o. unter ILL). An sei- nem Vertragscharakter bestehen in Bezug auf die innerstaatlich gefestigten politischen Positionen der bosnischen Gebietseinheiten sowie in Bezug auf ihre dem Text beigefügten Erklärungen keine Zweifel. Dass „Annex 4" die verfassungsrelevante Materie regelt, ist auch unstrittig. Fraglich ist allerdings, ob ihm völkervertragsrechtlicher Charakter zugesprochen werden kann.

Diese Fragestellung führt zunächst zum Problem der rechtlichen Eigen- ständigkeit des „Annexes 4", damit zu seiner Positionierung im gesamten Daytoner Abkommen: Von der Beantwortung der Frage, ob „Annex 4" ein separates, vom gesamten Friedensabkommen losgelöstes Dokument darstellt, hängt folglich die Deutung seines rechtlichen Charakters ab. Stellt er nämlich einen integralen Teil des Rahmenabkommens dar, der sich rechtssystematisch nur anhand des Gesamtkomplexes der Friedens- vereinbarung deuten und anwenden lässt, muss er gleichzeitig die rechtli- che Natur des Rahmenabkommens, d.h. eines völkerrechtlichen Vertrages teilen.97

b) Rechtssystematische Argumente Für den eigenständigen Charakter der zwölf Anhänge zum Daytoner

Abkommen spricht, dass sie zwischen verschiedenen, in der Regel nicht mit denen des Rahmenabkommens identischen Parteien vereinbart sind.98

96 Gerade die Schaffung von „dauerhaftem Frieden" erscheint als primäre Aufgabe des Daytoner Friedensabkommens, vgl. Schlussdokumente der PIC (Fn. 92), unter X. 3, S. 75 sowie Entscheidung des B-HVerfGH (Fn. 5), Abs. 73.

97 Dass es sich hier um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt, darf unstrittig sein. Hier- zu vgl. O. Dörr (Fn. 1), S. 164 ff. sowie nachstehend Fn. 114 zusammen mit dem Haupttext.

98 Die Annexe 1A, 2, 3, 6-8 und 11 sind zwischen der Republik B-H, der Föderation B-H und der Serbischen Republik, die Annexe IB und 10 sind als ein fünfseitiges Abkommen unter Einbeziehung der Rep. Kroatien und der BR Jugoslawien, Annexe 5 und 9 sind als bilaterale Vereinbarungen zwischen der Föderation B-H und der Serbischen Republik und der Appendix b) zu Annex 1A ist jeweils als zweiseitiger Vertrag der Rep. B-H, der Rep. Kroatien und der BR Jugoslawien mit der NATO abgeschlossen.

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Dies indizieren auch die unterschiedlichen Regelungsgegenstände sowie die in Art. II bis VIII des Allgemeinen Rahmenabkommens ausdrücklich vereinbarte Bestätigung der in den „Annexen" getroffenen Vereinbarung- en, was im Falle eines einheitlichen Vertrages überflüssig sein dürfte.

Betrachtet man dagegen nur das Allgemeine Rahmenabkommen von seiner inhaltlichen Seite her, wird gleich ersichtlich, dass es fast keinen eigenständigen völkerrechtlichen Regelungsgehalt hat: Hiermit begrüßen die drei Parteien (Republik B-H, Kroatien und BR Jugoslawien) die in den Annexen getroffenen Vereinbarungen und bestätigen, dass sie die Erfül- lung der darin übernommenen Verpflichtungen respektieren und fördern werden. Erst die Einbettung aller Annexe in das Rahmenabkommen gibt dem Vertragspaket der Friedensregelung einen materiellrechtlichen Sinn. So bewirkt der formelle Zusammenhang des Vertragspakets, geprägt durch die sachliche Verbindung der einzelnen Annexe mit dem Rahmen- abkommen, einen identischen Rechtscharakter aller getroffenen Vereinba- rungen." Dies ist ausschlaggebend für die Bestimmung des Ausmaßes der rechtlichen Eigenständigkeit und damit auch für die Ergründung der völ- kervertragsrechtlichen Qualität des „Annexes 4".

Maßgeblich gegen die rechtliche Eigenständigkeit und damit für die rechtliche Eingliederung des „Annexes 4" in das Rahmenabkommen spricht folglich die systematische Bezugnahme seines Regelungsgehalts auf andere Annexe und auf das Allgemeine Rahmenabkommen. Das ist gerade aus der Regelungstechnik des „Annexes 4" sichtbar: Er regelt die verfassungsrechtliche Materie faktisch-deskriptiv100 oder aber normativ- rezeptiv101, wobei das normativ-rezeptive Modell die untrennbare Inkor- porierung des „Annexes 4" sowohl in das Rahmenabkommen als auch in das einheitliche Vertragspaket belegt: Einerseits verweisen einige Verfas- sungsartikel ausdrücklich auf die Annexe, die zusammen mit dem Rah- menabkommen das völkerrechtliche Vertragspaket bilden.102 Andererseits

99 In diese Richtung auch O. Dörr (Fn. 1), S. 140. 100 D.h. durch Benennung der zu regelnden Sachverhalte nach faktischen Kriterien. Bei- spiele für den faktisch-deskriptiven Ansatz sind etwa Art. I/l (Kontinuität), Art. 1/5 (Haupt- stadt), Art. 1/7 (Staatsangehörigkeit), Art. 3/1 (Kompetenzverteilung zwischen den Institu- tionen des Staates B-H und den Entitäten), Art. III/3 (Arbeit der Parlamentarischen Ver- sammlung), Art. V/2-3 (Arbeit und Zuständigkeiten der Präsidentschaft) usw.: In diesen Fäl- len bedarf es für die Auslegung und Anwendung der Verfassungsnorm in ihrer gegenständ- lichen Tragweite keines unmittelbaren Rückgriffs auf die gesamte normative Ordnung des Friedenspakets. 101 D.h. durch Aufnahme eines vorgefundenen Normbereiches als zu regelnde Materie direkt in die Verfassungsnormen. Anders als in den oben (Fn. 100) erwähnten Fällen des nor- mativ-rezeptiven Ansatzes muss die Verfassungsnorm jeweils aus dem gesamten Abkommen ausgelegt und zur Anwendung herangezogen werden.

102 Beispielhaft ist die Verweisung in Art. II/5 auf Annex 7, wo das Rückkehrrecht für Flüchtlinge und Vertriebene, bzw. die in Art. 11/ 1 auf Annex 6, wo die Menschenrechtsge- währleistungen durch die Festlegung materieller Menschenrechtsstandards und die Schaf- fung eines Kontrollverfahrens ihrer Einhaltung geregelt sind. Auch Art. IV/2/a und V/l/a verweisen auf Annex 3 als die ersten Wahlen zum Repräsentantenhaus regelnde Vorschrift;

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Volkerrechtlicher Vertrag als „ Gestaltungsinstrument " 319

integrieren sie in den Verfassungstext menschenrechtliche Verträge und Konventionen, die außerhalb von „Annex 4" als vertragsrelevante Materie vorgeschrieben sind.103 Somit ist der „Annex 4" in die Daytoner Friedens- vereinbarung materiellrechtlich voll integriert und lässt sich nur im sach- lichen Zusammenhang mit dem gesamten Vertragspaket verstehen, deuten und anwenden.104

Selbst die faktisch-deskriptive Regelung wird oft ohne Bezugnahme auf andere Annexe nicht verständlich und ihre Anwendung kaum rational steuerbar sein.105 Wenn hierzu in Art. III/3 lit. (b) des „Annexes 4" aus- drücklich geregelt wird, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts den integralen Teil des Rechtssystems („integral part of the law") von Bosni- en-Herzegowina und den Entitäten darstellen, integriert diese Bestim- mung (ohne ihren Rang näher zu bestimmen)106 die WVK107 bzw. deren Art. 31 unmittelbar in das anzuwendende Verfassungsrecht. Das hat im Ergebnis zur Folge, dass die WVK als „kodifiziertes Völkergewohnheits- recht" und ihr Art. 31 als eine Verkörperung der „allgemeinen Ausle- gungsregeln" die objektiven Maßstäbe zur Auslegung des Daytoner Abkommens einschließlich seines „Annexes 4" bilden.108 Die Selbständig-

abschließend verweist Art. 11 bezüglich der Übergangsbestimmungen zum öffentlichen Dienst auf Annex 2 des Friedensabkommens, wo die innerstaatliche Grenzziehung zwischen den Entitäten geregelt ist.

103 So bestimmt z.B. Art. II/2, dass die materiellen Gewährleistungen der EMRK und ihrer Protokolle im Gesamtstaat direkt anwendbar sind und sonstigem innerstaatlichen Recht vor- gehen; in Art. II/7 ist der Staat B-H verpflichtet, Partei der in Verfassungsanhang I aufge- führten menschenrechtlichen Abkommen zu bleiben oder zu werden. Damit ist auch der Regelungsgehalt des Annexes 6 zusammen mit seinem Anhang I angesprochen, dessen mate- riellrechtliche Gewährleistungen über Art. VII des Allgemeinen Rahmenabkommens auch die Vertragsparteien Kroatien und BR Jugoslawien binden. Schließlich schreibt Art. III/3/b, S. 2 vor: „The general principles of international law shall be an integral part of the law of Bosnia and Herzegovina and the Entities."

104 Dies bestätigte kürzlich der B-HVerfGH (E Nr. U 5/98 v. 30. Juni/1. Juli 2000, Fn. 5) unmissverständlich: Abs. 19 S. 1: „Contrary to the constitutions of many other countries, the Constitution of BiH in Annex 4 of the Dayton Agreement is an integral part of an interna- tional agreement." Abs. 73 S. 1: „Indeed, from the functional point of view, the Dayton Con- stitution is part of a peace agreement as the name 'General Framework Agreement of Peace in Bosnia and Herzegovina* clearly indicates."

105 Dies ist der Fall bei den Regelungen, bei denen beide (normativ-rezeptive und faktisch- deskriptive Ansätze) verwandt werden; etwa bei der Frage des freien Verkehrs von Dienst- leistungen, Kapital und Personen (Art. 1/4), bei Kompetenzfragen nach entitärer (Art. III/2) oder zusätzlicher Zuständigkeit (Art. III/5) sowie bei den Fragen, wie die Zuständigkeiten des B-HVerfGH näher einzugrenzen sind (Art. VI/3).

106 Die inzwischen in B-H gefestigte Auffassung, wonach die allgemeinen Regeln des Völ- kerrechts dem Verfassungsrecht und einfachem Recht vorgehen (so z.B. K. Trnka, Fn. 83, S. 21), setzt sich offensichtlich über die Wortlauterenze dieser Bestimmune hinweg.

107 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (BGBl. 1985 II, S. 926).

108 So E des B-HVerfGH (Fn. 5) in Abs. 19, S. 2: „Therefore, Article 31 of the Vienna Con- vention of the Law on Treaties - providing for a general principle of international law which is, according to article III.3.b. of the Constitution of BiH, an »integral part of the law of Bos- nia and Herzegovina' - has to be applied for the interpretation of all its provisions, including the Constitution of BiH".

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keit des „Annexes 4" kann somit an dieser Stelle nicht mehr ohne will- kürliche Manipulation mit Regelungsgehalt, systematischer, auslegungs- dogmatischer und entstehungsgeschichtlicher Komponente begründet werden.

c) Inkrafttreten, Vertragsparteien und ihr Wille Nichts anderes ergibt sich aus der Art seines Inkrafttretens: „Annex 4"

bestimmt in seinem Art. XII/1, dass „diese Verfassung" mit der Unter- zeichnung des Allgemeinen Friedensübereinkommens in Kraft treten wird. Der Unterzeichnung des Rahmenabkommens und nicht einer Billi- gung oder einer Zustimmung durch eine dazu berufene verfassunggeben- de Körperschaft (z.B. Parlamentarische Versammlung) kommt folglich sowohl konstitutive Bedeutung für das Inkrafttreten als auch für die Gül- tigkeit dieser Verfassung zu.109 Damit wurde de facto die untrennbare Ver- bindung des „Annexes 4" mit dem Allgemeinen Rahmenabkommen sowie seine völkervertragsrechtliche Natur positivrechtlich zum Ausdruck gebracht: Er ist als integraler Teil eines völkerrechtlichen Vertrages110 mit der Folge zu charakterisieren, dass der „Annex 4" die rechtliche Natur des Rahmenabkommens und des gesamten Friedenspakets teilt; und auch dies nur unter den weiteren Voraussetzungen, die an den Begriff des völker- rechtlichen Vertrages anknüpfen.

Der völkerrechtliche Vertrag wird überwiegend als eine rechtlich bin- dende Vereinbarung zwischen Rechtssubjekten, die dem Völkerrecht unterliegen, definiert.111 Die Beurteilung der rechtlichen Natur des „Annexes 4" hängt folglich im Ergebnis davon ab, ob die völkerrechtliche Subjektivität der Vertragsparteien zusammen mit ihrem Willen, die getrof- fene Vereinbarung dem Völkerrecht zu unterstellen, bejaht werden kann. Unter der Voraussetzung der isolierten Betrachtung des „Annexes 4" erscheint sowohl die ausdrückliche Erklärung und das Bestehen des Wil-

109 Der Annex 4 war seit seinem Inkrafttreten kein selbständiger Gegenstand der parla- mentarischen Zustimmung oder einer umfassenden Diskussion, die diesem Dokument eine ergänzende Legitimation durch die demokratische Volksvertretung gesichert hätte. Das Rah- menabkommen sah auch kein Ratifikationsverfahren durch irgendeine Partei vor. So ist der authentische Vertragstext derjenige in englischer Sprache, obwohl sich die Parteien bei der Vertragsunterzeichnung (Paris) verpflichteten, in Zusammenarbeit mit dem französischen Außenministerium authentische Übersetzungen in den amtlichen Sprachen (Bosnisch, Ser- bisch und Kroatisch) auszuarbeiten. Bis heute ist dieser Pflicht nicht nachgekommen wor- den, so dass z.Zt. unterschiedliche nichtamtliche Übersetzungen des Abkommens insbeson- dere seines Annexes 4 mit erheblichen Unterschieden angesichts der wesentlichen Elemente des Verfassungssystems existieren. Angaben bei K. Trnka (Fn. 83), S. 40.

110 Vgl. oben Fn. 104. In der bosnisch-herzegowinischen Verfassungsdogmatik ist dies inzwischen allgemein anerkannt, vgl. TV. Pobric (Fn. 3), S. 18, 60; K. Trnka (Fn. 83), S. 20, 40, 46.

111 Vgl. z.B. Lord McNair, The Law of Treaties, 1961, S. 4; K. Widdows, What is an Agree- ment in International Law, BYIL 50 (1979), S. 117 ff.; Verdross/Simma (Fn. 19), § 534; H. v. Heinegg (Fn. 8), Rn. 1; R. Geiger (Fn. 25) S. 80 f.; T. Buergenthal/K. Doering u.a., Grund- züge des Völkerrechts, 2. Aufl., 2000, Rn. 189.

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lens als auch die völkerrechtliche Subjektivität der bosnischen Gebietsein- heiten problematisch:112 Dass „Annex 4" keine klassischen Gegenstände völkerrechtlicher Abrede (hier eine staatliche Verfassung) regelt und unter anderem von zwei nicht souveränen Gebietseinheiten, die erst mit diesem Annex eigene (auch partiell- völkerrechtliche) Subjektivität konstituieren, vereinbart wurde, könnte für eine schwer fassbare Konstellation einer innerstaatlichen Vereinbarung der drei ethnischen Gemeinschaften oder noch konkreter, der drei nationalistischen politischen Parteien sprechen.

Um den Status der bosnischen Entitäten rechtlich einzuordnen, ist wie- derum die Eingliederung des „Annexes 4" in das Rahmenabkommen und seine Deutung im Kontext der ganzen Friedensvereinbarung als maßgeb- liches Kriterium heranzuziehen: Der Föderation B-H und der Serbischen Republik wurde eine partielle völkerrechtliche Subjektivität nur im Rah- men der Friedensvereinbarung anerkannt, also lediglich für die Zwecke der Friedensregelung und ihrer Umsetzung.113 Dies ergibt sich aus Abs. 5 des Allgemeinen Rahmenabkommens, wonach sich die an dem Vertrag beteiligten Parteien (Bosnien-Herzegowina, Kroatien und BR Jugoslawi- en) endgültig völkerrechtlich verpflichten, die mit dem „Annex 4" über- nommenen Verpflichtungen zu respektieren und zu fördern. Dieser Bestimmung kommt aus zwei Gründen die konstitutive Bedeutung bei der Charakterisierung des bosnischen „Verfassung" zu: Einerseits wird dadurch die Partizipation der bosnischen Gebietseinheiten und der Republik B-H am völkerrechtlichen Vertrag (Rahmenvereinbarung) aus- gedrückt, zumal für das Zustandekommen und das Inkrafttreten des „Annexes 4" der völkervertragsrechtliche Abschluss der Friedensverein- barung ausschlaggebend war.

Für die völkerrechtliche Qualität des „Annexes 4" spricht zudem indi- rekt die Vermutung, dass ein zwischen den Staaten abgeschlossenes Rah- menabkommen ein völkerrechtlicher Vertrag ist.114 Diese Vermutung ist jedoch stets durch den Nachweis zu entkräften, dass die Parteien beab-

112 Weder die Föderation noch die Serbische Republik können souveräne Staaten sein. Sie sind nach der Systematik der Friedensregelung integrale Bestandteile des Staates B-H und sind damit einer anderen Staatsgewalt nämlich der des Staates B-H unterworfen. Vgl. hierzu B-H VerfGHE (Fn. 5), insb. Abs. 28 ff.; O. Ibrahimagic, Supremacy of Bosnia and Herze- govina over its entities, Sarajevo 1999, S. 125 ff.

113 P. Gaeta (Fn. 74), S. 158; so auch O. Dörr (Fn. 13), S. 224: „Die bosnischen ,Gebiets- einheiten' sind danach jedenfalls für die Zwecke der Friedensregelung und ihrer Umsetzung als Völkerrechtssubjekte anerkannt." Dem entspricht auch der Status der Serbischen Repu- blik, die damals als ein stabilisiertes de facto-Regime fungierte, das dem Effektivitätsgrund- satz gerecht, als solches aber nicht förmlich im Friedensvertrag anerkannt wurde (hierzu zutreffend S. Hille, Fn. 74, S. 211 ff., 216). Sie wurde auch durch einen souveränen Staat (BR Jugoslawien) vertreten, was bei einem nicht-völkerrechtlichen Gegenstand der Vertretungs- handlung schwer denkbar wäre (vgl. hierzu O. Dörr, Fn. 13, S. 166). Zu den tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme eines stabilisierten de facto-Regimes vgl. /. A. Frowein, Das de facto-Regime im Völkerrecht, 1969, S. 224; Wer dross/ Simma (Fn. 19) 240.

114 Vgl. Buergenthal/Doehring (Fn. 111), Rn. 189.

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sichtigen, ihre Beziehungen ausschlieÃlich durch innerstaatliches Recht zu regeln. Hätte man im âAnnex 4" eine besondere und vom Rahmenab- kommen unabhängige Rechtsqualität gesehen, wäre es notwendig gewe- sen, sein Inkrafttreten von anderen Voraussetzungen und nicht von der Unterzeichnung des Rahmenabkommens abhängig zu machen. Gleiches gilt angesichts seiner Interpretation und Anwendung, die von den klas- sischen Auslegungsmethoden des Verfassungsrechts und nicht von den allgemeinen Regeln des Völkerrechts (Art. III/3 lit. b.)115 hätten ausgehen müssen, wenn man gerade dem âAnnex 4" den Sonderstatus einer natio- nalen Verfassung sicherstellen wollte.

Auf der anderen Seite übernehmen die Vertragsparteien mit der Rah- menvereinbarung nicht nur die politische Verantwortung für das Schick- sal des âAnnexes 4", sondern vielmehr auch eine völkerrechtliche Treue- pflicht den Sinn und Zweck der Vereinbarung nicht zu vereiteln, zu ent- nehmen ist.116 Eine vergleichbare Regelung ist Art. 18 WVK zu entneh- men.

Dahingehend ist auch der Wille der Vertragsparteien, sich dem Völker- recht zu unterstellen, zu bestimmen. Obwohl hier eine ausdrückliche Erklärung fehlt, indizieren die konkreten Umstände,117 etwa die äuÃere Form von Vertragsverhandlungen, -abschluss und -inkrafttreten, die Ver- mittlung des Vertragsabschlusses durch Drittstaaten, die Vertragstermino- logie und Förmlichkeiten, das Bestehen eines solchen Willens auf der Seite des Gesamtstaates Bosnien-Herzegowina und seinen beiden Entitäten, die den âAnnex 4" vereinbarten. Als weitere Indizien dafür, dass eine völker- rechtliche Ordnung als gewollt angesehen wurde, kommen die Vertrags- beziehungen und die Vertragsverhandlungen, die vor dem Hintergrund der diplomatischen (Friedenskonferenzen118 ausgearbeitet wurden, sowie das Verhandlungs- und das Redaktionsverfahren auf der Daytoner Frie- denskonferenz, die auf die Entstehung eines völkerrechtlichen Vertrages verweisen, hinzu. Insbesondere die MaÃgeblichkeit der allgemeinen Völ- kerrechtsregeln und der Menschenrechtskonventionen für die Rechtsord- nung des Gesamtstaates und ihrer Entitäten, die mit âAnnex 4" normiert wurde, weist darauf hin, dass die Vertragsparteien auf Instrumente des Völkerrechts zurückgreifen wollten und damit auch das Völkerrecht als einschlägiger normativer MaÃstab gewollt wurde. Für die Anerkennung des Willens zur völkerrechtlichen Verbindlichkeit spricht schlieÃlich das

115 Vgl. oben Fn. 108 zusammen mit Haupttext. 116 So auch O. Dörr (Fn. 13), S. 141; R Gaeta, (Fn. 74), S. 154 t. 117 Gerade anhand der konkreten Umstände des Einzelfalles scheint die Ermittlung des

Willens zu rechtlicher Verbindlichkeit aufgrund des Völkerrechts notwendig zu sein. Vgl. hierzu G. Dahm, Völkerrecht, Bd. III, 1962, S. 5 ff.; K. Widdows (Fn. 111), S. 145; O. Dörr (Fn. 13), S. 165.

118 Dies ist gut dokumentiert bei K. Holbrooke (rn. 72), passim. Vgl. Ã-.d.b schon die Gemeinsame Vereinbarung der Kontaktgruppe vom 8. September 1995 u. Grundprinzipien, vereinbart zwischen B-H, Kroatien und Jugoslawien am 8. September 1995, Blätter für deut- sche und internationale Politik, Bd. 40 (1995), S. 1277 f.

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Volkerrechtlicber Vertrag als „ Gestaltungsinstrument11 323

Gesamtkonzept der Friedensregelung, die vom Fortbestehen der staatli- chen Souveränität Bosnien-Herzegowinas ausging, sowie die Beteiligung des Staates B-H an den Verträgen seiner Teilverbände.

Die völkerrechtliche Natur des „Annexes 4" prägt insbesondere sein materiellrechtlicher Gehalt, gegen dessen Aufnahme in das Tatbestands- merkmal des völkerrechtlichen Vertrages die herrschende Meinung zu sprechen scheint.119 Dieser stellt jedoch ein wichtiges Indiz für die Identi- fizierung der gewollten Ordnung dar.120 Beispielhaft ist in diesem Sinne die verfassungsrechtliche Regelung der inneren Ordnung, die offensicht- lich von dem Zielgedanken geleitet wurde, den souveränen Gesamtstaat aufrechtzuerhalten und seinen Status völkervertragsrechtlich abzusichern (Art. I/l i.V.m. Art. III/3 lit. b] Satz 2 des Annexes 4 iVm. Art. 5 des Rah- menabkommens). Weitere Regelungen des „Annexes 4" verweisen auf den völkerrechtlichen Kontext und indizieren damit seine völkerrechtliche Natur. Dazu zählen die materiellen Gewährleistungen der EMRK und ihrer Protokolle als direkt anwendbares Recht (Art. II/2) zusammen mit der in Art. II/6 geregelten Verpflichtung, garantierte Rechte sowohl vom Gesamtstaat als auch von den Institutionen der Entitäten, was zusätzlich von den durch „Annex 6" eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtun- gen geregelt wurde, zu beachten, die Zusammensetzung des Verfassungs- gerichtshofes, dessen drei Richter der Präsident des EGMR wählt (Art. VI/1 lit a]) oder die Einrichtung einer institutionellen Struktur zur Imple- mentierung des Friedensabkommens, die fast ausschließlich von den völ- kerrechtlichen Organen der Staatengemeinschaft und relevanten interna- tionalen Organisationen betrieben und kontrolliert wird (so z.B. die Insti- tution des Hohen Vertreters aus Annex 10121 und die Funktionen des IRK aus Annex 1-A/Art. 9, der OSZE aus Annex 1-B und Annex 3, des UNHCR aus Annex 7 und der UNCIVPOL122 aus Annex 11).

d) Ergebnis Aus den bereits dargestellten Überlegungen ergibt sich folgendes Bild:

Eine rechtliche Bewertung des Verfassungskonzeptes der Daytoner Frie- 119 Vgl. Art. 2 Abs. 1 lit a) WVK, H .v. Heinegg (Fn. 8), Rn. 1; O. Dörr (Fn. 13), S. 165. 120 K. Widdows (Fn. 111), S. 145; bejaht bei O. Dörr (Fn. 13), S. 165. 121 Zum Mandat des Hohen Vertreters vgl. oben Fn.. 92, O. Dörr (Fn. 13), S. 135 ff. sowie

die informative Darstellung unter www.ohr.int/info/info.htm; vgl. auch B-HVerfGHE U 9/00 v. 3. November 2000. Abs. 5, (vgl. unter http:// www. vstavw/sod.ba). 122 Mit dem Annex 11 ersuchten die Parteien (Rep. B-H, Föderation B-H und Serbische Rep.) zum Zweck der Aufstellung einer internationalen Polizeitruppe = International Police Task Force - IPTF um einen Beschluss des UN-Sicherheitsrates zur Schaffung einer ent- sprechenden UNCIVPOL-Operation. Die Aufstellung einer internationalen Polizeieinheit, die mit Beobachtungs- und Konsultativfunktionen gegenüber der örtlichen Polizeibehörden verfügen soll, geht zurück auf den Präzedenzfall der Peacekeeping-Operation der UN in Zypren (UNFICYP). Vgl. hierzu R. Higgnis, United Nations Peacekeeping. Documents and Commentary, vol. IV, 1981, S. 131 ff. Die Entscheidung zur Errichtung von IPTF als zivile Polizeieinheit erfolgte durch Resolution 1035 v. 21. Dezember 1995, deutsche Übersetzung in Vereinte Nationen 1996, S. 83.

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densvereinbarung zeigt im vorliegenden Zusammenhang, dass die neue bosnisch-herzegowinische Verfassung - „Annex 4" - Teil eines völker- rechtlichen Vertrages darstellt. Dafür sprechen seine Positionierung im Daytoner Friedenspaket, die Entstehungsgeschichte, rechtssystematische Argumente, sein Inkrafttreten, die Vertragsparteien und ihr impliziter Wille, sowohl das Rahmenabkommen als auch seine Annexe dem Völker- recht zu unterstellen. Das eigentliche Spezifikum ergibt sich jedoch nicht nur aus der Einbettung des „Annexes 4" in das friedensregelnde Vertrags- paket, sondern es folgt vielmehr aus seiner völkerrechtlichen Natur: „Annex 4" regelt verfassungsrelevante Materie und ist im Ganzen als Staatsverfassung anerkannt worden. Nicht nur die internen, das Daytoner Vertragspaket bildenden Dokumente und Äußerungen des Friedensim- plementierungsrates (PIC),123 sondern vielmehr die unter dem Vorbehalt, es handle sich hier um ein völkervertragsrechtliches Werk, zustande gekommenen Äußerungen des bosnisch-herzegowinischen Verfassungs- gerichtshofs und der Verfassungslehre124 trugen zur allgemeinen Anerken- nung seiner Verfassungsqualität bei. Der für den „Annex 4" verwendete Begriff „Verfassung" hat sich inzwischen auch in der internationalen, poli- tischen und fachjuristischen Öffentlichkeit eingelebt.

III. Völkerrechtlicher Vertrag als Gestaltungsinstrument der nationalen Verfassung

Die völkerrechtliche Vereinbarung der geltenden bosnisch-herzegowi- nischen Verfassung hat ihren Grund nicht nur in der politischen Zufällig- keit oder in der diplomatischen Notwendigkeit, auf deren Boden sich die- ses völkerrechtlich ungewöhnliche und auch neuartige Experiment ent- wickelt. Sie hat auch eine völkerrechtliche Tiefendimension.

An der Schwelle zum 21. Jahrhundert erlebt die Staatengemeinschaft den fundamentalen Strukturwandel des Völkerrechts: Die bisher eher auf dem Grundsatz der Effektivität und des status quo fußende völkerrechtli- che Ordnung wandelte sich nach und nach zu einem stärker wertorien- tierten Völkerrecht, einem Recht also, das die inhaltlichen Fundamental- werte der internationalen Gemeinschaft, wie etwa Schutz vor Genozid, vor Verbrechen gegen die Menschlichkeit und vor schweren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht, als rechtfertigend für das Handeln der Staaten, sogar für einen bewaffneten Eingriff betrachtet.125 Parallel hierzu

123 Vgl. Schlussdokument der Konferenz des PIC für die Umsetzung des Friedens in B-H vom 9./10. Dezember 1997, Punkt II, deutsche Übersetzung IP 1998, S. 74 f.

124 Stellvertretend B-H VerfGHE (Fn. 5); R. Kuzmanovic (Fn. 67), passim; K. Trnka (Fn. 83) passim; TV. Pobirc (Fn. 3), passim.

125 Hierzu D. Thürer, Der Kosovo-Konflikt im Lichte des Völkerrechts: Von drei - echten und scheinbaren - Dilemmata, AVR Bd. 38 (2000), S. 1 ff.; K. Ipsen, Der Kosovo-Einsatz -

Illegal? Gerechtfertigt? Entschuldbar?, in R. Merkel (Hrsg.), Der Kosovo-Krieg und den Völkermord, 2000, S. 160 ff.; S. Oeter (Fn. 6), S. 34 f.

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Volkerrechtlicher Vertrag als „ Gestaltungsinstmment" 325

gewinnt der völkerrechtliche Vertrag zunehmend, insbesondere seit der deutschen Wiedervereinigung, an Aktualität,126 die zumindest im Recht der Staatennachfolge eine eigene Wirkkraft entfalten konnte.127

Auch das bereits analysierte Beispiel des Daytoner Abkommens und seines „Annexes 4" zeigt, dass der völkerrechtliche Vertrag als Gestal- tungsinstrument des nationalen Verfassungsrechts fungieren kann, was die verstärkte Übertragung bisher exklusiv einzelstaatlicher Kompetenzen auf die internationale Ebene dokumentiert. Eine drastische Veränderung der Vertragsgegenstände und ihrer Ausweitung liegt damit auf der Hand. Soweit an der völkervertragsrechtlichen Natur der neuen bosnischen Ver- fassung festzuhalten ist, kommt es darauf an, ob die vereinbarte Verfas- sung „rechtmäßig" ist. Die rechtlichen Anforderungen an die bosnische Verfassung richten sich somit nach ihrer Vertragsnatur. Daher ist das Völ- kervertragsrecht als Maßstab für die Beurteilung ihrer Gültigkeit und Anfechtbarkeit heranzuziehen, zumal das Daytoner Vertragsmodell schon als maßgebliche Musterlösung für ähnliche Situationen erwogen wurde.128

Ob sich eine solche Praxis tatsächlich verallgemeinern lässt, hängt vor- nehmlich von der völkerrechtlichen Zulässigkeit der Dayton-Lösung ab. Sie kommt also auf jene Umständen an, unter welchen die bosnische Ver- fassung vereinbart wurde. Die mögliche Verallgemeinerung dieser Praxis ist deshalb anhand von zwei Kriterien zu prüfen: Einerseits sind die völ- kervertragsrechtlichen Gültigkeitsvorgaben und andererseits ist die Effek- tivität der vollzogenen Verfassungsordnung als relevanter Maßstab heran- zuziehen.

1. Völkern ertragsrechtlich e Bewertung a) Die Bestimmungen über die Ungültigkeit aus WVK (Art. 46-53)

schreiben zwei Arten von Nichtigkeitsgründen vor: Solche, die ein Staat geltend macht (Art. 46-50 WVK) und die dann seine Willenserklärung ungültig machen (Anfechtbarkeit - „voidability"), und solche, die immer

126 W. Fiedler, Quantitative und qualitative Aspekte der Einordnung der Bundesrepublik Deutschland in völkerrechtliche Verträge in R. Geiger (Hrsg.), Völkerrechtlicher Vertrag und staatliches Recht vor dem Hintergrund zunehmender Verdichtung der internationalen Beziehungen, 2000, S. 11 ff. 127 A. Zimmermann, Staatennachfolge in völkerrechtliche Verträge, 2000; R. Wittkowski, Die Staatensukzession in völkerrechtliche Verträge unter besonderer Berücksichtigung der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, 1992.

128 So schrieb der amerikanische Diplomat und Vertragsunterhändler Richard Holbrooke (ders., Fn. 72, S. 358): „Seit dem 21 November 1995 steht der Begriff ,Dayton' für eine bestimmte Art der Diplomatie - die »Holzhammermethode*: Alle Beteiligten werden so lange eingesperrt, bis sie zu einer Einigung kommen. Seitdem wurde ein , Dayton' ernsthaft für Nordirland, Zypern, Kaschmir, den Nahen Osten und andere Krisenregionen erwogen." Ähnlich Graf Vitzthum (Fn. 56), S. 88 f. sowie 96 in Anm. 26: „Insofern wird der Ausgang des BiH-Experiments nicht nur für die Zukunft Südosteuropas und des Balkans entschei- dend sein, sondern auch für die Reformrichtung diverser anderer uns ebenfalls nahestehen- der Staaten".

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zur Nichtigkeit („nullity") des Vertrages führen (Art. 51-53 WVK).129 Nach wohl allgemeiner Auffassung gelten die Verfahrensvorschriften sowohl im Falle der Anfechtbarkeit als auch der Nichtigkeit, so dass beide Arten der Nichtigkeitsgründe im Verfahren nach Art. 65 ff. WVK festge- stellt werden müssen.130 Wortlautgetreu gedeutet, bezieht sich jedoch Art. 65 Abs. 1 WVK nicht auf die Fälle der Nichtigkeit, sondern lediglich auf die der Anfechtbarkeit nach Art. 48 ff. WVK.131 Die Vorschrift regelt in ihrem Abs. 1, dass eine Vertragspartei einen Mangel in ihrer Zustimmung, durch einen Vertrag gebunden zu sein, oder einen Grund zur Anfechtung der Gültigkeit eines Vertrages erst dann geltend machen kann, wenn sie den anderen Parteien ihren Anspruch notifiziert und in der Notifikation die beabsichtigte Maßnahme und die relevanten Gründe angegeben hat. Da sich diese Vorschrift also nur auf die Fälle der Anfechtbarkeit gem. Art. 48 - 50 WVK und auf die Ungültigkeit gem. Art. 51 WVK, nicht jedoch auf die Fälle der Nichtigkeit gem. Art. 52 und 53 WVK bezieht, ist hieraus zu schlussfolgern, dass in den Fällen der Art. 52 und 53 WVK keine Notifikation erforderlich ist. Die Unterscheidung zwischen An- fechtbarkeit und automatischer Vertragsnichtigkeit, welche nur unter den Voraussetzungen des Normtatbestandes von Art. 52 (Zwang gegen einen Staat durch Androhung oder Anwendung von Gewalt) und Art. 53 (Widerspruch zum ius cogens) eintritt, hat ihre Ursache darin, dass es sich bei den Gründen für die letztere um solche handelt, deren Einhaltung den strengeren Kontrollmaßstäben unterliegen soll. Sonst wäre eine Unter- scheidung zwischen den Gründen, die zur Anfechtung und denen, die in jedem Fall (automatisch) zur Nichtigkeit führen, unnötig.

Die Gültigkeit des Daytoner Rahmenabkommens zusammen mit sei- nem „Annex 4", gemessen an den bereits erwähnten Erfordernissen der Wiener Konvention, wird sowohl angesichts der Anfechtbarkeit als auch der Nichtigkeit in einigen Punkten als problematisch erscheinen müssen: Hinsichtlich des im 2. Teil132 dargestellten Vertragsmandats der für die Vertragsparteien handelnden Personen liegt der Gedanke nah, dass zu- mindest den Vertretern der Rep. B-H eine Vertragsermächtigung nach Art. 47 WVK fehlte, sowie dass ihr Handeln damals verfassungswidrig war. Art. 5 der Verfassung der Republik B-H regelte, dass das Staatsterri- torium einheitlich und unteilbar ist. Dieses hätte nur im Wege eines Bür- gerreferendums mittels einer mit 2/3 -Mehrheit getroffenen Entscheidung und nicht im Rahmen einer völkerrechtlichen Übereinkunft - wie dies bereits mit dem „Annex 4" geregelt wurde - geändert werden können. Diese Vorschrift war grundlegend für das Verfassungssystem der Repub-

129 Vgl hierzu/. A. Frowein, Zum Begriff und zu den Folgen der Nichtigkeit von Verträ- gen im Völkerrecht, in FS für Scheuner, 1973, S. (107 ff.) 117 f.

130 So/. A Frowein (Fn. 129), S. 117t.; Verdross/Simma (Fn. 19), § 843. 131 So auch H. v. Heinegg (Fn. 8), % 15, Kn. 16. 132 Vgl. oben II. 2. d), insb. die Angaben in Fn. 67 und 75.

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Volkerrechtlicher Vertrag als „ Gestaltungsinstrument" 327

lik B-H und war als solche objektiv erkennbar. Für die Ungültigkeitsver- mutung spricht auch i.S.v. Art. 46 WVK die fehlende Vertragskompetenz des serbischen Präsidenten, der entgegen den verfassungsrechtlichen Vor- schriften und ohne gültige Vertragsvollmacht die BR Jugoslawien rechts- verbindlich vertrat.133 Entkräftet man dagegen die erste Einwendung auf- grund der fehlenden Notifizierung, die den Verhandlungsstaaten nach Art. 47 WVK vor den Vertragszustimmungen zur Kenntnis zu geben war, und die zweite Einwendung durch die Irrelevanz-Evidenztheorie134 mit der Begründung, dass die Verletzung des nationalen Rechts und die feh- lende Vertragskompetenz i.S.v. Art. 46 Abs. 2 WVK nicht offenkundig war, bleiben noch die strengeren Kriterien der Art. 52 und 53 WVK als mögliche Nichtigkeitsgründe.

Verträge werden danach nichtig, wenn sie nach Art. 52 durch Andro- hung oder Anwendung von Gewalt abgeschlossen werden und nach Art. 53 im Zeitpunkt des Abschlusses im Widerspruch zum ius cogens stehen. Obwohl es unstrittig ist, dass das Daytoner Friedensabkommen auf ame- rikanischen Druck und durch Androhungen von Zwangsmaßnahmen vornehmlich politischer und wirtschaftlicher Natur (Absage der Fi- nanzunterstützung für den Wiederaufbau des Landes, Absage der huma- nitären Hilfe, Rückzug der Internationalen Gemeinschaft aus B-H u.a.)135 zustande kam, lassen sich alle Drohungen gegenüber den Vertragsparteien schwerlich exakt von denen gegenüber den Vertragsvertretern (Art. 51 WVK) trennen. Aus den zahlreichen Äußerungen der für die Vertragspar- teien handelnden Personen136 sind lediglich Anzeichen dafür zu entneh-

133 Vgl. oben die Ang. in Fn. 75. 134 Hierzu H. v. Heinegg (Fn. 8), Rn. 21; StIGH, Ostgrönland Fall, PCIJ Ser. a/B, No 53

(1993), S. 71. 135 Illustrativ ist i.d.S. der Katalog der „positiven" und der „negativen" Anreize für die

Akzeptanz bzw. für die Ablehnung der Karte über die Aufteilung B-H i.V.m. Kommunique des Außenministers der Kontaktgruppe zu B-H vom 5. Juli 1994, E A 1994, S. D 635 f.; vgl. die Ang. bei R. Holbrooke (Fn. 72) und die dort erwähnte „Holzhammermethode", S. 358 sowie 417, 464 ff.; M-J. Calie (Fn. 1), S. 249. Darüber hinaus dokumentieren dies zahlreiche Resolutionen des Sicherheitsrates, etwa Resolutionen Nr. 942/1994 v. 23. September 1994, hier unter B, Nr. 943/1994 v. 23. September 1994 (deutsche Übersetzung in VN 1994, S. 226 ff.), Nr. 970 v. 12. Januar 1995 (VN 1995, S. 164), Nr. 988/1995 v. 21. April 1995 (VN 1995, S. 168 f.), 1022/1995 v. 22. November 1995 (VN 1996, S. 77 f.); Nr. 1022 v. 22. November 1995 (VN 1996, S. 72) sowie die Fernsehansprache des serbischen Präsidenten Milosevic an das serbische Volk vom 21. November 1995, vgl. hierzu FAZ v. 23. November 1995, S. 2.

136 Vgl. A. Izetbegovic, Interview, Oslobodjenje, Sarajevo, 5.-12. Oktober 1995, S. 3, ders. Interview für die spanische Zeitung El-Mundo v. 28. Dezember 1995 (hier zitiert nach A. Izetbegovic, Godina rata i mira [Jahr des Krieges und des Friedens], Sarajevo 1997, S. 25 f.); M. Granic (ehem. Außenminister der Rep. Kroatien), Interview, Vijesnik, Zagreb, 3. Dezem- ber 1995; Bericht über den Rücktritt von K. Zubak und M. Tadic (kroatische Mitglieder der B-H-Delegation), Vjesnik, Zagreb, 20. November 1995, S. 5; B. Plavsic, Rede anlässlich der konstituierenden Sitzung der parlamentarischen Versammlung der Serbischen Republik (19. Oktober 1996), in Prva... (Fn. 79), S. (63 ff.) 69; zu den Äußerungen von R. Karadzic ( damals „Präsident" der bosnischen Serben) und M. Krajisnik (damals „Parlamentspräsident", 1996 gewählt in das bosnische Staatspräsidium) FAZ v. 25., 27 u. 28. November 1995, jeweils S. 1; /. Komsic (Fn. 72 ).

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men, dass sowohl die Staatsvertreter als auch die Vertragsparteien z.Zt. des Vertragsabschlusses in der Weise unter Zwang standen, dass die ange- drohten Zwangsmaßnahmen für den Vertragsabschluss ursächlich waren.137 Dem ist noch eventuell vor dem Hintergrund der früheren Lehre entgegenzuhalten, dass ein friedensstiftender Zwang nicht erheblich ist, da sonst jeder aufgezwungene Friedensvertrag ungültig wäre.138 Eine eindeu- tige Schlussfolgerung ist wegen den derzeit fehlenden Informationen hin- sichtlich der Ereignisse im amerikanischen Militärstützpunkt Wright-Pat- terson unmöglich. Die Beurteilung der Frage, ob sich eine Zwangssituati- on für die Republik Bosnien-Herzegowina (und eventuell für die BR Jugoslawien) aus dem Verhalten der amerikanischen Regierung und der westeuropäischen Diplomatie entnehmen lässt, ist demzufolge von der Beurteilung der faktischen Ereignisse vor und nach dem Vertragsabschluss abhängig. Dass daraus wenigstens ein Indiz für eine Zwangssituation in Bezug auf die Republik B-H und ihre Vertreter folgt, dürfte allerdings unstrittig sein.

b) Auf ähnliche Schwierigkeiten stößt die Beurteilung der neuen bosni- schen Verfassung am Maßstab der Nichtigkeitsgründe aus Art. 53 WVK: Der überwiegend positivistisch geprägte ius cogens-Begriff der Wiener Konvention139 macht die Nichtigkeitsgründe eines völkerrechtlichen Ver- trages von seinem Widerspruch zu einer zwingenden Norm des allgemei- nen Völkerrechts, die von der „internationalen Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit" angenommen und anerkannt ist, abhängig. Den Nichtig- keitsmaßstäben hinsichtlich der Daytoner Verfassung sind hiermit identi- fizierbare Grenzen gezogen. Mit der herrschenden Meinung muss dem- zufolge gefragt werden, ob „Annex 4" das Aggressionsverbot, das Verbot des Sklavenhandels und des Völkermordes, das Gebot der Achtung ele- mentarer Menschenrechte sowie die Normen des humanitären Völker- rechts, die direkte Verbote an Staaten und Einzelpersonen enthalten,140 verletzt.

137 Als wichtiger Auslöser der Friedensakzeptanz von der „serbischen Seite" gilt auch der massive Einsatz der Luftwaffe gegen serbische Führungseinrichtungen, Kommunikationssy- steme und militärische Infrastruktur seit Ende August 1995. Die dadurch erreichten macht- politischen und geostrategischen Veränderungen vereinfachten den gesamten Vertragspro- zess und bewegten die „serbische Seite" zu einem Friedensvertragsabschluss. In diese Rich- tung auch/. M. Calie (Fn. 1), S. 246 f.

138 Vgl. Verdross/Simma (Fn. 19), § 749; in diese Richtung wohl auch M. Herdegen, Völ- kerrecht, 2000, § 15, Rn. 27: „Soweit Grundsätze über die »humanitäre Intervention4 zum Schutz gegen schwerwiegende Menschenrechtsverletzung eines Staates die Gewaltanwen- dung überhaupt zu rechtfertigen vermögen, berührt eine solche Intervention auch nicht die Gültigkeit eines unter ihrem Eindruck geschlossenen Vertrages zur Konfliktlösune".

139 H. v. Heinegg (Fn. 8), § 15, Rn. 42. 140 Erwähnt sind nur diejenigen Normen des Völkerrechts, denen im Rahmen der Staa-

tenpraxis und der Judikatur Geltung gesichert ist; vgl hierzu H. v. Heinegg (Fn. 8), Rn. 53 ff. m. w. Hinw.

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Völkerrechtlich er Vertrag als „ Gestaltungsinstrument" 329

Da das Daytoner Friedenspaket überwiegend klassische Gegenstände völkerrechtlicher Abreden regelt,141 lässt sich durchaus keine Verletzung des ius cogens beanstanden. Anders aber die Beurteilung des „Annexes 4": Gemessen an den tatsächlichen Auswirkungen der neuen Verfassung, zeichnet sich im „Verfassungstext" ein normatives System ab, das fast per- fekt der militärisch und gewaltsam vorgeformten staatlichen Realität Rechnung trägt. Der „Annex 4" verdichtet sich somit in ein normatives Mittel zur Unterstützung und Erhaltung der Ergebnisse eines Krieges, in dessen Mittelpunkt die Politik der „Ethnischen Säuberung" stand.142 Diese „Verfassung" steht folglich im Widerspruch zu zahlreichen voran- gegangenen Erklärungen, die Ergebnisse gewaltsamer Grenzänderungen und Bevölkerungsverschiebungen nicht anzuerkennen.143 Wohl noch nie in der neueren Völkerrechtsgeschichte haben sich die maßgeblichen supranationalen Institutionen der Völkerrechtsgemeinschaft durch eigene Vertreter und Verhandlungsführer so offensichtlich in Widerspruch zum eigenen Vorverhalten und zu früheren Erklärungen gesetzt, mit der Folge, dass die Inanspruchnahme der Kompetenz, völkervertragsrechtlich eine Verfassung zu erlassen, zur Anerkennung von Vertreibungs- und Tötungsmaßnahmen aus ethnisch-religiösen Gründen und zu ihrer ver- fassungsrechtlichen Festigung führte. Die sachlichen Zusammenhänge zwischen der „Ethnischen Säuberung" und der völkerrechtlich gefestigten Verfassungsordnung von Bosnien-Herzegowina verdichten sich also vor dem Hintergrund des weit geöffneten politischen Ermessens in ein System zur Regelung der „Völkermordergebnisse" und nicht in ein System zur Sanktionierung schwerer Normverletzungen des Völkerrechts. Die völ- kerrechtliche Übertragung einer verbrecherischen Politik in geltendes Verfassungsrecht zieht zwangsläufig den Geltungsverfall des ius cogens

141 So z.B. ein umfassendes Gewalt- und Invasionsverbot, die Einstellung der Feindselig- keiten und Truppenrückzug, Gefangenenaustausch, Repressalienverbot (Annex 1-A), die Aufnahme von Verhandlungen über Abrüstung und vertrauensbindende Maßnahmen (Annex 1-B), Unterwerfung unter bindende internationale Schiedssprüche (Annex 2 und 5), Kooperationspflichten der Gebietseinheiten mit völkerrechtlichen oder völkerrechtlich autorisierten Gremien (Annex 1-A, Art. IX Abs. 1 g] und Art. X; Annex 6, Art. XIII Abs. 4; Annex 9, Art. IV; Annex X, Art. IV; Annex 11, Art. VI/2) usw.

142 Hiermit ist nicht nur die Territorialisierung der ethnischen Säuberung durch die Aner- kennung der serbischen Entität oder die Kantonalisierung der ethnisch gesäuberten Territo- rien in der Föderation B-H (hierzu vgl. oben Fn. 5; H. Riegler, Fn. 5, S. 12 f.) gemeint, son- dern vielmehr die verfassungsrechtliche Gestaltung der Zusammensetzung der Staatsorgane, die Lösung des Wahl- und Staatsangehörigkeitsrechts u.a. (hierzu vgl. C. Stahn, Fn. 5, S. 674 f.; E. Sarcevic, Fn. 57, S. 42 ff.; ders, Fn. 2, passim). 143 Vgl. z. B. Beschluss der KSZE in Stockholm v. 14./15. Dezember 1992, Bulletin Pres- se- und Informationsamt der Bundesregierung Nr. 138 v. 18. Dezember 1992; EU: Erklärung der Außerordentlichen Ministertagung in Brüssel zu Jugoslawien v. 27. August 1991, EA, 21/1991, S. D 543 f.; die Resolutionen des Sicherheitsrates Nr. 713/1991 v. 25. September 1991 (deutsche Übersetzung in VN 1993, S. 175), Nr. 859/1993 hier unter Nr. 6 lit a) v. 24. August 1993 (VN 1994, S. 26, Nr. 908/1994 unter A, Nr. 2 v. 31. März 1994 (VN 1994, S. 110), Nr. 943/1994 v. 23. September 1994 (VN 1994, S. 227); Kommunique des Treffens der Außenminister der Jugoslawien-Kontaktgruppe vom 30. Juli 1994, EA 1995, S. D 638.

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nach sich, soweit solchem Verfassungsrecht Normgeltung und Akzeptanz zuerkannt wird. Betrachtet man folglich den „Annex 4" als völkerrechtli- ches Mittel zur verfassungsrechtlichen Festigung der „ethnischen Säube- rung" in Form von Massenvertreibungen und Massentötungen - was in den Analysen der vorherigen Teile zugrunde gelegt wurde144 - muss man schlussfolgern, dass die neue bosnische Verfassung wenigstens aufgrund der Legalisierung der Ereignisse, die in direktem Widerspruch zum Völ- kermordverbot oder zum Gebot der Achtung des humanitären Völker- rechts stehen,145 an solchen schwerwiegenden Fehlern leidet, dass diese zu ihrer Nichtigkeit führen müssten. Wird dagegen die unmittelbare Bezie- hung zwischen dem „Annex 4" und der verbrecherischen Politik und ihrer Ergebnisse bestritten, was allerdings ohne argumentative Schwierig- keiten und ohne verfälschende Neubewertung des Konfliktes und der mit ihm verbundenen Verfassungsentstehung kaum denkbar ist, könnte auch an der rechtlichen Gültigkeit des „Annexes 4" festgehalten werden.

c) Allein durch die Erkennung der Nichtigkeitsgründe lässt sich jedoch die endgültige Verfassungsungültigkeit noch immer nicht feststellen. Denn die Folgen der bestehenden Nichtigkeitsgründe müssen erst der konkreten Rechtsordnung, insbesondere dem Umgang der Vertragspar- teien mit den vereinbarten Pflichten entnommen werden. In der bosni- schen Konstellation ist demnach besonderes Gewicht dem Verhalten der Vertragspartei beizumessen, zumal die Ungültigkeits gründe gem. Art. 65 f. WVK von den Vertragsparteien letztendlich geltend gemacht werden sollen. Aus dem bisherigen Verhalten der Vertragsparteien lässt sich so trotz ersichtlicher Vertragsmängel, die zur Vertragsnichtigkeit führen können, entnehmen, dass die Parteien weder die Ungültigkeit des Dayto- ner Vertragswerkes oder eines seiner Annexe geltend machen, noch das Ungültigkeitsverfahren nach Art. 65 WVK eröffnen werden. Es ist des- halb davon auszugehen, dass die völkerrechtliche Vereinbarung der neuen bosnischen Verfassung - entgegen den Einzelstimmen der bosnischen Staatsrechtswissenschaft und der Politik146 - von den Vertragsparteien

144 Vgl. oben Fn. 5 sowie die Ausführungen unter II.3.d) sowie die Fn. 82-83 zusammen mit dem Haupttext.

145 Abgesehen davon, ob die „ethnischen Säuberung" als Völkermord oder als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifiziert werden soll - worüber in der einschlägigen Literatur keine Einigkeit besteht (hierzu und zum Diskussionsstand S. Müller/H. Tretter, Die Politik der „ethnischen Säuberungen" im Spiegel des internationalen humanitären Rechts und der bisherigen Praxis des Internationalen Straftribunals für das ehemalige Jugoslawien, in G. v. Arnim u.a. (Hrsg.), Jahrbuch Menschenrechte 1999, 1998, S. 179 ff.; L. Lehmer, Fn. 27, pas- sim, insb. S. 111 ff., 215 ff.) -, würde sie in den beiden Varianten zur Vertragsnichtigkeit führen, soweit die Vertragsnorm inhaltlich die ethnische Säuberung festigt und damit den erwähnten Geboten widerspricht. 146 Illustrativ und stellvertretend sind die Anträge der ehem. Ministerpräsidenten H. Süa- jdzic (und seiner „Partei für B-H") zu einer grundlegenden Revision des Annexes 4, die zu einer Aufhebung der Entitäten und zu ihrer Ersetzung durch die neu zu konstituierenden Regionen (oder Kantone) führen soll. Vgl. ders., Das erfolgreiche Projekt der Kriegsverbre- cher in B-H, Oslobodjenje, 20./21. Mai 2000; ders., Aufteilung auf die Entitäten ist Völker-

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weder für völkervertragswidrig noch für allgemein unzulässig gehalten wird. Aus dieser Haltung und unter Berücksichtigung der konkreten Umstände und der Lage, in der sich das Land zur Zeit des Vertragsab- schlusses befand, ergibt sich, wenn man so will, die Rechtsgültigkeit einer solchen Verfassungsvereinbarung.

Die im vorliegenden Zusammenhang problematisierte Gültigkeitsfest- stellung des „Annexes 4" hängt also mit der rechtlichen Bewertung der Ereignisse zusammen, die zur neuen bosnischen Verfassung führten. Diese kann nicht nur zu „einer" Schlussfolgerung führen, sondern beruht auf einer wertenden Entscheidung, die unbedingt die Folgen der Politik, das Rechtsgefühl und den Gerechtigkeitssinn einbeziehen muss. Kaum vertretbar scheint hierzu die Annahme eines „automatischen" Geltungs- verlustes wegen des Art. 53 WVK zu sein.147 Vielmehr bedarf es eines Außerkraftsetzens des „Annexes 4" durch einen geltungsbeendigenden Rechtsakt einer hierzu befähigten Instanz (zu denken ist hierbei an den IGH analog Art. 66 S. 1 lit. a] WVK).148

d) Die Möglichkeit der völkerrechtlichen Vereinbarung einer Staatsver- fassung ergibt sich somit aus der völkervertragsrechtlichen Perspektive nicht nur als ein denkbares sondern vielmehr als ein zulässiges und in bestimmten Situationen erwünschtes Verfassunggebungsverfahren. Dies gilt auch angesichts des Risikos, dass eine solche Vereinbarung oft mit einigen schwerwiegenden Mängeln, wie in dem hier analysierten Fall von Bosnien-Herzegowina, behaftet sein kann, die zur Nichtigkeit und im Ergebnis auch zur Unverbindlichkeit mit Wirkung ex tune führen kön- nen. Ein völkerrechtlicher Rechtfertigungsgrund lässt sich hierfür in der Notlage von Bosnien-Herzegowina finden.149 Danach können die Aus- nahmen für Situationen zugelassen werden, in denen vom Zerfall bedroh- te Staaten oder eine von der Ausrottung bedrohte Bevölkerung zum Zweck ihrer Konsolidierung auf Instrumente des Völkerrechts zurück-

mord, Oslobodjenje, Sarajevo 30. September 2000; Interview in Dani, Sarajevo 30. Novem- ber 2000, S. 9 ff. Einschlägige Vorschläge finden sich auch in der Fachliteratur, vgl. z.B. N. Pobric, Standardi vijeca Evrope i bosansko-hercegovacka pravno-politicka i drustvena stvar- nost (Standards des Europarates und bosnisch-herzegowinische rechtspolitische und soziale Wirklichkeit, Ljudska Prava (Menschenrechte, Zeitschrift für Staats- und Völkerrecht) 1/2000, S. 114 ff; /. Festic, Neka pitanja drzavnosti BiH (einige Fragen der Staatlichkeit von B-H), in Drzavnost BiH (Staatlichkeit B-H), Sarajevo, 1998, S. 137 ff.

147 Der Auffassung liegt die sog. Theorie der autoritativen Geltungsbeendigung zugrunde. Hierzu vgl. D. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Normen, 1997, insb. S. 115 ff.

148 In den beiden erwähnten Fällen (Anfechtbarkeit und Nichtigkeit) hat die Feststellung der Erklärung oder des Nichtigkeitsgrundes die Nichtigkeit des Vertrages von Anfang an zur Folge und erfasst den gesamten Vertrag./. A. Frowein (Fn. 129), S. 118; H. v. Heinegg (Fn. 8), § 15, Rn. 12 jeweils m.w. Hinw.

149 Nach der Auffassung der ILC schließt der Staatsnotstand grundsätzlich die Völker- rechtswidrigkeit nicht aus, es sei denn, das Handeln stellt das einzige Mittel dar, um wesent- liche („essential") Interessen eines Staates vor einer schwer und unmittelbar bevorstehenden Gefahr zu schützen (Art. 33 ILC-Entwurf zur völkerrechtlichen Verantwortlichkeit, ILM 1998, S. 442 f.)

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greifen.150 Nur damit ist die durch den „Annex 4" gestaltete Situation zu erklären, dass ein souveräner Staat, dem geltenden Verfassungsrecht widersprechend, auf ein wesentliches Element seiner völkerrechtlichen Souveränität, nämlich auf das Recht zur Veränderung seiner inneren terri- torialen Ordnung, verzichtet und den neuen Gebietseinheiten die staats- prägenden Kompetenzen überlässt. Dass dabei hinter den Vertragspartei- en bestimmbare Volksgruppen standen, denen partielle Völkerrechtssub- jektivität zuerkannt wurde, stellt die logische Konsequenz der im Vorigen dargestellten Entwicklung dar.151

Kurzum: In der Ausnahmelage, in der sich Bosnien-Herzegowina zwi- schen 1992 und 1995 befand, wurzeln die Rechtsfertigungsgründe seiner aktuellen Verfassungslage. Für den Fall, dass ein durch die völkerrechtli- che Ordnung geschütztes Gut von höchstem Wert nur dadurch vor Ver- letzung oder Vernichtung bewahrt werden kann, dass eine andere Rechts- vorschrift verletzt wird, ist die völkerrechtliche Vereinbarung der natio- nalen Verfassung zulässig. Dabei steht außer Frage, dass der Schutz von Leib und Leben vor „ethnischen Säuberungen" in Form von Massenver- treibungen ein völkerrechtlich geschütztes Rechtsgut höchsten Ranges ist.152

All dies kann unter einer weiteren Voraussetzung den Weg für die völkerrechtliche Verallgemeinerung des bosnischen Experiments frei machen: Die dort getroffene Vereinbarung muss nach einer Übergangszeit in den Bereich des Staatsrechts überführt werden; sie muss also von den relevanten politischen Parteien und von den am staatlichen Leben betei- ligten Gruppen (etwa von religiösen, militärischen oder akademischen Eliten) akzeptiert werden. Die verfeindeten Entitäten, Parteien und nicht zuletzt Ethnien müssen ohne Mitwirkung Außenstehender und der Völ- kergemeinschaft friedlich miteinander auskommen. Diese Überlegung findet sich auch in den einzelnen Annexen der Daytoner Friedensverein- barung und in den dort getroffenen Regelungen. Danach sollen die jeweils mit den einzelnen Annexen geschaffenen Gremien nach fünf Jahren aus der Verantwortung der Vertragsparteien in die Verantwortung der gesamt- staatlichen Organe Bosnien-Herzegowinas übergehen mit der Folge, dass die getroffenen Vereinbarungen in den Bereich des Staatsrechts überführt werden.153 Die Frage der völkerrechtlichen Zulässigkeit der Vereinbarung einer Verfassung stellt sich somit im Ergebnis als eine Frage der ausrei-

150 In diese Richtung, wohl aber zurückhaltend O. Dörr (Fn. 13), S. 225; J.-M. Sorell, U Accord de Paix sur la Bosnie-Herzégovine du 14 Décembre 1995: un traité sous bénéfice d'inventaire, AFD 41 (1995), S. (65 ff.) 94; K. Obradovic, Dayton Constitution Deserves Positive Approach, in Citizen and people, Sarajevo 1998, S. 175 ff.

151 Vgl. oben unter II. 3 d). 152 So auch K. Ipsen (Fn. 125), S. 165. 153 So Annex 6 (Art. XIV) für die Menschenrechtskommission sowie (Art. VII lit c]) für

die Zusammensetzung der Menschenrechtskammer, Annex 7 (Art. XVI) für die Kommissi- on für Flüchtlinge und Vertriebene und Annex 8 (Art. IX) für die Kommission für nationa- le Denkmäler; Annex 4 (Art. VI/1/d]) für die Wahl der Richter des B-H VerfGH.

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Vò'lkerrechtlicher Vertrag als „ Gestaltungsinstrument" 333

chenden Effektivität der vollzogenen Ordnung dar. Denn erst die Effekti- vität der vollzogenen Verfassungsordnung kann die Überführung einer Ausnahme in einen Regelfall rechtfertigen.

2. Die Bewertung der Effektivität der vereinbarten Verfassungsordnung

a) Die Effektivität des Daytoner Abkommens ist vornehmlich daran zu messen, mit welchen Aussichten die verfassungsrechtlichen Lösungen auf Dauer akzeptiert und staatsrechtlich einverleibt werden und eine „friedli- che Koexistenz" ohne die Bereitstellung der repressiven Mittel der inter- nationalen Gemeinschaft nach den Prämissen dieses Verfassungssystems möglich ist. Das grundlegende Problem stellt dabei die Beurteilung der Lage in Bosnien-Herzegowina unter der fünfjährigen Geltung des Dayto- ner Verfassungswerkes angesichts der beabsichtigten Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen sowie bezüglich der Strafprozesse gegen die Kriegsverbrecher dar. Vergegenwärtigt man sich dabei, dass als Kriegsver- brecher angeklagte Personen und ihre Mitarbeiter nach wie vor die wich- tigsten Posten im öffentlichen Dienst, in der Polizei und im politischen Leben der serbischen Entität besetzen,154 so kann im Ergebnis die Effekti- vität des Daytoner Friedensabkommens in Bezug auf eine so elementare Voraussetzung, die wohl die misslungene Rückkehr von Flüchtlingen und Vertriebenen mittelbar beeinflusst,155 unter keinen Umständen bejaht wer- den.

b) Abgesehen davon, dass diese beiden Elemente grundlegend für die Wiederherstellung einer rechtsstaatlich geordneten Vielvölkergesellschaft sind, dürfen sie nicht nur als vereinbarte Pflicht, sondern müssen vielmehr als ausschlaggebende Motivation der „bosnischen Seite" zum Vertragsab- schluss betrachtet werden: Die Rückkehr von Flüchtlingen und die Ver- folgung der Kriegsverbrecher zählen zu den so elementaren Grundsteinen der gesamten Vereinbarung, dass sie die Grundvoraussetzung des gesam- ten Vertragspakets darstellen; ohne ihre präzise Vertragsregelung wäre es überhaupt nicht zum Vertragsabschluss gekommen.156

154 Vgl. War criminals in Bosnia's Republika Srpska: Who are the people in your neigh- bourhood?, ICG Balkans Report N° 103, Sarajevo/Washington/Brussel, 2. November 2000.

155 Gerade dies war neben der völkerrechtlichen Subjektivität von B-H und der Rückkehr der Flüchtlinge ausschlaggebend für die Akzeptanz des Abkommens seitens der für die Rep. B-H handelnden Personen. Vgl. A. Izetbegovic, Interview, El-Mundo vom 28. Dezember 1995 (Fn. 136); hierzu Erklärung des Präsidenten B-H A. Izetbegovic bei der Paraphierung des Friedensabkommens am 21. November 1995, IP, 1996, S. 96 f. An dieser Stelle ist auch auf das Verfassungsgesetz, das der Übergang der Republik B-H zum Daytoner Verfassungs- system regelte, Gbl. Rep. B-H Nr. 49, 1995), zu verweisen: Nach Art. 1 Abs. 2 hat die Rep. B-H im Falle einer unbefriedigenden Durchführung des Daytoner Abkommens, ihn für nichtig zu erklären und die Republik B-H unter dem international anerkannten Namen das Fortbestehen zu sichern.

156 Bestätigt in den zahlreichen Erklärungen und Erläuterungen von A. Izetbegovic. Vgl. statt vieler die Rede vor der UN-Generalversammlung am 25. September 1996, in ders., (Fn. 136), S. (237 ff.) 239 sowie seine Erklärung bei der Paraphierung des Friedenabkommens (Fn. 155).

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Daher sind zumindest zwei Aspekte auseinander zu halten: Von der friedensstiftenden Wirkung des Rahmenabkommens ist die tiefgreifende Strukturänderung des Staates zu unterscheiden. Während die Daytoner Friedensvereinbarung in Bezug auf die Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen nach der überwiegend vertretenen Auffassung positiv zu beurteilen ist, bleibt in allen anderen Bereichen ihre Bilanz so dünn157, dass sie mit guten Gründen als absoluter Misserfolg, insbesonde- re in den Angelegenheiten der Rückkehr von Flüchtlingen und der Verur- teilung der Kriegsverbrecher bezeichnet werden kann. Der Misserfolg des Daytoner Verfassungsexperimentes knüpft unmittelbar an die Gestaltung der staatlichen Konstruktion und seine gesellschaftliche Auswirkung an, so dass die Effektivität der neuen bosnischen Verfassungsordnung im engen sachlichen Zusammenhang mit den im Folgenden kurz dargestell- ten Auswirkungen zu betrachten ist: - Das Daytoner Verfassungssystem ethnisiert die bosnisch-herzegowini-

sche pouvoir constituant mit der Folge, dass das bosnische Staatsvolk (verstanden als demos) durch die drei „Nationen" (verstanden als eth- nos) ersetzt wurde. Statt einen Staat zu bilden, schuf das Abkommen die drei Ethnien, die sich aufgrund einer völkerrechtlichen Vereinba- rung im latenten Konflikt befinden.

- Verfassungsrechtlich festigt es die Ergebnisse der „ethnischen Säube- rung" und schafft staatsrechtliche (institutionelle) Rahmen für ihre legale Weiterführung. Die Entitäten erscheinen somit vornehmlich als verselbstständigte territoriale Einheiten mit ausgeprägten staatlichen Eigenschaften, die für planmäßige und gezielte Diskriminierungen der jeweils unerwünschten Ethnien genutzt worden sind.158

- Dieses System regelt ein funktionsunfähiges und der bosnischen Staats- tradition vollkommen fremdes föderales Modell, das die territorialen Kriegsgewinne entgegen jeglichem vertretbaren wirtschaftlichen, kom- munikations-strukturellen oder geografischen Kriterium in föderale Einheiten überführt. Damit wird eine unnatürliche, wirtschaftlich kaum finanzierbare staatliche Infrastruktur etabliert. Die territoriale Gliederung des Landes in zwei Entitäten und darüber hinaus die Glie- derung der Föderation in die zehn Kantone mit jeweils einer eigenen Regierung, eigenen Ministerien und eigenem Parlament belastet das wirtschaftlich schwache Land mit unnötigen und teueren Ausgaben, behindert die Übersichtlichkeit der staatlichen Tätigkeit und ermög- licht eine beispiellose Rechtszersplitterung.

157 Hierzu ist auf ICG - Bericht (Fn. 5) zu verweisen; vgl. auch. H. Schneider (Fn. 2), S. 3. 158 Das System schafft den verfassungsrechtlichen Rahmen für die weitere ethnische Sepa-

rierung der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft und überlässt die Entscheidung über die Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen vollkommen der Willkür der entitären Ver- waltung. Vgl. B-H VerfGHE (Fn. 5), Abs. 79 ff. und 129 ff.

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Volkerrechtlicher Vertrag als „ Gestaltungsinstrument" 335

- Das ganze System fußt auf der vorausgesetzten Souveränität der En- titäten. Die Gesetzgebungskompetenzen159, die Wahl und die Zusam- mensetzung der Parlamentshäuser favorisieren die sezessionistischen Pläne der großserbischen und großkroatischen politischen Parteien und nationalistischer Eliten. Der Gesamtstaat erscheint somit nur als ein Provisorium, das in ferner Zukunft durch die Teilung zwischen Kroatien und Serbien beseitigt werden soll.160

- Die Verfassung selbst fundiert eine funktionsunfähige Staatsform, in deren Mittelpunkt sich ein zweihäusiges Parlament und ein dreiköpfi- ges Präsidium befinden. Die Statuierung eines verfassungsrechtlich geschützten, jedoch nicht näher definierten „vitalen Interesses des Volkes"162 macht aus den staatlichen Institutionen keine unmittelbar legitimierten Verfassungsorgane einer repräsentativen, parlamentari-

159 Die Gesetzgebungskompetenzen des Gesamtstaates sind extrem schmal: Bereiche der Außenhandels-, Zoll-, Außen- und Finanzpolitik, Finanzierung der Institutionen B-H und Zahlung der internationalen Verbindlichkeiten, Immigration, Flüchtlings- und Asylwesen, internationale Politik und die Beziehungen zwischen den Entitäten sowie die internationale und interenitäre Strafverfolgung einschließlich der Zusammenarbeit mit Interpol sowie die Kontrolle des Luftverkehrs zählen nach Art. 3/1 zu den Gesetzgebungskompetenzen des Gesamtstaates. Die eigentlichen Gesetzgeber sind somit die Entitäten: die militärischen Angelegenheiten, das Strafrecht, das bürgerliche Recht, das Telekommunikationsrecht, Gebiete wie Eisenbahnverkehr, Eigentum und Boden, Verwaltungsrecht, gewerblicher Rechtsschutz, das Urheber- und Verlagsrecht, die Gerichtsordnung, das gerichtliche Verfah- ren stellen Beispiele ausschließlichen Angelegenheiten der Entitäten dar. Weitere Einzelhei- ten bei E. Sarcevic (Fn. 57), S. 41 f.; den. (Fn. 2), S. 8; O. Dörr (Fn. 1), S. 176 f.

160 Statt vieler anderer Dokumente belegt dies einerseits die Deklaration der Parlamenta- rischen Versammlung der Serbischen Republik über die Gleichberechtigung und Unabhän- gigkeit der Serbischen Republik vom 17. November 1997 (Narodne novine RS [Volkszeitung Serb. Rep.] Nr. 30, 1997: „Die Volksversammlung der Serbischen Republik betont noch ein- mal die eigene Entschlossenheit, aufgrund der Vereinbarung über die speziellen Beziehungen zwischen der SR Jugoslawien und der Serbischen Republik in jeder Hinsicht zur Verstär- kung der gegenseitigen Beziehungen des serbischen Volkes an den beiden Seiten des Flusses Drina und zu seiner endgültiger Einigung beizutragen". Andererseits drohte die kroatische Partei HDZ kurz vor den letzten Parlamentswahlen (12. November 2000) mit dem Austritt der Kroaten aus Bosnien-Herzegowina und mit der Schaffung eines eigenes „Nationalparla- mentes" (so erklärte das kroatische Präsidiumsmitglied A. Jelavic die Föderation B-H für tot, vgl. Oslobodjenje vom 4. November 2000; vgl. auch FAZ v. 11. November 2000, S. 7). Als diesbezügliche politische Vorbereitung ist die von der HDZ konstituierte „Versammlung des kroatischen Volkes" in Novi Travnik (Zentralbosnien) anzusehen. Die selbstproklamierte Versammlung entschied am 28. Oktober 2000 ein nationales, kroatisches „Referendum" über die Souveränität des kroatischen Volkes durchzuführen (Angaben nach Vijesnik, Zagreb, 29. Oktober 2000). Dieses „Referendum" wurde parallel zu den Parlamentswahlen am 12. November 2000 nach HDZ Angaben erfolgreich durchgeführt: Rund 70% der registrierten kroatischen Wähler nahmen am Referendum teil und 99% davon stimmten für die Deklara- tion (vgl. Slobodna Dalmacija, Split, 14. November 2000; FAZ, 18. November 2000, S. 6). Diese Volksabstimmung erinnert bis in die Einzelheiten an die serbischen „Referenden" aus dem Jahre 1992 und stellt nach einhelliger Meinung die politische Vorbereitung für die Begründung einer „dritten" kroatischen Entität und deren künftigen Anschluss an Kroatien dar (vgl. Vjesnik, Zagreb, 30. Oktober 2000, K. Zubak, ehem. Präsident der Föderation B- H, Interview, Oslobodjenie, Sarajevo, 1. November 2000)

161 Vgl. E. Sarcevic (Fn. 2), S. 8 ff. 162 Zum Institut E. Sarcevic {Yn. 2), S. 12 ff.; kritisch auch K. Trnka (Fn. 83). S. 333 ff.

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sehen Demokratie. Die gesamtstaatlichen Verfassungsorgane verstehen sich vornehmlich als Vertreter und Hüter der jeweiligen (eigenen) „Nation". Die Ratio des „bosnischen Parlamentarismus" erschöpft sich damit in den ständigen nationalistisch aufgeladenen Streitigkeiten; die „ethnischen Parlamentarier" sind vor diesem Hintergrund selten in der Lage - wie sich in der bisherigen Praxis zeigte - Kompromisse zu erzie- len, Probleme sachlich auszudiskutieren und Entscheidungen zu tref- fen.

- Das Daytoner Verfassungssystem kennt keine effektive gesamtstaatli- che Gesetzgebung und rechtliche Homogenität. Die Verfassung enthält keine Kollisionsnorm, sie sieht keine gesamtstaatlichen Streitkräfte und keine zwingenden Mechanismen zur Durchführung der Entschei- dungen vor, die auf gesamtstaatlicher Ebene in irgendeiner Form erlas- sen wurden. Die entitäre Durchführung der gesamtstaatlichen Vor- schriften und Entscheidungen beruht auf Freiwilligkeit, wenn nicht gar auf der Willkür der entitären politischen Parteien und Verwaltungs- strukturen.

- Die Volkssouveränität als elementare Voraussetzung jeder Rechtsstaat- lichkeit,163 wonach die staatliche Gewalt vom abstrakten Bürger aus- geht, wurde mit diesem System weder entfaltet noch abgesichert. Hier könnte lediglich der Hohe Vertreter der internationalen Gemeinschaft als eigentlicher Souverän, als Gesetzgeber, als gerichtliche Instanz und Staatsverwalter, also als eine Art der „bürgerlichen Vernunft" fungie- ren. Eine solche „Assistenz von außen"164 stellt von Anfang an die allei- nige Garantie der existentiellen Homogenität und der zumindest mini- malen Funktionsfähigkeit des Staats Bosnien-Herzegowina dar.

- Von unabhängiger Gerichtsbarkeit kann kaum die Rede sein: Korrup- tion, Abhängigkeit von den politischen Parteien, „Kollaboration" der Gerichte mit der Politik der ethnischen Diskriminierung und eine bei- spiellose Unterstützung der „Kultur der Gesetzlosigkeit" prägen die bosnisch-herzegowinische Gerichtsbarkeit.165 Das System favorisiert durch seine Rechtszersplitterung und Richterwahlregelungen eine besondere Art der „ethnischen Gerichtsbarkeit", die sich bis zum Ver- fassungsgerichtshof von Bosnien-Herzegowina erstreckt.166 Die „dritte

163 E. Sarcevic, Der Rechtsstaat, 1996, S. 312 f. 164 H. Schneider (Fn. 2), S. 4. 165 Vgl. Rule over Law: Obstacles to the Development of an Independent Judiciary in Bos-

nia and Herzegovina, ICG Balkan Report, N° 72, 5. Juli 1999; Denied Justice: Individuals Lost in a Legal Maze, ICG Balkan Report N° 85, Sarajevo 23. Februar 2000.

166 Das belegen am besten die Sondermeinungen der Verfassungsrichter (zur Zusammen- setzung des B-H VerfGH vgl. oben Fn. 86) sowie der Richter der Menschenrechtskammer (hierzu vgl. M. Novak, Die Menschenrechtsinstitutionen aufgrund des Dayton-Abkom- mens, EuGRZ 1998, S. 7 ff.), die argumentativ immer wieder als Hüter der ethnischen Inter- essen und nicht als Hüter der Verfassung vorgehen. Statt vieler vgl. Sondermeinungen der Richter 2. Miljko und M. Zovko (Kroaten) und S. Savie und V. Popovic (Serben) in B-H Verf- GHE (Fn. 5), S. 488 ff.

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Volkerrechtlicher Vertrag als „ Gestaltungsinstrument" 337

Gewalt" bleibt so eine treue Abbildung des Daytoner Verfassungssy- stems in all seinen rechtlichen Unfertigkeiten. c) Versucht man nun ein Gesamtbild über die Effektivität des Daytoner

Verfassungssystems zu gewinnen, dann wird der Eindruck des Mitregie- rens der internationalen Akteure und der starken Favorisierung der ethni- schen Komponente zur Schlussfolgerung führen müssen, dass dieses System aus sich selbst heraus keine effektive, insbesondere keine rechts- staatliche Gewalt erbringen kann. Ihm liegt als systemimmanenter Fehler ein misslungener Versöhnungsversuch des ethnischen Autoritarismus mit dem bürgerlichen Rechtsstaat zugrunde. So ist diese Verfassungsordnung hinsichtlich ihrer Wirkung auf die rechtliche Zerstörung der elementaren staatlichen Homogenität sowie auf die verfassungsrechtliche Festigung des Ethno-Autoritarismus gerichtet. Berücksichtigt man hierzu, dass sich die Bosniaken, also die anteilsmäßig größte Bevölkerungsgruppe, die die tatsächlichen Opfer des Krieges darstellen, wohl eher betrogen und ver- lassen fühlen,167 muss man auch verstehen, warum eben sie die Daytoner Verfassungslösung im Ergebnis als ein nicht erhaltungswürdiges Proviso- rium betrachten.

d) Nach all dem zeigt sich, dass die Frage der Zulässigkeit der völker- vertragsrechtlichen Regelung der Verfassungsmaterie aus der Perspektive der Effektivität der vereinbarten Ordnung anders als bei der völkerver- tragsrechtlichen Bewertung zu beantworten ist: Obwohl die völkerrecht- liche Vereinbarung der bosnischen „Verfassung" vor dem Hintergrund einer extremen Situation, die die außergewöhnlichen Verfahrens- und Entscheidungsweisen rechtfertigte, noch als zulässig angesehen werden könnte, ergibt sich aus der Effektivitätsprüfung, dass diese „Verfassung" die völkerrechtlichen Grundwerte und den Grundbestand an Verpflich- tungen erga omnes nicht effektiv schützen kann.

Diesbezüglich muss die Zulässigkeit der völkervertragsrechtlichen Ver- fassunggebung unter den genannten Bedingungen, insbesondere die Ver- allgemeinerung dieses Verfahrens kategorisch bestritten werden. Sonst könnte der völkerrechtliche Vertrag in ein Mittel zum verfassungsrechtli- chen Schutz von Werten, die dem Völkerrecht entgegengerichtet sind,

167 Illustrativ und gleichzeitig stellvertretend ist i.d.S die Auffassung des Parlamentariers und Präsidenten der Vermisstenkommission („Komisija za trazenje izgubljenih i nestalih") A. Masovic: „Natürlich müssen wir über die Rolle nachdenken, die Europa während der ver- gangenen Jahre in Bosnien gespielt hat. Trotz allen Respekts dürfen wir nicht vergessen, dass uns eben jenes Europa fast vier Jahre bluten ließ. Obwohl wir mit Konzentrationslagern der schlimmsten Sorte, Massengräbern und der Ermordung von Kindern konfrontiert waren, hat Europa stillschweigend zugesehen bis zu jenem Moment, als unsere patriotischen Einheiten zur Offensive übergingen. Europa ist also erst dann aufgewacht, als abzusehen war, dass die legale Kriegsführung dieses Landes und deren Armee ihr Ziel erreichen könnten. Seit dieser Zeit hat sich das Verhältnis Europas zu Bosnien-Herzegowina bis zum heutigen Tag nicht wesentlich geändert. Auch jetzt gibt es noch Überlegungen, Bosnien auf Kosten von Zuge- ständnissen an Serbien wegen des Kosovo zu teilen" (Slobodna Bosna, Sarajevo, Nr. 207, 21. November 2000, S. 19).

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überführt werden. Die neue bosnische „Verfassung" wirkt gerade in diese Richtung: Sie gibt den Kriegsergebnissen und den eklatanten Menschen- rechtsverletzungen mit einem so gestalteten Föderalismus und mit dem Konstrukt des „konstitutiven Volkes" den Rang von tragenden Verfas- sungsprinzipien. Damit wird der effektive Schutz der völkerrechtlich anerkannten Prinzipien wie territoriale Integrität, Rechtsstaatlichkeit mit dem individuellen Grundrechtsschutz, Verbot des Völkermords und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit zugunsten von Ausrottung und Deportation preisgegeben.

Dies legt den Gedanken nahe, dass es sich beim „Annex 4" um einen völlig unwirksamen Rechtsakt handelt. Diese Unwirksamkeit führt zur Vorläufigkeit der Daytoner Verfassung, da sie nur unter der Vorausset- zung als ein wirksamer Akt der Verfassunggebung angesehen werden konnte, dass sie der künftigen Konsolidierung eines Völkerrechtssubjek- tes dient. In diesem Zusammenhang ist demzufolge an eine neue Verfas- sunggebung zu denken. In der Anlehnung an die letzte legitime Verfas- sungsordnung (die Verfassung der Republik B-H) sollte von einem dazu berufenen und kompetenten Verfassunggebungsgremium und in einem für die Verfassunggebung geeigneten Verfahren unter der Akzeptanz der das Staats- und Völkerrecht prägenden Prinzipien sowie der vielvölker- rechtlichen Spezifika und der staatlichen Homogenitätsnotwendigkeit in ethnisch neutralen Angelegenheiten eine konsensfähige und wirksame Verfassung erlassen werden. Die jetzige Lage führt, wie bereits gezeigt, zur Undurchführbarkeit und damit i.E. zur rechtlichen Unwirksamkeit des „Annexes 4". Der „Annex 4" belegt also im Ergebnis, dass die völker- rechtliche Intervention in die Verfassunggebung an enge Bedingungen gebunden werden muss: Völkervertragsrechtlich darf verfassunggeberisch nur in Ausnahmensituationen, in denen der betreffende Staat oder eine ihn tragende Bevölkerung existenziell bedroht ist, interveniert werden; dann aber wieder unter den Bedingungen, dass die staatsrechtliche Tradition, die Grundprinzipien der demokratischen Verfassung und ein effektiver Schutz der tragenden Völkerrechtswerte (Menschenrechte und Multikul- turalität, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und staatliche Homogenität) im vollem Umfang normiert und auch durchgeführt werden. Sonst könnte die völkerrechtliche Wertordnung zum Legitimationsinstrumentarium der nackten Gewalt umgewandelt werden.

Wird noch im Einzelfall die völkervertragsrechtliche Oktroyierung einer Verfassung unter den oben genannten Voraussetzungen als zulässig angesehen werden können, so ist zumindest der effektive Schutz der grundlegenden Werteorientierung des heutigen Völkerrechts im nationa- len Verfassungsrecht abzusichern. Anderenfalls wird es stets an einem wirksamen Akt der Verfassunggebung fehlen und das Völkerrecht wird Proklamationen hervorbringen, deren Einhaltung es selbst nicht garantie- ren kann.

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Volkerrechtlicher Vertrag als „ Gestaltungsinstrument" 339

3. Ergebnisse 1. Das grundlegende Dilemma, ob die nationale Verfassung internatio-

nalrechtlich vereinbart werden darf, kann aufgrund des in Bosnien-Her- zegowina durchgeführten Experimentes positiv beantwortet werden: Die völkerrechtliche Form steht der unmittelbaren Verfassungsvereinbarung - unter exakten Voraussetzungen - grundsätzlich nicht entgegen.

2. Je nachdem, wie tief und wie umfassend die fragliche völkerrechtliche Vereinbarung die bestehenden rechtsstaatlichen Standards und die Völ- kerwerteordnung in die Verfassungsordnung einprägt, wird sie mehr oder minder große Aussichten auf Erfolg haben.

3. Der völkerrechtliche Vertrag ist hierfür lediglich dann geeignet, wenn sich aus dem konkreten Sachverhalt völkerrechtliche Bezüge zur Verlet- zung eines durch die völkerrechtliche Ordnung geschützten Gutes ein- deutig entnehmen lassen.

4. Diese Möglichkeit darf ausschließlich für die Extremsituationen eröffnet werden, in denen der betroffene Staat vom Zerfall und ein ihn tra- gendes Volk von der Ausrottung bedroht ist, und keine andere, zumindest genauso effektive Möglichkeit in Aussicht steht. Der völkerrechtliche Rechtfertigungsgrund dafür ist der Notstand.

5. Eine derartige Verfassungsvereinbarung kann aber nur gerechtfertigt sein, soweit sie vorläufig ist und der künftigen staatlichen Konsolidierung dient. Die völkervertragsrechtliche Intervention in die Verfassunggebung kann als zulässig angesehen werden, wenn sie die künftige Akzeptanz einer so vereinbarten Ordnung schaffen kann.

6. Die äußeren Vertragsgrenzen bilden folgende Eckpunkte: Die staats- rechtliche Tradition des betreffenden Landes, Rechts- und Staatseinheit, Kompatibilität der vereinbarten Ordnung mit dem Modell des Rechts- staates, völkerrechtliche Kontinuität und mit dem Völkerrecht kompa- tible Wertehomogenität im Inneren.

7. Die vertragsvölkerrechtliche Verletzung eines der genanten Eck- punkte wird unter dem Vorbehalt eines geltungsbeendigenden Rechtsak- tes einer dafür befähigten Instanz zur Ungültigkeit des so vereinbarten Dokumentes führen müssen. Sonst wird das Völkerrecht von Proklama- tionen leben, die es nicht wirksam schützen kann.

8. Angesichts der Gleichartigkeit der Probleme, auf die in ähnlichen Situationen auch mit einer Verfassungsvereinbarung zu reagieren ist, ist, zumindest auf längere Sicht, die Zeit für die Entwicklung eines proble- mentschärfenden Völkerrechtsinstrumentariums reif.

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