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Verwandtschaft, Freundschaft, BruderschaftMediävistik orientiert: Jussen, Bernhard: Perspektiven...

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Verwandtschaft, Freundschaft, Bruderschaft Soziale Lebens- und Kommunikationsformen im Mittelalter Im Auftrag des Mediävistenverbandes herausgegeben von Gerhard Krieger Akademie Verlag
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Page 1: Verwandtschaft, Freundschaft, BruderschaftMediävistik orientiert: Jussen, Bernhard: Perspektiven der Verwandtschaftsforschung zwanzig Jahre nach Jack Goodys ,Entwicklung von Ehe und

Verwandtschaft,Freundschaft,Bruderschaft

Soziale Lebens- undKommunikationsformenim Mittelalter

Im Auftrag des Mediävistenverbandesherausgegeben von Gerhard Krieger

Akademie Verlag

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HANs-WERNER GOETZ

Verwandtschaft im früheren Mittelalter (I):Terminologie und Funktionen!

I. Forschungsstand und Fragestellung

Trotz vielfältiger Forschungen der beiden letzten Jahrzehnte zu Familie und Verwandt-schaft im Mittelalter birgt das Thema immer noch eine ganze Reihe von Forschungs-problemen, zu denen nicht zuletzt Terminologie und gesellschaftliche Funktionenzählen. Blickt man auf den Forschungstand.' dann fällt (zugespitzt) zumindest dreierleiauf:

- Die historisch-anthropologische Forschung hat sich erstens sehr viel mehr mit derFamilie als mit der .Verwandtschaft'" befasst (oder beide Begriffe mehr oder wenigersynonym gebraucht)." Entsprechend gibt es verschiedene "Geschichten der Familie"s.

Der Schlussvortrag auf dem Trierer Kongress war zugleich eine Art .Abschiedsvortrag" desscheidenden Verbandspräsidenten. Da die Druckfassung des Vortrags den Tagungsband "ge-sprengt" hätte, habe ich mich für einen Abdruck dieses ersten Teils entschieden. Der zweite Teilhat das Problem der Spannung zwischen engem Zusammenhalt und Brüchen in der Verwandt-schaft behandelt und ist an anderer Stelle erschienen; vgl, Goetz, Hans-Werner: Verwandtschaftim früheren Mittelalter zwischen Zusammenhalt und Spannungen (11), in: Uwe Ludwig undThomas Schilp (Hrsg.): Nomen etfraternitas. Festschrift für Dieter Geuenich (RGA Erg-Bd. 62).Berlin 2008, S. 547-573.

2 Vg!. dazu jetzt vor allem - an der Frage der Leistung der Thesen Jack Goodys und derenRezeption durch die internationale Forschung bzw. die Nichtrezeption durch die deutscheMediävistik orientiert: Jussen, Bernhard: Perspektiven der Verwandtschaftsforschung zwanzigJahre nach Jack Goodys ,Entwicklung von Ehe und Familie in Europa' , in: Karl-Heinz Spieß(Hrsg.): Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters. Ostfildern (im Druck), dem ich herzlichfür die Überlassung des Manuskripts bereits vor der Drucklegung danke. Den Forschungsstand inFrankreich und Deutschland fassen zusammen: Guerreau-Jalabert, Anita/ Le Jan, Regine/ Morsel,Joseph: De I'histoire de la familIe ä I'anthropologie de la parente, in: Jean-Claude Schmitt! OUoGerhard Oexle (Hrsg.): Les tendances actuelles de l'histoire du Moyen Äge en France et enAlIemagne (Histoire ancienne et medievale 66). Paris 2002, S. 433-446, und Jussen, Bernhard:FamilIe et patente, Comparaison des recherches francaises et allemandes, in: ebd., S. 447-460.

3 Das betont auch Jussen: Perspektiven [Anm. 2].4 Vg!. Le Jan, Regine: FamilIe et pouvoir dans le monde franc (VIIIe-Xe siecle). Essai d'

anthropologie sociale (Histoire ancienne et medieval 33). Paris 2003, S. 381-427 (Kapitel 11:

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aber noch keine "Geschichte der Verwandtschaft". Beide Phänomene hängen zweifelloseng miteinander zusammen, sind aber nicht identisch: Verwandtschaft löst sich zumeinen mit der Konzentration auf verwandtschaftliche Bindungen von der - mit derFamilie enger verbundenen - Hausgemeinschaft (der so genannten Haushalts-Familie),bringt zum andern (als der weitere Begriff) eine soziale Gruppe einschließlich ihrer"Ränder" in den Blick und entzieht sich schließlich, anders als ,,Familie", einer stärkerinstitutionellen Betrachtungsweise. Mir geht es im folgenden deshalb gerade um dieseweitere Verwandtschaft (den ,,Familienverband"), nicht um die Kernfamilie oder dieFamilie als Institution (vgl. die graphische Darstellung am Ende des Beitrags).

- Inhaltlich hat man sich in Bezug auf das frühere Mittelalter zweitens, abgesehenvon genealogischen und prosopographischen Studien, vor allem mit zwei (miteinanderverknüpften) Aspekten befasst, nämlich einmal mit den Familienstrukturen'' und zumandern mit dem Familienbewusstsein, vornehmlich (oder sogar fast ausschließlich) derKönigs- und Adelsfamilien. Hingegen ist das Verhältnis von ,,Familie" und "Verwandt-schaft" bislang kaum thematisiert worden.

- Drittens schließlich beziehen sich die daraus resultierenden Forschungskontro-versen in erster Linie wiederum auf zwei Streitfragen: das Verhältnis einmal von Groß-

.Autour des parenteles"), und Spieß, Karl-Heinz: Familie und Verwandtschaft im deutschenHochadel des Spätmittelalters. 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts (Vierteljahreshefte für Sozial-und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte Ill). Stuttgart 1993. Beide verwenden in ihren umfassendenund inhaltlich exzellenten Arbeiten beide Begriffe mehr oder weniger gleichbedeutend. Diesevorausgesetzte Synonymität bei gleichzeitiger, impliziter Unterscheidung scheint mir kenn-zeichnend für den Forschungsstand zu sein, wenngleich Guerreau-Jalabert, Le Jan und Morsel[Anm. 2] eine Entwicklung der neueren französischen Forschung weg von der .Histoire de lafamilIe" und hin zu einer anthropologischen ,,Histoire de la patente" feststellen und damittreffend die Forschungsentwicklung skizzieren, ohne eine Abgrenzung beider Begriffe zupostulieren.Vg!. vor allem Duby, Georges (Hrsg.): Histoire de la familIe. Bd. 2: Andre Bourguiere u. a.(Hrsg.): Moyen Age. Paris 1986 (dt. 1994); Michael Mitterauer: Mittelalter, in: Andreas GestrichIJens-Uwe Krause/ Michael Mitterauer (Hrsg.): Geschichte der Familie (Europäische Kultur-geschichte 1 = Kröners Tb. 376). Stuttgart 2003, S. 160-363. Zu methodischen Aspekten derFamiliengeschichte vg!. jetzt: Aurell, Martin (Hrsg.): Le medieviste et la monographie familiale:sources, methodes et problematiques (Histoire de familIe. La parente au Moyen Age). Turnhout2004.

6 Einen ebenso umfassenden wie übersichtlichen Überblick über Verwandtschafts- und Haushalts-familie und die Forschung bietet: Mitterauer [Anm. 5]; zu den Strukturen ebd., S. 309-354, zu-sammenfassend S. 355-363. Vg!. ferner: Schulze, Hans K.: Grundstrukturen der Verfassung imMittelalter. Bd 2. Stuttgart u. a. 1986, S. 9-48; Goetz, Hans-Werner u. a.: Art. Familie, in: Lexi-kon des Mittelalters. Bd. 4 (1989), Sp. 256-275; Jussen, Bernhard: Art. Verwandtschaft, in: ebd.Bd. 8 (1997), Sp. 1596-1599; Duby, Georgesl Le Goff, Jacques (Hrsg.): FamilIe et parente dansl'Occident medieval (Collection de I'Ecole Francalse de Rome 30). Rom 1977; Le Jan: Familie[Anm. 4]. Zu Spanien: Montanos Ferrin, Emma: La familia en la alta edad media espafiola.Pamplona 1980. Zur Adelsfamilie in Ostmitteleuropa: Bak, Janos M. (Hrsg.): Nobilities inCentral and Eastern Europe. Kinship, Property and Privilege (History and Society in CentralEurope 2 = Medium aevum quotidianum 29). Budapest! Krems 1994.

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und Klein- (oder Kem-)Familie bzw. von Verwandtschafts- und Haushaltsfamilie undzum andem von (agnatischer) Abstammungs- und angeheirateter (kognatischer) Fa.nilie(also unter Einbeziehung der Schwägerschaft) - mit den Begriffen Karl SCHMIDS:von"Geschlecht" und "Sippe" - und somit das Verhältnis von agnatischem und kognati-sehern Bewusstsein. Strittig ist besonders die Entwicklung von der relativ unstabilen,kognatischen "Sippe" zum (patrilinearen) "Geschlecht".7 Die Verwandtschaft desfrühen Mittelalters gilt seither als ein flexibles Gebilde mit außergewöhnlich großerFluktuation."

Die genannten Kontroversen müssen hier nicht mehr näher behandelt werden. Esdürfte inzwischen wohl nahezu einhellig akzeptiert sein, dass die Großfamilie alsWohngemeinschaft" (das berüchtigte "ganze Haus" eines Wilhelm RIEHL im 19. undwieder eines Otto BRUNNERim 20. Jahrhundert) ebenso eine Forschungslegende ist wiedie längst überholte Vorstellung von der alten, germanischen "Sippe", für die kaum

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Vg!. Schmid, Karl: Geblüt, Herrschaft, Geschlechterbewußtsein. Grundfragen zum Verständnisdes Adels im Mittelalter, hrsg. v. Dieter Mertens u. Thomas Zotz (Vorträge und Forschungen 44).Stuttgart 1999. An Schmids anfangs weithin rezipierten Thesen sind seither mancherlei Zweifelaufgekommen (vg!. Jussen: Perspektiven [Anm. 2], Alexander Call ender Murray (GermanicKinship Structure. Studies in Law and Society in Antiquity and Early Middle Ages [Studies andTexts 65). Toronto 1983) lehnt eine patrilineare "clan structure" bereits für die germanische Zeitab, während Constance Brittain Bouchard ("Those of My Blood": Constructing Noble Families inMedieval Francia [The Middle Ages Series]. Philadelphia 2001, S. 73 und S. 175-180) und LeJan (Familie [Anm. 4], zusammenfassend S. 430f.) die Entwicklung zum Geschlecht einerseitsbereits spätestens seit dem 9. Jahrhundert annehmen (wenn nicht gar von Anfang an), franzö-sische Forscher andererseits aber ein agnatisches System im ganzen Mittelalter bestreiten; vgl,Guerreau-Jalabertl Morsel! Le Jan [Anm. 2], S. 441. Ähnlich stellte auch Spieß (Familie undVerwandtschaft [Anm. 4], vor allem S. 500-531) die Bedeutung der kognatischen Verwandtschaftnoch im späten Mittelalter heraus. Spieß unterscheidet feiner zwischen Agnaten, Kognaten undSchwägerschaft. Tatsächlich ist daher weit eher von zwei nebeneinander verlaufenden Tendenzendes Familienbewusstseins auszugehen. - Ein Beispiel für agnatisches Denken gibt im 11.Jahrhundert Petrus Damiani: ep. 36, hrsg. v. Kurt Reindei (MGH. Epp. d. dt. Kaiserzeit 4,1).München 1983, S. 344: Da die Bibel nicht die Gewohnheit hat, die Verwandtschaftsreihe über dieFrauen zu flechten, stellt sie die Genealogie Christi über die Männer her (Plane cum scripturarumconsuetudo non teneat, ut per mulieres cognation is lineam texat, per viros Christi genealogiaproducitur).So Althoff, Gerd: Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppen-bindungen im früheren Mittelalter. Darmstadt 1990, S. 34f.Zum Haushalt vg!. Herlihy, David: Medieval Households. Cambridge (Mass.)! London 1985, S.56-78; fast durchweg spätmittelalterlich: Beattie, Cordelia/ Maslakovic, Anna/ Rees Jones, Sarah(Hrsg.): The Medieval Household in Christian Europe, c. 850-1550. Managing Power, Wealth,and the Body (International Medieval Research [IMR] 12). Turnhout 2003. Im übertragenen Sinnspricht von unum domicilium consanguinitatis: Briefsammlungen der Zeit Heinrichs IV. Regens-burger Rhetorische Briefe 8, hrsg. v. Carl Erdmann u. Norbert Fickermann (MGH. Briefe derdeutschen Kaiserzeit 5). Weimar 1950, S. 301.

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Quellenbelege beizubringen sind,Io und auch die These des Anthropologen JackGOODY, die Kirche habe bewusst einen Wandel der Familienstrukturen herbeigefiihrt,um den eigenen Besitz (durch Schenkungen) zu vergrößern, darf als widerlegt gelten.'!Nach inzwischen weithin vorherrschender Ansicht haben sich die Familienstrukturenbereits sehr früh auf die Kemfamilie hin ausgerichtet.

Hingegen wurden die - im folgenden zu stellenden - Fragen nach der "Verwandt-schaft" im früheren Mittelalter, an deren (biologischer) Existenz ja nicht zu zweifelnist," und nach ihrer historischen Bedeutung bislang kaum (oder erst in Ansätzen) näherbehandelt. 13 Sie werden um so wichtiger, wenn "Familien" aus heutiger Sicht Kon-strukte sind'" und "Verwandtschaft" (mit Bernhard JUSSEN)nicht "ist", sondern "sichereignet"," denn dann wäre zu fragen, wie sie sich "ereignet". In diesem Sinn soll imFolgenden untersucht werden, was "Verwandtschaft" im früheren Mittelalter eigentlichmeint16 und welche Funktionen und Leistungen sie (noch) übernimmt.l? Den eigenenForschungsschwerpunkten gemäß, geht es mir dabei nicht nur um sozialgeschichtlicheFragen, sondern in erster Linie um eine vorstellungsgeschichtliche Perspektive, diezugleich überprüfen hilft, wieweit die zitierten Kontroversen und Forschungsmeinun-gen dem mittelalterlichen Denken angemessen sind.

lI. Tenninologie und Verständnis

Bereits die mittelalterliche Terminologie verweist auf Unterschiede zum modemenVerständnis.'! Der heutige (offenere) Verwandtschaftsbegriff sei ,,zu blass, um die

10 Vgl. trefflich zusammenfassend Herlihy [Anrn. 9], S. 44: "In spite of its importance, the Sippe israrely encountered in the early sources, and it remains very hard to investigate its size, structure,and internal organization."Jussen (Perspektiven [Anm. 2]) betont zu Recht, dass zwar diese Deutung, nicht aber die Be-obachtungen Goodys obsolet geworden sind, und strebt eine Überprüfung einzelner Bereiche(Adoption, Heiratsverbote und -gebote, Wiederheirat, Scheidung, Polygynie, Bastarde) anhanddes Forschungsstandes an. Nach Le Jan (Familie [Anrn. 4], S. 314f.) ging es vielmehr um dieDurchsetzung der kirchlichen EheautTassung.Vgl. AlthotT [Anm. 8], S. 40f., in Bezug auf die Völkerwanderungszeit.Grundlegend aber: AlthotT[Anm. 8]."Families were constructed" schreibt Bouchard [Anrn. 7], S. 2f.Jussen: Verwandtschaft [Anrn. 6], Sp. 1597.Da sich die noch ungedruckte und mir nicht zugängliche Habilitationsschrift von Gerhard Lubichnäher mit diesem Komplex befasst, werde ich mich in diesem Teil auf kurze Beobachtungen be-schränken.Im zweiten Teil des Beitrags [vg!. Anm. I] wird danach gefragt, wie sich Zusammenhalt undVerwandtschaftsbewusstsein manifestierten und wo die Bruche dieses "Systems", die Diskrepanzzwischen Anspruch und Wirklichkeit, liegen.Vgl. dazu Le Jan: Familie [Anrn. 4], S. 158-177; zu späteren Verwandtschaftsbezeichnungen vgl,Spieß [Anm. 4], S. 496-500. Eine semantische Analyse der (modemen und mittelalterlichen)

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große Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehungen im Mittelalter klar genug zum Aus-druck zu bringen", schreibt Hans Kurt SCHULZE.19 Für unsere Frage ist es nun bereitsbezeichnend, dass die "Familie" als Begriff im mittelalterlichen Denken - ganz imGegensatz zur Forschung - eine sehr untergeordnete Rolle spielt: Dass familia nicht,jedenfalls nicht ausschließlich oder überwiegend, unsere "Familie" meint, ist bekannt.Der Begriff bezieht vielfach die ganze Hausgemeinschaft ein (und kann von hier ausetwa auch den Hörigenverband als "Familie" des Grundherrn bezeichnenj.i" Die mittel-alterliche Tenninologie richtet sich nicht auf die Familie, sondern auf die Verwandt-schaft und rechtfertigt schon von daher unsere Fragestellung.

Die Unterscheidung zwischen Blutsverwandtschaft (consanguinitas), Verschwäge-rung (affinitas) und geistlicher Verwandtschaft (spiritualis germanitas sive propin-qui/as) findet bereits eine mittelalterliche Entsprechung, etwa bei Hugo von St. Viktoranlässlich der Besprechung der Inzestverbote:" Danach verbindet consanguinitas nachder Abstammungsfolge (secundum lineam generis), während affinitas eine Verbindungnicht nach der Abstammung (qui genere quidem juncti non sunt), sondern durch

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nimmt allein Gerhard Lubich (Das Wortfeld ,Verwandtschaft' im Mittelalter. Kontextuell-semantisches Arbeiten im historischen Feld, in: Sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneutischeSozialforschung 4 [2003], S. 21-36) vor. Zu den deutschen Begriffen vgl. Haubrichs, Wolfgang:Die Erfindung der Enkel. Germanische und deutsche Terminologie der Verwandtschaft und derGenerationen, in: LiLi. Zeitschrift fur Literaturwissenschaft und Linguistik 120 (2000), S. 41-80.Schulze [Anm. 6], S. 10. Mit der neuen westlichen Forschung hat Bernhard Jussen völlig zuRecht darauf aufmerksam gemacht, dass Verwandtschaft sich nicht (mehr) auf die biologischenZusammenhänge (und schon gar nicht auf "Blutsverwandtschaft") beschränkt, sondern über dieVerschwägerung hinaus noch weitere Elemente wie Patenschaften und Adoptionen aufnehmenkann, die mit dem Begriff "künstliche Verwandtschaft" nicht ganz treffend charakterisiert sind.Jussen (Verwandtschaft [Anm. 6], Sp. 1596, und ders.: Perspektiven [Anm. 2], definiert Ver-wandtschaft daher als "ein begriffliches Ordnungssystem zur Definition sozialer Beziehungen,das seine Terminologie aus dem Wortfeld der biologischen Reproduktion bezieht, dessen Bezugzu Zeugung und biologischer Reproduktion aber weder notwendige noch zureichende Bedingungfur Verwandtschaft im sozialwissenschaftliehen Sinn ist". Anita Guerreau-Jalabert (Sur les struc-tures de patente dans I'Europe medievale, in: Annales E.S.C. 36 [1981], S. 1029-1049, hier S.1030) spricht von "parente" als "un ensemble de relations sociales formant systerne". Dennochbleibt die biologische Verwandtschaft das Grundprinzip, an dem sich alles andere orientiert. Diefolgenden Bemerkungen konzentrieren sich auf diesen Bereich.Vg!. dazu Bosl, Kar!: Die familia als Grundstruktur der mittelalterlichen Gesellschaft, in: Zeit-schrift fur bayerische Landesgeschichte 38 (1975), S. 403-424. Ganz eindeutig ist der Sachverhaltaber nicht. Wenn Gregor von Tours (Historiae 4,36, hrsg. v. Bruno Krusch u. Wilhelm Levison[MGH. SS rer. Mer. 1,1]. Hannover 1937, S. 168f.) beispielsweise von Gottes Strafgericht an derganzenfamilia des Bischofs Priscus von Lyon spricht, nennt er konkret nur Frau und Sohn, alsodoch Verwandte. Buchner übersetztfamilia hier mit Haus, im nächsten Satz mit "Dienerschaft".Beides ist möglich, aber keineswegs zwingend.Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christianae fidei 2, 11, 17 (Migne 176), Sp. 518-520.Inzestehen hatte - ebenso wie die Ehen von Verheirateten - bereits die ,Lex Salica' verboten(Pactus legis Salicae [fortan: PLS] § 13, 11f., hrsg. v. Kar! August Eckhardt [MGH. LL nat.Germ. 4,1]. Hannover 1962, S. 62; § 15,1, S. 70).

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Anbindung an ein Geschlecht bewirkt (mediante genere sunt sociati), beispielsweisedurch die Frau des Neffen (letzterer ist blutsverwandt, erstere verschwägert). Bluts-verwandtschaft und Verschwägerung entsprechen in gewissem Sinn einer Unter-scheidung von "agnatisch" und ,,kognatisch". Interessant ist es aber, dass Hugo beideArten von Verwandtschaft gleichermaßen in die Inzestverbote einbezieht, währenddiese sich bei Patenschaften nur auf den Paten und das Patenkind, nicht aber auf derenVerwandte erstrecken.V Ihm (und anderen) geht es offenbar um Verwandtschaftschlechthin und weder um die Geschlechterfolge noch um Agnaten und Kognaten (wassich in diesem Fall allerdings noch aus der Inzestthematik erklären könnte).

Für die Verwandtschaft selbst (als Abstraktum) kennt die mittelalterliche Termino-logie keine unmittelbare, jedenfalls keine geläufige Bntsprechung.F sondern bevorzugtpersonelle Bezeichnungen (nicht "Verwandtschaft", sondern "Verwandte,,).24 Das ent-spricht mittelalterlichem Denken und ist noch leicht nachvollziehbar. Hier aber werden- neben den konkreten Verwandtschaftsbezeichnungen (wie Vater, Mutter, Oheimusw.), auf die ich hier nicht näher eingehe25 - gleich mehrere (allgemeine) lateinischeBegriffe verwendet, die nur schwer voneinander abzugrenzen und ihrerseits oft mehr-deutig sind:

- Patentes" waren im weiteren Sinn die Verwandten schlechthin, im engeren dieEltem," aber auch die Vorfahren. Der Begriffumschließt somit drei verschieden weiteVerwandtschaftskreise.

22 Bonifatius war es in einem Brief an ErzbischofNothelm von Canterbury (ep. 33, hrsg. v. MichaelTangl [MGH. Epp. seI. 1]. Berlin 1916, S. 57f.) noch unverständlich gewesen, weshalb eine Ehemit der Mutter des Patenkindes eine Sünde sein sollte, da hier doch keine leibliche Verwandt-schaft vorliege.Gelegentlich, wie in der ,Lex Salica', begegnet der Begriff parentela (parenti/la); vg!. PLS § 44,11 [Anm. 21], S. 172. Auch consanguinitas oder propinquitas meinen eher die Verwandten alsdie "Verwandtschaft" im Sinne einer sozialen Beziehung, wenngleich letzteres nicht ganz aus-geschlossen ist.Hingegen ist Lubich (Wortfeld .Verwandtschaft' [Anm. 18], S. 33) der Meinung, dasspropinquitas kaumje die Personengruppe, sondern die Relation meint.

25 Es sei zumindest darauf hingewiesen, dass auch nepos neben den gängigen Bedeutungen Enkeloder Neffe allgemein den Verwandten bezeichnet.

26 Aufdiesen Begriffgeht Lubich (Wortfeld ,Verwandtschaft· [Anm. 18]) nicht ein.27 Wenn der Herr des Attalus zur Hochzeit multos parentum suorum einlud (Gregor von Tours 3, 15

[Anm. 20], S. 114f.), dann müssen hier die Verwandten im weiteren Sinn gemeint sein; wennLaster den Hochgeborenen (a magnis natos parentibus) hingegen wenig Ehre einbringen (soBrunos Buch vom Sachsenkrieg 1, hrsg. v. Hans-Eberhard Lohmann [MGH. Dt. MA 2]. Leipzig1937, S. 13), dann sind damit offensichtlich die Eltern (oder die Vorfahren) angesprochen.Eindeutig in diesem Sinn auch Bonifatius, ep. 29 [Anm. 22], S. 53: Ergo unicafilia sum ambobusparentibus meis. Vgl. auch Petrus Damiani, ep. 19 [Anm. 7], Bd. 4, I, S. 185f.: Inter easpersonas, quae parentum liberorumve locum inter se obtinent, nuptiae contrahi non possunt,velut inter patrem etfiliam, aviam et nepotem et usque ad infinitum.

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- Consanguinei sind eigentlich natürlich die Blutsverwandten." der Begriffwird be-zeichnenderweise jedoch nicht ausschließlich agnatisch," sondern nach beiden Seiten(Vater und Mutter) hin verstandenr" So behauptete jemand, consanguineus des Dänen-königs Knut zu sein, nämlich der regia Danorum stirps zu entstammen.l' Der Begriffist insgesamt recht häufig: Blutsverwandtschaft als solche spielte folglich, zumindestterminologisch, eine weit größere Rolle als die (von der modernen Forschung) betonte(und demnach wohl überbetonte) Differenzierung nach "agnatischer" und "kognati-scher" Linie. In diesem Rahmen hebt sich im engeren Kreis die germanitas derGeschwister ab,32während ein Terminus für die Kernfamilie fehlt.

- Umgekehrt sind cognati keineswegs ausschließlich die kognatischen, sondernebenfalls alle Verwandten." In diesem Sinne konnten auch Völker miteinander ver-wandt sein (und sich von äußeren Feinden und Fremden abheben.r"

- Propinquus / propinqui schließlich drückt zunächst aus, dass jemand einem nahestehr'" und meint nur unter anderem auch den Verwandten. So erklärt es sich, wennThietmar von Merseburg den Priester Bemarius in Magdeburg als seinen carnispropinquitate consanguineus bezeichnet" und erst durch diese Erläuterung, "durch

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Vg!. Lubich: Wortfeld .Verwandtschaft' [Anm. 18], S. 30-32.So fälschlich Lubich, ebd., S. 30.Entsprechend bezeichnen die ,Annales regni Francorum' (a. 788, hrsg. v. Friedrich Kurze [MGH.SSrG 6]. Hannover 1895, S. 80) den Bayernherzog Tassilo als consanguineus Karls des Großen,die ,Annales Fuldenses' (a. 883, hrsg. v. Friedrich Kurze [MGH. SSrG 7]. Hannover 1891, S.110) Berengar als consanguineus Arnulfs.Helmold von Bosau: Chronicon 1,49, hrsg. v. Bernhard Schmeidler (MGH. SSrG 32). Hannover1937, S. 97.Vg!. etwa Regino von Prüm: Chronicon a. 866, hrsg. v. Friedrich Kurze (MGH. SSrG 50).Hannover 1890, S. 91, zu Ludwigs des Deutschen Einfall in das Reich seines Bruders Karl:oblitus germanitatis ac consanguinitatis foedera.Wenn WelfVII. sich wegen des Unrechts an "Freunden, Verwandten und Getreuen" rächen will(Historia Welforum 30, hrsg. v. Erich König [Schwäbische Chroniken der Stauferzeit I].Stuttgart! Berlin 1938 [Neudruck Sigmaringen 1978], S. 60), so sind mit den "Verwandten"gewiss nicht nur die Verschwägerten gemeint, und Thegan verfolgt unter der cognatio des Ale-mannenherzogs Gottfried teils die männliche, teils die weibliche Linie (Thegan: Vita Hludowiciimperatoris 2, hrsg. v. Ernst Tremp [MGH. SSrG 64]. Hannover 1995, S. 176).Vg!. Rahewin: Gesta Frederici 3, 47, hrsg. v. Franz-JosefSchmale (FSGA 17). Darmstadt 21974,S. 488: Itaque non ut cognatus populus, non ut domesticus inimicus, sed ve/ut in extern os hostes,in alienigenas, tanta in sese invicem sui gentiles crudelitate seviunt, quanta nee in barbarosdeceret.Propinquus bezeichnet in der Grundbedeutung die Nähe an sich, auch in räumlicher Hinsicht,Dafür ließen sich unzählige Beispiele anführen. Vgl, etwa Gregor von Tours: Historiae 7, 23[Anm. 20], S. 343: in puteum, qui propinquus erat domui eius, proiecti sunt; ebd. 10,48, S. 185:et fluvium, qui propinquus est. Zum komplexen Wortfeld vg!. Lubich: Wortfeld, Verwandtschaft'[Anm. 18], S. 33-35.Thietmar von Merseburg: Chronicon 8, 10, hrsg. v. Robert Holtzmann (MGH. SS rG n.s. 9).Berlin 1935, S. 504.

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fleischliche Nähe blutsverwandt", klärt, dass er an Verwandtschaft denkt.37 WennRudolf von Rheinfelden nach Lampert von Hersfeld der Kaiserin Agnes durch die Ehemit ihrer Tochter (Mathilde) propinquitate verbunden war,38 dann bezieht auch dieserBegriff offensichtlich die Verschwägerung ein (die im übrigen fortdauert, wenn dieFrau, wie hier, bereits verstorben und Rudolf längst wiederverheiratet war).39 Wennvon propinqui parentes (im Sinne von "nahen Verwandten") gesprochen werdenkonnte.t" dann bedeutet diese Differenzierung darüber hinaus, dass nicht nur "die Ver-wandtschaft" schlechthin, sondern, wie die Gesetze bestätigen, auch der Verwandt-schaftsgrad eine Rolle spielte." Die Synonymität der verschiedenen Verwandt-schaftsbegriffe (consanguinitas, propinquitas, parentela) beweist ein Brief JohannesVIII., in dem er sich über den Bruch der Inzestgebote beschwert.V

Man wird aus dem - hier nur skizzierten - terminologischen Befund schließendürfen, dass das Mittelalter bei der Verwandtschaft - anders als bei der "Familie" -zwar mit unseren Begriffen zumindest vergleichbare Vorstellungen entwickelte, dieseaber keineswegs deckungsgleich waren. Begrifflichkeit, deren Konnotationen undKontext müssen bei der Quellenauswertung also stets mitbedacht und mitanalysiertwerden. Die Terminologie zeigt aber auch bereits die gegenüber der modemen For-schung anders gelagerte Perspektive des Mittelalters: Man unterschied zwar zwischen

37 Vg!. auch Bonifatius, ep. 31 [Anm. 22], S. 55: fratri et spiritalis germanitatis propinquitateconexo; Bethmann, Ludwig Conrad: Gesta episcoporum Cameracensium 1, 74 (MGH. SS 7).Stuttgart! Hannover 1846, S. 427: proximae cognition is consanguinitate propinquos.Lampert von Hersfeld: Armales a. 1072, hrsg. v. Oswald Holder-Egger (MGH. SSrG 38).Hannover 1894, S. 137. Von genere propinquos spricht Lampert (a. 1077, S. 286) dann offenbarim Blick auf die Blutsverwandten.Vg!. auch Widukind von Corvey: Res gestae Saxonicae 2, 9, hrsg. v. Paul Hirsch u. Hans-Eber-hard Lohmann (MGH. SSrG 60). Hannover 1935, S. 73: Thankmar, der Sohn Heinrichs I., warmit dem Grafen Siegfried verwandt (propinquus), weil seine Mutter die Tochter von SiegfriedsTante mütterlicherseits (also ebenfalls angeheiratet) war.Vg!. etwa Gregor von Tours: Historiae 2, 42 [Anm. 20], S. 92: Erat autem tune Ragnacharius rexapud Camaracum tam effrenis in luxoria, ut vix vel propinquis quidem parentibus indulgeret.Ebd., S. 93 auch: primi parentes. Donatus (Vita Trudonis confessoris Hasbaniensis 24, hrsg. v.Bruno Krusch [MGH. SS rer. Mer. 6]. Hannover 1913, S. 293) prägt die Wendung consanguinealege sancto patri propinquus, "nach dem Gesetz der Blutsverwandtschaft verwandt" (bzw. engverbunden).Zur Zählung des Verwandtschaftsgrades im Sachsenspiegel (und seiner Traditionen) vg!. Meuten,Ludger: Die Erbfolgeordnung des Sachsenspiegels und des Magdeburger Rechts. Ein Beitrag zurGeschichte des sächsisch-magdeburgischen Rechts (Rechtshistorische Reihe 218). Frankfurt a.M.u. a. 2000.Johannes VIII.: ep. 189, hrsg. v. Erich Caspar (MGH. Epp. 7). Berlin 1912-1928, S. 151:Preterea unum valde illicitum et execrabile malum contra venerabilia sanctorum patrum decretaeosdem vestros parrochianos committere audimus, hoc est, ut nulla generis consanguinitatecustodita, nulla propinquitatis parentela observata unusquisque suam propinquam, in quocumquefuerint gradu, accipiat in uxorem atque incesto et nefario se coniugio copulent, quod licitumfacere Christianis non est, dum usque se generatio cognoverit.

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Blutsverwandtschaft und Verschwägerung, nicht aber zwischen Agnaten und Kognaten,während die mittellateinischen Begriffe sich sämtlich auf beide Gruppen beziehenkonnten und damit eine strenge Trennung relativieren. Mehr noch: Die von der moder-nen Forschung (auch von mir selbst) betonte Trennung zwischen (Kern-) Familie und(weiterer) Verwandtschaft findet im Mittelalter gerade keine begriffliche Entsprechung.Nach dieser Beobachtung ist nun zu klären, ob denn funktionale Unterschiede fest-stellbar sind, welche Rolle also die Verwandtschaft (als Ganzes) in der frühmittel-alterlichen Gesellschaft spielte.

Ill. Funktionen und Leistungen der Verwandtschaft

Dass die Familie im Mittelalter eine Reihe von Funktionen wahrnahm, die in derModeme mehr und mehr vom Staat gewährleistet wurden, ist nicht zu bestreiten. Nichtzufällig bildet die mittelalterliche Familie, auch wenn sie tatsächlich nur ein sozialesSystem neben anderen war,43 das Modell für übergreifende soziale Ordnungen: für denMönchskonvent ebenso wie für den Hörigenverband oder die Bruderschaft, aber auchfür ,,künstliche Verwandtschaften" (Adoptionen und Patenschaften) sowie für poli-tische Bündnisse (wie die ,,Familie der Könige") und den Staat selbst. Die res publica,schreibt Notker Balbulus in seinen ,Gesta Karoli Magni imperatoris', gründet auf zweiFundamenten: aufEhe und Waffengebrauch, ohne die kein Staat bestehen kann." Nachgängiger Ansicht war die Familie ein Rechtsverband und eine Wirtschaftseinheit, sienahm kultisch-religiöse Aufgaben wahr, sorgte für Fortpflanzung sowie Erziehung undAusbildung der Kinder und für Schutz und Versorgung ihrer Mitglieder, war eineWohngemeinschaft (zumindest der Kernfamilie)" und übernahm selbst militärischeFunktionen." Solche Aufgaben wurden nach herrschender Meinung im Verlauf des

43 Das betonen zu Recht Althoff ([Anm. 8], S. 32 [neben "Freunden" und "Getreuen"]) und Jussen(Verwandtschaft [Anm. 6], Sp. 1596 [nur ein Modell neben Vasallität, Staat, Gilden, Uni-versität]).

44 Notker Balbulus: Gesta Karoli 2, 10, hrsg. v. Hans F. Haefele (MGH. SSrG n.s. 129). Berlin21980, S. 66: exceptis eis rebus et negociis, sine quibus res publica terrena non subsistit, coniugio

45videlicet usuque ormorum.Ein Hinweis auf ein Zusammenleben aller Verwandten findet sich bei Landolfus Sagax: Historiamiscella 18, hrsg. v. Hans Droysen (MGH. AA 2). Berlin 1877, S. 373: at vero imperatorGelimeri predia in Galatia multa contulit et amoena et cum omnibus cognatis suis in his habitarepermisit. Vgl. auch RodulfGlaber: Historiae 1,5,21, hrsg. v. Maurice Prou. Paris 1886, S. 20:Nam omnis provintia, quae illorum ditioni subici contingebat, ac si unius consanguinitatis domusvel familia, inviolate fidei concors degebat. Eine Vorstellung von der zusammenwohnendenVerwandtschaft existierte also durchaus.

46 Mitterauer ([Anm. 5], S. 309-354) nennt Kult, Schutz, Arbeit und Erziehung; Schulze ([Anm. 6],S. 13-19) Fortpflanzung, Erziehung, Schutz und Versorgung, wirtschaftliche Funktionen, Kon-trollfunktionen, religiöse Funktionen; Spieß ([Anm. 4], S. 500-531) Erbrecht, Streitschlichtung,

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Mittelalters zum einen durch staatliche Regelungen und die Überlagerung durch andereSozialformen (wie Grundherrschaft, Lehnswesen, geistliche Konvente, Kommunitätenoder Gemeinden) immer mehr eingeschränkt und haben sich zum andern von der Ver-wandtschafts- auf die Haushaltsfamilie verlagert, eine Ansicht, die im folgenden nochzu überprüfen sein wird.47

Dass die Verwandtschaft in der Frühzeit soziale und politische Funktionen innehatte,zeigt sich bereits in den Leges, den sog. Volksrechten, ja lange (und teilweise bis heute)ist man davon ausgegangen, dass die .vorstaatlichen" Strukturen geradezu auf derÜbernahme öffentlicher Aufgaben durch die Verwandtschaftsfamilie, die "Sippe",gründeten und deren Rechte zu öffentlichen Pflichten machten." In der ,Lex Salica'treten in dieser Hinsicht mehrere Faktoren hervor. Das fränkische Erbrecht''" zielte inerster Linie allerdings bereits auf die Kinder ab und berücksichtigte die weitere Ver-wandtschaft erst dann, wenn keine Kinder vorhanden waren. Für diesen - anscheinendkeineswegs mehr eindeutigen - Fall legte die ,Lex Salica' folgende Reihenfolge fest:Eltern, Geschwister, Tante mütterlicherseits, dann väterlicherseits, danach die nächstenVerwandten beider Linien (de illis generationibus, quicumque proximior !uerit).50

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Solidarität, Festgemeinschaft, Vormundschaft, Namengebung, Treue, finanzielle und politischeUnterstützung.Dazu sei auch auf den zweiten Teil dieses Beitrags verwiesen; vg!. Anm. 1.Zur frühfränkischen Familie (und zum folgenden) vg!. Murray [Anm. 7], der die Quellenbelegeallerdings strikt unter der Frage agnatisch oder kognatisch betrachtet und weniger nach denFunktionen fragt. Die Widerspiegelung der rechtlich-sozialen Strukturen der Verwandtschaft inder mittelalterlichen Dichtung betont Dagmar Hüpper: Poesie und Recht aus einem Bette. ZuVerhaltensnormen und Umgangsformen in der mittelalterlichen Familie und Verwandtschaft, in:Friihmittelalterliche Studien 27 (1993), S. 87-123. Im Folgenden gehe ich nicht auf die längst be-handelten Rechtsfragen an sich, sondern nur auf die Beteiligung der Verwandten an den Rechtenund Pflichten ein.Vg!. Murray [Anm. 7], S. 177-215; zur ,Lex Salica' vg!. ebd., S. 119-133; zur Karolingerzeit: LeJan: Familie [Anm. 4], S. 233-242. Zu Testamenten und Erbfolgen, Besitzsicherung undSchenkungen im friihmittelalterlichen Europa vg!. Bougard, Franccis/ La Rocca, Cristinal Le Jan,Regine (Hrsg.): Sauver son firne et se perpetuer. Transmission du patrimoine et memoire au HautMoyen Äge (Collection de I'Ecole Francaise de Rome 351). Rom 2005; zu Testamenten im Fran-kenreich zuletzt Barbier, Josiane: Testaments et pratique testamentaire dans le royaume franc(VIe-VIII" siecle), in : ebd., S. 7-79; zur Quellenkritik: Nonn, Ulrich: Merowingische Testamente.Studien zum Fortleben einer römischen Urkundenform im Frankenreich, in: Archiv fürDiplomatik 18 (1972), S. 1-129.PLS § 59 [Anm. 21], S. 222f. Vg!. dazu Murray [Anm. 7], S. 201-215. Der vieldiskutierte Aus-schluss der Frauen vom Erbe bezog sich tatsächlich nur auf die terra salica (das "Stammland"?).Eine Formel Marculfs (2, 12, zitiert nach Marculfi Formularum, libri duo, hrsg. v. Alt Uddholm.Uppsalal Lund 1962, S. 218; vg!. auch die Edition von Karl Zeumer, MGH. Form., Hannover1882-1886, S. 83) bezeichnet den Ausschluss der Töchter von der terra paterna als diuturna sedimpia inter nus consuetudo und setzt eine Tochter mit den Söhnen als gleichberechtigte Erbin tamde a/ode paterna quam de conparatu vel mancipia aut presidium nostrum vel quodcumquemorientis relinquaeremus ein, da ein Vater alle Kinder gleich liebe. Eine Ergänzung KönigChlothars zur ,Lex Salica' (PLS § 108, S. 262) lässt Töchter und Schwestern als Erbinnen am

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Wenn die Erbfolge in dieser konkreten Reihung auch nur schwer erklärbar ist, so warendie Verwandten jedenfalls nicht nur - in bestimmter Folge - am Erbe beteiligt, sonderndie letzte Formulierung besagt darüber hinaus, dass man eine genaue Vorstellung vonGrad und Reihenfolge der Nähe der Verwandtschaft besaß. Das belegen auch Ur-kundenfonneln, die das übliche Erbrecht voraussetzen und daher mit Vorliebe Beispielefür solche Fälle bieten, die von dieser Norm abwichen. So bevorzugte nach der Formel-sammlung Marculfs ein Erblasser wegen seiner treuen Dienste einen nepos (EnkeloderNeffen) gegenüber dessen Brüdern und seinen eigenen Söhnen."

Entsprechende Vorkehrungen bestätigen sich sinnfällig in den Erbbestimmungenzahlreicher Privaturkunden, wie sie sich vor allem in den Prekariefonneln "verbergen":In den St. Galler Urkunden bleibt das dem Kloster verschenkte Gut gegen eine Zins-zahlung noch lange im "Nutzungseigentum" der Familie, und zwar zumeist: desSchenkers selbst (424mal), danach der Kinder (112mal) oder/ und aller Nachkommenoder Erben (166mal); im einzelnen werden Ehefrau (28mal), Eltern (15mal), Ge-schwister (22mal) und Neffen! Nichten (17mal) genannt.f Als "übliche" Reihenfolgeließe sich daraus die Folge Ehefrau - Kinder/ Enkel- Eltern - Geschwister - Neffen!Nichten - weitere nächste Verwandten herausfiltern. Vorfahren und Seitenverwandtetraten zumeist wohl dann in das Erbe ein, wenn unmittelbare Nachkommen fehlten.Einen ähnlichen Zweck verfolgte ein Rückkaufsrecht an der Schenkung, das derSchenker nicht nur sich, sondern auch seinen Verwandten vorbehielt. 53

Alle diese Erbrechtsbestimmungen lassen in unserem Zusammenhang erkennen, dassdie Kinder zwar (soweit feststellbar: von Anfang an) bevorrechtigt waren, darüberhinaus aber die weitere Verwandtschaft stets berücksichtigt wurde: zum einen, wennkeine Kinder vorhanden waren, zum andern partizipierte sie offenbar aber auch sonstoder machte Kindern oder beschenkten Kirchen immer wieder das Erbe streitig. Daraufweisenjedenfalls die zahlreichen Sanktionsformeln gegenüber den eigenen Verwandtenin kirchlichen Schenkungsurkunden oder Testamenten. Man rechnete offensichtlich mit

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Chlothars zur ,Lex Salica' (PLS § 108, S. 262) lässt Töchter und Schwestern als Erbinnen amLand zu, wenn Söhne bzw. Brüder fehlen oder verstorben sind. Ein Kapitular Childeberts Il, be-teiligt die Enkel gleichberechtigt mit den Kindern, schließt hingegen Neffen und Nichten aus(PLS, Childebert n § I, I, ebd., S. 267).Formulae Marculfi 2, II [Anm. 50], hrsg. v. Uddholm, S. 214f.; hrsg. v. Zeumer, S. 82. •Vgl. dazu Goetz, Hans-Werner: Couturnes d'heritage et structures familiales au Haut Moyen Age,in: Sauver son ärne [Arun. 49], S. 203-237, hier S. 219-231.Beispielsweise das Urkundenbuch der Abtei St. Gallen (Bd. 2, hrsg. v. Hermann Wartma~n.Zürich 1866, Nr. 538, S. 15lf.) sieht den Rückkaufvor für den Schenker selbst (Ruadpert), s~~n~Mutter, dann, si tamen ego legitimum heredem non relinquo, seinen Bruder (Hagano) e~~egltlmlejus heredes, si forte ei procreati fuerint, andernfalls die Schwestern, sofern sie legitim ve~-heiratet sind, und deren legitimi filii und schließlich einen Neffen. Vgl. auch ebd-, Nr. 53 :S. 152f. (Schenker, Söhne, Bruder und dessen Söhne, Töchter, consanguineus Thiothelm, SI

heredem masculum habuerit). Das Erbe sollte hier deutlich in der männlichen Linie gehal~enwerden. Töchter waren nachrangig (und gleichsam als Platzhalter für die Enkel) erbberechtigt.Anders aber ebd., Nr. 571, S. 184, mit ausdrücklicher Erbfolge an die Töchter.

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Widersprüchen der weltlichen Erben, wie sie in der Praxis besonders gegenüberKirchenschenkungen immer wieder bezeugt sind,54 aber ebenso das weltliche Erbebetroffen haben dürften,55 auch wenn es oft heißt: "was ich nicht glauben kann=".Nicht minder bezeichnend ist es, wenn Verwandte (als eigentliche Erben) ihre aus-drückliche Zustimmung zu Kirchenschenkungen gaberr" oder sich sogar daranbeteiligten" oder wenn Erbschaft ausdrücklich mit der Verwandtschaft begründetwird." Bischof Bertuin von Malonne versammelte alle Verwandten (parentes etcognatos omnesque consanguineos) um sich, urn sein Erbe zu verteilen.t'' Das galt imÜbrigen auch für das Reich: Als Konrad I. den Sachsenfürsten Heinrich als Nachfolgerdesignierte, tat er das nach der (späteren) Vorstellung der Chronisten vor Brüdern undVerwandten (cognati).61 Ein Beleg für den verwandtschaftlichen Erbverband ist (nach

S4 Eine Reihe von Konfliktfällen registriert Warren Brown (Unjust Seizure. Conflict, Interest, andAuthority in an Early Medieval Society. Ithacal London 2001), dem es in seiner Arbeit allerdingsum die Konfliktfiihrung an sich und nicht um die Verwandtschaft geht.Vg!. Les transferts patrimoniaux en Europe occidentale, VIne-X·siede. Actes de la table ronde aRome, 6, 7 et 8 mai, in: Melanges de l'Ecole Francalse de Rome. Moyen Age 111 (1999), S. 487-972.Vgl, Marculfi Formulae 2, 11 [Anm. 50], hrsg. v. Uddholm, S. 215f.; hrsg. v. Zeumer S. 83: Siquis vero, quod futurum esse non credo, aliquis de heredibus vel proheredibus meis seu qualibetpersona contra hanc cessionem meam quoque tempore venire aut eam infrangere voluerit, inferattibi cum cogentefisco auri tantum; DB St. Gallen 1 [Anm. 53]. Zürich 1863, Nr. 221, S. 211: Siquis vero, quod fieri non credo, si ego ipse, quod absit, aut ullus de heredibus proheredibusquemeis vel quislibet persona contra hanc convenientie ac traditionis cartulam venire et eaminrumpere conatus fuerit, affectum quem inchoaverit non obtineat et in erarium regis multaconponat, id est auri untias If! et argenti pondere quinque coactus exsolvat.Vgl. die Anwesenheit (und Zustimmung) der coheredes bei einer Schenkung an Freising:Bitterauf, Theodor (Hrsg.): Die Traditionen des Hochstifts Freising. Bd. 1, Nr. 446 (Quellen undErörterungen zur bayerischen Geschichte n.F. 4). München 1905, S. 382, von 821: interconmarcanis et coheredibus meis qui ibidem praesentes fuerunt quando hoc factum fuit; dazuHerlihy [Anm. 9], S. 46. Vgl, zu dieser laudatio parentum im Hochmittelalter: White, StephenD.: Custom, Kinship, and Gifts to Saints. The Laudatio parentum in Western France, 1050-1150(Studies in Legal History). Chapell Hill! London 1988.So errichtete beispielsweise Theudar aus dem Vermögen seiner Eltern und Verwandten einkleines Kloster: Ado: Vita Theudarii abbatis Viennensis 12, hrsg. v. Bruno Krusch (MGH. SS rer.Mer. 3). Hannover 1896, S. 529: atque de facultatibus tam parentum quamque propinquorumsuorum monasteriolum dotatum.Vg!. beispielsweise Historia Welforum, Cont. Hugonis [Anm. 33], S. 94: Quibus in expeditioneHierosolimitana mortuis, idem Welfo propter innatam familiaritatem et consanguinitatis lineampraedictum patrimonium cum omnibus suis pertinentiis Heinrico illustri Romanorum imperatorisub hereditaria possessione contradidit.Levison, Wilhelm (Hrsg.): Vita Bertuini episcopi Maloniensis 4 (MGH. SS rer. Mer. 7). 1919/20,S. 179: Mane autem facto, mox ut aurora daret initium, surrexit pontifex almus maturius solito,accersivit parentes et cognatos atque omnes consanguineos suos et tradidit il/is hereditatemsuam, monasteria scilicet etpraedia. et divisit illis unicuique, prout voluit.So Adalbert von Magdeburg (Continuator Reginonis) a. 919, hrsg. v. Friedrich Kurze (MGH.SSrG 50). Hannover 1890, S. 156, vocatis ad se fratribus et cognatis suis, maioribus scilicet

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fränkischem Recht) zudem das gemeinsame Erbe aller Brüder - häufig ist von derconsortio fratrum die Rede62 -, das eine genaue Erbteilung freilich nicht ausschließt.f

Die Verwandten wurden darüber hinaus für Verfehlungen und Schulden ihrer Mit-glieder haftbar gemacht. Der Hausmeier Karl verbannte den Bischof Eucherius vonOrleans cum omni propinquitate eius und konfiszierte alle Würden.64 Der Langobarden-könig Aripert, so Paulus Diaconus, blendete nicht nur Sigiprand (den Sohn des Vor-gängers Ansprand), sondern verfolgte auch alle seine Verwandten.f und Ludwig derDeutsche verwies nicht nur den aufständischen Ernst, sondern auch seine nepotes ausseinem Reich." Traf man zwecks gerichtlicher Ladung den Belangten nicht an, sowandte man sich nach fränkischem Recht an die Ehefrau oder quem cumque de familiaillius.61

Interessant an der ,Lex SaIica' sind auch die detaillierten Bestimmungen zur Wieder-heirat:68 Sie war nämlich erst nach Vorsprache vor dem Gericht und nach Nachweis derZahlungsfähigkeit des neuen Ehemannes durch symbolisches Vorzeigen von drei Schil-lingen und einem Denar und Zahlung dieser Summe an die (bzw. einen bestimmten)

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Franeorum. Vgl, Thietrnar von Merseburg: Chronicon 1, 8 [Anm. 36], S. 12: cum residuaconsanguineorum acfamiliarium caterva. Nach Widukind von Corvey (Res gestae Saxonicae 1,25 [Anm. 39], S. 37f.) riefKonrad hingegen nur seinen Bruder Eberhard zu sich.Vgl. Marculfi Formulae 2, 11 [Anm. 50], hrsg. v. Uddholm, S. 214; hrsg. v. Zeumer, S. 82f.:absque consorcio fratrorum tuorum velfiliis meis [... ] vel quicquid exinde facire volueris, absqueconsorcio fratrum tuorum vel filiorum meorum liberam in omnibus habeas potestatem. Vonportio sprechen viele St. Galler Urkunden; vgl, Goetz: Couturnes d'heritage [Anm. 52], S. 220f.Die ,Lex Salica' lässt diesen Modus offen, doch Urkundenformeln und Schenkungsurkundenbestätigen ihn zur Genüge. Eine andere Formel bei Marculf (2, 14 [Anm. 50], hrsg. v. Uddholm,S. 222; hrsg. v. Zeumer, S. 84) bezeichnet die Aufteilung des väterlichen Allods unter Ver-wandten als freiwilligen, nicht als rechtlich festgelegten Vorgang: Quicquid enim interpropinquos de alode parentum, non a iudiciaria potestate quoacti sed sponte. manente caritate,iusti debita unicuique porcio terminatur, non de rebus detrimentum sed augmentum pocius potestesse censendum.Levison, Wilhelm (Hrsg.): Vita Eucherii episcopi Aurelianensis 7 (MGH. SS rer. Mer. 7).1919/20, S. 49.Paulus Diaconus: Historia Langobardorum 6, 22, hrsg. v. Ludwig Bethmann u. Georg Waitz(MGH. SS rer. Lang. 1). Hannover 1878, S. 172: Rex igitur Aripert, confirmato regno. Sigi-prandum, Ansprandi filium, oculis privavit omnesque qui ei consanguinitate iuncti fuerantdiversis modis afflixit.So Grat, Felix/ Vielliard, Jeanne/ Clemencet, Suzanne (Hrsg.): Annales Bertiniani a. 861. Paris1964, S. 85: Hlodouuicus socerum Karlomanni filii sui Arnustum honoribus priuat et nepotesipsius a regno suo expellit. Vgl, ebd., a. 865, S. 125, zur Entkleidung der Verwandten vonÄmtern: Inde ad Rofiacum uillam ueniens, Adalardo, cui custodiam contra Nortmannoscommiserat, sed et suis propinquis Hugoni et Berengario, quia nihil utilitatis contra Nortmannosegerant, conlatos honores tollit et per diuersos eosdem honores disponit. Ähnlich ging es denVerwandten (Bruder und Vetter) des aufständischen Grafen Bernbard von Septimanien(Astronomus: Vita Hludowici imperatoris 45, hrsg. v. Tremp [Anm. 33], S. 460).PLS § 1,3 [Anm. 21], S. 19.PLS §§ 79 und 100f., S. 250 und 256.

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Verwandten69 sowie nach symbolischer Auflösung des Hausstandes erlaubt: Manmusste Bank, Bett und Bettdecke herrichten und den Verwandten vor neun Zeugenvorzeigen und zurücklassen, um vor ihnen Frieden zu haben (ut pacem habeamparentum). Beide Eheleute heirateten folglichjeweils in einem Maße in die Familie desPartners ein, dass sie - auch nach dessen Tod - zu dessen Verwandtschaft zählten, diebei einer Wiederheirat "entschädigt" werden musste, ein weiteres Indiz für die regel-rechte "Verschmelzung" mit den Kognaten. (Auch das resultierte sicherlich aus Erb-fragen, zumal die Zahlung jeweils an einen bestimmten Verwandten erfolgte.) Ent-sprechend wurde auch ein Eheversprechen sowohl den eigenen wie den Verwandten(bzw. Eltern: parentibus) der Braut geleistet.I'' und die Brautgabe kam vom Vater odervon der Verwandtschaft (parentilla).71

Erkennbar, wenngleich strittig, ist schließlich die Rolle der Verwandtschaft bei derBlutrache, die in der ,Lex Salica' zwar nicht unmittelbar, wohl aber - damit eng ver-bunden - bei der Wergeldzahlung erwähnt wird: Danach stand das Wergeld (alsKompensation für den Verzicht auf Blutrache) beim Tod eines Familienvaters zurHälfte den Söhnen, zur anderen Hälfte den nächsten Verwandten (parentes, quiproximiores sunt), und zwar (wiederum) von väterlicher wie von mütterlicher Seite,zu.72 Erneut zeigt die Beteiligung der Verwandten beider Linien an der Entschädigungan, dass nicht nur die Kinder betroffen waren und dass die Verwandtschaft der Ehefrausich durch den Todesfall ebenso beeinträchtigt fühlte wie die eigene und in den Friedeneingeschlossen werden musste, damit sie nicht ihrerseits eigenständig Rachemaß-nahmen ergriff. Folgerichtig hafteten die Verwandten - und zwar gestuft nach der Nähe

69 Nach PLS § 44, 6-11, S. 170-172, waren das der älteste Neffe (Sohn der Schwester), der ältesteSohn der Nichte, der Sohn der Nichte mütterlicherseits (consobrine filius), der Mutterbruder(avunculus, frater matris), der Bruder und schließlich der nächste Verwandte (bis zum 6. Glied).Auffälligerweise kommen die nächsten Verwandten zuletzt. Vg!. dazu Murray [Anm. 7], S. 163-175. Nach der jüngeren Fassung (PLS §§ 1001101)wurden - unbeschadet des gesetzlichen Frei-kaufs (achasium) vor dem Richter - die Verwandten des Mannes nur einbezogen, falls aus derEhe Kinder hervorgegangen waren, und zwar jetzt in der Reihenfolge der nächsten Verwandten:Eltern, ältester Bruder, Neffe (Sohn des älteren Bruders). Waren keine Kinder vorhanden, so fieldie Geldzahlung an den Fiskus. Die Höhe der Zahlung richtete sichjetzt nach der Ehegabe (dos).Nach der Zeremonie durfte die Frau zwei Drittel ihrer ersten Ehegabe in die zweite Ehe mit-nehmen. Wollte der Mann wieder heiraten, so durfte er die Ehegabe der ersten Frau nicht an-tasten, sondern musste sie als Erbe der Kinder verwahren. Waren keine Kinder vorhanden, soerhielten die Verwandten der Frau zwei Drittel der Ehegabe zurück und mussten ihrerseits dasMobiliar symbolisch zurücklassen, also damit den Mann vom früheren Hausstand lösen. Aus-führlich zur Ehegabe im frühen Mittelalter: Bougard, Franccis/ Feller, Laurentl Le Jan, Regine(Hrsg.): Dots et douaires dans le haut Moyen Age (Collection de l'E-cole Francalse de Rome 295).Rom2002.

70 PLS § 65a [Anm. 21], S. 234.PLS § 67, S. 238.

72 PLS § 62, 1, S. 227f. Nach PLS § 68, S. 239, erhielten die Söhne die Hälfte, die Mutter einViertel und die parentes propinqui,jeweils drei von väterlicher und mütterlicher Seite, zusammenein Viertel des Wergeldes.

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der Verwandtschaft - auch für die Wergeldzahlung. Das belegt der so genannte "Erd-wurf":73 Wennjemand das Wergeld nicht bezahlen konnte, musste er Erde aus den vierEcken seines Hauses auf den nächsten Verwandten (proximiorem parentem) werfen(der dann offensichtlich dafür aufkommen sollte). Wenn Vater, Mutter und Brüdergezahlt hatten, mussten - erneut - die nächsten drei Verwandten sowohl de generationematris wie de generatione patris (qui proximiores sunt) jeweils die Hälfte zahlen.Wenn man sich darüber hinaus auf symbolische Weise von der Verwandtschaft(parentilla) loslösen konnte - man musste dazu im Thing vier Erlenstücke in die vierEcken werfen" -, um auf diese Weise zwar das Erbe zu verlieren, aber auch denBußzahlungen (compositio) zu entgehen, dann bestätigt auch diese Bestimmung dieprinzipielle Bußpflicht aller Verwandten, die ganz offensichtlich Funktionen für dieFamilie übernahmen, in der ,Lex Salica' allerdings kaum als Einheit auftraten, sondernjeweils konkret benannt wurden.

Das Recht auf Vergeltung geht eindeutig aus verschiedenen, bei Gregor von Toursberichteten Episoden hervor. Da Beretrudes Schwiegersohn dem Hausmeier WaddoPferde gestohlen hatte, wollte dieser sich rächen, indem er sich eines Hofs bemächtigte,den Beretrude ihrer Tochter hinterlassen hatte. Er tötete den Verwalter (actor) undwurde daraufhin selbst von dessen Sohn umgebracht. 75 Das Beispiel belegt eine"Kettenreaktion" der Rachehandlungen und zeigt zudem, dass nicht nur der Ver-ursacher, sondern auch dessen Verwandtschaft in die "Wiedergutmachung" einbezogenwurde. In einem anderen Fall deutet Gregor die Blutrache der Verwandten sogar alsgerechtes Gottesurteil." Berühmt und aus rechtshistorischer Sicht vielfach behandelt ist

73 PLS § 58, S. 218-221. Vgl. dazu Murray [Anm. 7], S. 144-149; Kaufmann, Ekkehard: Art.Chrenecruda, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 1 (1971), Sp. 611-613;Schmidt-Wiegand, Ruth: Chrenecruda, Rechtswort und Formalakt der Merowingerzeit, in: Hans-WolfThümmel (Hrsg.): Arbeiten zur Rechtsgeschichte. Festschrift für GustafKlemens Schmelz-eisen (Karlsruher Kulturwissenschaftliche Arbeiten 2). Stuttgart 1980, S. 252-273 (abgedr. in:Hüpper, Dagmar/ Schott, Clausdieter [Hrsg.]: Stammesrecht und Volkssprache. AusgewählteAufsätze zu den Leges barbarorum. Weinheim 1991, S. 481-502).PLS § 60, S. 225. Vg!. dazu Murray [Anm. 7], S. 150-155.Gregor von Tours: Historiae 9, 35 [Anm. 20], S. 455f.Ebd., 5, 5, S. 201f., zur Rache der Verwandten eines Ermordeten an einem Mann (dem SohnSilvesters), der zuvor Gregors eigenen Bruder umgebracht hatte: Cuius parentes condolentespropinqui exitum, commota seditione, extractis gladiis, eum in frustra concidunt membratimquedispergunt. Tale iusto iudicio Dei exitum miser accepit, ut, qui propinquum innocentem interime-rat, ipse nocens diutius non maneret. Ebd., 3, 7, S. 103f., nutzte König Theuderich solche Vor-stellungen politisch und wendete sie gegen äußere Feinde, wenn er die Franken zum Krieg gegendie Thüringer damit zu animieren suchte, dass er an die Schmach erinnerte, die jene ihren Ver-wandten zugefügt hatten: Convocatis igitur Francis, dicit ad eos: .Indignamini, quaeso, tammeam iniuriam quam interitum parentum vestrorum, ac recolite, Thoringus quondam superparentes nostros violenter advenisse ac multa illis intulisse mala. Qui, datis obsidibus pacem cumhis inire voluerunt, sed ille obsedes ipsus diversis mortibus peremerunt et inruentes superparentes nostros, omnem substantiam abstu/lerunt, pueros per nervos femorum ad arbores ap-pendentes, puellas amplius ducentas crudeli nece interfecerunt, ita ut, legalis brachiis super

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ferner die Sichar-Episode.Ü Sichar, ein Bürger von Tours, lud zum Weihnachtsfest(585) im nahen Dorf Manthelan ein. Als einer der Eingeladenen den Boten (einenDiener des Priesters) erschlug, kam es zu einer bewaffneten Auseinandersetzungzwischen den Leuten Sichars und Austregisels. Das Gericht (in iudicio civium) ver-urteilte Austregisel." Sichar aber überfiel nachts das Haus Aunos (wo die ihm ent-wendeten Sachen deponiert worden waren), tötete Auno sowie dessen Sohn und Bruderund raubte deren Gut. Gregor von Tours mahnte daraufhin die Parteien, Frieden zuhalten, und bot seinerseits Geld an, doch Aunos Sohn Chramnesind wies das zurück,um lieber den Tod von Vater, Bruder und Oheim zu sühnen. Auf die (falsche) Nach-richt von Sichars Tod hin drang er mit seinen - hier wiederum beteiligten -Verwandten und Freunden (commonitis parentibus et amicis) in Sichars Haus und indie Gehöfte seines Gutes ein und trieb Gut und Viehherden davon. Erneut trat dasGericht zusammen und bestimmte, dass Chramnesind wegen dieses gesetzeswidrigenVorgehens die Hälfte der (früher zuerkannten, aber abgelehnten) Buße (compositio)verlieren und diese nun Sichar zufallen sollte. (Gregor betont an dieser Stelle, dassdiese Regelung gegen das Gesetz getroffen wurde, um den Frieden zu retten.) Dasschien dieses Mal zu funktionieren, denn Sichar und Chramnesind schlossen bald eineinnige Freundschaft. Zwei Jahre später aber provozierte Sichar den Freund bei einemGelage, indem er dessen Reichtum der Bußzahlung zuschrieb, die er dem Mord anseinen Verwandten verdanke, und zwang ihn damit zur Rache und zur Verteidigungseiner Ehre: "Wenn ich den Tod meiner Verwandten nicht räche, so verdiene ich fortannicht, ein Mann zu heißen; ein schwaches Weib muss man mich dann nennen," sosprach Chramnesind zu sich selbst und tötete Sichar. Der konkrete Vorfall zeigt dieEinbeziehung der Verwandten in die Blutrache (bzw. eher die Sühnung durch Fehde),gegen die die Gerichtsgewalten trotz aller Anstrengungen letztlich machtlos waren. Wiegefährlich aber auch Chramnesinds Tat trotz ihrer Rechtlichkeit war, zeigt die Tatsache,dass er sich sofort König Childebert unterstellte, um sein Leben bat und sich mit seinemRechtsanspruch auf Sühnung rechtfertigte: "Ich habe nur diejenigen erschlagen, diemeine Verwandten heimlich getötet und alle meine Habe mitgenommen haben."Offenbar war die Blutrache zwar ein Recht, blieb ihrerseits aber nicht ungesühnt. Dadie Königin Brunichilde ihm die Tat verübelte, floh Chramnesind zu seinen Verwan-dten in das Reich Guntchrams, und auch Sichars Frau hatte sich nach der Ermordung

equorum cervicibus, ipsique acerrimo moti stimulo per diversa petentes, divers is in partebusfeminas diviserunt',

77 Ebd., 7, 47, S. 366ff.; 9, 19, S. 432ff. Dazu zuletzt Meyer, Christoph: Freunde, Feinde, Fehde:Funktionen kollektiver Gewalt im Frühmittelalter, in: Jürgen Weitze1 (Hrsg.): HoheitlichesStrafen in der Spätantike und im frühen Mittelalter (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in derGesellschaft Alteuropas 7). Köln! Weimar/ Wien 2002, S. 211-266.Von einer Bußzahlung, wie Buchner übersetzt, spricht Gregor ebenso wenig explizit (vielmehr:censura legali) wie von einem "Friedensbruch" (vielmehr: mota sedition e). Erst später ist voncompositio und pratium, quod ei fuerat iudicatum die Rede, doch bezieht sich das aufChramnesind.

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ihres Mannes zu ihrer Familie zurückgezogen. Dieses Vorgehen belegt zugleich dieSchutzfunktion der Verwandten, die ihre Mitglieder im Notfall "auffingen". Alle ihreVerwandten, so klagte später die Äbtissin Eangyth bei Bonifatius, seien verstorben undes gäbe niemanden mehr, dessen sie so dringend bedurfte (außer einer Tochter, einerSchwester, einer alten Mutter und einem Neffen ...).79 Daher brauche sie nun einentreuen Freund.

Wie die Verwandtschaft ihre Angehörigen schützte, so übte sie ihrerseits auch eineArt Kontrollfunktion über ihre eigenen Mitglieder (und deren Wohlergehen) aus:Gregor berichtet von der Beziehung eines Priesters in Le Mans zu einer Frau aus vor-nehmem Hause, deren Verwandte (propinqui) Rache für die Demütigung ihresGeschlechts übten (ad ulciscendum humilitatis generis sui), indem sie den Priester ge-fangen nahmen und dann zum Freikauf anboten - er wurde von seinem Bischof losge-kauft -, die Frau aber (das eigene Familienmitglied) verbrannten. Als der Priester späterrückfällig wurde und ein neues Verhältnis mit einer anderen Frau einging, konnte er vorderen Verwandten, die offenbar Ähnliches planten, erneut nur durch den Bischof ge-rettet werden/" Gregor erschien es somit durchaus üblich, dass Verwandte Selbstjustizan den eigenen Familienmitgliedern (und zugleich Rache an den Verantwortlichen)übten," auch wenn es sich hier um einen Extremfall handelte. In den langwierigenStreit um Berthefledas Scheidung - sie sollte das Kloster ihrer Mutter übernehmen unddaher ihren Mann verlassen; dabei unterstützte sie ihr Bruder, Bischof Bertharnn vonBordeaux - mischte sich schließlich König Guntchrarnn mit den Worten ein: "Sie istmeine Verwandte. Wenn sie Böses im Hause ihres Mannes verübt hat, so werde ich esrächen. Ist das aber nicht der Fall, warum wird dann dem Manne alle mögliche

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Bonifatius, ep. 14 [Anm. 22], S. 23: Additur his omnibus miseriis amtssto amicorum etcontribulium. caterva propinquorum et consanguineorum turba. Non habemus filium nequefratrem, patrem aut patruum, nisi tantum unicam filiam penitus destitutam omnibus caris in hocsaeculo, preter unam tantum sororem eius et matrem valde vetulam et filium fratris earum, etilium va/de infelicem propter ipsius mentis statum et quia rex noster eius gentem mu/tum exosamhabet. Et nul/us est alius, qui noster sit necessarius. Vgl. ders., ep. 147, ebd., S. 284: Ego enimsola derelicta et destituta auxilio propinquorum. Vg!. später Petrus Damiani: ep. 132 [Anm. 7],Bd. 4, 3, S. 439: tu michi licet non sit filius, a mea tamen cura non merito iudicaris extraneus, cuigermana videris affinitate propinquus.Gregor von Tours: Historiae 6, 36 [Anm. 20], S. 306f. Es ist auffällig, dass Gregor hier undanderwärts die hohe Herkunft als Grund für das Eingreifen der Verwandten angab (Erat enimmulier ingenua genera et de bonis orta parentibus). So berief sich auch die KönigstochterChrodechilde, die im RadegundkIoster in Poitiers einen Nonnenaufstand gegen die Äbtissin an-zettelte, mehrfach auf den Schutz ihrer königlichen Verwandten: ebd., 9, 39, S. 460: ipsa quoquequasi de parentibus confisa regibus; [...] ,Vado ad parentes meos regis, ut eis contumeliamnostram innotiscere valeam '; ebd., S. 463: ,Numquam nos ulla retinebit mora, nisi ad reges, quosparentes nostros esse novimus, accedamus'; ebd., 10, 15, S. 503: ,Nolite super me, quaeso, viminferre, quae sum regina, filia regis regis alterius consubrina. 'Vg!. auch ebd., 6,17, S. 286f.: Die Verwandten rächten den Tod des Priscus.81

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Schmach angetan und ihm die Frau genommen?,,82 Zwar sprach aus Gunthchramn diekönigliche Autorität (und höchste richterliche Instanz), sein Handeln aber resultiertedemnach aus den verwandtschaftlichen Bindungen.

Nicht minder fühlten sich die Verwandten zum Schutz ihrer (schutzbedürftigen)Mitglieder (wie der Frauen) verpflichtet, auch nachdem die Frau in eine neue Familieeingeheiratet hatte. So berichtet Gregor von einem Streit unter den Franken in Tournai(dem Kernsitz Chlodwigs), weil ein Mann seinen Schwager zur Rechenschaft zog undihm Vernachlässigung seiner Schwester (der Ehefrau des Beklagten) zugunsten vonDirnen vorwarf und ihn, als das nichts half, umbrachte. Daraufhin wurde er selbst vonden Leuten seines Schwagers getötet, und es entstand ein allgemeines Blutgemetzel.Als sich anschließend die Väter befehdeten, griff die Königin Fredegunde ein, lud diedrei Fehdeführer zu einem Versöhnungsmahl und ließ hier kurzerhand alle drei um-bringen. Fredegunde konnte der Fehde nicht Einhalt gebieten, sondern nur Friedenvermitteln (oder ihrerseits Gewalt anwenden). Für Gregors Wertung spielte zweifellossein grenzenloser Hass auf Fredegunde eine Rolle. Das Schutz- und Racherecht derVerwandten wird in dieser Geschichte aber deutlich herausgestellt. Dabei ist es nichtminder bezeichnend, dass die Verwandten (parentes) der Ermordeten anschließend dieKönigin verfolgten und sie bei König Childebert anklagten.P In Paris wandten sich dieVerwandten eines Ehemannes an den Vater seiner Frau, weil diese eine außerehelicheBeziehung hatte, mit den Worten: "Entweder beweise, dass deine Tochter sich [zurEhe] eignet (idoneus), oder sie muss sterben, auf dass nicht ihr Ehebruch Schandebringe über unser Geschlecht." Der Vater beeidete daraufhin am Grab des heiligenDionysius die Unschuld seiner Tochter. Dabei kam es dennoch zu einem Hand-gemenge, bei dem viele umkamen und das Kirchengebäude entehrt wurde. Die Be-teiligten wurden daher sämtlich exkommuniziert und erst nach einer Sühne wieder indie Kirchengemeinschaft aufgenommen. Die Frau aber erhängte sich.84

In der Merowingerzeit übte die Verwandtschaft folglich (noch) vielfältige Funktio-nen aus. Dass diese in der Folgezeit nun keineswegs verloren gingen, mögen einigewenige Episoden der Fehdeführung exemplarisch belegen. So soll die GemahlinTassilos Ill. den Bayernherzog zum Aufstand bewogen haben, um die Verbannungihres Vaters Desiderius zu rächen.85 Otto I.wollte es nach Widukind nicht dulden, dassdie Ungarn nicht nur seine Burgen überfielen, sondern sich auch am Blut seiner Ver-wandten sättigten.f" Obwohl Ottos Sohn Thangmar, so Thietrnar von Merseburg, beieinem Aufstand gegen den eigenen Vater getötet wurde, rächte dieser seinen Tod,indem er später seinen Mörder gleichfalls mit dem Tod bestrafte.V Auch der König war

82 Ebd., 9, 33, S. 451-454.83 Ebd., 10,27, S. 519f.84 Ebd., 5, 32, S. 237.85 Einhard: Vita Karoli 11, hrsg. v. Oswald Holder-Egger (MGH. SSrG 25). Hannover 1911, S. 14.86 Widukind von Corvey: Res gestae Saxonicae 3, 32 [Anm. 39], S. 118.87 Thietmar von Merseburg: Chronicon 2, 2 [Anm. 36], S. 40.

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von solchen Racheakten nicht ausgenommen. Nach Lampert von Hersfeld mahnten dieFürsten Heinrich IV. vor einer Ehescheidung von Bertha von Turin, weil das derenVerwandten (parentes) einen Grund zu Abfall und berechtigtem Aufstand gebenwürde.88 Noch in Gisleberts Chronik der Grafen vom Hennegau aus dem 12. Jahr-hundert brach der Herzog von Löwen mit seinem Oheim, dem Herzog von Limburg,und vielen Grafen und Verwandten in die Ländereien des Grafen von Hochstaden ein"und verwüstete das ganze Land zur Rächung seines Brudersv'", Die Schutz- und Ver-geltungsfunktion der Verwandten blieb (mindestens) bis in das 12. Jahrhundert hineinerhalten.

Verwandte standen gleichermaßen einander bei. Thietmars eigene Verwandte be-teiligten sich an der Lösegeldzahlung für seine Oheime, die in Gefangenschaft derWikinger geraten waren: ,,Meine Mutter gab, schmerzliehst erschüttert, für die Be-freiung ihrer Brüder alles, was sie besaß oder irgendwie aufbringen konnte." Söhne undandere Verwandte stellten sich als Geiseln, bis die Restsumme aufgebracht war. DaThietmars Oheim Siegfried keinen Sohn hatte, wollte Thietmars Mutter ihren gleich-namigen Sohn als Geisel stellen, der als Mönch im Kloster Berge lebte. Als der Abt dasablehnte, wurde Thietmar selbst ausersehen, doch bevor es zum Austausch kam, konnteSiegfried entfliehen.f" Die Geschichte macht aber deutlich, wie sehr die Familie zu-sammenhielt, um ihre Mitglieder zu befreien." Die Verwandten wurden zur Rechen-schaft gezogen, wie sie ihrerseits füreinander eintraten. Ganz offensichtlich ging man(aufbeiden Seiten) von einem Zusammenhalt aus.92

IV. Fazit

"Verwandtschaft" ist ein komplexes Thema, zu dem sich noch vieles anfügen ließe. Diehier angestellten Beobachtungen und im Folgenden zusammengefassten Ergebnissetragen daher durchaus noch vorläufigen Charakter.

88 Lampert von Hersfeld: Armales a. 1069 [Anm. 38], S. 110: ne parentibus reginae causamdefectionis et iustam turbandae rei publicae occasionem daret.Gislebert von Mons: Chronicon Hanoniense a. 1192, c. 195, hrsg. v. Leon Vanderkindere, in: Lachronique de Gislebert de Mons (Commission royale d'histoire. Recueil de textes pour servir äI'etude de l'histoire de Belgique). BTÜsse11951,S. 282f.: Post natale vero Domini dux Lovanien-sis cum duce de Lemborch, avunculo suo, et multis hominibus tam comitibus quam consanguineissuis terram comitis de Hostada invasit, et omnia castra sua, excepto Ara castro fortissimo, eiabstulit et totam terram in vindictamfratris sui devastavit.

90 Ebd. 4, 23-25, S. 158/160.Vgl. auch Annales regni Franeorum a. 826 [Anm. 30] S. 171: Der Sorbenfiirst Tunglo stellteseinen Sohn als Geisel. Vom Freikauf durch parentes berichtet auch Gregor von Tours: Historiae3,13 [Anm. 20], S. 109.

92 Zu diesem Aspekt sei auf den zweiten Teil des Beitrags verwiesen; vgl. Anm. 1.

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1. Zunächst sollte deutlich geworden sein, dass das Thema noch manche Forschungs-probleme birgt, die vor allem noch interdisziplinär zu durchdringen wären, und dasssich der Blickwinkel fruchtbar erweitert, wenn das Augenmerk nicht nur (wie bisher)der "Familie", sondern auch der "Verwandtschaft" gilt.

2. Diese Sichtweise entspricht zudem der mittelalterlichen Perspektive, die keinenBegriff für die Familie, aber gleich mehrere Termini für die Verwandten kannte: Termi-nologisch und inhaltlich richtete sich der Blick frühmittelalterlicher Autoren nicht aufdie Familie, sondern auf die Verwandtschaft. Rechtsquellen und Geschichtsschreibungzeichnen dabei ein vergleichbares Bild.

3. Die Autoren des früheren Mittelalters - und das war meine Perspektive -schrieben der Verwandtschaft im gesamten Zeitraum wichtige Funktionen zu: Ver-wandte machten Erbrechte geltend, sollten einander beistehen und fordern, kontrol-lierten das Verhalten der eigenen Familienmitglieder und sühnten Übergriffe von außen(einschließlich des Königs).

4. Solche Funktionen engten sich - gegen den Forschungsstand - keineswegs zu-nehmend auf die Kern- oder auf die Haushaltsfamilie ein, sondern griffen durchwegdarüber hinaus, auch wenn den direkten Nachkommen eine bevorrechtige Position imErbrecht zukam. Von einer abnehmenden Bedeutung der Verwandtschaft kann aus zeit-genössischer Sicht jedenfalls keine Rede sein. Vielmehr ist deren Rolle im Rahmenanderer "Systeme" noch genauer zu untersuchen.

5. Feste Grenzen, bis zu welchen Graden ein Verwandtschaftsbewusstsein reichte,lassen sich nicht ausmachen (das entschied sich von Fall zu Fall), doch spielte die Näheder Verwandtschaft, die immer wieder betont wird, durchaus eine Rolle im Bewusstseinder Menschen. Rechtliche und soziale Pflichten lasteten auch nicht auf der Verwandt-schaft schlechthin, sondern - nach einer mehr oder weniger festen Reihenfolge -jeweils aufbestimmten Verwandten.

6. Die modernen Streitfragen interessierten die mittelalterlichen Autoren hingegenkaum. Sie zielen damit letztlich an den mittelalterlichen Perspektiven vorbei. Bei allerBedeutung der Kernfamilie (und ich selbst habe eine solche mehrfach betont) kon-struierten die Zeitgenossen hier weder eine terminologische noch eine funktionale (undletztlich auch keine klare personelle) Grenze: Begriffiichkeit, Familienbewusstsein undgemeinsame Tätigkeiten schlossen vielmehr stets einen weiteren Verwandtenkreis ein.

7. Noch viel weniger machte man einen Unterschied zwischen dem (vieldiskutierten)agnatischen oder kognatischen Familienbewusstsein. Zwar wurde begrifflich zwischenBlutsverwandtschaft und Schwägerschaft unterschieden, doch wie letztere schon in dernächsten Generation zu Blutsverwandten wurden, so haben auch diese Unterschiedeoffenbar kaum Auswirkungen auf Funktionen und (erwartetes und tatsächliches) Ver-halten gezeigt. Vielmehr waren die Kognaten aus mittelalterlicher Perspektive im Erb-,Ehe-, Wiederheirats- und Fehderecht in dieselben Funktionen und dieselben Verwandt-schaftsbande einbezogen, ja sie verschmolzen hier begrifflich wie funktional geradezu

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mit den Blutsverwandten. Das erklärt zugleich die - zumindest beim Adel erkennbareund gut untersuchte - bewusste Ehepolitik.

8. Insgesamt wird man die Rolle der Verwandtschaft im frühen Mittelalter dahervielleicht nicht überschätzen dürfen (wie in der überholten Vorstellung "germanischerSippen"), doch sollte man sie ebenso wenig unterbewerten: In der Vorstellungswelt desfrühen Mittelalters war (und blieb) sie von großer Bedeutung. Diese mittelalterlichePerspektive sollte aber auch zur Überprüfung heutiger Forschungsdiskussionen an-regen.

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