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Versprochene Töchter? Noch einmal zur Ehefrau als Erbtochter im Gesetz von Gortyn

Date post: 09-Dec-2016
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Versprochene Töchter? Noch einmal zur Ehefrau als Erbtochter im Gesetz von Gortyn „Wird eine Frau Erbtochter," so heißt es im großen Gesetz von Gortyn, col. 8, 20-30, „die (bereits) von ihrem Vater oder Bruder vergeben wurde, und will derje- nige, dem sie sie gaben, verehelicht bleiben (oder: verehelicht werden [seil, mit der genannten Erbtochter]) 1 ), sie aber nicht, und hat sie schon Kinder zur Welt gebracht, dann erhält sie den genannten Teil vom Vermögen und ehelicht einen anderen Mann aus der Phyle. Gibt es aber keine Kinder, dann gehört ihr das ganze Vermögen, und sie ehelicht den Nächstberechtigten, wenn es einen gibt; gibt es indessen keinen, wie (in col. 8, 8-12) vorgeschrieben" 2 ). Nach beinahe einhelliger Auffassung der älteren Forschung 3 ) enthielten diese Be- stimmungen - genauer: die Bestimmungen des letzten Satzes - ein Scheidungsgebot. Getroffen habe es die Ehefrau, die, schon früher vom Vater oder von einem Bruder ver- ehelicht, kinderlos geblieben und dann zur Erbtochter geworden sei : Sie habe den Nächstberechtigten heiraten 4 ) und sich zu diesem Zweck von ihrem bisherigen Manne scheiden lassen müssen 5 ). So etwa Zitelmann : „Es sind keine Kinder da. Dann tritt das Recht des nächsten Verwandten in Kraft, als wenn sie noch ledig wäre .. ," 6 ). In der neueren Forschung hat dieses angebliche Scheidungsgebot mehrfach Anstoß erregt. Und tatsächlich scheint es so, als habe man die Scheidungspflicht der kinder- losen Erbtochter (im Gegensatz zu der Erbtochter, die bereits Mutter war) nicht aus dem Text heraus-, sondern vielmehr in ihn hineingelesen. Aus dem Wortlaut des Ge- setzes von Gortyn - dies habe ich jüngst darzulegen versucht 7 ) -, läßt sich ein Schei- dungsgebot für die kinderlose Erbtochter jedenfalls nur dann ableiten, wenn man ihn sinnwidrig untergliedert. Nimmt man die Passage vollständig in den Blick und glie- dert man sie sinnentsprechend, zeigt sich, daß sie eine Folge von drei Bedingungs- ') Zu dieser Alternative s.u. S. 380f. - Für ebenso zahlreiche wie wertvolle Ein- wände und Anregungen danke ich Herrn Dr. Michael Alpers, Hamburg. 2 ) Α'ι δε κα πατρός δόντος ε άδελπιδ πατροιδκος γένεται, ai λείοντος όπνίεν οι εδοκαν με λείοι όπυίεϋ-αι, αϊ κ' έστετέκνοται, διαλακόνσαν τον κρεμάτον αι εγρατται [αλλ]οι όπνιέΰ[ο τά]ς πνλά[ς]. at δε τέκνα με εΐε, πάντ' εκονσαν τοι έπιβάλλοντι όπυίε&αι, αικέι, ai δέ μέ, ài εγρατται. 3 ) Zu dieser Einschränkung vgl. S. Link, Die Ehefrau als Erbtochter im Recht von Gortyn, ZRG 111 (1994) 414 Anm. 5. 4 ) D. h. sie war ihrem ältesten noch lebenden Onkel oder dem ältesten noch leben- den Sohn ihres ältesten verstorbenen Onkels anzutrauen: col. 7,15-24. 5 ) Freikaufen habe sie sich allein dadurch können, daß sie nach col. 7,52-8, 8 den Berechtigten mit knapp der Hälfte des Vermögens abfand. 6 ) F. Bücheler/E. Zitelmann, Das Recht von Gortyn, Frankfurt a. M. 1885, 154. Gestützt wurde diese Deutung vor allem durch eine immer wieder hervorgeho- bene vermeintliche Parallele im athenischen Recht : „Zu Athen", so schrieb etwa Lewy zur Erklärung dieser Stelle, „hat der Zuständige ein Recht, die Auflösung der Ehe zu verlangen." H. Lewy, Altes Stadtrecht von Gortyn auf Kreta, Berlin 1885, 19 Anm. 62; nicht anders Zitelmann, ebda. Zu dieser vermeintlichen Parallele vgl. indessen E. Ruschenbusch, Bemerkungen zum Erbtochterrecht in den solonischen Geset- zen, Symposium 1988, 1990, 17-18; A. Maffi, E'esista l'aferesi dell' epiklerosl, Symposium 1988, 1990, 21-36.40. 7 ) Link, ZRG 111 (1994) 419f. Brought to you by | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Authenticated | 130.60.206.42 Download Date | 8/15/13 11:53 PM
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Versprochene Töchter? Noch einmal zur Ehefrau als Erbtochter im Gesetz von Gortyn

„Wird eine Frau Erbtochter," so heißt es im großen Gesetz von Gortyn, col. 8, 20-30 , „die (bereits) von ihrem Vater oder Bruder vergeben wurde, und will derje-nige, dem sie sie gaben, verehelicht bleiben (oder: verehelicht werden [seil, mit der genannten Erbtochter])1), sie aber nicht, und hat sie schon Kinder zur Welt gebracht, dann erhält sie den genannten Teil vom Vermögen und ehelicht einen anderen Mann aus der Phyle. Gibt es aber keine Kinder, dann gehört ihr das ganze Vermögen, und sie ehelicht den Nächstberechtigten, wenn es einen gibt; gibt es indessen keinen, wie (in col. 8, 8 -12) vorgeschrieben"2).

Nach beinahe einhelliger Auffassung der älteren Forschung3) enthielten diese Be-stimmungen - genauer: die Bestimmungen des letzten Satzes - ein Scheidungsgebot. Getroffen habe es die Ehefrau, die, schon früher vom Vater oder von einem Bruder ver-ehelicht, kinderlos geblieben und dann zur Erbtochter geworden sei : Sie habe den Nächstberechtigten heiraten4) und sich zu diesem Zweck von ihrem bisherigen Manne scheiden lassen müssen5). So etwa Z i t e l m a n n : „Es sind keine Kinder da. Dann tritt das Recht des nächsten Verwandten in Kraft, als wenn sie noch ledig wäre .. ,"6).

In der neueren Forschung hat dieses angebliche Scheidungsgebot mehrfach Anstoß erregt. Und tatsächlich scheint es so, als habe man die Scheidungspflicht der kinder-losen Erbtochter (im Gegensatz zu der Erbtochter, die bereits Mutter war) nicht aus dem Text heraus-, sondern vielmehr in ihn hineingelesen. Aus dem Wortlaut des Ge-setzes von Gortyn - dies habe ich jüngst darzulegen versucht7) - , läßt sich ein Schei-dungsgebot für die kinderlose Erbtochter jedenfalls nur dann ableiten, wenn man ihn sinnwidrig untergliedert. Nimmt man die Passage vollständig in den Blick und glie-dert man sie sinnentsprechend, zeigt sich, daß sie eine Folge von drei Bedingungs-

') Zu dieser Alternative s.u. S. 380f. - Für ebenso zahlreiche wie wertvolle Ein-wände und Anregungen danke ich Herrn Dr. Michael Alpers, Hamburg.

2) Α'ι δε κα πατρός δόντος ε άδελπιδ πατροιδκος γένεται, ai λείοντος όπνίεν οι εδοκαν με λείοι όπυίεϋ-αι, αϊ κ' έστετέκνοται, διαλακόνσαν τον κρεμάτον αι εγρατται [αλλ]οι όπνιέΰ[ο τά]ς πνλά[ς]. at δε τέκνα με εΐε, πάντ' εκονσαν τοι έπιβάλλοντι όπυίε&αι, αικέι, ai δέ μέ, ài εγρατται.

3) Zu dieser Einschränkung vgl. S. L i n k , Die Ehefrau als Erbtochter im Recht von Gortyn, ZRG 111 (1994) 414 Anm. 5.

4) D. h. sie war ihrem ältesten noch lebenden Onkel oder dem ältesten noch leben-den Sohn ihres ältesten verstorbenen Onkels anzutrauen: col. 7 , 15 -24 .

5) Freikaufen habe sie sich allein dadurch können, daß sie nach col. 7 ,52-8, 8 den Berechtigten mit knapp der Hälfte des Vermögens abfand.

6) F. B ü c h e l e r / E . Z i t e l m a n n , Das Recht von Gortyn, Frankfurt a. M. 1885, 154. Gestützt wurde diese Deutung vor allem durch eine immer wieder hervorgeho-bene vermeintliche Parallele im athenischen Recht : „Zu Athen", so schrieb etwa Lewy zur Erklärung dieser Stelle, „hat der Zuständige ein Recht, die Auflösung der Ehe zu verlangen." H. L e w y , Altes Stadtrecht von Gortyn auf Kreta, Berlin 1885, 19 Anm. 62; nicht anders Z i t e l m a n n , ebda. Zu dieser vermeintlichen Parallele vgl. indessen E. R u s c h e n b u s c h , Bemerkungen zum Erbtochterrecht in den solonischen Geset-zen, Symposium 1988, 1990, 17-18 ; A. M a f f i , E'esista l'aferesi dell' epiklerosl, Symposium 1988, 1990, 21-36 .40 .

7) Link, ZRG 111 (1994) 419f.

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S. Link, Die Ehefrau als Erbtochter in Gortyn II 379

Sätzen darstellt. In den ersten beiden Sätzen, im folgenden (1.) und (2.), ließ der Ge-setzgeber die jeweilige Alternative unausgesprochen ; im dritten Fall führte er sie aus (3.a und 3.b) und hängte ihr einen jeweils anderen Folgesatz an. Beide Teile dieser Alternative (3.) unterliegen den beiden zuvor genannten Bedingungen (1.) und (2.); von ihnen her sind sie zu verstehen und zu deuten :

- (1.) Wird eine Frau Erbtochter, die (bereits) von ihrem Vater oder Bruder ver-geben wurde,

- (2.) will derjenige, dem sie sie gaben, verehelicht sein, sie aber nicht, - (3.a) und hat sie schon Kinder zur Welt gebracht, dann erhält sie den genannten

Teil vom Vermögen und ehelicht einen anderen Mann aus der Phyle. - (3.b) Gibt es aber keine Kinder, gehört ihr das ganze Vermögen, und sie ehelicht

den Nächstberechtigten, wenn es einen gibt; gibt es indessen keinen, wie vorge-schrieben.

Nach dieser Gliederung kannte der Gesetzgeber schon deshalb kein automatisch eintretendes Wiederverehelichungsgebot (und damit auch keine Scheidungspflicht) für die verheiratete und nachträglich zur Erbtochter avancierte Frau, weil er es von vornherein ihrer Entscheidung anheimstellte, sich scheiden zu lassen oder nicht - sei es, daß sie Kinder hatte, sei es, daß ihre Ehe kinderlos geblieben war. Nur für den Fall, daß sie sich, nachträglich zur Erbtochter geworden, auf eigenen Wunsch (oder den Wunsch ihrer Familie8) scheiden ließ - d. h. : nur für den Fall, daß die Bedingungen (1.) und (2.) erfüllt waren - , sah er die unter (3.a) und (3.b) genannten Regeln als Alternative vor.

Dieser Versuch, den Sachverhalt zu klären, stellt freilich weder den einzigen noch auch nur den ersten Vorstoß dar. Nicht nur frühere, sondern auch viel tiefergreifende Lösungsansätze bieten die untereinander in mancher Hinsicht verwandten Erklärun-gen von E b e r h a r d R u s c h e n b u s c h und A l b e r t o M a f f i 9 ) . Nach ihrer beider An-sicht verpflichtete der Gesetzgeber schon deshalb keine verheiratete Frau dazu, sich als Erbtochter scheiden zu lassen, weil er von vornherein gar nicht von v e r h e i r a t e -ten Frauen gesprochen habe. Vielmehr habe er - so Ruschenbusch - allein e h e m a l s verheiratete Frauen, Witwen, zur Wiederheirat angehalten10) bzw. - so Maffi - von v e r l o b t e n Frauen gesprochen. Diese Frauen seien als potentielle Erbtöchter (we-nigstens, wenn sie noch keine Kinder aus früheren Ehen hatten") von ihrem Vater oder Bruder mortis causa, d. h. von langer Hand geplant, nicht dem nächstberechtigten, sondern einem anderen, jüngeren und in der Anspruchsfolge mithin nachgeordneten Onkel oder Cousin „gegeben" i. S. v. „versprochen" und damit gewissermaßen verlobt worden. Beim Tod ihres Vaters oder Bruders hätten sie vor der Wahl gestanden, den vom Vater oder Bruder ausgesuchten Verlobten entweder zu heiraten oder zurückzu-weisen. Wiesen sie ihn ab, hätten sie einen anderen Mann heiraten müssen, sei es irgendeinen beliebigen Mann aus der Phyle, sei es den zuvor übergangenen Erst-

8) So zu Recht M a f f i , Le mariage de la patrôoque ,donnée' dans le Code de Gor-tyne (col. VIII, 20-30) , RHD 65 (1987) 510.

9) A. M a f f i , RHD 65 (1987) 507-525 ; E. R u s c h e n b u s c h , Die verheiratete Frau als Erbtochter im Recht von Gortyn?, ZRG 108 (1991) 287-289.

10) Zu dieser Ansicht vgl. inzwischen M a f f i , RHD 71 (1993) 438f. ; L i n k , ZRG 111 (1994)415-417.

") Dies betont M a f f i , Encore une fois à la patroôque donné dans la loi de Gortyn, col. VIII 20-30 , RHD 73 (1995) 224.

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berechtigten - je nachdem, ob sie bereits aus einer früheren Ehe Kinder hatten oder nicht.

Diese Deutung hat Maffi jüngst mit Verve gegenüber der von mir vorgetragenen verteidigt12); wie weit seine Erwiderung trägt, ist zu prüfen. Einen Diskussions-fortschritt erhoffe ich mir - gerade angesichts der etwas komplizierten Materie -allerdings nicht so sehr aus dem Austausch immer zu- oder ausgespitzterer Einzel-argumente als vielmehr aus dem Versuch, die jeweiligen Grundlinien nachzuzeichnen.

Und dabei fällt zunächst einmal ins Auge, daß die Gliederung des Textes unstrittig ist. Auch nach Maffis Deutung hängt die Bestimmung (3.b) als Alternative zu (3.a) von den beiden vorstehenden Bestimmungen (1.) und (2.) ab; auch nach seiner Deutung also unterlag selbst die kinderlose Frau keiner Verpflichtung, sich von dem Mann, dem sie der Vater oder der Bruder „gegeben" hatte, zu trennen, um den Nächstberechtigten zu heiraten13). (Tatsächlich wäre dies nach Maffis Gesamtverständnis dieser Bestim-mungen auch völlig sinnlos.) Auch nach M. also konnte selbst die kinderlose Frau (bzw. ihre Angehörigen) sich zwischen zwei Männern entscheiden; dem vom Erblas-ser ausgesuchten und dem vom Gesetz vorgeschriebenen Onkel oder Cousin. Das Scheidungsgebot, das die ältere Forschung kannte, dürfte damit als hinfällig gelten : Keine Frau war gehalten, sich von ihrem Verlobten bzw. Gatten scheiden zu lassen oder sonstwie zu trennen, wenn und weil sie Erbtochter wurde. Um zu diesem - so-weit nunmehr wohl unstrittigen - Ergebnis zu gelangen, genügt es freilich, die einzel-nen Teile des Textes sachgerecht aufeinander zu beziehen; die weitergehende An-nahme, der Gesetzgeber habe bei der Abfassung der genannten Bestimmungen gar nicht an „vergebene" i. S. v. „verheiratete", sondern lediglich an „versprochene" Töchter gedacht, ist dazu nicht nötig. Ob sie wahrscheinlich ist, bleibt zu fragen.

Wohl keine zwingende Antwort erlaubt der Wortlaut, der Ausdruck, mit dem der Ge-setzgeber die Vergabe und die Verehelichung der Tochter beschrieb : „Vergeben", di-domi, und „heiraten", opyetho, stehen sich hier unversöhnlich gegenüber. Wer, wie M.14), darauf besteht, daß opyetho, im Passiv (oder Medium?15)) von der Frau gesagt, „heiraten" heißen müsse, nicht aber auch „verheiratet b l e i b e n " heißen könne, der muß annehmen, daß didomi, „vergeben", nicht, wie vom Wort an sich zu erwarten, „verehelichen" heiße, sondern auch lediglich „versprechen" heißen könne16) (denn

12) Ebda. 221-226. 13) Möglicherweise setze ich freilich die beiden Passagen (3.a) und (3.b) als offen-

kundig einander parallelgestellte Teile einer Alternative noch enger nebeneinander, als Maffi dies tut. Jedenfalls glaube ich tatsächlich, daß ein Lösungsversuch das gesamte Problem erfassen sollte und daß ein Vorschlag, der nur für einen der beiden Teile eine plausible Antwort gibt, während er die eigene Deutung für den anderen Teil bezwei-felt, nicht recht überzeugt; zu L i n k , ZRG 111 (1994) 414 Anm. 7, vgl. M a f f i , RHD 73 (1995) 226 fin.

14) RHD 65 (1987) 510-512 ; RHD 73 (1995) 224f. 15) So zweifelnd M a f f i , RHD 65 (1987) 511 Anm. 9. 16) Ein Wortgebrauch, der vielleicht in Athen bekannt, deswegen aber durchaus

nicht auch auf Kreta verbreitet gewesen zu sein braucht. Überhaupt argumentiert M a f f i des öfteren mit Gegebenheiten aus dem athenischen Recht - vgl. etwa RHD 65 (1987) 513f.; 522f. - , von denen wir nicht wissen können, ob sie auch auf Kreta gal-ten. Andernorts distanziert er sich freilich von dieser Methode und warnt vor ihren Ge-fahren (S. 509 : „... je crois que l'application du modèle athénien á l'interprétation du Code a fourvoyé les commentateurs"). Sollte man daher nicht erwägen, diese Absti-nenz überhaupt zur Grundregel für die Behandlung der anstehenden Frage zu erheben ?

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S. Link, Die Ehefrau als Erbtochter in Gortyn II 381

wäre sie schon vom Vater oder Bruder „vergeben" = „verheiratet" worden, hätte sie, zur Erbtochter geworden, ihren Ehegatten schwerlich noch einmal „heiraten", sondern allenfalls mit ihm „verheiratet bleiben" können17)). Wer umgekehrt der Ansicht ist, daß didomi nicht „versprechen", sondern schlicht „geben" und damit naheliegenderweise „verheiraten" heißt, muß nach derselben Logik annehmen, daß opyetho „verheiratet bleiben" bedeuten könne18). Einer Entscheidung in der Sache kommt man über die Behandlung solcher Fragen schwerlich näher.

Hilft die Argumentation mit dem Wortlaut also nicht weiter, so doch vielleicht die mit der Logik der Sache. Und hier hat M. sicherlich zu Recht auf einem wichtigen Punkt beharrt19): Daß die zur Erbtochter gewordene und bereits mit Kindern geseg-nete Frau nach col. 8, 2 4 - 2 7 nur gut die Hälfte des väterlichen Vermögens erhalten sollte, wenn sie sich entschied, einen anderen Mann als den Nächstberechtigten zu ehelichen, bedeutet tatsächlich noch keineswegs, daß die andere Hälfte ihrem ehema-ligen Gatten zufiel20), ja, in Anbetracht der Tatsache, daß der Ehemann, nach den übri-gen einschlägigen Stellen im Gesetz von Gortyn zu urteilen, grundsätzlich nie einen Anspruch auf das Vermögen seiner Frau erwarb, ist diese Annahme sogar sehr un-wahrscheinlich2'). Nehmen wir also mit M. und dem weitaus größten Teil der anderen Gelehrten an, daß der Ehemann leer ausging, wenn sie sich von ihm scheiden ließ oder trennte22).

Doch wem fiel die in diesem Fall abzutretende knappe Hälfte des väterlichen Ver-mögens zu ? - Diese Frage ist aus den vorhergehenden Bestimmungen zu beantwor-ten. Denn sicherlich hat M. mit der Feststellung recht, daß die Einzelbstimmungen zur Erbtochterfrage durchweg denselben, in col. 7, 15-18 aufgestellten Grundsatz vari-

") Vgl. indessen auch R. F. W i l l e t t s , The Law Code of Gortyn, Berlin 1967,72 b, z. St. : "The matter is presented in this way because the married woman, by becoming an heiress, has acquired a quite new status, as a result of which her existing marriage has to be reaffirmed or abandoned."

1S) Dazu L i n k , ZRG 111 (1994) 417f. u. Anm. 23 (mit weiterer Literatur). 19) RHD 73 (1995) 222 f. 20) So aber bereits Z i t e l m a n n , Das Recht 154; L i n k , ZRG 111 (1994) 416 mit

Anm. 11. Das bedeutet zugleich, daß ich mich, wie Maffi anmahnt, wohl von der Vor-stellung trennen muß, der Gesetzgeber habe durch die Bestimmungen in col. 8 , 2 0 - 3 0 die mit Kindern gesegnete Ehe gegenüber der kinderlosen besonders geschützt ; vgl. L i n k , ebda. Richtiger scheint zu sein, daß er die Ehe forderte - von der allgemeinen Ehepflicht wenigstens der Erbtöchter machte er expresses verbis nur im Fall der mit Kindern gesegneten Witwe eine Ausnahme (col. 8 ,30-33) - und die erfolgreiche, d. h. die fruchtbare Ehe honorierte; so etwa im Falle der Freiheiten, die er der verehelich-ten Mutter gegenüber der kinderlosen Ehefrau einräumte, wenn sie sich, Erbtochter geworden, scheiden ließ. Dazu im folgenden ausführlicher; vgl. auch L i n k , Das grie-chische Kreta, 1994, 72-74 .

21) Ich denke freilich, daß dieser Grundsatz kaum weniger deutlich gegen Maffis Lösungsvorschlag spricht : Nach seiner Vorstellung war derjenige, der einen Anspruch auf knapp die Hälfte des Vermögens erheben können sollte, der Erbtochter ja noch nicht einmal angetraut worden; er war vielmehr nichts als ihr Verlobter; RHD 65 (1987) 517. Sicherlich - nach Maffi war dieser Verlobte einer der grundsätzlich Be-rechtigten; nicht aber war er der Nächstberechtigte. Und das Recht, die Erbtochter zu ehelichen, hatte nach den sehr ausführlich um diesen Punkt kreisenden Ausführungen des Gesetzgebers nicht etwa der eine o d e r der andere unter den prinzipiell in Frage Stehenden, sondern grundsätzlich nur der jeweils Nächste; vgl. u. Anm. 37.

22) Allenfalls auf die Hälfte der E r t r ä g e aus ihrem Vermögen hätte er als ehema-liger Gatte Anspruch gehabt: col. 2 , 45 -52 .

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ieren und daher von diesem Grundsatz her zu deuten sind : Die Erbtochter, so heißt es dort, sollte mit dem Bruder des Vaters verehelicht werden, und zwar dem ältesten un-ter den lebenden. Aus diesem Grundsatz leiten sich nicht nur die unmittelbar folgen-den Einzelbstimmungen ab (wie etwa besonders augenfällig die, daß jede nächstjün-gere Tochter den jeweils nächstjüngeren epiballon zu ehelichen hatte : col. 7, 24-27) ; auf diesen Grundsatz gehen vielmehr auch die späterhin angeschlossenen Bestim-mungen zurück wie etwa die, nach der die Erbtochter knapp die Hälfte ihres Ver-mögens an ihren epiballon verlor, wenn sie sich weigerte, ihn zu heiraten (col. 7 ,52-8 , 8) : Offenbar sah der Gesetzgeber die Rechte dessen, der von Gesetz we-gen den nächsten Anspruch auf die Erbtochter geltend machen konnte, auch dann noch ausreichend geschützt, wenn er ihn in diesem Umfang an der Erbmasse beteiligte. So weit wich er also von seinem anfangs aufgestellten Grundsatz ab; weiter indessen nicht : Wenigstens in diesem Umfang - daran hielt er fest - mußte der epiballon be-teiligt werden. Der Gesetzgeber variierte also den anfänglichen Grundsatz im einzel-nen, änderte ihn aber nicht von Grund auf : Auf den je konkreten Willen der Beteilig-ten - in diesem Fall : den Willen der Erbtochter - nahm er einerseits zwar insoweit Rücksicht, als er ihr grundsätzlich die Möglichkeit einräumte, einen anderen Mann zu heiraten ; doch wertete er ihre Wünsche (bzw. einen ihr etwa eingeflüsterten Willen des sterbenden Vaters oder Bruders) nicht so hoch, als daß er die Ansprüche des Nächst-berechtigten gänzlich fallengelassen hätte. Wen auch immer sie an seiner Stelle heira-tete, und wessen Wunsch auch immer sie damit entsprach - der Nächstberechtigte erhielt jedenfalls knapp die Hälfte des Vermögens, das ihr als Erbtochter über ihre eigene Mitgift23) hinaus noch zufiel.

Dieser in den Zeilen col. 7, 52-8, 8 aufgestellte Grundsatz läßt für die Deutung der Zeilen col. 8 ,24-26 m. E. nur einen Schluß zu : Sollte auch die nach ihrer Heirat (oder Verlobung) zur Erbtochter avancierte und bereits mit Kindern gesegnete Frau nicht etwa das ganze Vermögen haben, sondern nur „ihren Anteil erhalten, wie beschrie-ben", wenn sie einen beliebigen Mann aus der Phyle ehelichte, so muß auch sie knapp die Hälfte des väterlichen Vermögens an ihn, an den Nächs tbe rech t ig t en , verlo-ren haben24) - nicht etwa an ihren vom Vater oder Bruder bestimmten vermeintlichen

23) Bzw. ihr eigenes Erbe; zu col. 4,30-5, 1 vgl. Link, Kreta 64, und u. S. 389f. 24) So neben anderen etwa R. Koerner , Inschriftliche Gesetzestexte, 1993, 532.

Das Recht ihres epiballon erlosch also nicht, sobald und weil sie Kinder hatte ; so aber bereits Ζ i te 1 m a η η, a. 0 .154 ; so, neben M a ff i, RHD 65 ( 1987) 521, auch noch R u -schenbusch , ZRG 108 (1991) 287, und ebenso auch noch Link, ZRG 111 (1994) 416 Anm. 11. Die Vorstellung, der epiballon einer mit Kindern gesegneten Erbtochter habe keine Ansprüche mehr geltend machen können, beruht jedoch auf einer unge-rechtfertigten Unterscheidung zwischen Erbtöchtern 1. und 2. Klasse. Besonders deut-lich tritt dies in klaren Worten von Ruschenbusch vor Augen (vgl. jedoch auch Zi-te lmann, Das Recht 155) : „Weil sie (seil, die Erbtochter mit Kindern) ihre Aufgabe als Beschafferin eines Erben bereits erfüllt hat", schreibt Ruschenbusch, „und also eigentlich keine Erbtochter mehr ist, kann sie irgendeinen Mann aus der Phyle heira-ten ..." (Kurs. SL). Die Unterscheidung zwischen „eigentlichen" und „uneigent-lichen" Erbtöchtern findet in dem Wortlaut des Gesetzes jedoch keinen Anhaltspunkt. In col. 8 ,20-30 nahm der Gesetzgeber jedenfalls ohne irgendeine Einschränkung an, daß jede Frau zur (richtigen) Erbtochter werden könnte - unabhängig von der Frage, ob sie Kinder hatte oder nicht. Und er bestätigte diese Regel an anderer Stelle : „Eine Erbtochter ist eine (Frau)," so schrieb er col. 8,40-42, „die keinen Vater oder Bruder vom selben Vater hat." Die Frage, ob sie Kinder hatte oder nicht, spielte für die Ein-

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Verlobten, wie M. glaubt25). Ü b e r den Grundsatz, daß der Nächstberechtigte wenig-stens abzufinden war, stellte der Gesetzgeber den Willen der übrigen Beteiligten je-denfalls sonst nie. Zwar nahm er auf ihre Wünsche insoweit Rücksicht, als er der Erb-tochter die Möglichkeit bot, den Nächstberechtigten zurückzuweisen (und zwar of-fenbar ganz unabhängig davon, weshalb sie ihn nicht ehelichen wollte26), und als er ihr für diesen Fall ein Haus in der Stadt, das Inventar aus diesem Haus und die Hälfte vom übrigen Hab und Gut zugestand (col. 8,1-5). Doch reservierte er die andere Hälfte der Erbmasse stets für den von Gesetzes wegen Nächstberechtigten27). Daß er , der Nächstberechtigte, es war, der einen Verlust erlitt, wenn sie sich gegen ihn ent-schied, und daß daher er entschädigt werden mußte - davon rückte der Gesetzgeber in keinem der ausführlicher beschriebenen Fälle ab. Doch eben diesen so nachdrück-lich gesicherten Grundsatz hätte er in col. 8, 2 4 - 2 6 aufgeben müssen, wenn er, wie M. meint, die Hälfte für den vermeintlichen Verlobten hätte reserviert sehen wollen. (Ein weiteres Argument nur als Frage : Hätte der Gesetzgeber, wenn er, wie M. annimmt, in diesem Fall ausnahmsweise nicht den Nächstberechtigten, sondern den vermeint-lichen Verlobten hätte bedacht sehen wollen, sich mit der lapidaren Feststellung be-gnügen können, die Erbtochter solle ihren Anteil von dem Vermögen erhalten „wie be-schrieben" ? Beschrieben hatte er zuvor jedenfalls nur die Teilung zwischen ihr und dem Nächstberechtigten, nicht die zwischen ihr und ihrem Verlobten28)).

Maffi weist diese Deutung freilich a priori zurück : Der Nächstberechtigte, so führt er an, hatte ja nicht von vornherein einen Anspruch auf die Hälfte des Vermögens ; be-anspruchen konnte er vielmehr die Erbtochter. Die Hälfte des Vermögens fiel ihm nur zu, wenn sie ihn abwies; oder umgekehrt: Bevor sie ihn nicht abgewiesen hatte, konnte er keinen Anspruch auf einen Teil des Vermögens erheben. Soweit hat M. si-cherlich recht ; die Schwierigkeiten ergeben sich bei der Übertragung dieses Grund-satzes auf den strittigen Fall: Zwei Voraussetzungen, behauptet M., hätten in diesem Fall erfüllt sein müssen, um seinen Anspruch auf die Hälfte des Vermögens aufleben zu lassen : Zuerst habe die Erbtochter sich von ihrem Mann (bzw. Verlobten) trennen

Schätzung, ob sie eine (richtige) Erbtochter war oder nicht, also grundsätzlich keine Rolle. Die gegenteilige Ansicht geht von Vorstellungen aus, die dem Gesetzgeber in Gortyn offenbar fremd waren.

25) RHD 65 (1987) 517. 524. 26) Sei es, daß er ihr oder ihren übrigen Verwandten einfach aus irgendeinem Grund

nicht gefiel, sei es, daß er zu jung und sie zu alt oder zu ungeduldig war, abzuwarten, bis er heiratsfähig und -willig geworden sein würde: col. 7, 52-8,1.

27) Dieses nachdrücklich zugesicherte Recht verlor er möglicherweise, wenn er sich nicht an Ort und Stelle befand. Das wäre leicht damit zu erklären, daß seine womög-lich unbefristete Abwesenheit sonst das ganze Verfahren ad Kalendas Graecas ver-schoben hätte. Doch ist der Ausdruck col. 8, 3 6 - 4 0 durchaus nicht eindeutig: Heira-ten sollte sie in diesem Fall offenbar nicht den Erstberechtigten, sondern den Nächst-jüngeren ; zur Vermögensverteilung äußerte sich der Gesetzgeber hier jedoch nicht. -Einen ganz anderen Fall bedachte der Gesetzgeber in col. 7 , 4 0 - 5 0 : Wenn der epibai-lon sich allen Versuchen, ihm die Erbtochter und damit indirekt auch das gesamte Ver-mögen zuzuweisen, gegen die ausdrücklichen Bestimmungen des Gesetzes und trotz des ihm dafür angedrohten gerichtlichen Verfahrens entzog und die Angelegenheit dadurch zu verschleppen drohte, dann sollte es ebenfalls an den nächstfolgenden Berechtigten übergehen.

2S) Vgl. dazu auch M a f f i , Sulla'patroiokos "data" 'nel codice di Gortina, Bull. Ist. Dir. Rom. 92/3 (1990) 669.

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Page 7: Versprochene Töchter? Noch einmal zur Ehefrau als Erbtochter im Gesetz von Gortyn

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und somit grundsätzlich die Voraussetzungen schaffen müssen, ihren epiballon über-haupt ehelichen zu können, und dann, aufgrund ihrer Scheidung für eine Ehe mit ihm qualifiziert, habe sie ihn abweisen müssen29). Doch sticht dieser Einwand nicht: Wie anders als eine Zurückweisung des Nächstberechtigten hätte der Gesetzgeber (wie übrigens auch der Nächstberechtigte selbst) es denn deuten sollen, wenn der Vater oder der Bruder ihn überging ? Wenn der Vater oder der Bruder die potentielle Erbtochter einem anderen antrug ? Und wenn sie sich schließlich - ohne jeden Zwang ! - dem Wil-len des Vaters oder Bruders beugte? Heiratete sie ihren vermeintlichen Verlobten, h a t t e sie (wie bereits zuvor ihr Vater oder Bruder) damit den epiballon abgewiesen ! War er aber abgewiesen worden - darin stimme ich M. zu - , lebte sein Anspruch auf die Hälfte des Vermögens auf.

Die Beobachtung, daß nicht etwa der vermeintliche Verlobte, sondern der von Haus aus berechtigte epiballon knapp die Hälfte des väterlichen Vermögens erhielt, entzieht Maffis Modell die Grundlage, auf der es ruht30). Denn die vermeintliche Verlobung entpuppt sich damit als ein völlig leeres Versprechen : Hätte der Vater oder der Bruder die Frau, von der zu erwarten oder zu befürchten stand, daß sie Erbtochter werden würde, vor dem Hintergrund dieser Gesetzeslage mortis causa, in Hinblick auf seinen Tod also, einem Familienmitglied aus dem Kreise der grundsätzlich Berechtigten ver-sprochen - einem Onkel oder Cousin etwa, der seiner Aufgabe, Nachwuchs zu zeu-gen, vielleicht besser gewachsen war als der Nächstberechtigte3 ') - , so hätte er damit jedenfalls von Rechts wegen um nichts mehr bewirkt, als wenn er sie nicht verlobt, sondern den Dingen einfach ihren Lauf gelassen hätte :

Für die Eheschließung an sich gilt das ohnehin. Wirklich Erbtochter geworden, hatte die vermeintliche Verlobte in jedem Fall die Wahl - sie konnte entscheiden, ob sie sich dem Versprechen von Bruder oder Vater beugen und ihren (vermeintlichen) Verlobten ehelichen, oder ob sie eigene Wege gehen und einen anderen Mann heiraten wollte32). Doch auch, was die vermögensrechtliche Seite betrifft, änderte die angebliche Ver-lobung nichts: Heiratete sie den vermeintlichen Verlobten (und mithin nicht den Nächstberechtigten), trat col. 7 , 5 2 - 5 4 verknüpft mit 8 , 4 - 8 in Kraft: Sie behielt neben dem Haus in der Stadt und seinem Inventar die eine Hälfte des väterlichen Ver-mögens und verlor die andere an den Nächstberechtigten ; heiratete sie einen beliebi-gen Mann aus der Phyle, trat dieselbe Vermögensteilung ein ; und heiratete sie schließ-lich den Nächstberechtigten, fiel das gesamte Vermögen an sie. Mit einem Wort: Nie-mals fiel irgend etwas an den vermeintlichen Verlobten.

Wozu dann aber die Verlobung ? Weiterhin: „Versprochene" Töchter kannte der Gesetzgeber sonst nicht; er müßte

sie in col. 8, 2 0 - 3 0 (und nur an dieser Stelle) als neue Kategorie eigens eingeführt

29) RHD 65 (1987) 516. 30) Dasselbe gilt übrigens auch, falls - wie von der Mehrzahl der Forscher (wie etwa

W i l l e t s , Law Code 12b, z. St.) angenommen, von Maffi aber mit freilich recht schwachen Argumenten zurückgewiesen - die Kinder die Nutznießer der Vermögens-teilung hätten sein sollen: RHD 65 (1987) 516.

31) Zumal er als Ältester von allen, wie Ruschenbusch bündig darlegt, nur zu häu-fig schon zur Senilität geneigt haben mag; ZRG 108 (1991) 288. Vgl. dazu indessen auch u. S. 390 und Anm. 49.

32) Hatte sie keine Kinder, konnte sie ihren Mann freilich nicht mehr auswählen. In diesem Fall mußte sie den Nächstberechtigten ehelichen.

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S. Link, Die Ehefrau als Erbtochter in Gortyn II 385

haben. Das wirkt nicht recht wahrscheinlich, mag aber noch angehen. Ganz und gar unwahrscheinlich ist jedoch, daß er in einer Gesetzgebung, die die Sachlage, wie M. wiederholt betont33), sehr erschöpfend behandelt, die geschiedenen Frauen, die er an-derswo durchaus berücksichtigte34), aufzuführen vergaß. Genau das aber müßte man annehmen. Denn Maffis mit wachsender Zuversicht vorgetragene Deutung, daß er die geschiedene Erbtochter nicht etwa vergessen, sondern der verwitweten subsumiert habe, weil die beiden in der Sache gleich behandelt worden seien35), überzeugt schwer-lich - und dies ganz ohne weitreichende Diskussion zur tatsächlichen oder vermeint-lichen Gleichbehandlung, sondern allein schon des Wortlauts wegen : „Wenn ein Mann stirbt", so formulierte der Gesetzgeber, „und (dadurch) einer Erbtochter Kinder hin-terläßt, . . ." (Zz. 30f.) ; und dann noch einmal : „Wenn aber der Verstorbene keine Kin-der hinterläßt, . . . " (Zz. 33f.). Daß der Gesetzgeber hiermit neben dem verschiedenen Mann auch den geschiedenen bezeichnet wissen wollte, ist wohl auszuschließen. Sprach er in Zz. 3 0 - 3 6 aber allein von verwitweten Erbtöchtern, vergaß er die ge-schiedenen - es sei denn, er hatte bereits in Zz. 2 0 - 3 0 von ihnen gesprochen, ihren Fall also schon abgehandelt.

Doch soll es hier um die bestimmenden Grundlinien gehen. Daß das von Maffi vor-geschlagene Modell einer verlobten Erbtochter so wenig überzeugt, ist letztlich dar-auf zurückzuführen, daß es einen von langer Hand geplanten Rechtsakt voraussetzt -einen Rechtsakt freilich, von dem wir annehmen müssen, daß er, wie dargestellt, ent-weder völlig wirkungslos blieb oder den Grundsätzen des Gesetzgebers widersprach. Dieser Einwand entfällt dagegen ebenso wie alle anderen Ungereimtheiten, wenn man annimmt, daß die Situation der „vergebenen Erbtochter" nicht vom Vater oder Bruder planmäßig herbeigeführt wurde, um das Gesetz zu umgehen, sondern sich (zumeist) unerwarteterweise einstellte. Jedenfalls, wenn der B r u d e r sie vergeben hatte, ist dies nahezu eindeutig. Denn gerade von ihr, der Schwester eines offenbar noch lebenden Bruders, war nicht von vornherein zu erwarten, daß sie jemals Erbtochter werden würde. Wares ihm (bzw. wenigstens e i n e m ihrer Brüder) vergönnt, sie zu überleben, oder hinterließ wenigstens e i n e r seinerseits Erben, wurde sie es nie.

Auszugehen ist also davon, daß ihre Situation einen Sonderfall bildete, der nicht etwa auf listige Planung zurückging, sondern sich im alltäglichen Leben immer wie-der einmal ereignen konnte. Kam er vor, stand der Gesetzgeber vor einem Problem, denn dieser Sonderfall stand der Erfüllung des Grundsatzes von col. 7 ,15 - 1 8 im Wege („Die Erbtochter ist mit dem Bruder des Vaters zu verheiraten, und zwar mit dem äl-testen unter den lebenden"). Nur, wenn man ihn so versteht, fügt sich dieser Fall auch bündig zwischen den vorstehenden und den nachfolgenden ein : In den vorangehen-den Zeilen bestimmte der Gesetzgeber, was geschehen sollte, wenn die grundsätzlich geforderte Ehe der Erbtochter gar nicht erst zustande kam, weil es (abweichend vom eingangs als normal vorausgesetzten Fall) überhaupt keinen zur Ehe berechtigten Ver-wandten gab: Zz. 8 - 2 0 . Und in den nachfolgenden Zeilen legte er fest, was zu ge-

33) RHD 65 (1987) 508; RHD 73 (1995) 225. 34) Vgl. etwa col. 2, 45 ff. 35) RHD 65 (1987) 517. 520: „.. . la patrôoque peut être ou célibataire ou veuve (la

femme divorcée étant assimilé par analogie á la veuve)." Und dann S. 523 : „Si la pa-trôoque a des enfants, elle est évidemment ou veuve ou divorcée, on appliquera donc (sic !) col. VIII, 3 0 - 3 3 .

2 5 Zeitschrift für Rechtsgeschichte. CXIV. Rom. Abt. Brought to you by | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek ZürichAuthenticated | 130.60.206.42

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schehen hatte, wenn ihre Ehe vorzeitig endete, weil ihr Gatte starb: Zz. 30-3636). Ein-gebettet in diese beiden Bestimmungen, regelte er in Zz. 20-30, was zu geschehen hatte, wenn die plötzlich zur Erbtochter gewordene Tochter oder Schwester nicht mehr, wie zuvor als selbstverständlich vorausgesetzt, unverheiratet, sondern bereits verehelicht war - ein Fall, der offenbar ebenso regelwidrig' eintreten konnte wie der, daß überhaupt kein epiballon bereitstand oder der, daß der Gatte vorzeitig verstarb.

Demnach war die verehelichte Erbtochter, die der Gesetzgeber vor Augen hatte, nicht aufgrund langfristiger und mehr oder weniger listiger Planung vergeben worden, also nicht etwa mit dem Ziel, den in col. 7,15-18 aufgestellten Grundsatz zu umge-hen37). Das wäre nach Lage der Dinge ohnehin nicht möglich gewesen ; denn selbst, wenn der sterbende Vater seine einzige Tochter mit Blick darauf, daß sie Erbtochter würde, einem anderen als dem Nächstberechtigten versprach - die Erbfolge veränderte er damit nicht38). Sie war und blieb vielmehr eindeutig und im beschriebenen Rahmen

36) Und zwar, wie leicht zu erkennen ist, in beiden Fällen aufgrund natürlicher Ur-sachen, nicht etwa aufgrund schlauer Planung (und einer Reihe von Tötungsdelik-ten).

37) So bereits Link, ZRG 111 (1994) 418f. Ich muß zugeben, daß ich Maffis Ein-wände gegen diese Ausführungen nicht verstehe: RHD 73 (1995) 225. Der Gesetz-geber hatte nun einmal ausdrücklich bestimmt, daß die Erbtochter den ä l tes ten epi-ballon heiraten sollten, und es war immer dieser selbe Grundsatz, den er für die ver-schiedensten Fälle variierte : Gab es noch jüngere Schwestern, sollten sie jeweils den nächstjüngeren, also den ä l tes ten unter den noch nicht bedachten epiballontes hei-raten ; gab es keinen Vaterbruder, wohl aber Cousins der Erbtochter, sollte sie den Cou-sin heiraten, der vom ä l tes ten Onkel abstammte; gab es mehrere Erbtöchter und mehrere Cousins, sollten sie jeweils den Sohn des nächstjüngeren, also auch hier den ä l tes ten unter den noch nicht bedachten heiraten ; sollte sich der epiballon trotz eines ihm drohenden Gerichtsverfahrens hartnäckig weigern, die Erbtochter zu heiraten, oder sollte er schließlich (offenbar auf unbestimmte Dauer) abwesend sein, sollte sie den ä l tes ten der heiratswilligen bzw. anwesenden ehelichen. Vor dem Hintergrund also, daß der Gesetzgeber offensichtlich an dem Grundsatz, nach dem unter den für die Erbfolge in Frage Stehenden unbedingt der Nächs t ä l t e s t e die Erbtochter ehelichen sollte, festhielt, so gut er nur irgend konnte, hätte der sterbende Vater, wie ich bereits sagte, den Geist des Gesetzes doch wohl verletzt, wenn er seine Tochter kurz vor sei-nem Tod flugs noch einem anderen Mann versprochen und somit vollendete Tatsachen geschaffen hätte. Daß der Gesetzgeber eine solche Gesetzesbeugung in col. 8 ,20-30 - seinen früheren wie auch seinen nachfolgenden Bestimmungen zum Trotz - ganz un-vermutet anerkannt und geschützt haben soll, scheint mir nach wie vor unwahr-scheinlich. - Für Maffis Versuch, mir bei der juristisch einwandfreien Formulierung dieses Einwandes Hilfestellung zu leisten („... cette objection aurait dû être formulée de façon différente pour être juridiquement correcte"), bin ich dankbar, doch hatte ich nicht fragen wollen, „comment peuvent-ils (seil. Vater oder Bruder) désigner cet homme mortis causa étant donné qu'à Gortyne il n'existe pas (encore) de testament". Den Einwand, den diese Frage darstellt, erhob ja schon M. Talamanc a, Bull. Ist. Dir. Rom. 90 (1988) 617, und beantwortete M a f f i in derselben Zeitschrift, Jg. 92/3 (1990) 667 ff. Ich wollte dagegen fragen, ob es recht wahrscheinlich ist, daß der Gesetzgeber einen Grundsatz, den er von col. 7,15 bis zur col. 8,40 nachdrücklich verfocht, in col. 8, 20-30, wie M. glaubt, expressis verbis beiseitegeschoben und für nichtig er-klärt haben soll.

38) Auch glaube ich, daß der Gesetzgeber, wenn er denn den Willen des Vaters als mit dem sonst verteidigten Grundsatz des Gesetzes gleichwertig anerkannt hätte, auch dafür hätte Sorge tragen müssen, daß nun dieser, der vom Vater bestimmte epiballon, seiner Pflicht nachkam ; er hätte ihm also dasselbe Rechtsverfahren in Aussicht stellen müssen, das er dem unwilligen ältesten epiballon androhte (col. 7,40-47). Das aber

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unausweichlich festgelegt. Einen ersten Schritt in Richtung auf eine Testierfreiheit, ei-nen Schritt darauf, daß der sterbende Vater den Erben seines Vermögens durch Verlo-bung seiner Tochter wenigstens unter den grundsätzlich Berechtigten mehr oder we-niger frei auswählte, bildet die Passage col. 8 , 2 0 - 3 0 mithin nicht - so verlockend die vermeintliche Parallele zur solonischen Gesetzgebung in Athen auch wirken mag, weil sie zu passen scheint39).

Zu den Grundlagen, auf denen die Bestimmungen col. 8, 2 0 - 3 0 fußen, gehört dem-nach die offenbar selbstverständliche Voraussetzung, daß für die bereits verehelichte Erbtochter im Prinzip dieselben Rechte galten wie für die ledige, namentlich : daß sie unter einer bestimmten Bedingung einen Anspruch darauf hatte, mit einem beliebigen Mann aus der Phyle verheiratet zu sein. Da der Gesetzgeber den Fall der verehelich-ten Erbtochter jedoch von dieser ihrer Ehe her betrachtete, nahm ihr Anspruch eine etwas andere Form an als der der ledigen : Für die ledige durfte ein beliebiger Mann ausgewählt werden ; die verehelichte, deren Vater oder Bruder schon damals einen Mann nach freiem Gutdünken ausgesucht hatte, durfte ihre Ehe mit diesem Gatten fortsetzen. Die Bedingung : Die ledige mußte als Preis für diese Freiheit ihren epibal-lon mit knapp der Hälfte des väterlichen Vermögens abfinden, und es sollte, denke ich, keinem Zweifel unterliegen, daß dieselbe Verpflichtung auch der verheirateten aufer-legt wurde - und zwar ganz unabhängig davon, ob sie Kinder hatte oder nicht40).

Von diesen Voraussetzungen ging der Gesetzgeber ebenso selbstverständlich aus wie davon, daß auch eine schon früher verehelichte Erbtochter - wie jede andere Ehe-frau - ein Recht daraufhatte, sich scheiden zu lassen. Vermögensrechtlich behandelte er sie, die geschiedene, nicht anders als die unverheiratete. Dazu, in ihrem Fall anders zu verfahren, hätte auch jeder Grund gefehlt : Nahm die verehelichte Erbtochter ihr Recht auf Scheidung in Anspruch, kam sie (juristisch gesehen) wieder einer ledigen Erbtochter gleich. Heiratete sie nach ihrer Scheidung einen beliebigen Mann aus der Phyle, sollte sie also die eine Hälfte vom väterlichen Vermögen bekommen und die an-dere an den epiballon verlieren ; heiratete sie den epiballon selbst, erhielt sie es ganz41)·

tat er nicht. M. glaubt daher - schwerlich überzeugend - an ein besonderes Privileg des vom Vater bestimmten epiballon : Anders als der gesetzlich bestimmte habe er nur das Recht, nicht auch die Pflicht gehabt, die Erbtochter zu ehelichen ; RHD 65 (1987) 523 : „Si Γ epiballon désigné par le père ou le frère de la femme ne veut pas épouser la patrôoque, ... la désignation perd toute son efficacité."

39) M a f f i , RHD 65 (1987) 522f. 40) Was die vermögensrechtliche Seite angeht, bleibt damit auch die Meinung der

älteren Forschung wenigstens ein Stück weit in Kraft, nach der die bereits verehelichte Erbtochter die Hälfte des väterlichen Vermögens abtreten mußte, wenn sie sich wei-gerte, sich scheiden zu lassen. Doch entfällt das Anstößige, das Scheidungsgebot: Es gab offenbar keine stillschweigende, durch diese Bestimmung aber nachdrücklich wieder eingeschärfte Erwartung des Gesetzgebers, die kinderlose Ehefrau möge sich scheiden lassen, wenn sie zur Erbtochter wurde. Erheben konnte der Nächstberech-tigte seine Forderung auf knapp die Hälfte des Vermögens nicht etwa, weil sie sich weigerte, sich scheiden zu lassen ; erheben konnte er sie ihr (wie auch der verheirate-ten Erbtochter) gegenüber allein deshalb, weil sie sich weigerte, ihn zu ehelichen. Und erheben konnte er sie, wie gesagt, auch nicht allein in dem Fall, daß die Erbtochter kin-derlos war, sondern auch, wenn sie schon Kinder zur Welt gebracht hatte; anders M a f f i , RHD 73 (1995) 223.

4 ') Die Bestimmung, nach der die geschiedene und mit Kindem gesegnete Erb-tochter „einen anderen Mann aus der Phyle" zu heiraten hatte, bedeutet sicherlich nicht, daß sie ihren epiballon nicht hätte ehelichen d ü r f e n und schließt den epiballon

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Der einzige Unterschied, den der Gesetzgeber sah, lag in der Frage der Gattenwahl ; sie knüpfte er an die Frage der Kinder. Im Falle der unverheirateten, der .normalen' Erbtochter warf er diese Frage zwar nicht auf ; möglicherweise nahm er an, daß sie im allgemeinen noch nie verheiratet gewesen war und schon deshalb keine Kinder hatte42). Hatte sie ihren epiballon einmal abgefunden, durfte sie (bzw. durften ihre Ver-wandten) ihren zukünftigen Gatten frei unter den Phylengenossen auswählen, ohne weitere Auflagen erfüllen zu müssen. Anders aber im Fall der verheirateten Erbtoch-ter : Wollte sie dieselbe Freiheit in Anspruch nehmen, durfte sie sich nicht scheiden las-sen, bevor sie Mutter geworden war, oder umgekehrt : Ließ sie sich als kinderlose Frau

somit durchaus nicht grundsätzlich aus ; so aber, wenn ich ihn richtig verstehe, M a f f i, RHD 65 (1987) 510; RHD 73 (1995) 224. - Deute ich seine Darlegung recht, beruht Maffis Annahme auf einer irreführenden Parallelisierung. Richtig ist zwar, daß nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht nur die verehelichte (col. 8, 20ff.), sondern auch die unverheiratete Erbtochter (col. 7,52ff .) gehalten war, einen „ a n d e r e n " Mann aus der Phyle zu ehelichen, und richtig ist auch, daß dieser „andere" Mann im Falle der un-verheirateten Erbtochter ein „anderer" als der epiballon war (col. 7 ,52-8 ,7) . Nicht so jedoch in col. 8 , 2 0 - 2 7 : Nach dieser Bestimmung sollte die verehelichte und sodann geschiedene Erbtochter einen „anderen" Mann heiraten als den, mit dem sie verehe-licht war, aber nicht länger verehelicht bleiben wollte: In Zz. 23f. sprach der Gesetz-geber davon, daß sie mit ihrem bisherigen Gatten nicht länger verheiratet sein wollte in Zz. 26 f. von dem „anderen", den sie statt seiner heiraten sollte, und erst in Zz. 28 f. von dem epiballon. Rein grammatisch kann der „andere" in Zz. 2 3 - 2 9 also nicht mit dem epiballon in Konkurrenz treten. (Und auch eine besonders enge und etwa von col. 7 , 5 2 - 8 , 7 her vorgeprägte Beziehung zwischen dem „anderen" und dem „epibal-lon'' gab es nicht - zwar war der Mann, um den es dort ging und dem der „andere" ge-genübergestellt wurde, tatsächlich der epiballon, doch war er dies nur unter anderem. Zugleich war er der Mann, den die Erbtochter nicht wollte - und h i e r i n liegt die Parallele zu col. 8,23f.) Kurz: Es war keineswegs so, daß der Gesetzgeber die epi-ballontes aus dem Kreis derer ausgeschlossen hätte, unter denen die Erbtochter sich einen Gatten auswählen sollte. M a f f i s wiederholt vorgetragene und für sein Ge-samtverständnis auch sehr wichtige Deutung, nach der in diesem Fall „les membres de la tribu seraient préférés aux parents collatéraux" (ebda. ; Kurs. SL), verstehe ich vor diesem Hintergrund ebensowenig, wie ich in dieser Bestimmung einen grundsätz-lichen Unterschied zu den Regeln für die unverheiratete Erbtochter erblicken kann.

42) Dies freilich nicht in dem strengen Sinn, den M. unterstellt, wenn er behauptet, daß die Erbtochter, die nach col. 7 , 4 1 - 4 3 in dem richtigen Alter stand, um verehelicht zu werden, durchweg gerade erst alt genug geworden sei und mithin noch niemals ver-heiratet gewesen sein könne: RHD 65 (1987) 508. Der Wortlaut des Gesetzes stützt diese Ansicht jedenfalls nicht: In Zz. 2 9 - 3 5 legte es fest, was geschehen sollte, wenn der epiballon oder die Erbtochter für eine Ehe zu jung war; in Zz. 3 5 - 4 0 bestimmte es, was gelten sollte, falls s ie alt genug war, er aber geltend machte, daß er, wiewohl heiratsfähig, so doch noch nicht volljährig war; und in Zz. 40ff. regelte es, was zu ge-schehen hatte, wenn s ie alt genug und nun auch der epiballon heiratsfähig und voll-jährig war. Daß sie durchweg erst jüngst alt genug geworden sei, mithin noch niemals verheiratet gewesen und folglich auch nicht Mutter legitimer Kinder sein könne, set-zen diese Zeilen also durchaus nicht zwingend voraus. Im Gegenteil : Es fällt auf, daß der Gesetzgeber sich die Frage, ob eine .normale' Erbtochter womöglich schon Mut-ter war, gar nicht stellte. Doch läßt sich dies vielleicht, wie vorgeschlagen, daraus er-klären, daß die noch kinderlose Erbtochter eben den Normalfall darstellte. - Die alter-native Deutung dieses Befundes müßte annehmen, daß der Gesetzgeber nur solche Kinder berücksichtigt sehen wollte, die aus der jeweils bestimmten Beziehung (wie in col. 8, 20ff. der bestimmten Ehe der nun geschiedenen Frau bzw. 8, 30ff. der be-stimmten Ehe der nunmehr verwitweten) stammten - eine Beziehung, die die f o r -male' Erbtochter nicht haben und die der Gesetzgeber daher auch nicht nennen konnte. Diese Alternative zu wählen hieße jedoch wohl, den Text zu überdehnen.

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S. Link, Die Ehefrau als Erbtochter in Gortyn II 389

scheiden, m u ß t e sie ihren epiballon heiraten. In diesem Fall fehlte ihr also die Mög-lichkeit, ihn abzufinden und einen anderen Mann zu ehelichen.

Allein diese Bestimmung ist grundsätzlich neu und nicht aus früheren abzuleiten ; sie wird es also sein, die den Gesetzgeber überhaupt dazu anregte, die Zeilen 2 0 - 3 0 in sein Gesetz mit aufzunehmen43). Gelingt es, ihren Sinn genau zu erfassen, dürfte da-mit zugleich die ratio legis als ganze enthüllt sein.

Diese Absicht des Gesetzgebers zu erklären, fällt nicht ganz leicht. „Das Rätsel", so schrieb D i e t e r N ö r r , „bleibt: Warum konnte die kinderlose geschiedene oder ver-witwete Erbtochter nicht unter Vermögensopfem frei heiraten?"44) Nach Abwägung aller Möglichkeiten lege ich folgende Antwort vor45) :

Auszugehen ist von der unstrittigen Feststellung, daß das Gesetz kein Scheidungs-gebot für die bereits verehelichte Erbtochter kannte. Wenn sie wollte, konnte sie für immer mit dem Mann verehelicht bleiben, dem ihr Vater oder ihr Bruder sie angetraut hatte - obwohl dieser einst für sie ausgewählte Gatte nicht der Familie ihres Vaters entstammte (oder ihr wenigstens nicht zu entstammen brauchte). Kinder, die die nach-träglich zur Erbtochter avancierte Frau von ihm bekam, waren also nicht im reinen Mannesstamm mit dem Vater dieser Erbtochter verwandt. Daß der Gesetzgeber sich dennoch mit dieser Lösung abfand, weist zwingend darauf, daß er der Ansicht war, nun, da der Sohn fehlte, könne ersatzweise sie, die Tochter, seine Aufgabe überneh-men ; nicht über die männliche, sondern über die weibliche Linie sollte der oikos ihres Vaters nun offenbar erhalten bleiben. Nur weil dies nach gortynischer Vorstellung of-fenbar stets möglich war, konnte der Gesetzgeber sogar jede ,normale', unverehelichte Erbtochter ihren Gatten in freier Wahl finden lassen. Machte sie (bzw. machten ihre Verwandten für sie) von dieser Freiheit Gebrauch, erhielt auch sie die väterliche Fa-milie nicht über ihren nächsten männlichen Verwandten, sondern aus eigener Kraft. Anders als im athenischen Recht konnte im gortynischen eine Tochter also vollwertig an die Stelle eines Sohnes treten, wenn der Sohn selbst fehlte ; familienrechtlich er-setzte sie in diesem Fall ihren Bruder voll und ganz.

Wie klar dem Gesetzgeber der Sachverhalt vor Augen stand, daß die Tochter als Erb-tochter an Sohnes Statt trat, enthüllt auch die Tatsache, daß er jeder Erbtochter, der ver-ehelichten wie der unverheirateten, vom Vermögen einen Sohnesanteil zuwies. Dieser Sachverhalt wird leicht übersehen, da der Gesetzgeber ihr Erbteil einmal nach Drit-teln, einmal nach Hälften berechnete, doch ist nicht schwer zu ermitteln, daß es genau dem entsprach, das - hätte ihr Vater denn einen Sohn gehabt - dieser Bruder erhalten hätte : Grundsätzlich sollte jeder Sohn doppelt soviel erben, wie jede Tochter als Erbe oder als Mitgift erhielt46). Gab es einen Bruder und eine Schwester, betrug ihre Mit-gift (oder ihr Erbteil) also ein, sein Erbe zwei Drittel vom Vermögen. Diese beiden Drittel galt es hälftig aufzuteilen, wenn der Bruder fehlte oder starb und sie ihren epi-ballon abfand. Teilte sie sich mit ihm je zur Hälfte in das anfallende Vermögen, erhielt

43) Alle übrigen ergaben sich, wie gezeigt, mehr oder weniger zwingend von selbst aus vorhergehenden Regeln.

44) Briefliche Mitteilung an den Vf. 45) Sie ist aus einer meiner Lehrveranstaltungen hervorgegangen ; die Anregung zu

dieser Lösung gab ganz wesentlich Herr stud. phil. K. Seifert, dem ich dafür herzlich dänkc

46) Col. 4, 3 9 - 4 3 u. 48 -51 .

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jeder ein weiteres Drittel. In der Summe standen ihr mithin zwei Dittel zu - genau der Anteil, den ein Sohn erhalten hätte. Augenfälliger noch im Falle des Stadthauses: Auch dieses Haus, dem eine besondere Bedeutung zukam und das daher normaler-weise nicht zwischen Söhnen und Töchtern geteilt, sondern allein den Söhnen zuge-wiesen wurde47), erhielt nun allein sie ; weder bekam es ihr epiballon, noch wurde es geteilt. Auch damit unterstrich der Gesetzgeber noch einmal, daß der oikos nun über sie fortgesetzt wurde.

Sollte sie die Linie fortsetzen, war es sehr wichtig, daß sie dies auch konnte - nicht allein unter rechtlichen Gesichtspunkten, sondern auch ihrer physischen Veranlagung nach. Bei der .normalen', der ledigen Erbtochter mag der Gesetzgeber dies unterstellt haben ; jedenfalls hatte er in ihrem Fall keinen Grund, das Gegenteil anzunehmen. Daß sie nach ihrer Verehelichung wirklich Kinder gebären würde, setzte er einfach voraus. Und bei der geschiedenen oder verwitweten Mut te r stand die Fruchtbarkeit von vorn-herein außer Frage. Anders freilich bei der kinderlos geschiedenen bzw. verwitweten Frau : Da die eine wie die andere verheiratet gewesen war, wäre es nur zu natürlich, daß sie auch Kinder bekommen hätte. Hatte sie keine, mochte der Gesetzgeber hierin ein Indiz für ihre Unfruchtbarkeit sehen48). War sie aber unfruchtbar und würde sie mithin auch in Zukunft kinderlos bleiben, mußte er sich auf einen anderen Weg be-sinnen, den oikos zu erhalten.

Diese Möglichkeit dürfte ihm die Verehelichung der vermeintlich oder nachweis-lich unfruchtbaren Erbtochter mit dem ältesten noch lebenden Vaterbruder geboten haben. Denn aller Wahrscheinlichkeit nach hatte der bereits eigene Kinder; sollte er keine haben (und voraussichtlich mit der ihm zugewiesenen Erbtochter auch keine mehr zeugen49), hatte er doch vielleicht Brüder und von ihnen wenigstens Bruder-

47) Zu col. 4, 31 ff. vgl. Link , Kreta 34f. 48) Kinderlosigkeit einer verheirateten Frau galt auch sonst als Zeichen von Un-

fruchtbarkeit und zwar zunächst einmal Unfruchtbarkeit der Frau, nicht etwa des Man-nes; vgl. allein die Geschichte, die Hdt. 5, 39 vom spartanischen König Anaxandrides erzählt: Daraus, daß seine Ehe ohne Nachkommen blieb, schlossen die Ephoren mit größter Selbstverständlichkeit auf die Unfruchbarkeit seiner Gattin ; daher zwangen sie ihn zu einer zweiten Heirat. Daß seine erste Gemahlin daraufhin plötzlich doch Kinder bekam, schien ihnen denn auch so unwahrscheinlich, daß sie die Entbindung „voller Mißtrauen", wie Hdt. kommentiert, überwachten. - Umgekehrt erwies die Existenz von Kindern die Fruchtbarkeit einer Frau. Zu den angeblich lykurgischen Ehegesetzen in Sparta gehörte es nach Xenophon etwa, daß ein unverheirateter Jung-geselle sich mit einem Ehemann darauf einigen konnte, mit dessen Frau Kinder zu zeugen, vorausgesetzt, daß die Frau „bereits ... Kinder zur Welt gebracht hatte", also als fruchtbar gelten konnte; Lak. Pol. 1, 8; vgl. Plut. Lyk. 15, 13. - Mangelnde Zeu-gungsfähigkeit des Mannes galt nur dann als verbürgt, wenn er offensichtlich zeu-gungsunfähig, also (zumeist wohl) seines hohen Alters wegen zu einer Erektion nicht mehr in der Lage war. Doch sprang in diesem Fall, wenigstens in Sparta, der Zeu-gungshelfer ein; vgl. etwa Xen. Lak. Pol. 1, 7; Plut. Lyk. 15, 12-13. Im übrigen vgl. auch Louis C o h n - H a f t , Divorce in Classical Athens, JHS 115 (1995) 10 mit Anm. 37.

49) Dies zu Ruschenbusch , ZRG 108 ( 1991 ) 288 ; vgl. auch o. Anm. 31. Trifft die hier vorgelegte Deutung zu, ging es dem Gesetzgeber nicht (wie angeblich Solon in Athen, der den dreimaligen Geschlechtsverkehr pro Monat vorgeschrieben haben soll) darum, daß der epiballon mit der Erbtochter Kinder zeugte und bildete mithin der naheliegende Einwand, daß gerade bei dem ältesten Onkel die Zeugungskraft nur zu häufig schon nachgelassen haben dürfte, keinen Hinderungsgrund : Wichtig war, daß

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S. Link, Die Ehefrau als Erbtochter in Gortyn II 391

kinder oder -großkinder, an die das Erbe fallen könnte und die die bedrohte Familie vor dem Aussterben bewahren würden50). Mit einem Wort: Stand zu befürchten, daß die Erbtochter unfruchtbar war, und kam hinzu, daß sie den Versuch, Kinder in die Welt zu setzen, offensichtlich aufgab - sei es, daß sie sich scheiden ließ, sei es, daß ihr Mann starb und damit jeder zukünftige Erfolg vornherein ausgeschlossen wurde - , sorgte der Gesetzgeber dafür, daß die Familie zumindest über eine Seitenlinie erhal-ten bliebe51): Er wies sie ihrem ältesten Onkel zu und machte damit dessen Erben zu ihren Nachfolgern.

Wie auch immer man sich zu dieser Lösung stellen will : Heiraten zu müssen, aber keinen anderen als den Nächstberechtigten heiraten zu dürfen - das mochte für die kinderlos geschiedene Erbtochter durchaus bitter sein. Jedenfalls beschnitt es ihre Freiheit - gerade auch im Vergleich mit derjenigen, die die ledige Erbtochter genoß -empfindlich. Dem trug der Gesetzgeber Rechnung, wenn er nachdrücklich klarstellte, daß diese Regel nur gelten sollte, wenn s ie den Wunsch auf Scheidung vorgetragen, während ihr Gatte an der Ehe hatte festhalten wollen52). Hatte er sich von ihr schei-den lassen, dürfte sie bessergestellt gewesen sein53).

Paderborn S t e f a n L i n k

er bereits eigene Nachkommen (oder Neffen) h a t t e , nicht, daß er sie in hohem Alter noch zeugte.

50) Col. 5 , 9 - 2 2 . 51) Auf die Bedeutung der blutsmäßigen Abstammung weist auch die Ein-

schränkung, mit der der Gesetzgeber ein Ausufern der Adoption verhinderte; zu col. 11, 6 - 1 0 vgl. L i n k , Kreta 57-62.

52) D i e s z u M a f f i , RHD 65 (1987) 510; R u s c h e n b u s c h , ZRG 108(1991)289; L i n k , ZRG 111 (1994) 416 f. : M a f f i , RHD 73 (1995) 223.

53) Ob sie ihren nächsten Gatten in diesem Fall frei wählen durfte, wissen wir nicht. - Dasselbe gilt für den Komplementärfall, für die mit Kindern gesegnete Erbtochter: Ob sie, wenn ihr G a t t e die Scheidung betrieben hatte, überhaupt noch einmal hei-raten mußte oder, wie die verwitwete Erbtochter, gänzlich unverheiratet bleiben durfte, können wir nicht sagen, doch drängt sich dieser Gedanke auf. Jedenfalls standen die Frauen in beiden Fällen unverschuldet ohne Mann da. Und die Witwe stellte der Ge-setzgeber, wohl mit Rücksicht darauf, ausdrücklich von der Heiratspflicht frei (col. 8, 33). (Hierin sehe ich, das sei hinzugefügt, nicht mehr als eine Parallele; daß er den einen Fall dem anderen subsumiert habe, möchte ich nicht andeuten).

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