verfolgt - verblendet - vernichtetORGELMUSIK und LYRIK um 1945

zum 75. Jahrestag der Befreiung am 8. Mai 2020ab 18 Uhr auf YouTube - link unter: www.christuskirche.org

Studentinnen und Studenten derStaatlichen Hochschule für Musik, Mannheim

und der Hochschule für Kirchenmusik, HeidelbergKlasse KMD Prof. Johannes Michel

Programm

Jehan Alain (1911-1940): Le Jardin suspenduOrgel: Marek Szendzielorz

Dietrich Bonhoeffer (1906-1945): Wer bin ich?Rezitation: Dominique Engler

Franz Philipp (1890-1972): Largo (Zum Heldengedenktag) op. 49caus dem Oberrheinischen OrgelbuchMeinem lieben Neffen Bernhard Philipp gewidmet,gefallen am 5. März 1943 am Kubanbrückenkopf

Orgel: Stefanie Straubinger

Arno Landmann (1887-1966): Toccata A-Duraus dem Oberrheinischen Orgelbuch

Orgel: Katharina Linn

Wolfgang Fortner (1907-1987): Praeludiumaus dem Oberrheinischen Orgelbuch

Orgel: Sebastian Scheuermann

Karl Schloß (1876-1944): Gedichte aus der EmigrationRezitation: Dominique Engler

Herman Berlinski (1910 - 2001): The burning BushOrgel: Matthias Berges

Volker Bräutigam (*1936): Epitaph für Maksymilian KolbeOrgel: Jan Skowron

Paul Celan (1920-1970): TodesfugeRezitation: Dominique Engler

Jehan Alain: Fantasie Nr. 1 und Nr. 2Orgel: Jannis Knof

Einführung

Die Auseinandersetzung mit der Menscheitskatastrophe des 2. Weltkriegs ist und bleibt einwichtiger Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft und sie betrifft auch die Kunst, dieMusik und auch die Orgelmusik. Alle Musiker, alle Organisten dieser Zeit waren von denFolgen betroffen. Viele waren Opfer, andere waren auf der Täterseite.

In unserem Konzert erklingen z. B. Werke von Herman Berlinski, der Deutschlandrechtzeitig verlassen hat oder dem genialen Jehan Alain, der an der Front gefallen ist.Seine beiden Fantasien für Orgel gehören zu den unheimlichsten und in Bezug auf seinenTod im Krieg zu den visionären Äußerungen eines Künstlers, ähnlich wie der Dichter KarlSchloß, der seinen Tod voraus geahnt hatte. Der Leipziger Komponist Volker Bräutigamhat dem Jesuitenpater Maksymilian Kolbe ein musikalisches Denkmal gesetzt, der ebensowie Dietrich Boenhoeffer aus dem christlichen Glauben heraus zum Gegner desFaschismus wurde.

Aber wir setzen uns auch kritisch mit der deutschen Musik dieser Zeit auseinander, dieideologisch eingezwängt war, die ausdrücklich benutzt wurde um nationalsozialistischeFeiern zu gestalten und damit dem Vernichtungsterror in seiner scheinbar harmlosen Formden Steigbügel hielt. Die Tatsache, dass so viele Künstler und auch komponierendeKirchenmusiker nach 1945 ihre Vergangenheit vertuschten, indem sie ihreWerkverzeichnisse und Biografien fälschten, verstört und nimmt uns gegen sie ein. Hatihre Musik, hat ihre Lauterkeit verloren, weil sie gelogen haben?

Gerade in unserer Region waren die Anhänger der Nationalsozialismus unter denKirchenmusikern zahlreich. Der spätere badische Landeskirchenmusikdirektor undDirektor des Kirchenmusikalischen Instituts in Heidelberg, Herbert Haag war derHerausgeber des Oberrheinischen Orgelbuchs�, dessen Inhalt unverblümt für die NS-Zwecke gedacht war, zahlreiche Komponisten zwischen Freiburg undHeidelberg/Mannheim leisteten Beiträge dafür und versuchten in verschiedener Weiseeinen deutschen� Stil zu etablieren. Die Ergebnisse fielen recht unterschiedlich aus unddafür hören wir in diesem Programm drei Beispiele.

Herbert Haag setzte sich als SA-Mann und bekennender Nationalsozialist auf vielenEbenen für die Orgel im NS-Musikleben ein. Seine Entnazifizierung dauerte bis 1948. DasOberrheinische Orgelbuch wurde noch bis in die 1980er Jahre vom Verlag Willy Müller inHeidelberg verkauft, dabei wurde das Vorwort aber fest und unlöslich verklebt. Die indiesen Exemplaren noch sichtbaren Komponistenbiographien geben aber viele Hinweiseauf die NS-Verstrickung dieser Musiker.

Jehan Alain (1911-1940)

stammt aus einer großen Musikerfamilie, seine jüngere Schwester war die weltberühmteOrganistin Marie-Claire Alain. Er wurde von einer großen Bandbreite musikalischerStrömungen beeinflusst: von Gregorianik über Impressionismus (Debussy) und Jazz bishin zu außereuropäischen Rhythmen und modalen Tonsystemen (Messiaen). Seinemusikalische Inspiration nahm er oft aus literarischen Quellen. Die Meditation über diehängenden Gärten Babylons strahlen eine überirdische Ruhe aus und können in ihrerSchlichtheit vom Unaussprechlichen etwas mitteilen.

Seine Première Fantaisie� (1933) ist ein Vierzeiler des persischen Mathematikers,Philosophen und Dichters Omar Chayy�m angefügt. Die Orgel behandelte er eherkammermusikalisch und wendete sich damit bewusst gegen den romantisch-orchestralenOrgel-Typ ab. Sein Wirkungsort war Paris: Hier studierte er, gewann einenKompositionswettbewerb und war Organist � unter anderem auch in der Synagoge in derRue Notre-Dame-de-Nazareth. Alain fiel im Juni 1940 in einem Gefecht bei Saumur imAlter von 29 Jahren. (jk,jm)

Dietrich Bonhoeffer (1906 - 1945)

gehört heute zu den wichtigsten Theologen des 20. Jahrhunderts. Sein Widerstand gegenden Nationalsozialismus führte über Arbeits- und Redeverbot schließlich zu seinerVerhaftung und Ermordung noch kurz vor Ende des Krieges am 9. April 1945 aufpersönliche Anweisung von Adolf Hitler. Bonhoeffer, der bedingungslos gegen dieJudenverfolgung agitierte ( nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen�),schrieb aus der Haft auch Briefe und Gedichte, die heute als wertvolle Zeugnisse diesesprotestantischen Märtyrers und als Kerntexte der evangelischen Theologie gelten. (jm)

Franz Philipp (1890�1972)

war ein deutscher Kirchenmusiker und Komponist, der nach mehrjährigem musikalischenWirken in Freiburg 1924 zum Direktor des Karlsruher Konservatoriums ernannt wurde.Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten trat Philipp am 1. Mai 1933 der NSDAPbei. Der von den Nationalsozialisten hoch geschätzte Komponist hinterlässt eine ganzeReihe an ideologisch geprägten Werken, die in der Zeit des Dritten Reichs insbesonderebei den nationalsozialistischen Feiern Verwendung fanden. Das Orchesterwerk HeldischeFeier� (op. 35) wird vom Völkischen Beobachter als vorbildlich nationalsozialistische

Komposition� gelobt. Seine katholische Verwurzelung sowie innere Konflikte veranlassenPhilipp 1942 dazu, sein Direktorenamt an der Musikhochschule Karlsruhe niederzulegen.Nach dem Krieg versucht Philipp seine nationalsozialistische Vergangenheit zukaschieren. Die Opusnummern der nationalsozialistischen Kompositionen tauscht dieserdaher durch politisch neutrale, kirchenmusikalische Werke mit derselben Opuszahl aus.Der vorwiegend auf Chormusik spezialisierte Komponist gerät nach seinem Todweitgehend in Vergessenheit. Die nationalsozialistische Vergangenheit erschwert dieheutige Rezeption. Der Komponist hinterlässt nur wenige Orgelwerke, die sich imGegensatz zu seinem sonstigen Schaffen stark am spätromantischen Stil Max Regersorientieren. (ss)

Arno Landmann (1887 - 1966)

studierte bei Max Reger und Karl Straube Komposition und Orgel. Der jungehochtalentierte Orgelvirtuose wurde 1911 an die neu erbaute Christuskirche und ihre großeOrgel in Mannheim berufen. In der Zeit des Nationalsozialismus diente er sich demRegime vor allem durch die Aufführung eines eigenen Oratoriums Der große Pflüger� imJahr 1936 an, in dem Theologie und Nationalsozialimus eine groteske Symbiose eingehen.Die Handlung reicht in klassischer Oratorien-Manier, also dem Wechsel zwischenRezitativ, Arie, Turba-Chor (Volk) und Choral, vom Ende des ersten Weltkriegs, derDolchstoßlegende, der Inflation und der Wirtschaftskrise bis zur Erscheinung des neuenMessias Adolf Hitler. Landmann leistete, wie auch Franz Philipp und Wolfgang Fortner, mitseinem Werk einen Beitrag zum Oberrheinischen Orgelbuch� von 1943, dasOrgelkompositionen für die nationalsozialistische Feiergestaltung bereit stellen wollte,denn in Heimen, Schulen und Feierräumen der Partei und der HJ. entstehenOrgelbauten....� (Vorwort) Landmann versucht in dieser Toccata tatsächlich eine nordische,

eine germanische Toccata zu erfinden, deutlich kann man das an dem archaischenzweiten Thema erkennen, das Akkorde ohne Terzen und plagale Wendungen enthält.Daneben stehen barocke Quintfallsequenzen und virtuose Toccatenfiguren, die zwischenBachs d-Moll Toccata und französischen Toccaten anzusiedeln sind, die Landmann gutkannte, denn er hatte eine für damalige Verhältnisse sehr umfassende Repertoirekenntnisweit über die deutsche Musik hinaus. (jm)

links: Wolfgang Fortner (1907 - 1987)

rechts: Der Komponist Hans Werner Henze als Student

war einer der wichtigsten deutschen Kompositionslehrer, und viele bedeutendeKomponisten gingen durch seine Schule. Ähnlich erfolgreich wie seine kompositorischeWandlungsfähigkeit, er begann im Stile Hindemiths und wanderte später zurDodekaphonie, war auch sein politischer Opportunismus. 1931 kam er nach Heidelbergals Dozent an das Kirchenmusikalische Institut und biederte sich dem NS-Regime z. B.durch Dirigate in HJ-Uniform an. Er wurde auch Mitglied der NSDAP. Nach dem Krieggelang es ihm schnell, als harmloser Mitläufer eingestuft zu werden. Sein Präludium wurdefür das Oberrheinische Orgelbuch� geschrieben, das sein Kollege Herbert Haagherausgegeben hatte. Es ist ganz im Stile des Neobarock gehalten, eine harmlos undheiter dahin plätschernde Spielmusik, wie sie damals verbreitet war (Cesar Bresgen u. a.).(jm)

Karl Schloß (1876-1944)

wurde im rheinhessischen Framersheim geboren. Nach dem Studium betätigte er sichzunächst als freischaffender Lyriker und Essayist in München. Ab 1910 arbeitete er mehrund mehr im väterlichen Betrieb, einer Zigarrenfabrik in Alzey und Worms, den er 1918ganz übernahm. 1937 emigrierte er nach Holland und von hier aus schickte er zahlreicheGedichte an seine beiden Töchter. Diese Verse, die an seine früheren, vom Jugendstilgeprägten Dichtungen anknüpfen, wandelten sich zu einem expressionistischen Stil undsind ein bedrückendes Zeugnis der Verfolgung und Todesbedrohung. Karl Schloß undseine Frau wurden 1943 deportierte, er starb Anfang 1944 im KZ Auschwitz, seine Frau imKZ Ravensbrück. Im Worms erinnern ein Stolperstein und ein Eintrag auf der Gedenktafelin der Synagoge an ihn. (jm)

Herman Berlinski (1910-2001)

wurde in Leipzig geboren und studierte u. a. bei Sigfrid Karg-Elert Komposition. Nach derMachtergreifung durch die Nationalsozialisten konnte er sich zunächst nach Frankreichretten und studierte bei Nadja Boulanger in Paris. Nach seiner Flucht nach Amerika wurdeer zu einem der bekanntesten jüdischen Organisten der USA und war schließlichMusikdirektor der größten Synagoge der Welt in Washington D. C.. Nach 1980 konzertierteer häufiger in Deutschland und Europa. Herman Berlinskis großes kompositorisches�uvre umfasst Chor-, Orchester- und Orgelwerke. Viele der Werke nehmen Bezug aufseine jüdischen Wurzeln und seine deutsche Heimat. Noch mit 90 Jahren schrieb Berlinskieine Orgelsinfonie mit dem Namen Die Heiligen Zehn Gebote� für seine HeimatstadtLeipzig.

(mb/jm)

Maksymilian (Rajmund) Kolbe (1894-1941)

geboren am 07.01.1894 im polnischen Zdu�ska Wola, tritt nach einer Marienerscheinungdem Orden der Franziskaner bei und nimmt den Ordensnamen Maksymilian Maria an.

1918 wird er in Rom zum Priester geweiht und gründet die katholische Organisation MilitiaImmaculatae� ( Ritterschaft der Unbefleckten�), die sich, neben der Missionierung, derJugend- und Pressearbeit widmet. Während einer Missonsreise nach Japan gründet erVerlage, Missionsstationen und klösterliche Gemeinschaften. Weil er 2300 Juden,polnischen, ukrainischen und griechisch-katholischen Flüchtlingen Zuflucht in seiner, naheWarschau gelegenen Missionsstätte Niepokalanów bietet, wird er am 14.02.1941 verhaftetund in das Konzentrationslager Auschwitz gebracht. Dort wirkt er weiter als Priester undSeelsorger. Am 29.07.1941 werden zehn Männer als Vergeltungsmaßnahme für dievermutete Flucht eines Häftlings zum Tode verurteilt. Unter ihnen ist der FamilienvaterFranciszek Gajowniczek, der in lautes Klagen ausbricht, nachdem sein Urteil gesprochenwird. Pater Maksymilian Kolbe bittet den Lagerführer des Häftlingslagers darum, den Platzdes Verurteilten Mithäftlings einnehmen zu dürfen und wird an seiner statt am 31.07.1941in den Hungerbunker� von Block 11 gesperrt. Nachdem Kolbe und drei weitere Verurteiltebis zum 14.08. überleben, werden sie durch Phenolspritzen getötet und verbrannt.Berichten anderer Mithäftlinge zufolge, hörte man aus ihrer Zelle keine Schreie, sondernGebete und Gesang. Franciszek Gajowniczek stirbt 1995 in seiner Heimat. Kolbe bewahrtden Verurteilten in einem Akt der Selbstlosigkeit und Nächstenliebe vor dem Tod, wofür er1971 von Papst Paul VI. selig- und 1982 von Papst Johannes Paul II. heiliggesprochenwird. (js)

Paul Celan (1920-1970)

wurde im rumänischen Czernowitz geboren. Die Deutsche Besatzung 1942 zwang seineFamilie in Ghetto und Zwangsarbeit, sein Vater starb an Entkräftung, seine Mutter wurdeermordet. Celan überlebte beim Arbeitsdienst und begann nach 1945 Gedichte zuveröffentlichen, die zunächst eine gemischte Resonanz erlebten. Die Gruppe 47 lehnte ihnüberwiegend ab. Heute gilt er als eine der wichtigsten literarischen Stimmen derHolocaust-Generation. Traumatisiert von seinen Erlebnissen, erkrankte er psychisch undnahm sich 1970 in Paris das Leben. (jm)

Dieses Projekt ist eine Kooperationdes Kantorats an der Christuskirche Mannheim,

der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheimund der Hochschule für Kirchenmusik Heidelberg

Wir danken Dominique Engler vomPfalztheater Kaiserslautern

für die Rezitationen

und

Kantor Carmenio Ferrullifür Kamera, Ton und Schnitt

Kantorat an der Christuskirche MannheimLandeskantor KMD Prof. Johannes Michel

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