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Untervazer Burgenverein Untervaz Texte zur Dorfgeschichte...

Date post: 29-Feb-2020
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Untervazer Burgenverein Untervaz Texte zur Dorfgeschichte von Untervaz 1939 Julius Caesar und der Auszug der Helvetier Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.
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Untervazer Burgenverein Untervaz

Texte zur Dorfgeschichte

von Untervaz

1939

Julius Caesar und der Auszug der Helvetier

Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.

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1939 Julius Caesar und der Auszug der Helvetier Peter Wiesmann in: Rätia - Bündnerische Zeitschrift für Kultur.

II. Jahrgang, Heft Nr. 4 vom April 1939. Seite 197-208 und

II. Jahrgang, Heft Nr. 5 vom Juni 1939. Seite 261-270.

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S. 197: Vorbemerkung. Die Kriegsgeschichte unseres Landes ist für uns Schweizer in

jüngster Zeit in besonderem Sinne wieder aktuell geworden. in einer Reihe mit

ihren viel erfolgreicheren Brüdern, den alten Eidgenossen stehen auch die

Helvetier, und das denkwürdige Ereignis ihres Auszuges und die Rückkehr des

geschlagenen Volkes sind mit eingegangen in den Mythos von der Freiheit

unseres Landes. Auch in jüngster Zeit fehlt es nicht am dichterischen Versuch,

den Mythos zu deuten. Mir scheint aber doch wichtig, dass wir, vorgängig

einer Deutung, erst ganz kühl registrieren, was denn überhaupt geschehen ist

und wie weit wir heute noch etwas wissen können. Es sei mir deshalb erlaubt,

diesen Vortrag, der vor der Historisch-Antiquarischen Gesellschaft in Chur

gehalten wurde, hier zum Abdruck zu bringen.

Wer die ersten Kapitel von Stähelins "Geschichte der Schweiz in römischer

Zeit" liest, der atmet auf, wenn er sich durch das Gewirr all der

archäologischen und philologischen Hypothesen hindurch gerungen hat und

nach den betrüblich vielen Fragezeichen endlich etwas festeren Grund unter

den Füssen spürt, ich meine, wenn er sich der Schilderung jener Ereignisse

nähert, welche unmittelbar zum Beginn der römischen Epoche unseres Landes

hinüberleiten: zum Auszug der Helvetier. Eine Quelle ganz einzigartigen

Ranges leuchtet uns grell in das trübe Dunkel unserer Frühgeschichte, und

anstatt ihrer Hüllen, die uns der Boden überliefert hat, glauben wir die

Menschen selbst vor uns zu sehen, wir spüren wirkliches Leben. Aber noch

mehr: Diese erste Quelle unserer Landesgeschichte macht es uns gleich zu

Beginn so recht eindringlich deutlich, wie unsere Geschichte nur ein Teil des

grossen Weltgeschehens ist und von

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S. 198: einem engen lokalen Standpunkt aus gar nicht verständlich ist. Der Mann, der

die Geschicke der Helvetier bestimmend beeinflusste, ist gleich einer der

grössten und genialsten Herrenmenschen, welche di Antike, ja Europa

überhaupt gesehen hat: Gaius Iulius Caesar. Und die Geschichte der Helvetier,

die uns von unserem Betrachtungsorte aus so wichtig erscheinen mag,

schrumpft zusammen zu einer kleinen Episode, zum Auftakt jener verwegenen

Politik des römischen Revolutionärs und Diktators. Dass diese Quelle aus der

Feder eben dieses Mannes stammt, das macht sie uns in ganz besonderem

Masse wertvoll Seine "Kommentare zum gallischen Kriege" betrachtete Caesar

nicht als abschliessendes Geschichtswerk, sondern sie sollten eine

Materialiensammlung sein, welche dann erst vom Historiographen zu

verarbeiten war. Literarisch stehen sie damit in einer Reihe z.B. mit

Xenophons Anabasis oder den Expeditionsberichten der Generäle von

Alexander dem Grossen. Sie sind weder identisch mit den Tätigkeitsberichten,

welche Caesar alljährlich an den Senat schickte, wenn diese ihm auch als

Grundlage dienen mochten, noch sind sie lediglich eine Rechtfertigungsschrift

für das Publikum der Stadt Rom. Man hat viel an Caesars Worten

herumgekrittelt, man hat ihn bezichtigt, die Tatsachen zu seinen Gunsten

entstellt zu haben. Genauere Analyse aber hat immer wieder seine Berichte

bestätigen müssen und hat die Fehler im eigenen Unverständnis seines Stils

gefunden. Ungeheuer knapp, ja fast kalt wirken Caesars Worte, sie entbehren

jeder Ausschmückung und inneren Anteilnahme des Erzählers - spricht er doch

stets von sich "er, Caesar", und wenn er "wir" sagt, so meint er das römische

Volk. Aber diese scheinbare Kälte lässt ihn uns doch auch faszinierend

erscheinen, wenn wir seinen Worten lauschen. Hinter der starren Maske ahnt

man hie und da blitzartig die gewaltige Persönlichkeit.

Bei unserer Darstellung werden wir genötigt sein, den Blickpunkt des

Betrachters ständig zu wechseln, um bald vom Schweizerboden aus jene

Ereignisse zu verfolgen, teils von Gallien im engeren Sinne aus, d. h. jenem

Teile des heutigen Frankreich, der von Garonne, Rhone und Rhein, Marne und

Seine umschlossen wird, hauptsächlich aber von Rom aus.

In Rom möge auch unsere Betrachtung beginnen. In Jahr 60 v. Chr. fällt ein

hochbedeutsames Ereignis, ein Markstein in der Geschichte der römischen

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Revolutionszeit, jener Epoche, in welcher in konvulsivischen Zuckungen das

übergross gewordene Weltreich sich zu der ihm adäquaten Verwaltungsform

durchrang: von der Republik

S. 199: zum Kaisertum: Im Jahre 60 schlossen sich drei Männer zu einem ganz

privaten Dreibund zusammen, in der Absicht, durch diesen

Parteizusammenschluss wirksam gegen die engstirnige aristokratische Politik

des Senates, des Vertreters des republikanischen Staatsgedankens, aufzutreten:

Pompeius, Crassus und Caesar. Pompeius war eben an der Spitze siegreicher

Legionen aus dem Orient zurückgekehrt. Ein ausserordentliches Kommando,

das die Kompetenzen eines gewöhnlichen Provinzialstatthalters weit

überschritt, hatte ihn gegen die Seeräuber und gegen den orientalischen König

Mithridates von Pontos geführt. Crassus war der Vertreter der Hochfinanz.

Caesar als Dritter, bis dahin nur als demagogischer Führer der Volkspartei

bekannt, war vielleicht damals noch der unbedeutendste des Triumvirates. Im

Juni des Jahres 60 war er aus Spanien nach Rom zurückgekehrt, das er als

Proprätor verwaltet und wo er seine ersten Lorbeeren als Stratege geholt hatte.

Durch den Druck dieses Parteizusammenschlusses gelang es Caesar, im Herbst

desselben Jahres 60 seine Wahl zum Konsul für das Amtsjahr 59 durch

zusetzen. Die Besetzung der andern Konsulatsstelle mit einem Parteimann

gelang den Triumvirn allerdings nicht, die Senatspartei setzte die Wahl ihres

Kandidaten Bibulus durch, eines Senators, der mehr durch seine Borniertheit

als durch eigentliche Tatkraft bekannt geworden ist. Aus Caesars

Konsulatsjahr ist für unsere Betrachtung nur das bedeutsam, was sich auf den

Beginn seiner gallischen Politik bezieht: die Zuteilung der Statthalterschaft

über Gallien. Seit zirka 20 Jahren war es nämlich Usus geworden, dass

Konsum und Prätoren nach Ablauf ihres Amtsjahres in Rom je nach Massgabe

eine der Provinzen des Reiches zur Verwaltung übernahmen - für die Anwärter

oft eine rein geschäftliche Angelegenheit wegen der vom Wahlkampf

geschwächten Finanzen, die sie dort zu sanieren hofften, für Caesar aber auch

die Basis für seine spätere politische Machtstellung.

Das dem römischen Reiche unterworfene Keltengebiet zerfiel damals in zwei

Provinzen: in die Gallia Cisalpina - sie umfasste Oberitalien - und die Gallia

Transalpina, das heutige Südfrankreich und die Provence. Die Besetzung der

Statthalterschaften über diese beiden Gebiete war im Frühjahr 60, noch vor der

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Bildung des Triumvirates erfolgt: In Oberitalien residierte Afranius, ein

Parteimann von Pompeius dem Grossen, in Südfrankreich Quintus Metellus

Celer, amtierender Konsul des Jahres 60. Während seiner Amtszeit in Rom

liess sich dieser in der Provinz durch einen gewissen Pomptinus vertreten

S. 200: von dem noch die Rede sein wird. Metellus, ein Freund und Parteigänger

Ciceros, war also Vertreter der republikanischen Partei. Er war übrigens der

Gatte jener berüchtigten Clodia, der schönen Lesbia, welche der Lyriker Catull

so leidenschaftlich geliebt, besungen und auch geschmäht hat, nicht gerade

schmeichelhaft hat der Lyriker dem Konsul und Gatten seiner Geliebten ein

Denkmal gesetzt, wo er ihn höhnend einen Esel und Trottel nennt (c. 83).

Schon im März von Caesars Konsulatsjahr 59 stand die Verteilung der

vakanten Statthalterschaften im Senat zur Diskussion. Die Republikaner hatten

für Caesar eine ganz unbedeutende Provinz ausersehen, um ihn während seiner

Statthalterschaft möglichst weit von der Politik der Hauptstadt entfernt zu

wissen, aber sie vermochten es nicht, ihre Beschlüsse in die Tat umzusetzen,

derselbe Monat März sah den politischen Zusammenbruch der

republikanischen Partei: Bei einem Ackergesetz, das die Verteilung von

Domanialland für 20000 Veteranen des Pompeius in Kampanien vorsah, hatte

Caesar den Sieg davongetragen und über die Köpfe der Senatoren hinweg das

Volk zur Annahme des Gesetzes gezwungen. Die Parteiführer der

Republikaner zogen sich zurück - so z.B. Cicero, durch dessen Privatbriefe wir

so genau über jene Wochen orientiert sind, und auch der Konsul Bibulus

verzichtete grollend auf die Amtsführung für den Rest des Jahres. Caesar aber

gab sich mit der Provinz nicht zufrieden, die ihm der Senat zugewiesen hatte.

Unter Umgehung des Senates veranlasste er den Volkstribunen Vatinius, dem

Volk den Antrag zu stellen, ihm die Statthalterschaft über Oberitalien zu

übertragen. Afranius, der damals Oberitalien verwaltete, trat als Parteimann

des Pompeius natürlich sofort zurück. Die Lex Vatinia übertrug Caesar

Oberitalien und Illyrien für fünf Jahre, nebst dem Kommando über drei

Legionen. Sicher ist uns der Wortlaut dieses Gesetzes nicht vollständig

überliefert. Denn wir verstehen nicht, wieso Caesar später die Zahl der

Legionen erhöhte und auch die Grenzen seines Verwaltungsgebietes mit diesen

Truppen überschritt - alles ohne die ausdrückliche Genehmigung des Senates.

standen diese Dinge nicht in den Vollmachten eines Statthalters, so begreifen

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wir nicht, wieso Caesar im "Bellum Gallicum" ganz offen davon reden konnte,

ohne sich zu rechtfertigen, wir verstehen auch nicht, weshalb sich in der

Antike nie eine Stimme erhoben hat und von Kompetenzüberschreitungen

spricht. Erst die modernen Erklärer haben dies Caesar angekreidet oder haben

gewundene Entschuldigungen für den vermeintlichen Fehler gefunden. Nun

weiss man, dass

S. 201: im Jahre 56 bei der Konferenz der Triumvirn in Luca Caesar seine Rechte

bestätigt und prolongiert, Pompeius und Crassus aber Statthalterschaften

zugewiesen wurden mit den ausserordentlichen Kompetenzen, die Truppenzahl

nach Belieben zu erhöhen und Krieg und Frieden zu schliessen nach

Gutdünken, ohne vorherige Genehmigung des Senates - Kompetenzen, welche

die unmittelbare Vorstufe zur Macht der römischen Kaiser bilden. Eugen

Täubler, der als letzter das Helvetierproblem umfassend behandelt (Eugen

Täubler, Bellum Helveticum. Seldwvla-Verlag, Zürich 1924.), und dem auch

Stähelin im wesentlichen zugestimmt hat, hat nun den m.E. richtigen Schluss

gezogen: Caesar konnte nicht weniger Kompetenzen erhalten haben als

Pompeius und Crassus, und wenn seine Kompetenzen in Luca nur bestätigt

wurden, so musste er sie schon im März 59 durch die Lex Vatinia erhalten

haben. Caesar erhielt also Oberitalien für fünf Jahre mit unbeschränkten

Vollmachten. Das ist nun äusserst bemerkenswert. Was beabsichtigte Caesar?

Pläne einer Unterwerfung Galliens oder eine bereits drohende Helvetierfrage

können ihn nicht dazu bestimmt haben, denn ein gallisches Problem konnte

höchstens für einen Statthalter von Südfrankreich existieren. - Caesar wollte

eben in möglichster Nähe von Rom bleiben, um auch als Statthalter die

Geschicke der Innenpolitik beeinflussen zu können. Durch seine

ausserordentlichen Vollmachten bezweckte er nichts anderes, als was

Pompeius mit den gleichen Vollmachten im Orient tatsächlich erreicht, aber

nicht ausgewertet hatte: eine geschulte und ihm treu ergebene Truppe zu

schaffen, die wirksamste Waffe für seine politischen Pläne. Caesar hat sie denn

auch tatsächlich als Rebell gegen Rom geführt, als er im Jahre 49 den Rubicon

überschritt.

Die Quellen berichten uns, dass erst nach der Übertragung von Oberitalien der

Senat Caesar auch noch das Kommando über Südfrankreich zuwies, ebenfalls

noch Ende März 59. In dieselben Tage aber fällt der plötzliche Tod des

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Metellus. Was die Ursache war, wissen wir nicht - auf alle Fälle konnte Cicero

wenige Jahre später dessen Gattin, die schöne Lesbia, offen des Giftmordes am

Gatten verdächtigen*(Cicero, pro Caelio c. 24 § 59) und wie weit vielleicht

auch ihr Bruder, der berüchtigte Parteigänger Caesars, Clodius, daran beteiligt

war, entzieht sich völlig unserer Kenntnis. Es ist wieder Täubler gewesen, der

die nachträgliche Überweisung von Südfrankreich an Caesar in einen

ursächlichen Zusammenhang mit Metellus Tod gebracht hat: Erst jetzt wurde

die zweite Statthalterschaft vakant, und der Senat übertrug

S. 202: nun, nach dem Zusammenbruch der republikanischen Partei, wohl auf Antrag

des Pompeius selbst, Caesar die Stelle, als nachträgliche Ergänzung zur ersten.

So erst ist Caesar in die Nähe der gallischen Politik gerückt, und wenn er dann

von Südfrankreich aus seine Kriege eröffnet hat, so sind seine letzten Motive

keine andern, als sie es waren, da ihm nur Oberitalien offenstand: Er wollte

Betätigung für sein Heer, um sich in ihm jene Waffe zu schmieden, die er dann

gegen Rom führte.

In die Zeit unmittelbar nach der Übernahme von Südfrankreich fallen noch

zwei kleine Ereignisse, die uns deutliche Fingerzeige sind für Caesars

Absichten: Wir sprachen davon, dass Pomptinus als Vizestatthalter des

Metellus Südfrankreich verwaltete. Er hatte dort einen Aufstand des den

Römern unterworfenen Gallierstammes der Allobroger in der Provence

unterdrückt. Dieser Aufstand war ein Nachspiel der catilinarischen

Verschwörung, und er war, ohne Zusammenhang mit den übrigen Ereignissen

im nichtrömischen Gallien, im Jahre 61 ausgebrochen. Nach Metellus Tod

stellte nun Pomptinus an den Senat die Bitte, als siegreicher Triumphator aufs

Kapitol ziehen zu dürfen. Caesar wusste es zu hintertreiben. Seine Gegner

haben ihm dies als blosse Missgunst ausgelegt. Wir dürfen aber aus der

Tatsache viel mehr schliessen: Die Bewilligung des Triumphes hätte bedeutet,

dass Rom den Krieg in Südfrankreich als völlig beendet betrachtete. Wenn

Caesar dies verhinderte, so muss er damals schon mit weiteren kriegerischen

Komplikationen gerechnet haben, oder er hat sich die Möglichkeiten dazu zum

mindesten offen gehalten. - Das andere Ereignis betraf den Germanenkönig

Ariovist:

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Noch bei Lebzeiten des Metellus hatte Ariovist im Elsass indische Kaufleute

aufgegriffen und sie Metellus als Geschenk zugeschickt, mit der gleichzeitigen

Bitte um die römische Freundschaft. Tatsächlich erhielt er dann auch den Titel

"Freund des römischen Volkes", aber erst nach Metellus Tod, auf Antrag von

Caesar. Noch war also Caesar die Anwesenheit Ariovists mit seinen

Germanenhorden im Elsass sehr genehm, weil er die anstossenden

Gallierstämme in Schach hielt und damit für Rom einen indirekten

Grenzschutz bedeutete. Erst nach der Schlacht bei Bibracte sollte sich Caesar

zum Protektor der Gallierstämme machen und Ariovist über den Rhein

zurückwerfen.

Als mit dem 31. Dezember 59 das Konsulatsjahr ablief, blieb Caesar noch bis

in den März 58 hinein vor Rom. Zwar hatte er die Stadtgrenze überschritten

und sich so formell irgendwelchen innerpolitischen

S. 203: Komplikationen entzogen. Aber seine Anwesenheit vor Rom schien ihm

geboten, bis seine Parteigänger, vor allein Clodius, den Sturz einiger

Senatshäupter durchgesetzt und Cato und Cicero ins Exil geschickt hatten. Erst

jetzt reiste er im Eiltempo nach Genf, denn auf den 28. März 58 hatte sich das

gesamte Helvetiervolk auf dem rechten Rhoneufer, gegenüber von Genf,

versammelt und begehrte Durchlass durch die römische Provinz. Durch

Eilkuriere hatte Caesar bereits den Befehl an den Stab der zehnten Legion in

Südfrankreich ergehen lassen, die Rhonebrücke abzubrechen - fest

entschlossen, dem Begehren der Helvetier auf keinen Fall zu entsprechen und

jede sich bietende Gelegenheit gleich anzupacken.

Doch wenden wir nun unsere Blicke den innergallischen Problemen zu. Die

Gallienpolitik des römischen Senates datiert erst in die Mitte des zweiten

Jahrhunderts vor Christus. Rom war durch seinen Sieg über die afrikanische

Handelsstadt Carthago Erbin der carthagischen Besitzungen in Spanien

geworden. Wie seinerzeit Hannibal sein Heer vom Ebro durch Südfrankreich

über die Alpen nach Oberitalien geführt hatte, so wird nun für Rom der Besitz

oder auch nur das Protektorat über die südfranzösischen Küstengebiete von

äusserster Wichtigkeit für die Sicherung seiner spanischen Strasse. Schon um

die Mitte des Jahrhunderts (154) intervenierte Rom so fort, als die uralte

Griechenkolonie Marseille um Hilfe gegen die Gallierstämme bat. Zu einer

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Annexion der Küstengebiete kam es aber erst in den Jahren 125-121, als

Marseille erneut um Hilfe er suchte. Unter den gallischen Stämmen

Mittelfrankreichs waren damals die Arverner (ihr Name haftet heute noch an

der Auvergne) führend. Unter der tatkräftigen Leitung ihres Königs Bituitus

bedeuteten sie gerade jetzt eine beständige Gefahr für die spanische Strasse.

Seit je war es Roms Taktik, seine Grenzen so zu sichern, dass es die

Rivalitäten der Nachbarstaaten ausnützte und gegeneinander ausspielte um

nicht irgendwelche Mächtekonzentrationen an seinen Grenzen zu ermöglichen.

Rom liess sich darum von den Rivalen der Arverner, den Häduern (sie

wohnten in der Bourgogne), herbeirufen, und der Kampf endete mit der

Errichtung einer römischen Provinz, deren Grenzen von Genf der Rhone nach

abwärts und dann westwärts gegen die Pyrenäen hinüber verliefen. Den

Avernerkönig Bituitus aber setzten die Römer samt seinem Sohn während der

Friedensverhandlungen schmählich gefangen, "weil es gegen die Sicherheit

des Friedens zu sein schien, sie wieder nach Gallien

S. 204: zurückkehren zu lassen", sagt Livius (ep. 61). Diese Grenzen hat Rom bis zum

Jahre 58 nicht mehr überschritten, und auch während des Germaneneinbruches

der Kimbern blieb Rom in dieser Defensivstellung.

Jenseits der Grenzen aber rangen nun die Gallierstämme um die

Vormachtstellung, ein Kampf, dem erst Caesar ein Ende setzen sollte. Durch

die Gefangennahme des Königs Bituitus brach die alte Vormachtstellung der

Arverner zusammen, ihr Adel teilte sich in die Macht Seines ehemaligen

Königs und wachte argwöhnisch über seine errungene Stellung. Ein Versuch

von Celtillus, dem Vater des nachmaligen gallischen Freiheitskämpfers

Vercingetorix, die Königskrone wieder zu gewinnen und so die alte

Vormachtsstellung der Arverner wieder aufzurichten, scheiterte am Argwohn

des Adels, und es ereilte ihn das gleiche Schicksal, wie wenig später Orgetorix.

Lange blieb der Kampf zwischen Arvernern und Häduern, den erklärten

Freunden Roms, unentschieden. Er blieb es auch, als sich die Arverner mit den

Sequanern verbanden, welche an den West- und Nordabhängen des Jura, um

Besançon herum, wohnten. Es sollte sich aber bitter rächen, dass die Häduer

im Jahre 121 die auswärtige Hilfe Roms angerufen hatten: Die verbündeten

Arverner und Sequaner wandten sich im Jahre 71 an den germanischen König

Ariovist, der an der Spitze seiner Sueben am Rheine stand, und veranlassten

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ihn, ins Elsass hinüber zu kommen. Zehn Jahre später, im Jahre 61, gelang

ihnen mit Hilfe der germanischen Söldner die endgültige Vernichtung der

Häduer bei Magetobriga (wir können die Lage dieses Ortes heute nicht mehr

mit Sicherheit bestimmen). Die Blüte des häduischen Adels wurde geknickt,

die Klientelstaaten wurden ihnen genommen, und sie selbst durch Stellung von

Geiseln geknebelt. Nur ihr Führer, der Druide Diviciacus, floh nach Rom, um

die alte Freundschaft der Römer für sein Volk zu mobilisieren. Rom aber fasste

zu Beginn des Jahres 60 nur den Beschluss, dass der jeweilige Statthalter von

Südfrankreich die Häduer und die übrigen Freunde des römischen Volkes

unterstützen solle, soweit sich dies mit dem Vorteil des römischen Staates

vereinbaren lasse (B. G. 1. 35. 4). Rom aber war die Anwesenheit Ariovists

vorerst ganz willkommen, weil er seinerseits nun wieder die gallischen Sieger

fest hielt. Wie wenig Aufmerksamkeit Rom aber tatsächlich der Niederlage der

Häduer schenkte, beweist die Tatsache, dass der gleichzeitige

Allobrogeraufstand von 61 in keinem Zusammenhang mit dem Germanensiege

stand (vgl. oben Seite 202). Cicero spricht nur einmal,

S. 205: ganz nebenbei, von einer "unglücklichen Schlacht" (ad Att, 1. 19 2), und die

letzte Konsequenz war die Verleihung des Titels "Freund des römischen

Volkes" im Jahre 59. Tatsächlich war Diviciacus nach Caesars eigenem

Zeugnis "unverrichteter Dinge heimgekehrt" (VI. 12. 5).

Magetobriga aber schuf jene politische Lage, aus der heraus die Vorgänge bei

den Helvetiern unmittelbar verständlich werden. Der Kampf um die

Hegemonie über Gallien war durch Ariovists Sieg in ein neues Stadium

getreten. Denn nur zu bald mussten die verbündeten Sieger, die Arverner und

Sequaner, einsehen, wie Ariovist seine neugeschaffene Position nützte und nun

seinerseits immer energischer und bedrohlicher seine eigenen Ansprüche auf

Gallien geltend machte. Bald sollte er ja von den Sequanern die Abtretung

eines zweiten Drittels ihres Ackerlandes fordern und neue Germanenscharen

zum Übertritt über den Rhein veranlassen. Der gallische Adel hatte sich als

unfähig erwiesen, ein geeintes Gallien, ja nicht einmal die starke Vorherrschaft

eines Stammes über die übrigen zu schaffen. Die Sorge um den drohenden

Verlust der gallischen Selbständigkeit und Freiheit veranlasste darum kurz

nach Ariovists Sieg drei Männer, sich im geheimen zusammen zu tun, um

durch eine Verbindung ihrer drei Völker den Galliern die Herrschaft über ihre

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Heimat zu erhalten. Um eine einheitliche und zielbewusste Führung zu

garantieren, wollten sie sich gegenseitig unterstützen, die Königswürde in

ihren Stämmen wieder aufzurichten - in den Augen der damaligen Gallier ein

hochverräterisches Beginnen, und nur zu leicht sind wir noch heute versucht,

die Gründe einzig und allein in ihrem persönlichen Ehrgeiz und Machthunger

zu sehen und übersehen dabei, dass die Sorge um die Zukunft ihres Landes und

wahrer Patriotismus dieses Vorgehen forderte. Es waren der Sequaner

Casticus, der Häduer Dumnorix und der Helvetier Orgetorix:

Mit Casticus Vater war das Königtum bei den Sequanern wohl erst kurz vor

dem Germaneneinbruch erloschen, und auch hier hatten sich die Adeligen in

seine Würde geteilt. Für den Sohn schien das Königtum der einzige Weg zu

sein, um seinem von Ariovist geknebelten Volke die Freiheit wieder zu

schenken. - Dumnorix war ein jüngerer Bruder des Druiden Diviciacus, des

Führers der römerfreundlichen Adelspartei, und politisch sein erbittertster

Feind. Es war ihm gelungen, sich eine kleine Hausmacht zu schaffen, seine

Stellung war so stark, dass er alle Staatspachten in Händen hielt, und mit deren

Erträgnissen hielt er sich eine eigene Truppe, und

S. 206: durch reichliche Spenden wusste er sich zum Führer des entrechteten niederen

Volkes aufzuschwingen - eine politische Konstellation, wie wir sie auch in den

griechischen Städten finden, und die jeweils zur Aufrichtung einer Tyrannis

führte. - Auch Orgetorix war wohl einer der mächtigsten Adeligen seines

Volkes, zählte er doch an die 10'000 Mann in seiner Gefolgschaft, Klienten

und Schuldknechte. Doch seine Stellung zum Adel unterscheidet sich

wesentlich von der des Dumnorix. Noch war bei den Helvetiern die

Verschuldung und Entrechtung der Kleinbauern nicht so weit vorgeschritten,

und neben dem Adel muss noch eine starke Zahl von Gemeinfreien bestanden

haben. Diese freie Wehrgemeinde war es, welche Orgetorix Plänen auf die

Königskrone gefährlich werden konnte, und so versicherte er sich erst des

nötigen Rückhaltes für seinen Staatsstreich durch eine Verschwörung unter den

Adeligen, bevor er mit offenen Plänen vor das gesamte Volk trat: Er rechnete

damit, sein Volk zum Auszug aus seinen Grenzen zu veranlassen, bei dieser

Gelegenheit den Staatsstreich auszuführen und gleichzeitig seinem Volke die

Vermacht über Gallien zu sichern.

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Orgetorix ursprünglicher Auszugsplan trug somit nicht allein den Interessen

seines engeren Landes Rechnung, sondern war geboren aus der Weitsichtigkeit

eines bedeutenden Staatsmannes, der sich nicht nur sein Helvetien, sondern

auch die nationale Sache ganz Galliens vor Augen hielt. "Orgetorix", so erzählt

Caesar wörtlich (1. 2. 1 ff.), "machte unter dem Konsulat des Messala und

Piso" - das ist das Jahr 61, also unmittelbar nach Magetobriga - "veranlasst

durch den Wunsch nach der Königskrone, unter dem Adel eine Verschwörung

und überredete darauf die gesamte Bürgerschaft, mit all ihrer Habe aus ihrem

Lande auszuwandern. Es sei ja ganz leicht, sich der Herrschaft über ganz

Gallien zu bemächtigen, da sie an Tapferkeit alle überragten. Er überredete sie

hiezu um so leichter, weil die Helvetier durch ihre geographische Lage

ringsum beengt sind. Sie glaubten zu enge Grenzen zu besitzen im Verhältnis

zu ihrer Bevölkerungszahl und zum Ruhme ihrer kriegerischen Tapferkeit."

Wenn wir Caesars Angaben über die Bevölkerungsziffer annehmen, so ergibt

sich, wie man errechnete, eine ungefähre Siedelungsdichte von 13 Köpfen pro

Quadratkilometer. Das ist also bei dem viel kleineren Kulturlande und dem an

sich geringeren Bodenertrag eine recht hohe Ziffer. Gegen Osten und Südosten

war keine Möglichkeit einer weiteren Ausdehnung, weil dort bis gegen den

Bodensee hinunter die Räter sassen, auf der Rheinlinie zwischen

S. 207: Bodensee und Basel drängten die Germanen, fast täglich schlugen sich die

Helvetier an den Grenzen oder jenseits des Rheins mit ihnen herum, und der

Übertritt Ariovists mit seinen Horden ins Elsass und in die burgundische Pforte

erhöhte noch die Gefahr, von den Germanen langsam eingekreist und erdrückt

zu werden. So musste der Auswanderungsplan sofort beim Volke Anklang

finden.

Aber nicht allein in der starken Beengtheit werden wir die Gründe hiezu finden

müssen. Die Helvetier waren ein sehr unruhiges Volk und sicher noch gar nicht

lange im schweizerischen Mittellande sesshaft. Von der mächtigen

Keltenwanderung, die von Süddeutschland, Bayern und Böhmen aus

ruckweise süd- und westwärts flutete, bilden die Helvetier die letzte Etappe.

Wohl unter dem Druck der Germanen weichen die Kelten nach Frankreich und

Spanien und später England und Irland aus, über den Grossen Sankt Bernhard ‚

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nach Oberitalien - zu Beginn des 4. Jahrhunderts finden wir schon ihre Horden

vor Rom, andere Züge, dem Lauf der Donau folgend, brechen im Balkan ein

und tauchen im 3. Jahrhundert im Herzen Griechenlands, vor Delphi, und in

Kleinasien auf und haben sich dort bis in christliche Zeit unter dem Namen

"Galater" erhalten‚ - diese sind es auch, die den Gegenstand jener herrlichen

hellenistisch-barocken Skulpturen von Pergamon bilden. - Nördlich der rauhen

Alb hiess noch lange ein Gebiet "verlassenes Helvetierland", und noch ein

Tacitus weiss, dass die Helvetier einst zwischen Rhein und Donau sassen. Der

wilde Germanensturm der Kimbern, der wellig vor 100 v. Chr. Westeuropa

durchfegte, zog in Süddeutschland durch Helvetiergebiet und veranlasste dort

die Teutonen und Tiguriner, sich ‚ dem Zuge anzuschliessen, bei Mainz zogen

diese Stämme mit den Kimbern über den Rhein und verheerten Gallien und

Spanien. Der Teutonenstamm wurde bei Aquae Sextiae an der Druence von

den römischen Heeren des Marius völlig aufgerieben (105) und verschwand

seitdem spurlos aus der Geschichte. Die Tiguriner aber finden wir vor dem

grossen Auszug von 58 in der Westschweiz, mit Aventicum (Avenches) als

ihrem Zentrum. - La Tène in der Nähe von Neuchatel wahrscheinlich eine

Zollstation und für den Archäologen eine hochbedeutsame Fundstätte, zeigte

bei den Ausgrabungen die Zeichen eines gewaltigen Kampfes, Brandsspuren

und gespaltene Schädel zeugten noch davon, und Stähelin hat vermutet, es

könnte ein Kampf zwischen den eindringenden Helvetiern und den langsam

über den Jura weichenden Sequanern gewesen sein. - Langsam sind also die

Helvetier südwärts dem Germanendruck gewichen und befinden

S. 208: sich zur Zeit ihres Auszuges völlig auf das linke Rheinufer gedrängt. Nur

einige den Helvetiern verwandte Stämme hatten zur Zeit der Auswanderung

ihre Wohnsitze noch rechtsrheinisch: die Tulinger, Latobrigen und Rauracer -

letztere finden wir in römischer Zeit wieder im Baselbiet, um Augst -, die Lage

ihrer Sitze lässt sich im genaueren nicht mehr feststellen, doch müssen diese

von den Germanen schon so gefährdet gewesen sein, dass sie der Einladung

der Helvetier, sich ihrem Zuge anzuschliessen, sofort Folge leisteten. Ein

vierter Stamm, die Broier, war mehr südwärts ausgewichen und versuchte

durch die niederösterreichischen Gebirge, durch das antike Noricum, nach

Süden durchzubrechen. -

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Allzu lange Sesshaftigkeit konnte also dem Plane des Orgetorix nicht

hinderlich sein, und die Unruhe und ständige Bewegung wird sicher mit in

Rechnung zu ziehen sein, um das Plötzliche ihres Entschlusses zu begreifen.

(Schluss folgt.)

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S. 261: C. Iulius Caesar und der Auszug der Helvetier (Schluss)

"Durch diese Aussichten und die Autorität des Orgetorix bewogen beschlossen

die Helvetier," erzählt Caesar (1. 3. 1f.), "die Vorbereitungen zu ihrer

Auswanderung zu treffen: eine möglichst grosse Zahl von Zugvieh und Karren

zusammenzukaufen, möglichst grosse Saaten zu bestellen, um auf dem Marsch

genügend Brot zu haben, und mit den Nachbarstämmen Friedens- und

Freundschaftsverträge zu schliessen. Den Ausmarsch legten sie auf das dritte

Jahr (58) fest." Orgetorix, der die Gesandtschaften zu den Nachbarstämmen

jenseits des Jura leitete, traf jetzt im geheimen jene Abmachungen mit Casticus

und Dumnorix. "Er bewies ihnen, dass es ganz leicht sei, jene Pläne (nämlich

das Königtum wieder aufzurichten) zu verwirklichen, weil er selbst ja die

Führung in seinem Staate übernehmen werde. Die Helvetier seien ja zweifellos

die Mächtigsten ganz Galliens (so dass also am Erfolg nicht zu zweifeln sei).

Mit seinen Mitteln und seinem Heere werde er auch ihnen zur Krone verhelfen.

Sie leisteten sich den Treueid und hofften, wenn sie, die Krone erreicht, durch

den Zusammenschluss der drei mächtigsten und stärksten Völker sich der

Vorherrschaft über ganz Gallien zu bemächtigen." (1. 3. 6 ff.) Bei dieser

Gesandtschaftsreise werden wohl auch die näheren Umstände über

Auswanderungsziel und Wege erkundet worden sein, denn an einer späteren

Stelle heisst es viel bestimmter (1 5. 3), die Helvetier hätten nur für eine

dreimonatige Reise Getreide mit sich zu nehmen beschlossen. Das Ziel der

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Wanderung war das Gebiet der Santonen - am Unterlauf der Garonne und

nördlich von Bordeaux. Das Land war den Helvetiern schon bekannt, die

Tiguriner waren auf ihrem Kimbernzug unter der Führung des jugendlichen

Divico auch dort vorbeigezogen und hatten an der Garonne ein Römerheer

vernichtend geschlagen und sie zur grossen Schande unter dem Joch hindurch

getrieben. Seit jener Zeit musste das Santonenland als fruchtbar und schwach

besiedelt bekannt gewesen sein.

Orgetorix geheime Pläne aber wurden verraten. Der Adel, den er sich

verpflichtet glaubte, liess ihn im Stich, und als Hochverräter zogen ihn die

Helvetier vor Gericht. Als er, um seine Richter

S. 262: einzuschüchtern, sein 10'000 Mann starkes Privatheer aufbot, erhoben sich die

freien Bauern. Orgetorix aber wurde plötzlich tot aufgefunden, die Helvetier

selbst glaubten, er habe selbst seinem Leben ein Ende gemacht, um der

Schmach des Feuertodes zu entgehen. - Das alles muss in den ersten Monaten

des Jahres 60 geschehen sein. Wahrscheinlich durch die häduischen Gegner

des Dumnorix und durch Diviciacus in Rom noch mächtig aufgebauscht,

erfuhr man in Rom von diesen Vorgängen, und die Römer, welche der Sieg bei

Magetobriga noch kühl gelassen hatte, erfasste jetzt ein gewaltiger Schrecken,

wie seinerzeit vor den Kimbern und Teutonen. Cicero (ad Att. 1. 19. 2) schrieb

am 15. März 60: "Die Helvetier stehen zweifellos in Waffen (vielleicht müssen

wir darin den drohenden Bürger krieg bei Orgetorix Verurteilung erblicken)

und machen Streifzüge in unsere Provinz (das sind vielleicht, nur durch die

Gerüchte mächtig übertrieben, Orgetorix Umritte bei den Nachbarstämmen,

denn tatsächlich haben die Helvetier die römischen Grenzen mit Truppen nicht

überschritten). Der Senat beschloss darauf - fährt Cicero fort -‚ die Konsuln

sollten die beiden gallischen Provinzen verlosen (damals erhielt eben Metellus

sein Kommando über Südfrankreich), es sollten Truppen ausgehoben werden

und Gesandte sollten eine Verbindung der gallischen Stämme mit den

Helvetiern verhindern."

Das ganze war aber ein Schreckschuss, schon im Mai 60 schrieb Cicero wieder

an seinen Freund Atticus (1 20. 5) etwas schnippisch: "Metellus freut sich

nicht sehr, dass aus Gallien gemeldet wird, alles sei wieder ruhig. Ich glaube,

er hoffte auf einen Triumph!"

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Trotz Orgetorix Tod betrieben die Helvetier ihre Rüstungen weiter und

veranlassten die Boier, Tulinger, Latobrigen und Rauracer, sich ihnen

anzuschliessen. Ihr ganzes Land legten sie systematisch wüst, um nichts ihren

Nachfolgern in die Hände fallen zu lassen. Alle Gehöfte, 400 Dörfer und 12

befestigte Plätze gingen in Flammen auf. Trotz ihrer Bemühungen haben

Archäologen und Philologen diese 12 "Städte" nicht mehr lokalisieren können.

Sicher gehörten zu ihnen Vindonissa, die Siedelung auf der Engehalbinsel bei

Bern und ferner alle jene Orte, deren Name mit dem Element -dunum

zusammen gesetzt ist. Dunum ist gleichbedeutend mit dem englischen "Town",

deutsch "Zaun": so z.B. Dunum = Thun, Noviodunum = Nyon, Eburodunum

Yverdon, Moridunum = Murten, Ollodunum = Olten etc,

Auf den 28. März 58, auf den Tag, da der Mond zum ersten Mal wieder

sichtbar wurde nach der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche, versammelten sich die

Helvetier gegenüber von Genf: 368'000 Menschen

S. 263: - die verbündeten Stämme eingerechnet, die Helvetier allein 258'000 -‚ die

Zahl der Waffenfähigen betrug 92'000, wie Caesar später aus den offiziellen

Listen entnahm, die er, in griechischer Schrift geschrieben, im Lager der

Helvetier erbeutete.

Von den Wegen, die den Helvetiern offenstanden, war der nördlichste durch

die Burgundische Pforte gesperrt durch die Germanen, die Jurapässe wegen der

gespannten Lage mit den Sequanern nicht ratsam. So blieb also nur der Weg

über Genf und durch die römische Provinz. Die Absichten der Helvetier waren

durchaus friedlich, es schien ihnen selbstverständlich, dass Caesar Durchlass

geben werde, und sie warteten gutgläubig am Rhoneufer, als sich Caesar 14

Tage Bedenkzeit ausbat. Caesar aber sicherte unterdessen durch

Feldbefestigungen das ganze linke Rhoneufer von Genf bis gegen den Jura hin

und antwortete den helvetischen Gesandten Nameius und Verucloetius, die an

den Iden des April wiederkehrten: "Es sei nicht Sitte des römischen Volkes,

irgend jemandem den Durchzug durch eine Provinz zu gestatten." (1. 7. 3.)

Seinen Lesern aber gibt er als Begründung an: "Er habe noch die Schmach im

Gedächtnis gehabt, welche einst die Tiguriner dem Heere des Konsuls Cassius

angetan, und er glaubte nicht, dass diese wilden Menschen ohne Plünderungen

durch römisches Gebiet ziehen würden." (1. 7. 4f.) Diese rein gefühlsmässige

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Begründung mutet zunächst etwas merkwürdig an, umso mehr als Caesar erst

später nähere politische Begründungen für sein Handeln angibt, dort, wo er auf

das Auswanderungsziel der Helvetier zu sprechen kommt. Es ist ganz

ausgeschlossen, dass er nicht etwa schon vor Genf darum gewusst hätte.

"Caesar sah ein," erzählt er (1. 10. 1f), "dass es für die römische Provinz eine

grosse Gefahr bedeute, wenn die Helvetier ins Santonengebiet kämen, nicht

weit von dem römischen Gebiete um Toulouse, und wenn er so kriegslustige

Leute, persönliche Feinde des römischen Volkes, als Nachbarn dieser so

fruchtbaren und ungeschützt offenen Gebiete an der Garonne hätte." Dies

mögen tatsächlich die politischen Erwägungen gewesen sein, zudem wäre ihm

auch ein Nachrücken der Germanen ins Helvetiergebiet bedrohlich gewesen.

Die letzten Gründe aber, im Sinne des Thukydides, müssen wir in Caesars

eigener Politik suchen: Caesar wollte um jeden Preis den Krieg, Betätigung für

seine Truppe. - Wir dürfen es darum auch nicht als gemeine Falschheit

auslegen, wenn Caesar die Helvetier 14 Tage lang hinhielt und unterdessen

einen undurchstossbaren Wall längs der Rhone erbauen liess, wenn wir auch

geneigt sind, unsere Sympathien den treuherzigen Alpensöhnen

S. 264: zu schenken. Caesar verfügte im Augenblick nur über eine, die zehnte Legion.

Es wäre unverantwortlich gewesen, ohne feste Stellungen mit nur etwa 6'000

Mann diesen wilden Kriegsteufeln den Übergang über die Rhone zu wehren. -

Die Feldbefestigungen erwiesen sich denn auch als sehr wirksam, die

Helvetier, die nun gewaltsam den Durchpass erzwingen wollten, mussten nach

einigen verzweifelten Vorstössen von ihrem Vorhaben abstehen.

Es blieb ihnen nur noch ein Weg offen, längs des rechten Rhoneufers, durch

den Pas de l'Ecluse hindurch, um zunächst die weiten Ebenen des Saonetales

zu gewinnen. Der Engpass aber war durch die Sequaner gesperrt. Dunmorix,

der sicher noch trotz Orgetorix Tod die Verwirklichung seiner Pläne nahe

glaubte und daher zu den Helvetiern hielt, erreichte es durch seine

Beziehungen, dass sich die Sequaner zu einem Vertrage herbeiliessen und den

Helvetiern den Durchzug gestatteten. Durch Geiseln hatten sich die Helvetier

verpflichtet, jegliches Plündern im Lande des Kontrahenten zu unterlassen.

Caesar aber reiste im Eiltempo nach Oberitalien, holte aus Aquileia die drei

dort winternden Legionen, hob zwei Rekrutenlegionen aus und eilte über die

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Pässe der Westalpen zurück an die Rhone. Die 10. Legion blieb vor Genf

stehen, unter dem Kommando von Labienus, dem ersten General von Caesar.

In der Gegend von Lyon überschritt Caesar die Rhone und damit die Grenze

des römischen Reiches. Durch diesen Schritt ging er zur Offensive über. Dass

dies in den ausserordentlichen Kompetenzen Caesars stand, haben wir oben

besprochen. Dafür spricht auch, dass Caesar in aller Offenheit davon spricht

(1. 10, 5.). Es wird aber auch klar, dass Caesar schon vor Genf zu allem

entschlossen war und im Kampf mit den Helvetiern, den er jetzt suchte, einen

willkommenen Anlass fand für seine Truppe.

Dringende Hilferufe der Häduer und einiger anderer Stämme, deren Gebiet das

Helvetiervolk durchzog, mussten trotzdem Caesar recht willkommen sein, als

Protektor der alten Freunde Roms einen äusseren Anlass zu finden, um

einzugreifen. Denn die Helvetier zogen nun jenseits des Jura raubend und

plündernd nordwestwärts, der Saone zu. "Daher beschloss Caesar, nicht zu

warten, bis alle Güter seiner Bundesgenossen vernichtet und die Helvetier in

das Santonenland gelangt wären", erzählt er (1. 11. 6). Die Marschroute,

welche die Helvetier einschlugen, führte sie zur Saone und von dort nord-

westwärts über die Berge von Charolais auf der Strasse nach Autun,

S. 265: in der Gegend von Nevers wollten sie dann die Loire überschreiten, um nach

diesem letzten grösseren Hindernis ungehemmt die Saintonge zu erreichen.

Eben waren sie daran, mühselig, 20 Tage lang, all ihre Habe über die Saone zu

schaffen, in der Gegend von Trévoux oberhalb Lyon. Patrouillen der 10.

Legion, welche mit Labienus von Genf her nachgerückt war, brachten Caesar

die Meldung, und im frühen Morgengrauen überraschte Caesar eben noch den

Stamm der Tiguriner und hieb ihn zum grossen Teil zusammen. "So büsste

durch Zufall oder durch den Ratschluss der unsterblichen Götter gerade jener

Teil des helvetischen Volkes, der dem römischen Volk einst eine so

schmähliche Niederlage verursacht hatte." (1. 12. 6.) In einem Tag liess Caesar

eine Brücke über die Saone schlagen und setzte sein gesamtes Heer, sechs

Legionen, über. Der Schreck fuhr den Helvetiern nun doch in die Glieder. Der

greise Divico bemühte sich persönlich zu Caesar, um zu unterhandeln: Sie

wollten gerne dorthin ziehen, wo ihnen Caesar Wohnsitze anweise, wenn er sie

nur in Frieden lasse. Wo nicht, so solle er an den alten Kriegsruhm denken, den

ja die Römer einst zu spüren bekommen hätten. Recht ausführlich erzählt uns

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Caesar den Inhalt des Gespräches, prachtvoll hat er die heldische Gestalt des

helvetischen Heerführers gezeichnet. Der Sieg an der Saone solle ihn nur nicht

so hochmütig machen, denn er habe ja nur durch Taktik, nicht mit Tapferkeit

gesiegt. Caesar bleibt kühl: Die Helvetier hätten keinen Grund, so sehr auf ihre

Kriegstüchtigkeit zu pochen. Rom habe nicht aus Angst so lange mit der Rache

gezögert. Die unsterblichen Götter selbst hielten es oft so, dass sie grosse

Übeltäter recht lange die Straflosigkeit geniessen liessen, um sie hinterher um

so tiefer zu stürzen. Aber wenn sie Geiseln stellen wollten, damit er sich von

ihrem Gehorsam überzeugen könne, so wolle er schon Frieden schliessen.

Doch Divico lehnt schroff ab: Sie hätten es von ihren Ahnen gelernt, Geiseln

zu nehmen, nicht zu geben. Des sei das römische Volk Zeuge! (1. 14. u. 15.)

Der riesige Wanderzug setzt sich wieder in Bewegung, Caesar, wie das

Raubtier hinter seiner Beute schleichend, hinterher, stets in einem Abstand von

etwa 8-10 km. So geht es zwei Wochen lang. Seine Vorhut bestand aus einem

Kavalleriedetachement, das ihm die verbündeten Häduer hatten stellen müssen.

Zu Caesars Verhängnis wurde es von keinem Geringeren befehligt als von

Dumnorix. Als diese Kavallerie sich einst zu weit vorwagte, wurde sie in einer

für den Reiterkampf ungünstigen Gegend von der helvetischen Nachhut

S. 266: geschlagen. Die Verluste waren nach Caesars Angabe nicht gross, aber der

Sieg brachte die Helvetier wieder in zuversichtlichere Stimmung. - Mit weit

grösseren Schwierigkeiten hatte Caesar wegen der Getreideverpflegung zu

kämpfen. Solange der Zug nordwärts dem rechten Saoneufer entlang ging,

führte er seine Vorräte auf dem Fluss aufwärts. In der Höhe von Macon aber

bogen die Helvetier in die Berge von Chanolais hinein. Die Jahreszeit war

noch zu früh, als dass sich Caesar sein Getreide auf den Feldern hätte holen

können. So war er auf die Lieferungen der Häduer angewiesen, aber von Tag

zu Tag wurde er hingehalten. Endlich gelang es ihm, in Unterhandlungen mit

dem Druiden Diviciacus zu erfahren, dass Dumnorix die gesamte Lieferung

hintanhalte, und dass die Leitung des Staates machtlos sei gegen den

mächtigen Fürsten. Ihn in Haft zu setzen war im Feindesland auch nicht

geboten, denn seine Anhängerschaft im Volke hätte Caesar in ungeahnte

Schwierigkeiten bringen können. Er musste sich damit begnügen, Dumnorix

unter Beobachtung zu stellen, ohne ihm indessen sein Mitwissen zu verraten.

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Der Tag rückte näher, an welchem Caesar seiner Truppe frische

Getreiderationen verteilen musste. Die Vertrautheit mit ihr war noch zu gering,

als dass er, wie später hie und da, ein Darben seiner Soldaten hätte riskieren

dürfen. Es blieb also vorerst nur das eine: eine Schlacht mit den Helvetiern zu

erzwingen. Am Vortage der Schlacht von Bibracte schien sich ihm die

Gelegenheit zu bieten. Die Helvetier hatten sich am Abend zuvor am Fusse

eines Berges gelagert. In weitem Umgehungsmarsch liess Caesar des Nachts

die Anhöhen über dem Lager von Labienus besetzen und wollte bei

Sonnenaufgang von zwei Seiten das Lager angreifen. Kaum 3 km war Caesar

mehr vom Lager entfernt, als der Führer seiner vordersten Patrouillen,

Considius, melden liess, der Berg sei von helvetischen Truppen besetzt. Er

hatte bei den ersten Sonnenstrahlen dort Waffen blitzen sehen, den Kopf

verloren und in der grossen Entfernung die Seinen für Feinde angesehen. Bis

gegen Mittag blieb Caesar kampfbereit liegen, und auch Labienus wartete

vergeblich auf den ersten Angriff im Tale - die Helvetier aber zogen ungestört

weiter. - Es ist recht merkwürdig, dass uns Caesar den Namen dieses

Subalternoffiziers ausdrücklich genannt hat, es ist sonst nicht seine Art, solche

Details zu berichten, und man ist geneigt, anzunehmen, Caesar habe sich vor

seinem Lesepublikum entschuldigen und seinen Untergebenen blosstellen

wollen: Er sei ja ein ausgezeichneter und bestempfohlener Offizier gewesen,

der noch unter Sulla, also vor

S. 267: 25 Jahren, schon gedient hatte, aber er habe eben den Kopf verloren! Das

Detail ist uns aber nicht allein zur Illustrierung Caesars wertvoll, sondern es

mag ein Gradmesser sein für die erregle Gespanntheit im römischen Heere, als

es sich zum ersten Mal einem so berüchtigten und gefährlichen Gegner

gegenüber sah.

Am folgenden Tage, etwa in der Gegend von Toulon sur Arroux, biegt Caesar

ganz plötzlich von der Marschroute der Helvetier nach rechts ab und schickt

sich an, der Hauptstadt der Häduer, Bibracte, zuzumarschieren die nur noch

zirka 22 km entfernt auf dem Mont Beuvray bei Autun lag. Am nächsten Tag

sollte Caesar seiner Truppe neue Rationen zuteilen, und er wollte sich selbst in

die Gewalt der Getreidedepots der Hauptstadt setzen, da auf friedlichem Wege

von den Bundesgenossen nichts zu erreichen war. Er rechnete offenbar damit,

- 22 -

die Helvetier längst wieder einzuholen, wenn sie bei Nevers die Loire

überschritten, und er wollte sie dort mit mehr Glück als an der Saone

überraschen. Leute aus der Truppe des L. Aemilius, Decurio der gallischen

Reiterei, liefen zum Feinde über und meldeten den Helvetiern Caesars

Schwenkung. Es war wohl wieder Dumnorix, der die Hände im Spiel hatte.

Die Helvetier nahmen ihrerseits die Gelegenheit wahr und zwangen Caesar zur

Annahme der Schlacht. Auch sie mussten Caesars Plan durchschaut haben und

sahen jetzt noch die einzige Möglichkeit, sich des lästigen Verfolgers zu

entledigen, um bei Nevers ungehemmt die Loire passieren zu können. Sie

machten kehrt, und mit ganzer Wucht stiess zunächst ihre Nachhut Caesar in

die offene Flanke seiner Marschkolonne. Caesar zog seine Legionen im

Schutze seiner Kavallerie unten an den nächsten Hügel, und diese hatte den

ersten Anprall aufzufangen. Oben auf den Hügel liess er seinen Train

auffahren und verschanzen, die zwei Rekrutenlegionen hielten die Anhöhen

besetzt. Die vier Veteranenlegionen liess er auf halber Höhe des Abhanges

aufmarschieren und sich in dreifach gestaffelter Schlachtreihe aufstellen. Es

war das erste Mal, dass Caesar seine Truppe in den Kampf führte. Um seiner

Leute, vor allem des Offizierskorps, sicher zu sein, liess er alle Berittenen

absitzen und entfernte auch sein eigenes Pferd ausser Sehweite, um alle

Möglichkeiten zur Flucht sich und seinen Offizieren zu nehmen.

Inzwischen hatten die angreifenden Helvetier Caesars Kavallerie geworfen und

rückten nun in geschlossener Phalanx gegen das erste Treffen der römischen

Schlachtreihe vor. Dieses eröffnete in seiner uralten Taktik den Angriff, es

überschüttete die feindliche Phalanx

S. 268: mit einem Hagel seiner kurzen Wurfspeere, der Pilen, und rückte dann im

Laufschritt, die kurzen Schwerter gezückt, gegen die feindlichen Reihen, sie

dort zu sprengen, wo die Pilen Lücken gerissen oder Verwirrung geschaffen

hatten. über eine Strecke von 1½ km drängten die Römer die Helvetier

fechtend zurück. Erst im Schutze eines Hügels kamen die Helvetier wieder zu

stehen und ordneten sich neu. Ob es Zufall war, oder ob die Helvetier aus

Taktik zurück gewichen waren, weiss man nicht - Caesars Reihen hatten sich

zu weit von ihrer Ausgangsbasis entfernt und sahen plötzlich in ihrer offenen

Flanke die Boier und Tulinger, die als helvetische Vorhut erst jetzt in den

Kampf eingriffen und Caesar zwischen zwei Fronten zu nehmen drohten.

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Zudem stürmten die Helvetier wieder erneut von ihrem Hügel herab. Nun

zeigte sich aber doch die Überlegenheit von römischer Taktik und Drill: Caesar

löste das dritte Treffen von seiner Schlachtreihe ab, liess es in einer

Schwenkung aufmarschieren und stellte es quer zur ersten Front, gegen die

helvetische Vorhut. Stundenlang standen so seine Truppen in dieser

Winkelstellung, den Helvetiern aber, selbst gebunden, gelang eine weitere

Umgehung von Caesars Fronten nicht. Gegen ein Uhr hatte der mörderische

Kampf begonnen, noch am Abend war es den Helvetiern nicht gelungen, die

römischen Reihen zu erdrücken, oder gar zu werfen. Das entschied über ihr

Schicksal: Langsam wichen ihre Fronten zurück, ohne eine Vereinigung erzielt

zu haben, und wurden nun, getrennt, von den römischen Truppen vernichtet.

Bis tief in die Nacht hinein tobte der wilde Kampf, am wildesten um die

helvetische Wagenburg, und Caesar gibt selber zu, dass dort der mörderische

Kampf die grössten Verluste verursachte. Man muss seine ganze Phantasie

aufbieten, um aus Caesars trockenen Worten jenes schauerliche, von Fackeln

und brennenden Wagen erleuchtete Bild erstehen zu lassen, wie alle, auch

Greise, Frauen und Kinder, von den Wagen herab und zwischen den Rädern

hervor, ihr letztes Gut verteidigten. Erst tief in der Nacht hatte das Schicksal

endgültig entschieden, 130'000 Leute flohen vier Tage lang ununterbrochen

nordwärts ins Gebiet der Lingonen, an den Oberlauf der Seine. Wir wissen

nicht, ob sie nordwärts ausbiegen wollten, um vielleicht doch noch das

Santonenland zu erreichen, oder vielleicht wieder ihrer alten Heimat zu. -

Caesars Truppe hatte der Kampf zu sehr erschöpft, als dass er die direkte

Verfolgung hätte aufnehmen können. Aber der Sieger droht allen, welche die

Fliehenden in irgendeiner Form unterstützen sollten, sie als seine Feinde zu

betrachten und zu behandeln - und

S. 269: keine Hand bot sich dem armseligen Helvetierrest. Der Besieger ihres so

berühmten und gefährlichen Brudervolkes hatte den gallischen Stämmen

Respekt eingeflösst.

Erst nach dreitägiger Ruhe brach Caesar ebenfalls nordwärts auf. Erschöpft

und aller Mittel bar schickten die Helvetier nun doch eine Gesandtschaft und

boten ihre bedingungslose Ergebung an. Weinend lagen sie zu Füssen des

Römers und baten um Frieden. Er forderte lediglich Stellung von Geiseln und

Ablieferung der Waffen und der entlaufenen römischen Sklaven. Aus Angst,

- 24 -

Caesar könnte sie nach ihrer Entwaffnung auch noch zur Rechenschaft ziehen

wegen ihres Ungehorsams, flohen während der ersten Nacht etwa 6'000 Leute

aus dem Gaustamme der Verbigener dem Rheine zu. Die eingeschüchterten

Gallierstämme fingen sie auf und leisteten schmähliche Schergendienste.

Caesar verfuhr mit den Flüchtlingen nach allgemeinem Kriegsrecht und liess

sie auf den Sklavenmarkt bringen. Gegen die übrigen liess er jedoch Milde

walten und nahm ihre Ergebung an. Dass er nicht das ganze Volk vernichtete,

so wie noch die Kimbern und Teutonen vernichtet und hernach durch Tod und

Sklaverei spurlos verschwunden waren, dazu bestimmte Caesar die Einsicht in

ihre wertvolle Kriegstüchtigkeit, welche er nun genugsam erfahren hatte. Die

Helvetier und ihre Verbündeten: die Tulinger, Latobrigen und Rauracer, liess

er wieder in ihre verlassene Heimat zurückkehren und befahl ihnen, die

verbrannten Wohnstätten wieder aufzubauen. Die Allobroger wurden

bestimmt, für ihre Verpflegung zu sorgen und auch für die neue Bebauung der

Äcker die Saat zur Verfügung zu stellen. "Caesar machte dies - sagt er -‚ weil

er nicht wollte, dass jene Gegend, aus der die Helvetier gewichen waren,

unbesiedelt sei, damit nicht die Germanen wegen der Fruchtbarkeit des Landes

verlockt über den Rhein kämen und so zu Grenznachbarn der Provinz und der

Allobroger würden." (1. 28. 4.) - Sie sollten, wie Stähelin es etwas sarkastisch

formuliert, die "Wacht am Rhein" übernehmen - doch hier gegen die

Germanen. Die Bedeutung, die ihnen Caesar zumass, wird auch daraus

ersichtlich, dass er ihnen die damals mildeste Form der Untertanenschaft

anbot, die ausseritalischen Völkerschaften nur sehr selten zuerkannt wurde: das

foedus - die Bundesgenossenschaft. Weitgehend blieb ihnen ihre Autonomie

gewahrt. Die weitblickende Milde des ersten Kolonisators unseres Landes hat

sich Rom als günstig erwiesen. Abgesehen davon, dass die Helvetier einige

Tausend Mann beim grossen gallischen Nationalaufstand dem Heere des

Vercingetorix zuschickten, blieben die Helvetier ergebene

S. 270: Reichsuntertanen und der Romanisierung unseres Landes, wie auch das übrige

Gallien, in hohem Masse offen. Der Kampf am Bötzberg und bei Baden im

Jahre 68 nach Christus galt nicht der römischen Herrschaft an sich, sondern

Galbas Gegenkaiser Vitellius, den sie als nicht rechtmässig betrachten

mussten.

- 25 -

Die Archäologie lehrt uns, wie rasch das Helvetierland aufblühte, trotz des

furchtbaren Aderlasses, den das Volk vor Bibracte erlitten hatte. Von den

368'000 Menschen, welche ausgewandert waren, kehrten, die Boier

abgerechnet, welche im Häduerland zurückblieben, nur 110'000 in die alte

Heimat zurück. Zwei Drittel des Volkes waren zusammengehauen worden.

Caesar hat den Besiegten nicht nur durch die Tat seine Achtung bewiesen,

sondern auch in seinen Aufzeichnungen seiner hohen Bewunderung Ausdruck

verliehen: "In der Schlacht, die von ein Uhr bis gegen Abend tobte, konnte

niemand den Rücken eines Feindes sehen." (1. 26. 2.)

Das ist in Kürze die Darstellung jener denkwürdigen Ereignisse. Fragen wir

uns, weshalb uns Schweizern die Erinnerung daran so lieb und wertvoll ist und

uns mit Stolz erfüllt, so sind es nicht nur die Geschehnisse an sich, sondern der

Grund dazu liegt auch in der Deutung, welche wir ihnen geben. Die Deutung

der Geschichte macht ja erst ihren wahren Sinn und ihre Bedeutung aus. Bliebe

die Historiographie bei der reinen Verzeichnung der Tatsachen stehen, so er

stickte sie, denn dann blieben die Ereignisse bloss mehr oder minder grosse,

antiquierte Belanglosigkeiten. Erst wenn die Geschichte zum Mythos wird, erst

dann ist sie auch gross. So sind die Helvetier in die Reihen unserer Ahnen und

damit in den Mythos von der Freiheit unseres Landes eingegangen. Wohl sind

die Helvetier geschlagen und zu Untertanen eines Weltreiches geworden, aber

ihre Grösse wächst an der Grösse dessen, der sie besiegt und noch im Tode

bewundert hat, des grössten und genialsten Römers, Caesars. - Diesen Mythos

hat kein Geringerer als Jeremias Gotthelf aufgegriffen, und er lässt den alten

Druiden, das Urbild eines mit seiner Heimat verwachsenen Schweizers,

denken: "Es war ihm jetzt fast lieber so, als wenn unter fremdem Himmel die

Helvetier ein ander Volk geworden wären, von einer üppigeren Mutter genährt.

Jetzt waren sie als Helden gestorben den Vätern gleich, ihr Name war

unbefleckt geblieben, unter gegangen war ihr Leben, nicht ihre Ehre, nicht

ihres Namens schreckbarer Klang dem alten Namen neue Kraft geben, das

konnten jetzt die Enkel wieder."

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Internet-Bearbeitung: K. J. Version 08/2015

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