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Umwege zwischen Kanzel und Katheder · Eine Tante, die Schwester meiner Mutter,hatte sich voneiner...

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Hans-Jürgen Goertz Umwege zwischen Kanzel und Katheder Autobiographische Fragmente
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Hans-Jürgen Goertz

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Hans-Jürgen Goertz: Umwege zwischen Kanzel und Katheder

© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525570647 — ISBN E-Book: 9783647570648

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Hans-Jürgen Goertz

Umwege zwischen Kanzelund Katheder

Autobiographische Fragmente

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet þber http://dnb.de abrufbar.

� 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschþtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen

bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Fragment zu Komposition IV,Kandinsky, Wassily 1866–1944 � akg-images

Satz: 3w+p, RimparDruck und Bindung: Hubert & Co. BuchPartner, Gçttingen

Printed in the EU

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-57064-8

Hans-Jürgen Goertz: Umwege zwischen Kanzel und Katheder

© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525570647 — ISBN E-Book: 9783647570648

Inhalt

I. Unbeschwerte Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

II. Schulbesuch im Wendland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

III. Studium und Promotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

IV. Pastor in Hamburg-Altona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

V. Die Heidelberger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

VI. Wieder in Hamburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

VII. Das Institut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

VIII. Mit „Pfaffenhaß und groß Geschrei“ auf Tournee . . . 136

IX. An englischen Universitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

X. In der Thomas-Müntzer-Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . 178

XI. Ein schwieriges Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

XII. Noch ein Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

Auswahlbibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

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© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525570647 — ISBN E-Book: 9783647570648

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I. Unbeschwerte Kindheit

Auf westpreußischen Gütern und Treck an die Elbe

Mein Leben begann mit einem leisen Missklang. Der Name, denmeine Eltern mir gaben, stimmt nicht. Hans-Jürgen sollte ichheißen, in meiner Geburtsurkunde steht aber Jan-Jürgen. DieUrkunde wurde von einem polnischen Standesbeamten ausge-stellt. Was sich am gewünschten Namen polnisieren ließ, hatte ergeändert, anderes blieb stehen. So wurde aus Hans das polnischeJan; für den zweiten Vornamen ließ sich kein Äquivalent finden.

Geborenwurde ich imApril 1937 auf demGut Fronza imKreisPreußisch Stargard, das mein Vater für die Familie Gottfried vonCramms verwaltete, des Tennisbarons und Wimbledon-Finalis-ten von 1935 und 1937. Damals gehörte dieser Kreis zu West-preußen, das nach dem Versailler Vertrag an Polen abgetretenwerden musste und erst nach dem Ausbruch des Zweiten Welt-kriegs demDeutschenReichwieder gewaltsameinverleibtwurde.So erklärt sich meine polnische Geburtsurkunde. Warum meineEltern diese Urkunde nicht von einem deutschen Standesamtnach 1939 umschreiben ließen, bleibt ein Rätsel. In Fronzawurdezwei Jahre später auch mein Bruder geboren. Für den Tennis-spieler, der sich nur gelegentlich auf dem Gut aufhielt, ließmeinVater einen Zementplatz bauen, auf dem bei Wind und Wettertrainiert werden konnte. Angeblich hat er sich bei stundenlan-gem Spiel mit dem Crack, in Reitstiefeln statt normalen Tennis-schuhen, eine schwere Muskelstoffwechselstörung zugezogen,die sein Gehvermögen stark reduzierte, eine Krankheit, die nichtgeheilt werden konnte. Der einzige Trost, dermeinemVater blieb,war, dass er nicht zur Wehrmacht eingezogen wurde. Höchst-

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wahrscheinlich hielt sich sein Engagement in der nationalsozia-listischen Partei und den Organen der SS deshalb auch in Gren-zen. Nicht verborgenwird ihm geblieben sein, dass Gottfried vonCramm in einem angespannten Verhältnis zum Regime AdolfHitlers stand. Nie haben wir darüber gesprochen, ob ihm dasnicht zu denken gegeben habe.

In gesundheitlich angeschlagenem Zustand nahm mein Vaterseinen Beruf dennoch wahr und verwaltete nach dem Einmarschder deutschen Truppen in Polen 1939 die vom nationalsozialis-tischen Regime enteignete Domäne in Naime (früher Naymowo)im Kreis Strasburg an der Drewenz, einem Nebenfluss derWeichsel. Hier wurde 1941 meine Schwester geboren. Das Gutgehörte einem polnischen Adligen, der in einer kleinen Alten-teilwohnung im Herrenhaus lebte. Ich erinnere mich, dass wirihn oft mit einem ausgeblasenen Ei foppten, das wir ihm zumFrühstück brachten: ein Schabernack, den er sich immer wiedergefallen ließ. Wie unsere Eltern mit ihm umgingen, hat sichmeiner Erinnerung entzogen. Sehr gut erinnere ich mich aber andas weitläufige Gutshaus mit seinen neoklassizistischen Säulenam Eingang. Das Haus war offensichtlich kurz vor dem Kriegerbaut worden und noch unverputzt. Eine Allee führte seitlichzum Rondeel, der Auffahrt vor dem Haus. Neben dem Anwesen,umgeben von einem Park mit altem Baumbestand und Gärten,befand sich ein kleines Reihendorf mit den Häusern der Be-diensteten und Gutsarbeiter. Ich besuchte gern die Familie desKutschers, war fasziniert von den Bettkästen, die in beengtemRaum aus den Schränken gezogenwurden und dasWohnzimmerin ein Schlafzimmer verwandeln konnten; und besondersschmeckten mir die mit Zucker bestreuten und mit Milch be-sprengten Brote. Solche Leckereien armer Leute gab es in derKüche des Gutshauses nicht. Der Hof mit den Stallungen, demSpeicher, der Schmiede und Stellmacherei war weitläufig, ge-heimnisvoll war ein Haus, in dem Saatgut und Düngemittel ge-lagert wurden, denn unter demDach befanden sich in Kisten undKasten Spielsachen aus alter, vermutlich polnischer Zeit : elek-trische Eisenbahnen, Bahnhöfe und kleine Modellautos. Eigent-lich durften wir nicht mit ihnen spielen. Doch es zog uns immerwieder auf diesen Dachboden. Groß geworden sind wir mit

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Hunden und Pferden, Schafen und Kühen, mit Perlhühnern,Legehennen, Gänsen und Puten zuhauf. Meine Großmutter vä-terlicherseits hatte mir irgendwann einen braunen Langhaarda-ckel geschenkt. Angeblichwar er auf den Tag genau so alt wie ich.Zu meinem Entsetzen wurde er von einem Ordonanzwagen derSS, die in den letzten Kriegsmonaten im Gutshaus einquartiertwar, überfahren. Seine Hinterläufe waren zerquetscht, so dass ernicht mehr gerettet werden konnte. Ich musste mit ansehen, wieer den Gnadenschuss erhielt. Nie habe ich diesen „Purzel“, wie erhieß, vergessen.

Eingeprägt haben sich die Treffen der Reiter aus der Umge-bung, bald auch die berittenen Aufmärsche der SS, ebenso diedemonstrativen Veranstaltungen der Wehrmacht. Ich höreimmer noch, wie bei schönstem Sommerwetter die kleinen Mi-litärflugzeuge über den See flogen und patriotische Gefühle inallen wachriefen, die ihnen nachschauten. Aus dem Kaiserwetterwurde Hitlerwetter. Dieses Erinnerungsgefühl ist entsetzlich undsetzt mir immer wieder zu, wenn ich das Dröhnen alter Propel-lerflugzeuge in der Luft höre. Es erinnert mich an Zeiten un-durchschauter Diktatur und kindlichen Wohlbehagens. An-sonsten erinnere ich mich, wie mein Vater mich auf die Jagdmitnahm, mir das Reiten auf meinem eigenen Schimmel, einerAraberstute, beibrachte und wie wir mit der Familie und dempolnischen Kindermädchen im Sommer zum See imWald fuhrenund im Winter bei der Eisfischerei „mithelfen“ durften. Beson-ders eingeprägt haben sichmir die sterneklarenNächte, in denenmein Vater mit mir im Schafstall bei offenen Fenstern auf dieangelockten Füchsewartete undwir aus der Ferne dasHeulen derWölfe hörten @ ganz weit weg.

Die desaströsen Erlebnisse des Krieges blieben uns erspart @sowohl in der Heimat als auch auf der Flucht in denWesten. Unddoch hatten wir Kinder ständig Angst vor den Russen. JedesWetterleuchten oder jedes Detonnieren einer Bombe deutetenwir als heranrückenden Angriff des Feindes. Noch Jahre nachdem Krieg suchte mich die Russenfurcht in meinen kindlichenTräumen heim. So tief hatte die Propaganda in die Psyche ein-gegriffen. Sicherlich haben die Eltern auch das Ihre dazu beige-tragen, dass wir das Fürchten lernten. Wenn wir mit dem Kut-

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scher durch die dunklen Wälder am See fuhren oder die Gegenddurchstreiften, wurde uns von Kongresspolen erzählt, wo dieGefahr in tiefen, dunklen Wäldern lauerte. Dass wir in Kriegs-zeiten lebten, erfuhren wir Kinder auch von den russischenZwangsarbeitern, die auf dem Gut in der Landwirtschaft einge-setzt wurden. Einige arbeiteten auch auf dem Hof in derSchmiede. An manchem Sonntagnachmittag besuchten wir sieund ließen uns von ihnen Ringe aus Kupfermünzen schleifen.Glücklich brachten wir diesen Schmuck nach Hause, ganz undgar nicht glücklich waren allerdings die Eltern darüber, dass wirmit den Russen fraternisierten und die Arbeit an den Ringen mitBroten und Berliner Pfannkuchen aus unserer Küche einlösten.VomKrieg erfuhrenwir in ländlicher Abgeschiedenheit noch aufandere Weise. Zu Weihnachten 1944 zog eine tiefe Trauer insHaus. Ein Bruder meines Vaters war in Russland gefallen und einanderer vermisst. Der Tannenbaumwurdenicht geschmückt, nurweiße Watteflocken und weiße Kerzen erinnerten an denChristbaumglanz glücklicherer Jahre.

Tief eingeprägt hat sich mir ein Erlebnis, das mich erstmalsmit der Politik in Verbindung brachte. Eine Tante, die Schwestermeiner Mutter, hatte sich von einer schweren Krankheit bei unsauf dem Lande erholt, von ihr hörte ich die ersten biblischenGeschichten, und sie sang mit uns die bekannten Choräle derKirche. Sie war Kindergärtnerin in Wernigerode und stand derBekennenden Kirche nahe. Auf einer Staatsdomäne imOsten, dienatürlich nur von einem Parteigenossen geführt werden konnte,hatte sie es nicht leicht. Manchen Spott musste sie ertragen undeinige Zugeständnisse an die unkirchliche Atmosphäre imHausemachen, und vielleicht war das Abzeichen der Hitlerjugend, dassie mir schenkte, ein solches Zugeständnis. Allerdings wurdemirdieses Abzeichen, auf das ich stolz war, zum Verhängnis. EinHitlerjunge sah es an meinem Hemd, riss es ab und verprügeltemich nach Strich und Faden. Ich war noch zu jung und durftemich mit diesem Symbol einer auf den Führer eingeschworenenJugend nicht schmücken. Der Sohn des „Panje“ wurde von demSohn eines polnischen Landarbeiters zusammengeschlagen. Erhieß Bienek und hasste mich. Wohl kann ich mich an diesenVorfall erinnern, nicht an meine Reaktion, doch an die Gefühle,

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die er auslöste. Ich wollte dazugehören @ und durfte nicht: einefrühe Erfahrung der Exklusion.

Was in meinen Eltern damals vorging, blieb mir verborgen.Wohl sahen wir, dass mein Vater gelegentlich die schwarze Uni-form der SS anlegte, auf einem Foto im Herrenzimmer sah ichspäter in einem Bücherregal Hitlers Mein Kampf neben demBestseller Volk ohne Raum von Hans Grimm stehen, den Wehr-wolf von Hermann Löns und andere Literatur, die damals zubesitzen opportunwar. Die Bibel konnte ich nicht entdecken undauch kein kirchliches Erbauungsbuch.

Es kann kein Zweifel bestehen, dass meine Eltern versuchten,eine mustergültige Gutswirtschaft in polnischer Umgebungaufzubauen, und dass sie mit einer löwenzahnähnlichen Pflanze,die zurGewinnung vonKautschuk angebautwurde, einenBeitragzur Ausrüstung derWehrmacht leisteten. Um die „Pusteblumen“in großem Stil zu ernten, hatte ein Onkel meiner Mutter, ein In-genieur aus Schlesien, ein staubsaugerähnliches Gerät erfunden,das von Pferden über die Felder gezogen wurde und die MägdeundKnechte vommühseligen Pflücken der Samen entlastete. Daswar in der Gegend eine kleine Sensation. Das Gerät erhielt denNamen „Popofax“ – warum, weiß ich nicht. Waren die ElternMitläufer, begeisterte Nationalsozialisten, oder taten sie nur ihrePflicht, wie sie es unter jeder Staatsform getan hätten? Darüberhaben wir nie miteinander gesprochen. Als ich mich später fürdas Verhalten der deutschen Mennoniten im Dritten Reich zuinteressierenbegann,war es bereits zu spät. Die Elternwaren frühverstorben.Über Politik wurde auch sonst während der Schulzeitmit ihnen kaum gesprochen. Sie versuchten, sich in die neuenpolitischen Verhältnisse einzufinden und wurden Wähler einerFlüchtlingspartei, dem Bund der Heimatvertriebenen. Das warnach dem Krieg.

Das Leben unserer Familie veränderte sich mit der Flucht inden Westen. In den letzten Januartagen 1945, es war bitterkalt,wurde der Treck freigegeben. Meine Mutter wurde mit den Kin-dern von unserem polnischen Kutscher in der blau gepolstertenHochzeitskutsche zu den Großeltern auf das Gut in DeutschWestphalen an der Weichsel bei Graudenz gefahren. In eineranderen Kutsche reisten die ältere Schwester meines Vaters mit

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ihren Kindern, die in Strasburg wohnten. Mein Vater und seinStraßburger Schwager blieben zurück und organisierten denübrigen Treck. Decken und Wäsche, Teppiche und einige Pols-termöbel wurden auf Kastenwagen geladen, ebenso die erlegtenHasen von der Treibjagd einige Tage zuvor: eine Gefrierkost, dieuns auf der Flucht vor Hunger und Entbehrung bewahrte. Al-lerdings konntenwir in den nächsten Jahren keinen Hasenbratenmehr riechen, geschweige denn essen. Einige Tage später trafendie Pferdewagen mit dem Gepäck ebenfalls in Deutsch Westfalenein. Die winterlichen Straßen dorthin waren verstopft, und esging nur stockend voran. Kurzerhand entschied sich mein Vater,der sich an der Weichsel mit ihren Strömungen gut auskannte,mit Pferd und Wagen nicht über die Weichselbrücke bei Grau-denz zu fahren, sondern über den inzwischen stark gefrorenenStromderWeichsel. Der Treck erreichte sein Ziel, Flüchtende, diediesem Treck nachfuhren, sollen teilweise im Eis eingebrochensein. Im Gutshaus der Großeltern war indessen alles für dieAufnahme der Kinder und Enkelkinder vorbereitet worden.Hinzu stieß in diesen Tagen noch die Familie des älteren Brudersmeines Vaters mit seinen vier Kindern in einem eigenen Treck.Das Haus der Großeltern war kleiner als das Herrenhaus inNaime, uns Kindern erschien es aber luxuriöser und verwun-schener. Die Großmutter war inzwischen verstorben und imGarten des Gutshauses begraben worden, doch ihr Geist warnoch überall zu spüren. So jedenfalls hat es sich mir eingeprägt.Die Erinnerung an Deutsch Westfalen verbinde ich mit den be-sorgten Gesichtern der Erwachsenen, unruhigen Nächten unddem Dröhnen und Tuten der Dampfer, die einen Weg durch dasPackeis derWeichsel suchten. Die Großfamilie hatte beschlossen,die Heimat zusammen zu verlassen und mit Pferd und Wagen indenWesten aufzubrechen: durch die gefürchtete Tucheler Heide,den Oderbruch, wo ein Teil der mitgenommenenMöbel auf einerWiese am Fluss zurückgelassenwurde, dannweiter an die Ostsee.Mein Vater fuhr mit seinem Bruder und Schwager im Landauervoraus und machte oft in verlassenen Gutshäusern für unsQuartier. Es war ein kleiner Familientreck, der gelegentlichnachts verbotenerweise die Autobahnen nutzte, um schnellervoranzukommen. Längere Zeit wurde der Treck auf einem Rit-

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tergut bei Klötzin in der Nähe der Stadt Waren an der Müritzfestgehalten. Wir Kinder genossen das Zusammenleben in denweitläufigen Sälen des Herrenhauses und des Parks, der in tiefemSchnee lag. Die Kälte des Winters ließ allmählich nach, und derTreck überquerte an einem sonnendurchfluteten Frühlingstag inden ersten Märztagen die Elbe bei Dömitz. Noch stand die Brü-cke, Tage später fiel sie einem Angriff feindlicher Tiefflieger zumOpfer. Ich erinnere mich, dass wir Kinder endlich die Kutsche,vollgestopft mit Wollpullovern und Schafsfelldecken, diese wo-chenlange Enge, verlassen und wie befreit neben der Kutscheüber die Brücke laufen durften.

Unterwegs wurde der Treck getrennt, die Strasburger hattenwir aus den Augen verloren. Erst später stellte sich heraus, dasssie irgendwo in der Nähe Rothenburgs an der Wümme ange-kommen waren. Wir fanden schließlich unseren Bestimmungs-ort in Laase, einem Dorf am Elbdeich in der Nähe Gorlebens.Unserer Familie wurde ein kleines Bauernhaus am Rande desDorfes zugewiesen. Vor der Giebelseite waren zwei hohe Mist-haufen aufgeworfen, wie in dieser Gegend üblich. Es roch undstank entsetzlich. Meine Eltern wurden noch einmal darauf ge-stoßen, was sie verloren hatten, und konnten das Kulturgefällevon Ost nach West kaum begreifen. Sie begannen darunter zuleiden. An die Heimat erinnerten sie noch der Kutscher, dieKnechte und Mägde, die ihnen erstaunlicher Weise geholfenhatten, den Weg in den Westen zu finden. Irgendwie war dasTreueverhältnis zwischen dem deutschen „Panje“ und den pol-nischen Bediensteten noch intakt geblieben. An ein kultiviertesLeben in einem Herrenhaus erinnerten auch die mitgebrachtenTeppiche und die wertvollen Bettbezüge, blauer Damast, ebensodie Pferde, sofern sie uns geblieben und nicht vom Militär kon-fisziert worden waren.

In Laase sind wir zwischen die Fronten geraten. Auf der einenSeite der Elbe kämpften noch die deutschen Truppen auf ihremRückzug vor den Russen, auf der anderen rückten die Alliiertenheran. Offensichtlich war die Hoffnung meiner Eltern auf einenEndsieg noch nicht erloschen, zumindest nicht auf HermannGöring, den Schutzpatron der preußischen Güter, denn langewurde hin und her überlegt, ob es nicht ratsam sei, auf die andere

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Seite der Elbe überzusetzen, um den Alliierten zu entgehen. Wieich mich erinnere, wurde schon ein alter Kahn, der am Elbufervor sich hindümpelte, wieder flottgemacht, mit dem die Familiedas andere Ufer erreichen wollte. Doch der Kahn ließ sich nichtmehr reparieren, das Leck wurde groß und größer. So sind wirKinder davor bewahrt worden, später im östlichen TeilDeutschlands aufzuwachsen.

Die Front rückte vom Westen her näher, schließlich wurdeLaase beschossen. Wir suchten im Keller eines anderen Bauern-hauses in der Mitte des Ortes Schutz. Vor das Fenster des dichtbesetzten Kellers fiel ein erschossenes Pferd, das im Obstgartengraste. Es wurde dunkel und unheimlich. Wir hörten eine De-tonnation nach der andern undwaren verschreckt. Nach bangemWarten öffnete sich die Tür. Amerikanische Soldaten waren insHaus eingedrungen und holten uns heraus. Ein wenig schwierigstand es ummeinenVater. Er wurde kritisch beobachtet, denndieAmerikaner sahen in ihmwohl zunächst einen Soldaten, der sichverstellt und eineGehbehinderung simuliert hatte. Offensichtlichwar ihnen die Kleidung, die er trug, suspekt. Stiefel, Hose undJackett eines „Panje“ sahen wohl eher nach einer abgetakeltenMilitärkleidung als nach dem Habit eines Zivilisten aus. Ich be-merkte die Angst meines Vaters und meiner Mutter. Dochschließlich war der Argwohn der Besatzer verflogen. Da dieElbufer auf beiden Seiten noch unter Beschuss standen, wurde dieDorfbevölkerung in den nahe gelegenen Wald evakuiert. Dortbauten wir unter Kiefern und Birken aus unseren Teppichen einkomfortables Familienzelt und warteten mehrere Tage mit denanderen Dorfbewohnern auf das Ende des Krieges. Inzwischenwaren der Kutscher, das Kindermädchen und die Stallknechtewieder nach Polen zurückgekehrt. Ganz dunkel erinnere ichmich, dass ich in Laase zur Schule ging; lange kann es nicht ge-wesen sein, denn bald zogen wir mit den anderen nach Reitze, indie Nähe der Stadt Lüchow an der Jeetzel, womein Vater und seinBruder vorübergehend die Leitung eines größeren Bauernhofsübernahmen, der verwaist war, und die Spargelernte organi-sierten. Dort blieben wir jedoch nicht lange. Die Großfamilie, zuder bald auch die Strasburger gestoßenwaren, pachtete einen dergrößten Bauernhöfe in Küsten, einem Rundling und Reihendorf

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im Wendland ungefähr sechs Kilometer westlich von Lüchowentfernt. Wir zogen in das recht repräsentative Haus am Dorf-platz: der Großvater mit vier Familien und dreizehn Enkeln. Hierverbrachten wir, gut versorgt, die erste Nachkriegszeit undnahmen am Leben im Dorf teil. Ich kann mich nicht erinnern,dass die Flüchtlinge auf Schwierigkeiten bei der Bevölkerunggestoßen wären. Wir besuchten die Volksschule und die Gottes-dienste der lutherischen Kirche, feierten mit allen die Schüt-zenfeste und die Schnitzeljagden des Reitervereins an Himmel-fahrt. Die Familie lebte von den Erzeugnissen der Landwirtschaftund einer kleinen Rente, die mein Vater erhielt. Um in die Sozi-alversicherung aufgenommen zu werden, nahm er trotz seinerschweren gesundheitlichen Behinderung Aushilfsarbeit imKontor des Lebensmittelladens am Dorfplatz an. Die Sorgen, dieunsere Eltern hatten, die Familie zu ernähren und zu kleiden,wurden von den Kindern ferngehalten, auch die Sorge um dieGesundheit des Vaters.

Die Jahre in Küsten verlebten wir unbeschwert. Wir spieltenmit den anderen Kindern auf dem Dorfplatz unter einer uraltenEiche, fuhren in Kastenwagen mit Bewohnern des Dorfes in dieBlaubeeren bei Waddeweitz, einem Ort an der Straße nach Uel-zen, wir sammelten Pfifferlinge und Steinpilze in den angren-zenden Kiefernwäldern und trugen Holz für das Osterfeuer aufdem Prellernberg vor dem Dorf zusammen. Besonders gernhaben wir im Herbst mit vielen anderen Kartoffeln auf den Fel-dern rund um das Dorf gesammelt und auf dem Dorfplatz unterden riesigen Eichen sackweise Eicheln, um unser Taschengeldaufzubessern. Sie wurden von einemHändler aufgekauft, der mitseinem klapprigen Auto ein Mal in der Woche über die Dörfergefahren kam.

Altes Brauchtumwurde imWendland nicht mehr gepflegt. Andie Zeiten der Besiedlung durch die Wenden, einem slawischenVolksstamm, erinnerte aber noch die Siedlungsform der Rund-linge mit den Fachwerkhäusern, deren Giebelseiten rund um denDorfplatz zuWehrzwecken ausgerichtetwurden. Typisch sinddieHallenhäuser : ein großes Tor, durch das die Erntewagen in dievordere Hälfte der Häuser fuhren, links und rechts kleine Türen,die zu den Ställen der Haustiere führten, vor den Häusern, wie

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bereits angedeutet, die beiden obligatorischen Misthaufen. Imhinteren Teil des Hauses befanden sich die Stuben und die Kücheder Bauern. Alles wirkte verschlossen und abweisend, wenn sichauf dem Dorfplatz niemand sehen ließ. Umso erstaunlicher war,dass sich die Aufnahme der Flüchtlinge in die Dorfgemeinschaftso reibungslos vollzog. Wendisch klingen auch die Namen derDörfer : Wustrow, Dolgow und Grabow, Satemin, Schreyahn,Meuchefitz und Tolstefanz. An wendisches Brauchtum erinnerteuns nur noch die „Krähenköst“, der Sonntag nachOstern, an demKinder und Jugendliche durchs Dorf zogen und mit einemplattdeutschen Drohlied die Bewohner nötigten, Eier zu stiften.Wer geizig war, musste schrille Verwünschungen über sich er-gehen lassen: „und wollt ihr nichts geben, soll euch der HabichtdieHühner wegnehmen“. DenplattdeutschenKlang habe ich nurnoch ungefähr im Ohr. Die Körbe und Kiepen mit den gesam-melten Eiern wurden ins Wirtshaus getragen und dort zu einemgroßen Bauernfrühstück für das ganze Dorf zubereitet. Noch einanderer Brauch schien sich gerüchteweise zu behaupten. Ge-munkelt wurde, dass die Neugeborenen nicht zuerst zur Taufe indie Kirche getragen, sondern irgendwo auf einer Anhöhe in derFeldmark auf die Erde gelegt und einer unbekannten Natur-gottheit geweiht wurden. Die Wenden sollen Heiden gebliebensein, doch verbürgt ist die Herkunft dieser Bräuche nicht.

Gern ging ich in die einklassige Volksschule in Küsten. Dassder junge Dorfschullehrer kein ausgebildeter Lehrer war, son-dern sich die Anstellung in den Wirren der Nachkriegszeit er-schlichen hatte, konnten wir nicht ahnen. Er hatte uns begeistertLesen und Schreiben beigebracht. Wir ahnten nichts und warenschockiert, als er verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verur-teilt wurde. Mancher Unterrichtstag wurde von einem altenLehrer eröffnet. Er saß in einem Strohsessel, hinter ihm ein an-heimelnd knisternder Ofen, wir um ihn herum, und erzählte unsGeschichten aus dem Alten Testament: die Geschichte von Kainund Abel, Jakob und Esau und von dem kleinen Mose, der aus-gesetzt worden war und in einem Korb gefunden wurde.Schließlich war der Lehrer Alfred Knöllner, ein Liebhaber derBäume, Pflanzen und Tiere im Walde, um uns sehr bemüht.Natur- und Heimatkunde waren in seinem Lehrplan eng zu-

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sammengewachsen. Einige von uns hat er in Privatstunden fürdie Aufnahmeprüfung an der Mittelschule in Lüchow auf denUmgang mit deutscher Grammatik, mit Deklinationen undKonjugationen vorbereitet. So hat er das Fundament für meineakademische Bildung gelegt. Es muss kurz nach der Währungs-reform 1948 gewesen sein. Ich hatte die Aufnahmeprüfung zurfünften Klasse der Mittelschule bestanden. Entweder fuhr ich imBus nach Lüchow oder gemeinsam mit meinem Freund, demSohn des Dorfpolizisten, bei Wind undWetter mit dem Fahrrad.Besonders anstrengend war der Heimweg gegen den Westwind;er hat mir das Fahrradfahren für alle Zeiten verleidet.

Sonst haben wir Küsten kaum verlassen. Das Wendland warZonenrandgebiet und die Zugverbindungen waren schlecht. Eineinziges Mal durfte ich mit meiner Mutter zu ihren Angehörigennach Prösen bei Elsterwerda in Sachsen reisen @ eine Reise, diesich mir tief eingeprägt hat. Die Züge waren überfüllt und fuhrenohne Fahrplan. Die meiste Zeit mussten wir während der Fahrtstehen, eingepfercht zwischen zwei Waggons, ich war regelrechteingequetscht: auf der einen Seite dermit Kartoffeln prall gefüllteSack eines „Hamsterers“ und auf der anderen Seite der Rucksackeines anderen, in dem er die an der Küste „organisierten“ He-ringe transportierte. Der Rucksack war durchnässt, das Wassertriefte an meinem Gesicht hinunter, so eng war es. Es war eineschreckliche Fahrt. Übernachten mussten wir im Wartesaal desBahnhofs in Dessau. Hier ging es vorerst nicht mehr weiter. DerBahnhof war zerstört, vomWartesaal war das Dach weggerissen,wir lagen auf Decken und schauten in den dunklen Himmel. InPrösen konnten wir uns erholen. Die jüngste Schwester meinerMutter wardort Lehrerin an derDorfschule undwartetemit ihrerkleinen Tochter unentwegt auf die Heimkehr ihres Mannes ausder Kriegsgefangenschaft. Sie wollte nicht glauben, dass er ge-fallenwar, und sangmit ihrenKlassen Freiheitslieder@ gegen dasSchicksal, vor allem aber gegen die kommunistische Partei. Siewar mutig und unerschrocken. Später schenkte sie mir die ge-sammeltenWerke Lessings,GoethesWerke in zwanzig Teilen unddann den dritten Band von Prinzip Hoffnung, das Ernst Bloch1959 in der DDR veröffentlicht hatte. Hier hörte ich wohl zumersten Mal auch klassische Musik und durfte mich an der

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Blockflöte versuchen. Diese Reise war mein erstes Bildungser-lebnis und begann, den Küstener Horizont zuweiten. Hier wurdeebenfalls ein Keim für meine akademische Existenz gelegt undeine Welt geöffnet, die dem Sohn eines „Panje“ auf westpreußi-schen Gütern sonst verschlossen geblieben wäre.

In Küsten habe ich auch am lutherischen Konfirmandenun-terricht in der Kirche teilgenommen. Eigentlich gehörte ichdort nicht hin, und der Superintendent Otto Jablonski ausOstpreußen führte mich denn auch vor allen Mitkonfirmandenals einen „kleinen Heiden“ vor, denn ich war im Unterschied zuallen anderen noch nicht getauft. Meine Eltern waren Menno-niten und wenn auch nicht besonders religiös eingestellt, hiel-ten sie auch in der Diaspora an ihrer freikirchlichen Konfessionfest. Sie verband sie nicht zuletzt mit der Heimat, die sie ver-lassen mussten. Dorthin waren Glaubensflüchtlinge aus denNiederlanden eingewandert, dort haben sie Dörfer gegründetund die Weichselmündung entwässert und urbar gemacht. Vondort zogen viele die Weichsel hinauf bis in die Gegend umGraudenz. Alle Verwandten waren mennonitisch. Aus denmutigen Dissentern war längst eine Familienkirche geworden.Die Mitglieder erkannte man an ihren Namen: Wiebe, Nickel,Friesen, Penner, Kopper undWiehler, um nur einige zu nennen.Auf diese religiös-ethnische Welt wollten die Eltern nicht ver-zichten. Ein Symbol dieser Welt war das Mantelhaus neben derKirche, die Garderobe der Kirchgänger. Darüber habe ich schoneinmal berichtet :

Hier wurde gelacht und geweint, gescherzt und getröstet, hier hielten Väternach heiratswilligen Töchtern für ihre Söhne Ausschau, Mütter nahmenkritisch die potentiellen Schwiegersöhne ab, Jungen und Mädchen knüpf-ten selber zarte Bande, hier wurde über Schweinepreise verhandelt unddarüber gesprochen, wie schön doch wieder Ohm Reimer und OhmThiessen das Gotteswort gesagt und allen ins Gewissen geredet hätten. Aufanheimelnde Weise hatten sich im Laufe der Jahrhunderte Geistliches undWeltliches miteinander vermischt. Es war ein Milieu entstanden, das Be-haglichkeit ausstrahlte und kaum jemanden an seiner kirchlichen Zuge-hörigkeit zweifeln ließ. DasMantelhauswar Symbol diesermennonitischenBehaglichkeit (Das schwierige Erbe der Mennoniten, S. 11).

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DieseWelt warmit der Flucht in denWesten versunken.Mancheserinnerte aber doch daran. Von Zeit zu Zeit kamen mennoniti-sche Laienprediger vorbei, hieltenHausandachten, bereiteten aufdie Taufe vor und tauften die Heranwachsenden. Diese Predigerwurden gerufen, wenn jemand gestorben war, um den Beerdi-gungsgottesdienst in einer Friedhofskapelle oder im Hause desVerstorbenen zu leiten. Hier teilte sich mir noch etwas von derAtmosphäre der bäuerlichen Religiosität der Weichselmennoni-ten mit: unbeholfene Bibeltreue, Andacht ohne Pathos und sa-krale Weihe. Unsere Eltern erwogen sogar vorübergehend, wiezahlreiche andere Flüchtlinge mennonitischer Herkunft, mitHilfe des nordamerikanischen Mennonite Central Committeenach Uruguay auszuwandern und einen Neuanfang für die Fa-milie in den Ansiedlungen der Mennoniten dort zu suchen. Beidem gesundheitlichen Zustand meines Vaters wäre das desaströsausgegangen. Glücklicherweise zerschlugen sich diese Pläne. Inendlosen Flüchtlingsgesprächen mit alten Bekannten, die gele-gentlich hineinschauten, wurde immer wieder der schmerzhafteVerlust derHeimat beklagt, daran erinnert, wie schönes imOstenwar, der eine oder andere berichtete von leidvollen Erfahrungenwährend der Flucht oder den letzten Tagen des Krieges. Einbaltischer Baron, ein guter Freund meines Vaters, erzählte vonden Tagen während des Einmarsches der russischen Armee insBaltikum und seiner Odyssee durch die Wälder. Er schienglimpflich durchgekommen zu sein, doch dann brach es aus ihmheraus – dieseWorte habe ich nicht vergessen: „Das eine kann ichdir sagen: auf Rosen war ich nicht jebettet jewesen.“

Selbstverständlich besuchten wir den Gottesdienst in der lu-therischen Dorfkirche. Sie stammte aus vorwilhelminischer Zeit,ländliche Backsteingotik: die bunten Fenster, das Kruzifix auf demAltar, die vorgerückte Kanzel daneben, die Macht der Orgelklängeund der untersetzte, gestrenge Superintendent mit polnischemNamen zogen uns an@Talar und Lutherrock, nicht der zerknüllte,abgenutzte schwarze Anzug der mennonitischen Laienprediger.Dieser Superintendent nahm auch mich in die Zucht seines Kon-firmandenunterrichts. Er war sehr streng. Ich lernte Bibelverseund Lieder auswendig, bald konnte ich die Namen der kleinen undgroßen Propheten, der Evangelisten und der paulinischen Briefe

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„herunterrasseln“. Gelegentlich mussten ihn die Konfirmandenzum Gottesdienst in die alte Feldsteinkirche nach Meuchefitz be-gleiten und dort das in Küsten Gelernte noch einmal vor der Ge-meinde wiederholen. Er fuhr auf dem Fahrrad vorweg undwir mitunserenklapprigenFahrrädernhinterher – einPilgerzugdurchdieFeldmark bei Wind und Wetter. Trotz aller Anhänglichkeit andiesen geistlichen Herrn @ getauft wurde ich nicht in der Kirche,sondern in der Wohnstube unseres Bauernhauses von einemmennonitischen Ältesten, einem Laien. Es war Bernhard Kopper,der einst ein Gut in Dragass besaß und die Gemeinde in Gruppe-Montau an der Weichsel geleitet hatte. Er war ein Freund meinesGroßvaters, der inderselbenGemeinde als Laie hinundwiederdenPredigtdienst versah. Bernhard Kopper war auch der GroßvaterHilmar Koppers, der später die Deutsche Bank in Frankfurt leitete.Er und sein Bruder habenmich bei gelegentlichen Besuchen in dieGeheimnisse eingeweiht, wo die Reusen des Hummerfangs in derWeser bei Nienburg zu finden waren. Die Familie war dorthinverschlagen worden.

Bernhard Kopper ließ mich Fragen und Antworten im altenGemeindekatechismus lernen, fragte alles gewissenhaft ab undverstand es, mir inwenigen Stunden denGolgathaernst der Taufezu vermitteln. Das Sterben mit Christus ist mir nachdrücklicherim Gedächtnis geblieben als das Auferstehen mit demHerrn, derErnst mehr als die Freude. Paulus spricht im Römerbrief vonbeidem. In der lutherischen Kirche erfuhr ich etwas von derGemeinschaftlichkeit des christlichen Glaubens, in der menno-nitischen Taufandacht etwas von der Einzigartigkeit der christ-lichen Existenz. Nach den Lehrbüchern der Konfessionskundehätte es umgekehrt sein müssen. Dieser doppelte Akzent hatspäter meine Entscheidung für das Studium der Theologie anevangelischen Fakultäten ebensowie fürmeinen beruflichenWegin den Dienst einer mennonitischen Gemeinde bestimmt.

Der Übergang vom Gut zum Dorf war nicht nur der Wechseleines geographischen und sozialen Raums, er war auch eineschmerzliche Veränderung im Selbstwertgefühl der Familie. Erstspäter habe ich erkannt, dass sich darin bereits die kleinen, vonden Eltern sorgsam ergriffenen Chancen einstellten, in ein neuessoziales und kulturelles Milieu hineinzuwachsen.

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II. Schulbesuch im Wendland

Horizonte öffnen sich

Das Neusprachliche Gymnasium in Lüchow war um 1950 imAufbau. Es begann mit Klasse 7 und führte einzügig zum Abitur,das zunächst in Lüneburg abgenommen wurde, dann bald inLüchow selbst. Die Klassen 5 und 6 mussten in der Mittelschuleabsolviert werden, einem lang gestreckten roten Ziegelbau ausvorwilhelminischer Zeit, in dem auch die meisten Klassen derOberschule beziehungsweise des späteren Gymnasiums unter-gebracht waren. Das Gebäude stand neben der alten Kirche, inderNähe des Amtsgartensmit dem trutzigenAmtsturm, der vom1811 niedergebrannten Schloss mit abgebrochener Spitze alsWahrzeichen der Stadt übriggeblieben war. Der Weg zur Schuleführte durch enge Straßen, die von dicht aneinander gedrängtenFachwerkhäusern gesäumt wurden und auf einen alten, wuchti-gen Turm zuliefen. Ursprünglich gehörte auch dieser Turm zurSchlossanlage, nach dem großen Brandwurde er, obwohl von derKirche durch das Schulgebäude und den Pausenplatz getrennt,als Glockenturm genutzt. Dieses architektonische Ambiente gabdem Schulalltag ein besonderes Flair : abgeschieden und erhabenzugleich. Ich hatte die Aufnahmeprüfung, mit Fragen nach De-klination und Konjugation, Indikativ und Konjunktiv bestandenund fühlte mich als Kind vom Dorf inmitten dieser städtischenRelikte aus alter Zeit „very important“.

Früher waren Schüler aus demWendland auf das Gymnasiumnach Salzwedel gegangen. Jetzt hatte sich die Grenze zwischender sowjetischen und britischen Besatzungszone dazwischenge-schoben, so dass die aus einer Privatinitiative entstandene

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Gründung der Oberschule in Lüchow mehr als sinnvoll war. Siewar notwendig geworden. Offensichtlichwaren einige Lehrer, alsFlüchtlinge ins Wendland verschlagen, auf die Idee gekommen,erste Schritte zur Errichtung dieser Schule zu unternehmen. Siehatten sich ihre pädagogischen Meriten schon anderswo erwor-ben und sich schnell den Ruf eines kompetenten Kollegiums inLüchow erarbeitet. Am nachhaltigsten hat mich Studienrat KarlArlt geprägt. Sein Deutschunterricht war ohne Methode undKonzept, Beobachtungen an Texten und Kommentare zur Lite-ratur folgten assoziativ aufeinander, alles war, wie heute gesagtwird, unstrukturiert, dennoch: immer feuilletonistisch-geist-reich und in den Bahnen ambitionierter Literaturkritik. Charly,wie er von allen liebevoll genannt wurde, schöpfte stets aus demVollen. Er lebte mit moderner Literatur und verstand es, sie unszu vermitteln. Besonders anregend war die Literarische Gesell-schaft, die sich unter seiner Leitung regelmäßig im Ratskeller derStadt versammelte. In manchem war sie das vorweggenommene„Literarische Quartett“: ein freimütiger Streit um moderne Li-teratur. In den höheren Klassen durften wir an diesen Veran-staltungen teilnehmen, die sich als ein Ritual aus Lesung, Kom-mentar undDiskussion zu einemkulturellen Ereignis in der Stadtentwickelten und den im Dritten Reich unterbrochenen An-schluss an die Weltliteratur wiederherstellten. Das sprach sichschnell herum, wie der breiteren Öffentlichkeit auch nicht langeverborgen blieb, dass Charly eine Lehrprobe, zu der eine ge-fürchtete, mondän gekleidete Landesschulrätin aus Hannovereigens angereist war, nutzte, um seine intellektuelle Souveränitätunter Beweis zu stellen. Er hatte eine Erzählung Thomas Manns,die „Schwere Stunde“, als Interpretationsaufgabe gewählt undmit anzüglichen Bemerkungen zur Situation des Lehrers und derSchüler auf dem Prüfstand nicht gespart. Den Schülern hat dieseGeste intellektueller Unabhängigkeit imponiert.

Anregend war für mich auch sein Religionsunterricht@mehrReligionswissenschaft oder Religionsphilosophie als die sonstübliche Verlängerung des Konfirmandenunterrichts in derSchule. Ihm hatte ich es zu verdanken, dass ich somühelos durchdas Abitur kam. Religionwar mein Leistungsfach und die einzigemündliche Prüfung, die ich zu absolvieren hatte. An das Thema

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kann ichmich nichtmehr erinnern, wohl aber daran, dass ich gutvorbereitet war undCharly diese Prüfungsstunde nutzte, umdemKollegium und dem anwesenden Stadtpfarrer zu demonstrieren,wie freimütig der Umgang mit Religion sein kann. Charly warzweifellos der Lehrer, der meine Entscheidung, das Studium derTheologie aufzunehmen, am stärksten beeinflusst hat, obwohlich bereits in den ersten Semestern merkte, dass er theologischnicht sonderlich bewandert war. In moderner Literatur kannte ersich besser aus. Später habe ich mich oft dabei ertappt, wie sehrich seine Art, den Unterricht zu gestalten, verinnerlicht oder inSeminaren imitiert habe. Er war zumeinem heimlichen „spiritusrector“ pädagogischen Freimuts geworden, und ich war glück-lich, dass ich ihm das noch kurz vor seinem Tod schreibenkonnte.

Auch einige „selteneVögel“warendemKollegium zugeflogen:dem Psychiater entlaufen, am Kollegium einer anderen Schulegescheitert, aus dem Ausland zurückgekehrt oder aus welchenGründen auch immer im Wendland untergetaucht. Sie belebtenden Schulalltag ungemein, gerade auch mit dem Chaos, das siehin und wieder auslösten. Ein solcher Lehrer war Petonke oderPetomke, ein wohlbeleibter Manager, von imposanter Statur miteiner dunklen, furchteinflößenden Hornbrille. Er hatte dasWirtschaftsunternehmen verlassen, um sich seiner ersten Liebewieder zuzuwenden: Jugendliche zu erziehen. Er muss wohlha-bend gewesen sein und konnte sich die Minderung seines Ein-kommens offensichtlich leisten. Er wohnte imHotel und ließ sichin der Adventszeit eine Gans zum Frühstück servieren. Eine Entesei ihm zu klein, ließ er uns wissen, eine Gans zu groß @ und solud er meinen Freund und mich, die ihn gelegentlich auf demSchulweg begleiteten, ohne Umschweife zum Frühstück ein. Wirhaben ihm gern geholfen, mit der Gans fertig zu werden. Petonkeoder Petomke hatte übrigens meinen frühen schriftstellerischenAmbitionen ein jähes Ende bereitet. Eines Tages bestellte er michins Lehrerzimmer und warf mir ein Manuskript auf den Tisch,das ich an die Lokalzeitung gesandt hatte: ein Bericht von eineraußergewöhnlichen Klassenfahrt im Winter zum Skilaufen inden Harz. Noch nie hatte eine Klassenfahrt an der Schule imWinter stattgefunden. Sollte davon nicht berichtet werden? Of-

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fensichtlich hatte ihm ein Redakteur, mit dem er an der Hotelbarfraternisierte, mein literarisches Debut zugespielt. Petonkemissfiel der Stil, gezwungen und verkrampft, holprig und ganzund gar nicht akzeptabel. Bei ihm konnte ich auf keinen grünenZweig mehr kommen – das Ende einer Karriere, bevor sie be-gonnen hatte. Sonderbar war auch ein Musiklehrer, unbeholfenund schusselig, wir tanzten ihm auf der Nase herum, so dass eruns schon leid tat, denn er wusste uns als begnadeter Pianist tiefin die Geschichte derMusik einzuführen.Wir haben es ihm nichtgedankt. Faszinierend war schließlich der Kunstunterricht. Einbildender Künstler hatte sich mit eigener Staffelei in der land-schaftlichen Idylle des Wendlands niedergelassen und brachteuns den Impressionismus und Expressionismus, in eigenen Bil-dern auf Seltsamste gemischt, nahe. Nachhaltig hat er auch un-sere Geschmackserziehung imUmgang mit Dingen des täglichenGebrauchs beeinflusst und an Traditionen angeknüpft, diewährenddesDrittenReichs keineChance hatten, dieÄsthetikdesAlltags zu erobern: an das Bauhaus und seine avangardistischenExperimente mit Form und Farbe. So wuchsen wir in die Weltanspruchsvoller Kultur hinein. Wie intensiv sich damit Lebens-gefühl und Lebensweise verbanden, konnten wir damals zu-nächst nur ahnen. Das Elternhaus und das Kulturangebot derkleinen Stadtwaren zu schwach, auchwenn dasNiedersächsischeLandessymphonieorchester oder die eine oder andere Bühne ausder Großstadt in Lüchow gastierte, um uns voranzugehen. DochImagination und Sehnsucht waren inzwischen zu einer Machtgeworden, die uns aus der Provinzialität einer Kleinstadt zu lösenbegann. Sie nötigte uns geradezu, denOrt hinter uns zu lassen, andem sie entstanden war. Nur wenige kehrten später zurück.

Ein anderer Erfahrungsraum erschloss sich mir, als ich hinund wieder zu Freizeiten der Mennonitischen Jugend in Nord-deutschland per Anhalter trampte: in die Lüneburger Heide,nach Schleswig-Holstein oder ins Rheinland. Hier trafen wir aufReferenten und Jugendwarte, die von Mennonitengemeinden inNordamerika ins Nachkriegsdeutschland entsandt wurden, umden Gemeinden zu helfen, sich von Grund auf zu regenerierenund das Friedenszeugnis der Täufer zu reaktivieren. In beson-derer Erinnerung ist mir eine Fahrradtour 1955 in die Nieder-

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lande geblieben. Wir radelten gegen Wind und Wetter über Leerin Ostfriesland nach Groningen und Witmarsum, wo MennoSimons einst zu wirken begann, und die umliegenden Gemein-den dort, nach Harlingen an der Nordseeküste und nach Ams-terdam. Wir wurden freundlich aufgenommen und von Ge-meinde zu Gemeinde gereicht; gelegentlich stießen wir auch aufAblehnung oderoffeneAnimosität in denGegenden, in denendieErinnerung an die leidvollen Jahre unter deutscher Besatzungnoch wach war. Die Verbundenheit mit der ererbten Konfessionwurde in mir auch durch einen mehrwöchigen Aufenthalt beifranzösischen Mennoniten in Montb8liard bei Belfort gefestigt.Ich wurde von einer Gärtnerfamilie aufgenommen, half auf demHof undwar stolz, dass ich auch auf demMarkt beimVerkauf vonObst und Gemüse helfen durfte – mit meinen kümmerlichenKenntnissen der französischen Sprache. AnWochenendenwurdeich auf Besuchsfahrten zu Verwandten und Gemeinden in derweiteren Umgebung mitgenommen und lernte das intakte Ge-meindeleben und die bäuerliche Religiosität der französischenMennoniten, von erwecklicher Frömmigkeit durchsetzt, kennen.Für einen jungenMennoniten aus derDiaspora imWendlandwarauch das eine neue Welt. Doch ich wollte nicht nur die Menno-nitengemeinden im Elsass kennen lernen. Es zog mich weiter inden Süden Frankreichs. So trampte ich, ganz auf mich alleingestellt, durch Les Dombes nach Lyon und schaffte es bis Valencesur Rhine, wo ich nicht mehr weiterkam und auf einemSchrottplatz in einem alten Auto neben der Straße übernachtete.Einsamkeit beschlichmich, gelegentlich auch Furcht, wennmichfremde Geräusche aufschreckten – eine seltsame Erfahrung, dassdie Welt so ganz anders sein konnte, fremd und anziehend zu-gleich. Am nächsten Morgen wechselte ich kurz entschlossen dieStraßenseite und hatte das Glück, dass mich ein gesprächigerArbeiterpriester nach Paris mitnahm und mich in Versaillesabsetzte. Dort war ich in einer alten Villa angemeldet, die Andr8Trocm8 als Leiter des Internationalen Versöhnungsbundes be-wohnte und in dem Pazifisten aus aller Welt verkehrten. Ichweißnicht, ob ich viel verstanden habe, aber in Erinnerung ist mir einVortragsabend mit einem alerten Vertreter der französischenKommunisten geblieben. Erst später ging mir auf, dass ich an

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