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Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen (Studien zum antiken Drama) || Über das Vergnügen...

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Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen „Wer je an sich selbst die Wirkungen einer Tragödie beobachtet hat," - so Gustav Freytag in seiner einflußreichen Analyse der Technik des Dramas von 1862-„der muß mit Erstaunen bemerken, wie die Rührung und Erschütterung das Nervenleben ergreifen. Weit leichter als im wirklichen Leben rollt die Träne, zuckt der Mund; dieser Schmerz ist aber zugleich mit kräftigem Wohlbehagen verbunden." 1 Das Thema ist alt: weit älter als Gustav Freytags Beschreibung des Phänomens und weit älter als die Schillersche Formulierung, in der eine der ehrwürdigsten Paradoxien der Ästhetik ihre klassische Form gefunden hat. Schiller, dessen kleine Studie von 1792 mit dem Titel „Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen" 2 alle ihre Vorgänger (und ihre Nachfolger) im Bewußtsein der literarischen Öffentlichkeit in den Hinter- grund gedrängt hat, steht eher am Ende der wechselvollen Geschichte des Problems denn an ihrem Beginn. Die Frage ist offenbar fast so alt wie die Kunstform, mit der sie sich in der abendländischen Geistesgeschichte in ganz besonderem Maße verbindet, ohne etwa darauf beschränkt zu sein. Warum ist das Schmerzliche angenehm, ja lustvoll, das Bittere süß, das Nieder- drückende erhebend? Bereits in Gorgias' Definition der zauberisch-verführerischen Kraft der geformten Sprache scheint die paradoxe Wirkung der Tragödie ange- sprochen; 3 Piaton setzt sie im Philebos als etwas allgemein Bekanntes voraus und gibt im Staat, wenn auch keine detaillierte Analyse, so doch eine knappe psychologische Begründung. 4 Aristoteles schließlich bietet nicht nur in der 1 Gustav Freytag, Die Technik des Dramas (1862) = Ges. Werke Bd. 14, Leipzig 1887, 79. 2 Friedrich Schiller, Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792), = Schillers Werke, Bd. 20, Weimar 1962, 133-147; cf. auch: Über die tragische Kunst, ebda., 148-170. 3 Gorg. Hei. 8 ff. 4 PI. Phlb. 48 a 5 ff.; R. 605 d ff. Brought to you by | New York University Authenticated | 216.165.126.139 Download Date | 11/26/13 1:06 PM
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Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen

„Wer je an sich selbst die Wirkungen einer Tragödie beobachtet hat," - so Gustav Freytag in seiner einflußreichen Analyse der Technik des Dramas von 1862-„der muß mit Erstaunen bemerken, wie die Rührung und Erschütterung das Nervenleben ergreifen. Weit leichter als im wirklichen Leben rollt die Träne, zuckt der Mund; dieser Schmerz ist aber zugleich mit kräftigem Wohlbehagen verbunden."1

Das Thema ist alt: weit älter als Gustav Freytags Beschreibung des Phänomens und weit älter als die Schillersche Formulierung, in der eine der ehrwürdigsten Paradoxien der Ästhetik ihre klassische Form gefunden hat. Schiller, dessen kleine Studie von 1792 mit dem Titel „Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen"2 alle ihre Vorgänger (und ihre Nachfolger) im Bewußtsein der literarischen Öffentlichkeit in den Hinter-grund gedrängt hat, steht eher am Ende der wechselvollen Geschichte des Problems denn an ihrem Beginn. Die Frage ist offenbar fast so alt wie die Kunstform, mit der sie sich in der abendländischen Geistesgeschichte in ganz besonderem Maße verbindet, ohne etwa darauf beschränkt zu sein. Warum ist das Schmerzliche angenehm, ja lustvoll, das Bittere süß, das Nieder-drückende erhebend?

Bereits in Gorgias' Definition der zauberisch-verführerischen Kraft der geformten Sprache scheint die paradoxe Wirkung der Tragödie ange-sprochen;3 Piaton setzt sie im Philebos als etwas allgemein Bekanntes voraus und gibt im Staat, wenn auch keine detaillierte Analyse, so doch eine knappe psychologische Begründung.4 Aristoteles schließlich bietet nicht nur in der

1 Gustav Freytag, Die Technik des Dramas (1862) = Ges. Werke Bd. 14, Leipzig 1887, 79.

2 Friedrich Schiller, Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792), = Schillers Werke, Bd. 20, Weimar 1962, 133-147; cf. auch: Über die tragische Kunst, ebda., 148-170.

3 Gorg. Hei. 8 ff. 4 PI. Phlb. 48 a 5 ff.; R. 605 d ff.

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Poetik, sondern auch in der Rhetorik und Politik explizit und implizit eine ganze Reihe von Erklärungen.5

Schon diese ersten Namen - und Werke -, die sich mit unserer Frage verbinden, lassen etwas ahnen von der Vielfalt der Kontexte, in denen sie bedeutungsvoll werden kann. Nicht nur Dichter, Literaturtheoretiker und Theaterwissenschaftler sowie Mediziner und Religionswissenschaftler, sondern auch, und in ganz besonderem Maße, Philosophen, Psychologen und Politologen haben interessante Beiträge zur Erklärung des komplexen Phänomens geliefert, das uns in verschiedenen Zeiten und Kulturen, in ganz verschiedenen Erscheinungsformen und auf ganz verschiedenem Niveau entgegentritt: von seiner höchsten ästhetischen Sublimierung im Vergnügen an Leiden und Tod des tragischen Helden bis in die Niederungen der perversen Lust an Autounfällen und Naturkatastrophen, Gladiatorenkämpfen und Horrorfilmen.

In ihrer allgemeinsten Form lautet die Frage: warum zieht uns fremdes Leid magisch an? Was ist die geheimnisvolle Quelle unseres Vergnügens an Dingen, Ereignissen, Situationen und Schicksalen - und an den vielfaltigen Formen ihrer künstlerischen Repräsentation -, die uns eigentlich nicht anziehen und zutiefst befriedigen, sondern abstoßen und entsetzen müßten? Wenn ich mich hier auf das Teilproblem der 'tragischen Lust' konzentriere, so wird doch dieser umfassendere Rahmen nicht gänzlich aus dem Blickfeld geraten.

Die Frage nach den Gründen unseres Vergnügens an tragischen Gegenständen hat in ihrer mehr als zweitausendjährigen Geschichte zahlreiche und sehr verschiedene Antworten gefunden. Als klassischer Philologe werde ich mich auf die Antworten der Antike konzentrieren, jedoch versuchen, in dem Maße, in dem der Umfang eines Vortrage und meiner Kenntnisse es erlauben, auch moderne Theorien einzubeziehen. Dabei wird sich zeigen, daß in den Antworten der Antike, die meines Wissens

5 Arist. Po. 1448 b 4 ff., 1449 b 27 ff., 1453 b 10 ff.; Rh. 1370 a 27 ff.; Pol. 1341 b 32 ff.

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bisher nie systematisch zusammengestellt und ausgewertet worden sind, bereits fast alle Aspekte angesprochen sind oder wenigstens anklingen, die in der Neuzeit von den Aristoteleskommentaren der Renaissance bis heute, z.T. in direktem Anschluß an die Antike, z.T. unabhängig von ihr, diskutiert worden sind bzw. werden.

Im platonischen Philebos ist das Vergnügen an tragischen Gegenständen zum ersten Mal expressis verbis konstatiert.6 In seiner Analyse der verschiedenen Mischungsformen von Lust und Unlust (μεΐξις λύπης τε και ηδονής) verweist Sokrates unter den ersten Beispielen für rein seelische Gefühlsmischungen auf eine Reihe von Affekten wie Zorn, Furcht, Sehnsucht, Liebe, die alle einerseits unangenehme seelische Störungen (λΰπαι), andererseits aber „voll von unsäglichen Lustgefühlen" (μεσταί ήδονών άμηχάνων) seien, und erinnert seinen Gesprächspartner Protarchos dann an die wohlbekannte Reaktion des Theaterpublikums, das bei den Tragödienaufiührungen „zugleich sich ergötzend weint".

Zweierlei verdient hervorgehoben zu werden: 1.die konkret physiologische Bestimmung der emotionalen Reaktion als

Weinen (κλάωσιν); 2. die Betonung der Gleichzeitigkeit der beiden Reaktionen Vergnügen

und Weinen (αμα).7

Daß Piaton im Philebos weit über die bloße Konstatierung des Faktums hätte hinausgelangen können, macht die differenzierte Analyse des parallelen Phänomens im Falle der Komödie sehr wahrscheinlich. Leider ist Protarchos

6 PI. Phlb. 48 a 5 ff. 7 Interessant ist bereits das Bewußtsein der Koexistenz antithetischer Gefühle, das

ja die Grundvoraussetzung für das Verständnis der tragischen Lust ist; Beobachtung und Beschreibung der komplexen Verbindung von Freude und Schmerz sind übrigens weit älter als der platonische Philebos. Es genügt, an die ambivalente Reaktion Andromaches zu erinnern, die, als ihr Hektor am Ende der Abschiedsszene den schreienden kleinen Astyanax in die Arme legt, „unter Tränen auflacht" (Horn. II. 6.484), oder auch an das berühmte sapphische Oxymoron vom bittersüßen Eros (Sappho F 1 3 0 , 2 LP).

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die ambivalente Wirkung der Tragödie so vertraut und selbstverständlich, daß er nicht, wie gleich darauf, als Sokrates zur Wirkung der Komödie übergeht, erstaunt nachfragt. Die schnelle Zustimmung ist genauso ärgerlich wie das Einschlafen des Berichterstatters am Ende des Symposion. Werden wir dort in der neugierigen Hoffnung getäuscht, etwas über Sokrates' faszinierende These zu hören, daß derselbe Mann sich darauf verstehen müsse, Tragödien und Komödien zu schreiben,8 so verhindert hier die Zustimmung des Protarchos eine Analyse der Gründe des Vergnügens an tragischen Gegen-ständen.

Machen wir nun einen großen Sprung an das Ende der antiken Diskussion, so scheint es, daß im Verlaufe von 750 Jahren kein wesentlicher Fortschritt erreicht worden ist.

Nachdem er bereits im 1. Buch der Confessiones von seiner frühen Liebe zum Theater und der Faszination, die der Brand von Troja und das Schicksal der Dido auf ihn ausübten, berichtet hat,9 gesteht Augustin zu Beginn des 3. Buches,10 wie ihn während des Studiums in Karthago eine wahre Theaterleidenschaft ergriffen und mit sich fortgerissen habe, und stellt sich die Frage: „Wie kommt es, daß der Mensch Schmerz empfinden will, wenn er Trauriges und Tragisches betrachtet, das er doch selbst nicht erleiden möchte?" Augustin hat an sich selbst die Erfahrung gemacht, die bereits Piaton im Staat kritisch registriert11 und die das Paradox des Vergnügens an tragischen Gegenständen noch weiter verschärft: daß wir das Erlebnis des Traurigen und Tragischen sogar suchen. Er spricht von seinem amor dolorum und betont mehrfach, daß wir Dichter und Schauspieler tadeln bzw. preisen, je nachdem wie gering bzw. wie stark sie uns die geliebten Gefühle des Schmerzes und der Rührung verschaffen. Denn: Dolor ipse voluptas est. Eine wirklich befriedigende Antwort auf seine Frage scheint Augustin nicht zu

8 PI. Smp. 223 c 6 ff. 9 Aug. Conf. 1.10.16,1.13.20-22. 10 Aug. Conf. 3.2.2-4. nPl.Ä. 605 d ff.

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kennen. Auch dort, wo in Ansätzen Theorien zur Erklärung des Phänomens sichtbar werden, scheinen sie eher zufällig anzuklingen oder werden von ihm selbst nur als erstaunte Frage formuliert.12 So bleibt die Konstatierung eines unerklärlichen Wahnsinns (mirabilis insania) und die Feststellung, daß der Mensch Tränen und Schmerzen nun einmal liebe: lacrimae ergo amantur et dolores (3.2.3).

Damit aber sind wir über die platonischen Feststellungen im Staat und im Philebos nicht wesentlich hinaus, und es könnte so scheinen, als seien in den vielen Jahrhunderten, die zwischen Piaton und Augustin liegen, keine Antworten gefunden, ja nicht einmal verschiedene Lösungsversuche dis-kutiert worden. Dieser Eindruck ist jedoch falsch. Im folgenden werde ich zunächst eine Reihe von antiken (und modernen) Theorien vorstellen, bevor ich am Schluß noch einmal ausfuhrlich zu dem von Piaton und Augustin konstatierten Problem einer elementaren menschlichen Lust am Jammer zurückkomme.

Am Anfang - wie am Ende - der Reihe von Antworten stehe Aristoteles, der nicht nur im Herzstück seiner Tragödien-Definition (1449 b 24-28), sondern an verschiedenen Stellen der Poetik explizit oder implizit auf die Wirkung der Tragödie zu sprechen kommt. In 1453 b 11 ff. bestimmt er die der Tragödie eigentümliche Lust als „die Lust, die aus Jammer und Schrecken durch Nachahmung entsteht". In der knappen Formulierung sind

1 2 In 3.2.4 klingt der Gedanke der ästhetischen Distanz an (dazu u. S. 225-32f. und Anm. 25); bedeutungsvoller für die Geschichte des Problems ist Augustins Frage, ob die Ausübung des Mitleids lustvoll ist (3.2.3: An cum miserum esse neminem libeat, libet tarnen esse misericordem, quod quia non sine dolore est, hac una causa amantur dolores!). Dieser Gedanke wird im 18. Jh. zur wichtigsten Theorie (dazu s. u. S. 243f.). Martino glaubt darüber hinaus, aus Augustins Überlegungen den Ansatz zur Theorie der lustvollen (weil ungefährlichen) Ersatzbefriedigung herauslesen zu können: "Augustin scheint dem Theater die Funktion zuzuschreiben, unsere beschränkte persönliche Erfahrung durch das Erlebnis von Empfindungen und Leidenschaften zu erweitern, die, real erfahren, zerstörerisch wären, die aber, sympathetisch erlebt, die Aufgabe erfüllen, gefahrlos gewisse Zerstörungs- und Todesinstinkte zu befriedigen" (A. Martino, Geschichte der dram. Theorien in Deutschland im 18. Jh. Übers, aus dem Ital., Tübingen 1972,15).

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die beiden polaren Aspekte des Problems, seine emotionale (als Folge von Jammer und Schrecken) und seine rationale Seite (durch Mimesis) in bewundernswerter Prägnanz miteinander verbunden. Ich beginne mit dem intellektuellen Aspekt der Mimesis, unter dem sich eine ganze Reihe von antiken und modernen Überlegungen zum tragischen Vergnügen sub-sumieren lassen.

1. Im 4. Kapitel der Poetik13 erklärt Aristoteles die Entstehung der Kunst

daraus, daß dem Menschen ein ihn von allen anderen Lebewesen unterscheidender Trieb zur Mimesis angeboren sei und daß sich so auch seine Freude an jeder Art von Nachahmung verstehen lasse (48 b 5 ff.). Auch Dinge, deren Betrachtung in der Realität Mißvergnügen bereiten, erfreuten uns dann, wenn sie mit größter Genauigkeit abgebildet seien (48 b 10 ff.). Dieser interessante Ansatz zu einer Ästhetik des Häßlichen, den Aristoteles auch in der Rhetorik (1371 b 4 ff.) im Rahmen seiner allgemeinen Analyse der Hedone vorträgt, bedeutet, auf die Tragödie angewendet, daß uns die Mimesis tragischer Ereignisse zunächst einmal als vollendete Nachahmung einer Handlung, d.h. als Kunstprodukt erfreut.14

Eine ausfuhrliche Anwendung der knapp und allgemein formulierten aristotelischen These auf die theatralische Mimesis findet sich in den Moralia Plutarchs. 5.1 der Quaestiones Convivales ist überschrieben: „Warum wir denjenigen, die Zürnende oder sich Grämende nachahmen, mit Vergnügen zuhören, denjenigen dagegen, die tatsächlich in diesen Emotionen befangen sind, mit Mißvergnügen."15 Im Verlaufe seiner reichlich redundanten Argumentation gegen die epikureische Theorie, auf die ich noch

1 3 Arist. Po. 1448 b 4 f f ; cf. auch PA 645 a 7-17. 1 4 Zu dem für Aristoteles zentralen Grund für das Vergnügen, das uns die

Mimesis bereitet, dem Lernen, cf. u. S. 232; zum Vergnügen an der künstlerischen Gestaltung cf. auch Po. 1448 b 17-19.

15 Plut. Quaest. Conv. 5.1 (673C-674C); cf. dazu Plut. de aud. poet. 3 (17F-18D).

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zurückkomme, nimmt Plutarch den aristotelischen Grundgedanken eines angeborenen Vergnügens an Nachahmungen jeder Art auf: „Ich erklärte, obwohl ich mich damit auf fremdes Gebiet wagte, daß wir, da wir von Natur aus mit Vernunft und Liebe zur Kunst begabt auf die Welt kommen, eine natürliche Affinität zu allem haben, was vernünftig und kunstvoll ausgeführt wird, und Erfolg hierin bewundern" (673 D 12-15). Diese angeborene Liebe zur Kunst erkläre unser Vergnügen an der Darstellung von Personen, Dingen und Gefühlen, deren Anblick in der Realität unangenehm sei. Plutarch führt den Beweis ganz aristotelisch mit Beispielen aus der bildenden Kunst, wählt diese aber anders als Aristoteles so aus, daß die angestrebte Übertragung auf die Tragödie sich aufdrängt. „Der Anblick Sterbender und Kranker ist schmerzlich. Wenn wir jedoch den Philoktet auf einem Gemälde betrachten oder eine Statue der lokaste und dazu erfahren, daß der Künstler bei der Gestaltung ihres Antlitzes, um den Ausdruck eines Menschen im Moment des Sterbens und des Hinschwindens zu erreichen, der Bronze etwas Silber zugesetzt habe, dann betrachten wir sie mit Vergnügen und Bewunderung" (674 A 6-11). Es ist also fur Plutarch (wie fur Aristoteles) die Wahrnehmung intellektueller, kreativer und handwerklicher Fähigkeiten des Künstlers (sei er nun Maler oder Bildhauer, Autor oder Schauspieler), die die Rezeption an sich unangenehmer Objekte zu einem Vergnügen macht.

Man könnte an dieser Stelle noch einmal an die gorgianische Theorie der verführerischen Zauberkraft der Poesie erinnern; und nur am Rande sei angemerkt, daß lange vor Plutarch verschiedentlich wohl nicht die künst-lerische Gestaltung als ganze, aber doch Teilaspekte der Kunst implizit als Begründung für das Vergnügen an der Tragödie erscheinen. So verweisen Piaton (in den Nomoi 653 e) und Aristoteles (im 4. Kapitel der Poetik, 1448 b 17 ff.) auf das uns angeborene lustvolle Gefühl für Harmonie und Rhythmus; so sprechen Dio Chrysostomos (in dem berühmten Vergleich der drei Philoktetdramen)16 und Ps.-Longinus von der erhebenden Wirkung des

16 D. Chr. 52.15.

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Erhabenen: „Denn von Natur wird unsere Seele vom wirklich Erhabenen emporgetragen; sie empfangt einen freudigen Auftrieb und wird erfüllt von Lust und Stolz, als habe sie, was sie hörte, selbst erzeugt."17

In der Neuzeit erscheint die Theorie des lustvollen Nachahmungstriebs und die daraus entwickelte erste Antwort auf unsere Frage, daß es die Kunst qua Kunst ist, die uns das Schreckliche verschönt, das Bittere versüßt, natürlich zuerst bei den Aristoteles- und Horazkommentatoren und in den Poetiken18 der Renaissance- und Barockzeit. Jason Denores (1553) fügt als erster den später häufig geäußerten Gedanken hinzu, daß die Tragödie uns mehr erfreue als die Komödie, weil sie das komplexere Kunstwerk sei und der Dichter folglich größere künstlerische Fähigkeiten beweisen müsse.19

Später löst sich das Argument immer mehr von seinem aristotelischen Mimesis-Ausgangspunkt. In David Humes einflußreichem Essay On Tragedy (1757) erscheint es in der Formulierung, die in der Folgezeit immer wieder variiert wird: „The genius required to paint objects in a lovely manner, the art employed in collecting all the pathetic circumstances, the judgement displayed in disposing them; the exercise, I say, of these noble talents, together with the force of expression and beauty of oratorial numbers, diffuse the highest satisfaction on the audience and excite the most delightful movements".20

Es ist abschließend wichtig festzuhalten, daß in allen diesen Erklärungen Kunst als schöne Form erscheint, in die das Furchtbare verpackt wird, als

1 7 Ps.Longin. 7.2. 1 8 Cf. z.B. Jacobus Pontanus, Poeticarum Institutionum libri tres, Ingolstadt 1594,

II 110; Gerardus Joannes Vossius, Poeticarum Institutionum libri tres, Amsterdam 1647, II 47 (wohl im Anschluß an Pontanus).

1 9 Giason Denores, In Epistolam Q. Horatii Flacci de arte poetica interpretatiof

1533; cf. M.T. Herrick, The Fusion of Horatian and Aristotelean Literary Criticism 1531-1555, Urbana 1946,43; ebenso Pontanus (cf. Anm. 18).

2 0 David Hume, On Tragedy (1757), in: D.H., Essays, Moral, Political, and Literary, edd. Green and Grose, London/New York/Bombay 1875, 258-265, 261 f. (Hume integriert übrigens in seine These eine ganze Reihe anderer Erklärungen; cf. Martino [Anm. 12], 162 ff.).

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Zucker, mit dessen Hilfe, wie es bei Giambattista Guarini21 ganz lukrezisch heißt, wir die bittere Medizin der Tragödie leichter schlucken können, als Kompensation für Schmerz, nicht aber als Vergnügen im und am Schmerz selbst.22 Und das gilt letztlich auch fur komplexere Formen des Kunst-arguments, wie sie im Anschluß an die Ästhetik Croces im 20. Jahrhundert auftauchen: z.B. bei Andre Malraux,23 der erklärt, daß der letzte und erhebende Eindruck großer Tragödien der Triumph der Kunst über das tragische menschliche Schicksal sei, oder in der frühen Studie Ludwig Marcuses, Die Welt der Tragödie von 1923, der erklärt: „Jede Gestaltung bringt Ruhe; jede schöpferische Distanzierung mindert das Leid. Ohne die Gabe der aktiven oder imitierenden Produktivität wäre das Leid unerträglich."24

2.

Kunst als das Medium, das uns den Blick ins Antlitz der Medusa erlaubt, als wohltuend mildernder Schleier zwischen uns und der unerträglichen Realität. In der Formulierung Marcuses taucht in dem Begriff der produktiven Distanzierung eine von der Antike bis auf den heutigen Tag in den verschiedensten Formen diskutierte Grundvoraussetzung der tragischen Lust auf: Distanz als Bedingung eines beruhigenden Sicherheitsgefuhls des Rezipienten.

Die Distanz kann in verschiedener Weise bestehen bzw. empfunden werden:

Giambattista Guarini, II Pastor Fido e il compendio delta poesia tragicomica (1601), Bari 1914.

2 2 Cf. O. Mandel, Α Definition of Tragedy, New York 1961 (repr. 1968), 77. 2 3 Andre Malraux, zit. nach: H.J. Muller, The Spirit of Tragedy, New York 1956,

21. 2 4 L. Marcuse, Die Welt der Tragödie, 1923 (repr. Frankfurt 1985), 19; zu den

verschiedenen Formen des Kunstarguments und den ganz unterschiedlichen Erklärungen der Wirkung der Kunst vgl. Mandel (cf. Anm. 22), 77-80.

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a)als qualitative (oder ästhetische) Distanz, die in der ontologischen Differenz von Realität und Abbildung liegt. Wir erkennen, daß es sich bei den dargestellten Ereignissen lediglich um künstlerische Fiktionen handelt. So erklären ζ. B. die epikureischen Gesprächspartner Plutarchs, daß unser Vergnügen sich aus der Erkenntnis speist, daß der Schauspieler ja nicht wirklich leidet;25

b)als zeitliche Distanz der in den großen Tragödien der Weltliteratur zumeist dramatisierten mythischen und historischen Stoffe zur Gegenwart der Rezipienten. Aristoteles' mit einem Euripideszitat gestützter Hinweis in der R h e t o r i k auf die Freude, die die Erinnerung an überwundene Gefahren und vergangenes Leid erregt, läßt sich durchaus auf die Betrachtung tragischer Ereignisse übertragen, die im Augenblick der Betrachtung bereits der näheren oder ferneren Vergangenheit angehören. „Süß ist die Erinnerung an vergangene Mühen" heißt es bei Cicero;27 jedenfalls dann, wenn man sich im Augenblick der Erinnerung sicher fühlt.28 Seit Homer ist diese psychologische Wahrheit der acti labores iucundi, die Wilhelm Busch in die sprichwörtliche Wendung „Gehabte Schmerzen, die hat man gern" gekleidet hat, immer wieder formuliert worden.

c) Ein dritter Aspekt der Distanz des Zuschauers von den Ereignissen ist bedeutungsvoller: die räumliche Trennung, die schon rein äußerlich durch die Trennung von Bühne und Zuschauerraum konstituiert wird, vor allem aber in

2 5 Plut. Quaest. Conv. 5.1 (679 D 8 ff.); cf. Aug. Conf. 3.2.4. Dieser Gedanke ist ein wesentliches Element fast aller modernen Theorien; vgl. z.B. J.J. Bodmer, Briefwechsel über die Natur des Poetischen Geschmackes ..., Zürich 1736 (photomech. Nachdr. Stuttgart 1966), 86-88; F. Mendelssohn, Briefe über die Empfindungen (1755) = Philos. Schriften I, Carlsruhe o. J., 143 f. Zur Kunst als 'distance-making device' vgl. Mandel, (cf. Anm. 22).

2 6 Arist. Rh. 1370 b 1-4; das von Aristoteles zitierte fr. Eur. 133 N2 stammt aus der Andromeda·, daneben verweist Arist. auch auf Horn. Od. 15. 398-401; cf. dazu Cope-Sandys, The Rhetoric of Aristotle, Cambridge 1877 (repr. 1970) ad loc. 206 ff.

2 7 Cie. Fin. 2.32.105; Cicero übersetzt den von Arist. zitierten Vers aus der euripideischen Andromeda (Anm. 26).

2 8 Cie. Fam. 5.12.4.

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der Tatsache besteht, daß das tragische Spiel die Leiden anderer in einer Situation und Welt präsentiert, die nicht direkt die eigene ist (αλλότριος ist seit Gorgias und seit Piatons Staat der Terminus dafür).29

Physische und psychische Distanz des Betrachters ist in der Tat ein zentraler Aspekt des tragischen Vergnügens. Fehlt sie oder reicht sie nicht aus, ist das Vergnügen an tragischen Gegenständen unmöglich oder doch gefährdet. Das zeigt sich, wenn wir Herodot glauben können, am Beginn der abendländischen Tragödie bereits mit aller Deutlichkeit, als Phrynichos mit der Darstellung der furchtbaren Katastrophe der Zerstörung von Milet, d.h. wie Herodot sagt, mit „sie persönlich betreffenden Ereignissen" (οΐκήια πράγματα), seinen Zuschauern so nahe rückt, daß sie sich ihm verweigern und den Dichter, der ihnen das erwartete Vergnügen vorenthalten hat, bestrafen.30 Die Nähe, die wir ertragen können, ist gewiß durchaus verschieden, völlig fehlen oder verlorengehen darf die Distanz nicht.

Die ästhetische bzw. zeitlich-räumliche Distanz der Bühnenereignisse von der Realität des Zuschauers ist allerdings keine Erklärung für das Vergnügen im und am Schmerz (und auch nicht Kompensation fur den Schmerz wie die künstlerische Gestaltung), sondern Voraussetzung, Bedingung für das Vergnügen an tragischen Gegenständen. Eine Antwort auf unsere Frage erhalten wir erst dann, wenn wir diese Distanz unter einem anderen Aspekt betrachten, den man mit einem weiteren Buschzitat (diesmal aus Plisch und Plum) auf die Formel bringen könnte:

2 9 άλλότριος: Gorg. Hei. 9; PI. R. 606 b; Timokles/r. 6, 2 Κ (cf. Anm. 31); Aug. Conf. 3.2.4. (alienus); cf. M. Pohlenz, Die Anfänge der griechischen Poetik, NGG 66, 1920, 142-178 = Kleine Schriften II 436-472 (462-464); cf. auch E. Bullough, Psychical Distance as a Factor in Art and an Aesthetic Principle, Brit. Journ. of Psychology, 5, 1912/13, 87-118, für den die erforderliche Distanz in der Tragödie durch die Besonderheit des Dargestellten entsteht: „It is largely the exceptional which produces the distance of tragedy: exceptional situations, exceptional characters, exceptional destinies and conduct" (103).

3 0 Hdt 6.21.2.

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„Ist fatal, bemerkte Schlich, He, he! Aber nicht für mich!"

In der Antike taucht der Gedanke zum ersten Mal - in einer Variante - in einem bei Athenaios erhaltenen Fragment des Komikers Timokles31 auf, der über Nutzen und Vergnügen der Tragödie spöttelt, bei der der Mensch, von fremdem Leid gefesselt, sein eigenes Schicksal vergißt und schließlich erfreut und belehrt von dannen zieht (1-7):

„Als erstes nun betrachte, wenn du magst, wie die Tragödien allen nutzen. Ein Armer nämlich, wenn er dort erfahren hat, daß Telephos armseliger als er geworden ist, trägt seine Armut schon viel leichter; ist wer nicht recht bei Trost, der stellt sich den Alkmaion vor; hat's einer mit den Augen, die Phiniden sind ja blind; starb wem ein Kind, so tröstet ihn die Niobe; ist einer lahm, der blickt auf Philoktet; und hat ein Greis kein Glück, studiert den Oineus er." (8-16)

Seine klassische Formulierung hat der Gedanke, daß das tragische Vergnügen sich aus dem Vergleich unserer Situation mit dem fremden Schicksal ergibt, jedoch in den berühmten (und folgenreichen) Versen des Lukrez gefunden. Am Anfang des 2. Buches heißt es:

„Süß ist es, wenn der Sturm auf hohem Meer die Wasser aufwühlt, vom Lande zu betrachten, wie sich ein andrer furchtbar müht. Nicht weil es eine angenehme Lust ist, daß jemand leidet, sondern weil es süß ist, Leiden zu sehen, von denen man selber frei ist."32

Die Formulierung des Lukrez ist offensichtlich durch einen griechischen Topos vorbereitet. Stobaios zitiert zwei Verse des Komikers Archippos:

31 Timokles fr. 6 K. 32 Lucr. 2,1-4.

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„Wie süß ist es, vom Land das Meer zu sehen, für einen, Mutter, der nie mehr zur See fährt,"33

und wir können den Gedanken sogar bis zu Sophokles zurückverfolgen. In einem Fragment der Tympanistai heißt es:

„Mein Gott, welch' größeres Vergnügen könnte man wohl haben, als nach Erreichung des Landes mit ruhigem Sinn unterm Dach dem dichten Regen zu lauschen."34

Die eigentliche Pointe der lukrezischen Verse, der Kontrast nicht zwischen den Gefahren des stürmischen Meeres und der Sicherheit des erreichten Landes, sondern zwischen fremder Lebensgefahr und eigener Sicherheit scheint jedoch dem Lukrez zu gehören.35

Allerdings spricht Lukrez nicht vom Theater, sondern von der Realität; die Übertragung seiner Theorie auf die Tragödie bietet sich jedoch an. Vollzogen wird sie erst im 17. Jahrhundert (und dann wiederholt); so z.B. von Bernard Lamy (1668),36 und vor allem in England, z.B. in der kleinen Studie des Kritikers und Dramatikers John Dennis, The Usefulness of the Stage von 1698: „People who are melted or terrified with the sufferings of the great which are set before their eyes, are rather apt to feel a secret pleasure from the sense that they have, that they are free from the like

3 3 Archippos/r. 43 K; vgl. Epiktet/r. 121 Schweighäuser (II 104, repr. 1977), der den ersten Vers des Archippos mit Ε .fr. 133 Ν2 (cf. Anm. 26) kombiniert.

3 4 S. F 636 Radt; dort auch weitere Parallelen; aus der lateinischen Literatur z.B. Tib. 1.45 ff; Hör. Ep. 1.11.10.

3 5 Das gilt allerdings nur dann, wenn die ganz ähnliche Formulierung Ciceros, dessen Beschäftigung mit Lukrez ja bezeugt ist, von diesem abhängt und nicht beide, was durchaus denkbar ist, aus einer gemeinsamen Quelle schöpfen. Cicero spricht in einem Brief an Atticus aus dem Jahre 59, im Anschluß an S. F 636 Radt (cf. Anm. 35) davon, daß es süß sei, aus den Stürmen der Politik gerettet zu sein und von ferne die Schiftbrüche der anderen zu betrachten (Att. 2 JA).

3f* Bernard Lamy, Nouvelles reflexions sur l'art poetique, in: B.L., La Rhetorique, ou Γ art de parier, Geneve 1725, 494-496; auch für Lamy (wie fur Hume, s. o. Anm. 20) und fur die meisten der im folgenden genannten Autoren gilt, daß der angeführte Gedanke nur einer von mehreren Gründen des Vergnügens an tragischen Gegenständen ist.

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calamities",37 oder auch in den bald darauf erschienenen einflußreichen Bemerkungen Joseph Addisons zu den Pleasures of Imagination (1712), wo

es heißt: „When we read of torments, wounds, deaths, and the like dismal accidents, our pleasure does not flow so properly from the grief which such melancholy descriptions give us, as from the secret comparison which we make between ourselves and the person who suffers."38

Der lukrezische Gedanke der sicheren Distanz, die Vorstellung, daß das Vergnügen an tragischen Gegenständen dem erfreulichen Vergleich der eigenen Sicherheit mit dem fremden Schicksal entspringe, wird schnell zum Standardargument der Diskussion des Problems.39 Entscheidend fur diese erstaunliche Nachwirkung der lukrezischen Verse war wohl ihre Wiederaufnahme durch Thomas Hobbes. Hobbes, der die Ansicht vertrat, daß alles menschliche Handeln und alle menschlichen Emotionen ihren Ursprung in der Selbstsucht der Eigenliebe hätten, erklärte auch die lustvolle Empfindung der eigenen Sicherheit bei der Betrachtung fremder Leiden als Folge der uns angeborenen Selbstliebe; und aus dieser Erklärung, die Hobbes

3 7 John Dennis, The Usefulness of the stage, to the Happiness of Mankind, to Government, and to Religion, Occasioned by a late Book, written by Jeremy Collier, M. Α., 1698, in: The Critical Works, ed. E.N. Hooker, 2 Vols., Baltimore 1939/43,1,165 f.

3 8 Joseph Addison, in der Zeitschrift The Spectator Nr. 418 vom 30.06.1712, in: "The Spectator': with illustrative notes, 8 vols., London 1801, VI, 177 f. Addison betont dabei nachdrücklich die Bedeutung der ästhetischen und zeitlichen Distanz: „This is, however, such a kind of pleasure as we are not capable of receiving, when we see a person actually lying under the tortures that we meet in a description; because, in this case, the object presses too close upon our senses, and bears so hard upon us, that it does not give us time or leisure to reflect on ourselves, our thoughts are so intent upon the miseries of the sufferer, that we cannot tum them upon our own happiness. Whereas, on the contrary, we consider the misfortunes we read in history or poetry, either as past or as fictitious; so that the reflexion upon ourselves rises in us insensibly, and overbears the sorrow we conceive for the suffering of the afflicted."

3 9 Zur Bedeutung der lukrezischen Verse cf. B. Hathaway, The Lucretian „Return upon ourselves" in Eighteenth-Century Theories of Tragedy, PMLA 62, 1947, 672-689.

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mit einem Verweis auf Lukrez gestützt hatte,40 entwickelten sich schon bald Begründungen des Vergnügens an tragischen Gegenständen, die sich mit den lukrezischen Versen nicht mehr verbinden lassen, ja von Lukrez in Vers 3 ausdrücklich ausgeschlossen sind. So erklärt z.B. der stark von Hobbes beeinflußte La Rochefoucault daß wir am Unglück auch unserer besten Freunde immer ein gewisses Vergnügen empfänden,41 und im 18. Jahrhundert konstatiert Edmund Burke in seiner einflußreichen Studie über die Entstehung unserer Vorstellungen vom Erhabenen und Schönen: „I am convinced, we have a degree of delight, and that no small one in the real misfortunes and pains of others."42 Auch an Gottsched, der von der „perversen Lust am Sturz der Großen" spricht43, könnte man erinnern, und es scheint gar nicht einmal ausgeschlossen, daß die Theorie, daß das Vergnügen am Leid anderer sich als hämische Schadenfreude erklären lasse, auch der Antike nicht fremd war, wenn wir denn aus deren ausdrücklichen Ablehnung dieses Gedankens bei Lukrez (V.3) schließen dürfen, daß er sich gezielt gegen eine solche These wendet.

Die Vorstellung, daß eine der erhabensten schöpferischen Leistungen des Menschen ihre Wirkung einem seiner niedrigsten Triebe verdanke (sogar von einer Befriedigung sadistischer Neigungen hat man vereinzelt gesprochen)44

4 0 Thomas Hobbes, Elements of Law, 1640 (aus dem Abschnitt mit dem Titel: O f the passion of them that flock to see danger'), in: The English Works of Th. Hobbes of Malmesbury, ed. W. Molesworth, 1840 (repr. 1962) IV, 51 f.; als zweiten Grund des Vergnügens nennt Hobbes im Anschluß an Aristoteles die Befriedigung unserer intellektuellen Neugier.

4 1 La Rochefoucault, Reflexions ou Sentences et maximes morales (1665) = Oeuvres Completes, Bibl. de la Plöiade 1957, 443: „Dans l'adversite de nos meilleurs amis nous trouvons toujours quelque chose que ne nous deplaisaitpas."

4 2 Edmund Burke, Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757), in: Works, Boston 1871, I 78. Burke erklärt unser Vergnügen allerdings anti-lukrezisch, im Anschluß an Shaftesbury mit der Erregung der sympathetischen Lust des Mitleids; zu Burke vgl. Hathaway (cf. Anm. 39), 683-685; Martino (Anm. 22), 105 ff.

4 3 Johann Christoph Gottsched, Beyträge zur critischen Historie II, 1734/35,103. 4 4 Cf. z.B. T.R. Henn, The Harvest of Tragedy, London 1956, 50 ff.

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mag uns verwirren oder auch erschrecken: ganz sicher, daß unser Vergnügen an tragischen Gegenständen sich nicht auch aus dieser schmutzigen Quelle speist, können wir meines Erachtens jedoch nicht sein.

3. Doch zurück zur aristotelischen Mimesis, von der die beiden ersten

Erklärungen des Vergnügens an tragischen Gegenständen (Kunst und Distanz) ausgingen und mit der sich eine dritte (und nun auch wieder erfreulichere) Reihe von Antworten auf unsere Frage verbinden läßt. In den bereits mehrfach herangezogenen Überlegungen zur Entstehimg der Poesie im 4. Kapitel der Poetik erklärt Aristoteles, die Ursache unserer Freude an jeder Art von Mimesis, d.h. auch an der Darstellung von Unerfreulichem, sei der Erkenntnistrieb. Nicht nur den Philosophen, sondern allen Menschen bereite das Lernen das allergrößte Vergnügen.45 In der Poetik bleibt die Begründung der These ganz im Bereich der bildenden Kunst; in der Rhetorik dagegen verweist Aristoteles neben Malerei und Bildhauerei ausdrücklich auch auf die Poesie (1471 b 4 ff.); und wenn Aristoteles auch nirgends sagt, was wir bei der Betrachtung der Tragödie lernen, und an beiden Stellen nicht völlig klar ist, wie er sich den Vorgang des syllogistischen Lernens vorstellt,46 haben wir hier doch einen ersten Ansatz der vielfältigen späteren Theorien, daß die Lust der Tragödie auf dem intellektuellen Vergnügen der Befriedigung unseres Lerntriebs bzw. der Erkenntnis allgemeiner Wahrheiten über den Menschen und seine Welt beruht. Verbinden wir Aristoteles' Feststellung, daß wir durch die vergleichende Konstatierung einer Identität von Nachahmendem und Nachgeahmtem (d.h. in der Poesie von Fiktion und Realität) lernen, mit seinen berühmten Äußerungen zum philosophischen

4 5 Arist. Po. 1448 b 13 ff. 4 6 Zu 1448 b 12 ff. vgl. G.F. Else, Aristotle's Poetics, The Argument, Cambridge/

Mass. 1957, 124 ff.; D.W. Lucas, Aristotle Poetics, Oxford 1968, ad loc.; S. Halliwell, Aristotle's Poetics, London 1986,69 ff. (dort auch die neuere Literatur).

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Charakter der Poesie,47 so dürfen wir vielleicht schließen, daß den knappen Bemerkungen im 4. Kapitel die Überlegung zugrundeliegt, daß wir das dargestellte Besondere als individuelle Repräsentation allgemeiner Wahrheiten wiedererkennen und so etwas über uns und für uns lernen.

Hier wird nun deutlich, daß die Distanz, die wir eben noch als Voraussetzung für das tragische Vergnügen bezeichnet haben, zwar einerseits nicht zu gering sein, andererseits aber auch nicht zu groß werden darf.48 Der Bezug (und damit die Beziehbarkeit) des Dargestellten auf die Person und Welt des Betrachters darf nicht zu obskur sein oder ganz verloren gehen. Aristoteles hat das bei der Bestimmung des tragischen Helden im Kapitel 13 und bei den Definitionen der tragischen Emotionen Eleos und Phobos in der Rhetorik auch ausdrücklich betont49 Die Erklärung des Vergnügens an tragischen Gegenständen aus dem primär intellektuellen Vergnügen an der Erkenntnis fundamentaler Wahrheiten über den Menschen und seine Welt -sei sie nun bei Aristoteles bereits impliziert oder nicht - hat in der Neuzeit, vor allem seit der Philosophie des deutschen Idealismus,50 eine zentrale Rolle gespielt. In der Antike erscheint sie - wenn überhaupt - nur in sehr einfachen Vorformen.

Ich versuche im folgenden die vielfältigen Argumente, die sich mit dieser These verbinden, um zwei Zentren herum zu ordnen, auch wenn sich die

4 7 Arist. Po. 1451b 5 ff. 4 8 Die heikle Balance zwischen Distanz und Nähe wird im 18. Jh. vor allem als

Problem des Verhältnisses von theatralischer Illusion und dem Bewußtsein des Illusionscharakters diskutiert; cf. Martino (s. o. Anm. 22), 146-185, spez. 167 ff.

4 9 Arist. Po. 1453 a 4-6: Bestimmung des tragischen Helden als "<uns> ähnlich" (όμοιος); Rh. 2.5 φόβος: 1382 a 20-1383 a 12; 2.8 έλεος: 1385 b 11-1386 b 8.

5 0 Natürlich findet sich seit der Renaissance im Anschluß an Arist. Po. Kap. 4 und das horazische prodesse et delectare überall die Theorie des intellektuellen Vergnügens am Lernen. Dabei handelt es sich durchweg um das Vergnügen an den moralisch-belehrenden Wahrheiten der Tragödie.

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beiden Bereiche nicht völlig voneinander trennen lassen: 1. der Held, 2. die Weltordnung.51

1) Die These, daß sich die paradoxe Wirkung der Tragödie von der zentralen Paradoxie herleite, daß sich in der Vernichtung des tragischen Helden seine Größe triumphierend beweise, ist seit der Renaissance ein Gemeinplatz der modernen Tragödientheorie. Antik ist sie nicht, auch wenn sie leicht an berühmte stoische Texte anknüpfen konnte und, wie sich zeigen wird, auch tatsächlich anknüpfte.

Zu Beginn von De Providentia stellt sich Seneca52 der unsterblichen Frage, warum den Guten so viel Unglück widerfährt (2.1 u. 2.7). Seine Antwort lautet, daß die Mühen und Leiden dazu dienen, unsere Widerstandskraft zu erproben und zu stärken (2.2 ff.), und daß die Götter -wie wir Menschen - Vergnügen daran empfinden, das erhabene Schauspiel des Kampfes zwischen dem Weisen und seinem Schicksal zu betrachten (2.8 ff.). Der Selbstmord des stoischen Helden κατ ' έξοχήν Cato sei wahrlich ein Schauspiel gewesen, das die Aufmerksamkeit der Götter und Jupiters verdient habe, und sie hätten ihm mit solchem Vergnügen zugesehen, daß sie seinen Selbstmord dadurch verlängert und erschwert (und so ihren Genuß erhöht) hätten, daß sie den ersten Versuch Catos nicht hätten gelingen lassen (2.12: non fuit diis immortalibus satis spectare Catonem semel). Die siegreiche Bewährung stoischer virtus als Grund eines göttlichen Vergnügens an tragischen Gegenständen: daran konnten in der Neuzeit nicht nur die Märtyrerdramen der Jesuiten, sondern auch das deutsche Barockdrama und die stark moralisierende französische Klassik leicht anknüpfen: admiratio -Bewunderung wird im 17. Jahrhundert zum dritten tragischen Affekt neben Eleos und Phobos. Dabei ist es bedeutungslos, ob der Held seine virtus im Tode beweisen muß oder ob die poetische Gerechtigkeit der tragedie

51 Eine nicht tinbedeutende Rolle spielt daneben im Anschluß an den aristotelischen Begriff des θαυμαστόν die Befriedigung unserer intellektuellen Neugier durch die 'erstaunlichen* Ereignisse der Tragödie.

5 2 Seneca, Prov. 2.

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heureuse ihn im letzten Moment davor bewahrt. Das sentimentale 18. Jahrhundert ließ dann das tragische Vergnügen gern „aus der Entdeckung sittlich schöner Karakterzüge, die der Kampf mit dem Unglück und mit der Leidenschaft sichtbar macht, entspringen".53 Auch bei Schiller, der übrigens in seiner Studie Über das Pathetische die Cato-Stelle aus De Providentia zitiert, ist zweifellos etwas von den stoischen Ursprüngen der Theorie zu spüren, wenn er das Vergnügen an tragischen Gegenständen auf die im Konflikt und in der Vernichtung des Helden sichtbar werdende moralische Zweckmäßigkeit, auf die Epiphanie des Sittengesetzes zurückfuhrt und (ganz stoisch) erklärt: „Nur dann erweist sich die ganze Macht des Sittengesetzes, wenn es mit allen übrigen Naturkräften im Streit gezeigt wird. ... Je furchtbarer der Gegner, desto glorreicher der Sieg; der Widerstand allein kann die Kraft sichtbar machen."54

Doch auch in ihrer komplexeren Form bei Schiller ist die These, daß der Held die Quelle unseres tragischen Vergnügens sei, noch zu eng, zu moralisierend. Wir müssen sie allgemeiner fassen. Das entscheidende Merkmal des tragischen Helden ist die außergewöhnliche emotionale und intellektuelle Kraft (auch zum Bösen), die Stärke (auch und gerade in der Krise), die Größe (auch und gerade im Sturz). So verschieden z.B. die sophokleischen Helden sein mögen, Antigone und Elektra, Aias, Oidipus und Philoktet: sie sind alle in dem genannten Sinne groß: groß in ihrem moralischen Mut, ihren Weg zu gehen - und führe er sie auch in den Tod; groß in ihrer Entschiedenheit, das Notwendige (oder das, was sie dafür halten) gegen jeden Widerstand zu tun; groß aber auch in ihrer Reizbarkeit und völligen Unfähigkeit zum Kompromiß; groß schließlich in Leid und Schmerz, in Zusammenbruch und Tod. Was uns als Zuschauer bei allem Jammer und Erschrecken über die Vernichtung solcher Helden zutiefst ergötzt, ist die Vision dieser letztlich unzerstörbaren Größe, die uns, wenn

5 3 Friedrich Schiller, Über die tragische Kunst (s. o. Anm. 2), 152. 5 4 Friedrich Schiller, Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen

(s. o. Anm. 2), 139.

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Bernard Knox mit seiner schönen Analyse des sophokleischen Helden recht hat, daran erinnert, „that in some chosen vessels humanity is capable of superhuman greatness, that there are some human beings who can imperiously deny the imperatives which others obey in order to live."55

Hier liegt zweifellos eine tief in unser Selbstwertgefühl hineinreichende Wurzel des tragischen Vergnügens. Diese Erklärung reicht aber allein nicht hin, weil sie, wie schon ein Blick auf die griechische Tragödie lehrt, auf große Bereiche der abendländischen Tragödie nicht anwendbar ist. Die aischyleische Tragödie kennt einen solchen tragischen Helden noch fast gar nicht; bei Euripides wird er mitleidlos demontiert, erscheint die erhebende Vision allenfalls in dem bitteren Gefühl des Verlusts der Größe, die in vielen seiner Stücke zur tragischen Aussage wird.56 Grandeur d'äme - die Größe des Helden ist also eine potentielle starke Quelle des Vergnügens an tragischen Gegenständen, aber keine unverzichtbare Bedingung, wie so viele meinen.

2) Dasselbe gilt auch für den anderen, eng damit verbundenen Aspekt des Lernens durch Leid. Nach dieser Theorie entsteht das Gefühl tiefer Zufriedenheit und Freude, das uns die Tragödie vermittelt, nicht durch die Erkenntnis der Größe des Menschen, sondern durch die sich in oder nach der Katastrophe offenbarende Vision einer höheren Ordnung, in der das tragische Leid überwunden oder doch verständlich wird, mag diese metaphysische Ebene nun Dike oder moralisches Sittengesetz, ewige Vernunft oder Notwendigkeit heißen.

In ihrer naivsten Form erscheint diese Vision in der im Grunde ganz untragischen Gestalt der poetischen Gerechtigkeit, die uns die beruhigende Gewißheit einer rationalen und gerechten Weltordnung verschafft; aber auch andere Formen einer tatsächlich erreichten oder auch nur angedeuteten

5 5 B.M.W. Knox, The Heroic Temper, Berkeley/London 1964, 57. 5 6 K. Reinhardt, Die Sinneskrise bei Euripides, Neue Rundschau 68, 1957, 615-

646 = Tradition und Geist, Göttingen 1960, 227-256; B. Seidensticker, Die Zerstörung des tragischen Helden bei Euripides, Sitzber. und Mitt. der braunschw. Wiss. Gesellsch. 1982,51-69 (= in diesem Bd., S. 193-216).

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optimistischen Überwindung tragischer Konflikte von Aischylos bis Schiller befriedigen im Grunde unsere Sehnsucht nach dem Happy-End einer höheren Gerechtigkeit;57 und die tragische Lust stellt sich - wie z.B. in der sophokleischen Tragödie - auch dann ein, wenn sich die Ordnung der Welt nach einer Störung ihres labilen Gleichgewichts völlig unabhängig von Schuld oder Unschuld der Betroffenen mit unerbittlicher innerer Logik und Härte wiederherstellt. Hier erklärt sich das Vergnügen nicht aus der Bestätigung oder Suggerierung eines zutiefst moralisch-gerechten Universums, sondern aus der Erkenntnis des Wirkungsmechanismus der Welt. Offenbar erfreut uns nicht nur das beruhigende 'so gerecht, so gut ist die Welt', sondern auch ein erklärendes 'so ist die Welt'. Hegels Formulierung deckt beide Formen: „Nur dann ist nicht das Unglück und Leiden, sondern die Befriedigung des Geistes das letzte, insofern erst bei solchem Ende die Notwendigkeit dessen, was den Individuen geschieht, als absolute Vernünftigkeit erscheinen kann und das Gemüt wahrhaft sittlich beruhigt ist: erschüttert durch das Los des Helden, versöhnt in der Sache."58

Zweifellos kann sich unser Vergnügen an tragischen Gegenständen aus dieser Quelle speisen. Nicht erklären kann diese Theorie jedoch das Vergnügen, das uns auch Tragödien gewähren, die nicht eine letztlich gerechte oder doch verständliche Vernichtung, sondern blinde, irrationale Zerstörung präsen-tieren; nicht Ordnung, sondern Chaos, nicht Sinn, sondern Sinnlosigkeit. Sie mag erklären, warum uns Aischylos und Sophokles mit größerem Vergnügen erfüllen als der eher irritierende und quälende Euripides, nicht aber, warum uns auch dieser τραγικώτατος erfreut.59

5 7 Cf. Aristoteles, der von der Schwäche des Publikums spricht, das das Happy-End der poetischen Gerechtigkeit der tragischen Katastrophe vorzieht {Po. 1453 a 30 ff>

5 8 Hegel, Ästhetik, ed. F. Bassenge, Europäische Verlagsanstalt, 2. Aufl. Berlin-Weimar o. J., II 566.

5 9 Cf. Mandel (s. o. Anm. 22), 74. Moderne Theorien tragen dem Problem dadurch Rechnung, daß sie von dem Vergnügen an der Wahrheit über das Leben sprechen: F.L. Lucas (s. u. Anm. 77), 51: „truth to life"; Muller (s. ο. Anm. 23), 19;

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Nach drei Versuchen, das Rätsel der tragischen Lust zu lösen, Versuchen, die alle drei von der aristotelischen Mimesistheorie ausgingen, stehen wir zwar keineswegs mit leeren Händen da, haben den emotionalen Kern des Paradoxes aber noch nicht freigelegt. Denn: daß erstens das Vergnügen an tragischen Gegenständen auf der Freude beruht, die uns die Schönheit und Komplexität der Kunstform Tragödie bereitet, ist zwar richtig, erklärt aber nicht das Vergnügen im und am Schmerz, sondern deutet auf eine potentielle Kompensation dafür, auf ein Zaubermittel, das uns die schmerzliche Erfahrung erträglich, ja lustvoll macht. Zweitens ist die Bedeutung qualitativer ontologischer, zeitlicher und räumlicher Distanz der tragischen Ereignisse vom Betrachter ohne Frage sehr wichtig, im Grunde aber eher Voraussetzung für das Vergnügen als sein Ursprung - auch wenn sich in der Tradition des „lukrezischen Vergnügens" (wie es Francis Bacon nannte) mit Selbstliebe und Schadenfreude interessante psychologische Theorien finden. Schließlich ist drittens die aristotelische Erklärung, daß das Vergnügen sich letztlich auf den uns angeborenen Lerntrieb zurückführen lasse, zu allgemein, und die besonders wichtige moderne Theorie des tragischen Lernens wohl nicht allgemeingültig genug. Denn die Erkenntnis der auch im Sturz unzerstörbaren, ja sich gerade im Sturz triumphierend beweisenden Größe des Menschen oder die Vision einer wie auch immer metaphysischen Ordnung, in der sich das Tragische auflöst oder doch erklärt, kann zweifellos eine starke Quelle für unser Vergnügen an der Tragödie sein, ist es aber, wie betont, nur dort, wo der Dichter uns diese Freude erlaubt. Zudem ist auch diese Antwort auf unsere Frage keine Erklärung der Freude im und am Jammer und Schrecken der Tragödie, sondern bezeichnet eher den Lohn, der uns am Ende der seelischen Mühen zuteil wird.

Mandel (s. o. Anm. 22), 76 f.; N. Berlin, The Secret Cause. A Discussion of Tragedy, Amherst 1981, 176: „The pleasure that comes when the truth is verified. The art that affirms what we know, affords pleasure, even if it affirms a dreadful fact. Seizing terror by the hand, facing the unknown as unknown, provides its own special satisfaction."

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Alle drei Thesen (Kunst, Distanz, Erkenntnis) - seien sie nun primär ästhetisch orientiert oder intellektuell-moralisch - sind zu rational und deshalb, allein für sich genommen, noch nicht befriedigend. Die psychisch-emotionale Basis muß hinzukommen, und sie ist im ersten Bestandteil der aristotelischen Definition der tragischen Lust (1453 b 11 f.) angesprochen, von der wir ausgingen und zu der wir nun zum Abschluß zurückkehren: ή άπό έλέου και φόβου (δια μιμήσεως) ηδονή „die aus Jammer und Schrecken (durch Mimesis) entstehende Lust".

4. Emotionale Erklärungen der Paradoxic der tragischen Lust sind nicht

zuletzt als Folge der aristotelischen Theorie bis auf den heutigen Tag weitverbreitet, und bereits Homer ist die Lust am Jammer (wie verschiedene epische Formeln zeigen) wohlvertraut. Er spricht wiederholt vom ίμερος γόοιο, von der Sehnsucht nach Klage,60 vom sich Ergötzen an der Klage (τέρπεσθαι γόοιο)61 und von der Sättigung (κόρος)62 dieses Verlangens, ίμερος bezeichnet ein starkes elementares Verlangen, das sich auf die sofortige Befriedigung natürlicher Triebe, wie Essen und Trinken oder auch körperliche Liebe, richtet. Die Erfüllung dieses physiologischen Verlangens ist mit Lust verbunden. Das gilt auch für die Sehnsucht nach Klage im Leid.

Der Ausgang der Ilias bietet ein wundervolles Beispiel für diese Freude im und am Schmerz, in dem Priamos und Achilleus zusammenfinden und sich die tragischen Spannungen der Ilias versöhnlich lösen. Als Priamos, um die Herausgabe des Hektar zu erreichen, Achill an seinen alten Vater erinnert, heißt es:

„So sprach er und erregte ihm die Lust nach der Klage um den Vater, Und er faßte seine Hand und stieß sanft den Alten von sich.

6 0 Homer// . 23. 14; 108, 153; 24. 507; Od. 4. 113,183; 10. 398; 16. 215; 19. 249; 22. 500 f.; 23 .231 .

6 1 Horn.//. 23. 10, 98; 24. 227, 513; Od. 4. 102; 11.212; 19. 213, 251; 21. 57. 6 2 Horn. II. 22. 427; Od. 4. 103, 541; 10. 499; 20. 59.

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240 Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen

Und die beiden dachten: der eine an Hektor, den männermordenden, Und weinte häufig, zusammengekauert vor den Füßen des Achilleus, Aber Achilleus weinte um seinen Vater, und ein andermal wieder Um Patroklos, und ein Stöhnen erhob sich von ihnen durch das Haus. Doch als sich an der Klage ergötzt hatte der göttliche Achilleus, Und ihm das Verlangen gegangen war aus der Brust und aus den

Gliedern,

Erhob er sich sogleich vom Stuhl und hob den Alten auf an der Hand, Sich erbarmend des grauen Hauptes und des grauen Kinns."63

Auch in der Tragödie finden sich wiederholt ähnliche Gedanken;64 besonders

interessant ist Euripides fr. 573 N2, dessen Verse 3 und 4 die aristotelische

Katharsistheorie vorwegzunehmen scheinen:

„Denn auch im Leid noch gibt es eine Lust

für die Sterblichen: Wehklagen und Tränenströme.

Dies lindert die Schmerzen der Seele

und löst die allzu starken Nöte des Herzens."65

Es scheint Gorgias gewesen zu sein, der die homerische Sehnsucht nach

Klage und Freude am Jammer für eine Theorie der Tragödie fruchtbar

gemacht hat.66 Pohlenz hat im Anschluß an Süß zu Recht betont, daß die

gorgianische Terminologie: φρίκη περίφοβος (erschrockenes Schaudern),

έλεος πολύδακρυς (tränenreicher Jammer), πόνος φιλοπενθής (wehklage-

suchendes Sehnen) die tragischen Affekte so deutlich widerspiegelt, daß

Gorgias offenbar speziell an die Tragödie gedacht habe. „Gerade in der

6 3 Horn.//. 24,507-517. 6 4 A. F 385 Radt; S. El. 286 f. u. Σ; E. Andr. 94 f., Heracl. 777, Hec. 79 f., El.

125 f., Tr. 608 f.; cf. auch Hld. 2.15.1. 6 5 Zu κουφίζει (V. 3) cf. Arist. Pol. 1342 a 14 f.; 'aristotelisch' klingt auch Ov.

Tr. 4.3.37 f. 6 6 Gorg. Hei. 9.

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physiologischen Entladung des Reizes sah Gorgias wohl den Quell des tragischen Lustgefühls."67

Piaton, der im Philebos, wie wir gesehen haben, das Vergnügen an tragischen Gegenständen nur konstatiert, setzt sich im Rahmen seiner Dichterkritik des Staates, ohne Gorgias zu nennen, mit der gorgianischen Theorie auseinander. Auch für ihn erfüllt die Tragödie, der wir uns so bereitwillig hingeben, ein elementares Verlangen nach Jammer und Klagen (Rep. 605 d ff.), und gerade weil sie diesen Hunger des irrationalen Teils unserer Seele stillt und ihn dadurch „nährt und begießt" (Rep. 606 c), muß sie aus der Erziehung der Wächter (Buch 3) und aus dem Staat insgesamt (Buch 10) ausgeschlossen werden.

Genau hier setzt, wie man seit langem gesehen hat, Aristoteles mit seiner Katharsistheorie an, deren Bedeutung als medizinisch-kultische Purgierung Schadewaldt und Flashar im Anschluß an Bernays und Dirlmeier m.E. gesichert haben, auch wenn sich gegen diese Deutung immer noch - und in jüngster Zeit verstärkt - Widerspruch regt.68 Ich kann und brauche auf die Katharsisdebatte hier nicht einzugehen. Nach Aristoteles erzielt die Tragödie durch Erregung der Affekte Jammer und Schrecken eine reinigende Befreiung der Seele von diesen Affekten.69 Dieser seelisch-leibliche Ele-mentarvorgang der Reinigung ist, wie die einschlägige Stelle der Politik nahelegt, als lustvolle Erleichterung (κοΰφισις μεθ' ήδονής) verstanden.70

Die spezifische tragische Lust ist also bei Aristoteles bestimmt als - so Schadewaldt - „Lust der Erleichterung und Befreiung von den zuvor erregten

6 7 Pohlenz (s. o. Anm. 29), 462 f.; W. Süß, Ethos. Studien zur älteren griechischen Rhetorik, Leipzig/Berlin 1910, 84 f.

6 8 W. Schadewaldt, Furcht und Mitleid? Zur Deutung des aristotelischen Tragödiensatzes, Hermes 83, 1955, 129-171 = Hellas und Hesperien, Zürich 1970,1, 194-236; H. Flashar, Die medizinischen Grundlagen der Lehre von der Wirkung der Dichtung in der griechischen Poetik, Hermes 84, 1956, 12-48; letzte zusammenfassende Darstellung (mit reichen Literaturangaben) Halliwell (s. o. Anm. 46), 184-201 und App. 5,350-356.

6 9 Arist. Pol. 1449 b 27 f. 7 0 Arist. Pol. 1341b 32 ff

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und wieder weggeschafften Affekten des Schreckens und der Rührung. ... Sie stellt sich dann ein, wenn der Mensch aus dem Erregungszustand (der ταραχή) wieder in die Normallage zurückkehrt (καθίσταται)"71 und ist folglich auch nicht gefährlich, sondern ein durchaus unschädliches Ver-gnügen. Die allgemeine Erfahrung der psychischen und physischen Erleich-terung und Ruhe durch Tränen und Klagen, die im Totenkult und in Bestattungsriten aller Zeiten und Kulturen genutzt wird, oder auch allgemeiner die angenehme Entspannung im Anschluß an jede starke emotionale Anspannung (z.B. nach Massensportveranstaltungen oder Konzerten) verleiht dieser These ihre unmittelbare Plausibilität. Festgehalten werden muß jedoch, daß in der aristotelischen Theorie der tragischen Lust der Akzent auf der im Durchgang (περαίνουσα) durch die Affekte wiedererreichten seelischen Ausgeglichenheit und Ruhe liegt, während das homerische „sich an der Klage ergötzen" (τέρπεσθαι γόοιο) die Freude am Jammer selbst zu betonen scheint.

Dieser Vorstellung sind moderne Theorien nahe, die sich auf der Basis der materialistischen Psychologie Descartes' entwickelt haben, der die Ansicht vertreten hat, daß die bloße Bewegung unserer Nerven, durch welche Emotionen auch immer, lustvoll sei.72 Der Abbe Dubos, dessen Reflexions critiques sur la poesie et sur la peinture von 1719 von großer Bedeutung für das 18. Jahrhundert gewesen sind, erklärte auf der Basis der cartesianischen Pathologie, daß unserem Geist nichts so mißfalle wie Ruhe und Langeweile

7 1 Schadewaldt (s. o. Anm. 68), 224 bzw. 223. 7 2 Rene Descartes, Traite des passions de l'äme (1649) = Oeuvres philos. de

Descartes, ed. F. Alque, Paris 1973, III, 938-1103; cf. Martino (s. o. Anm. 22), 22-25, der darauf aufmerksam macht, daß Descartes in einem Brief von 164S an die Prinzessin Elisabeth als Quelle der tragischen Lust neben der Bewegung der Seele die Ausübung des Mitleids nennt, das uns als „action vertueuse" das erfreuliche Bewußtsein unserer eigenen Güte vermittle (dieser Gedanke spielt später im 18. Jh. eine sehr wichtige Rolle); bereits in seiner ersten Schrift Musicae Compendium von 1618 (gedr. 1650) spricht Descartes übrigens vom tragischen Vergnügen: "ita enim elegeiographi et tragoedi eo magis placent, quo maiorem in nobis luctum excitent" (s. o. S. 221: Augustinus).

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und daß er deshalb alles liebe, was Leidenschaft erwecke, je stärker desto besser. In der Tragödie überwiege die Lust an starken Emotionen den Schmerz, der durch Furcht und Mitleid erzeugt werde.73 Es ist nicht verwunderlich, daß das gefühlsselige 18. Jahrhundert an einer solchen Theorie Gefallen fand und von vielen Kritikern in immer neuen Variationen die lustvolle Erregung von Emotionen im allgemeinen bzw. des Mitleids im besonderen74 oder das Vergnügen an der eigenen Sensibilität und das sich darin offenbarende hohe moralische Bewußtsein für das tragische Vergnügen verantwortlich gemacht wurde. Im Briefwechsel mit Nicolai und Mendels-sohn begründet Lessing im Anschluß an Dubos dieses Vergnügen an tragischen Gegenständen damit, „daß wir uns bey jeder heftigen Begierde oder Verabscheuung eines größern Grads unsrer Realität bewußt sind, und daß dieses Bewußtsein nicht anders als angenehm seyn kann. Folglich sind alle Leidenschaften, auch die allerunangenehmsten, als Leidenschaften angenehm",75 d.h. starke Emotionen erweitem nicht nur unsere Sensibilität, sondern geben uns das Gefühl der Lebendigkeit, steigern unser Lebens-gefühl.76 Pointiert antiaristotelisch formuliert besagt diese These in den Worten des englischen Kritikers F.L. Lucas: „We go to tragedies not in the

7 3 Jean Baptiste Dubos, Reflexions critiques sur la Poesie et sur la Peinture (1719), 4e ed. revue, corrigee et augmentee par L'Auteur, Paris 1740; zu dem 'Begründer der Gefühlsästhetik' und seinem EinfluB Martino, 45 ff.

7 4 Das Mitleid wird im 18. Jahrhundert fur viele einflußreiche Kritiker (z.B. für Lessing) zum zentralen, ja zum einzigen tragischen Aspekt. Die Theorie, daß es die Ausübung der uns angeborenen sympathetisch-sozialen Affekte sei, die uns das Vergnügen am Leid anderer bereite, geht auf Shaftesbuiys An Inquiry concerning Virtue or Merit von 1669 zurück

75 Lessings Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai über das Trauerspiel, nebst verwandten Schriften Nicolais und Mendelssohns, hrsg. und erl. von R. Petsch, Leipzig 1910, 98 f.; cf. Hathaway (s. o. Anm. 39), 678 (zu Dubos).

7 6 Dieser Gedanke findet sich häufig in modernen Theorien, z.B. bei R. Morrel, The Psychology of Tragic Pleasure, in: Essays in Criticism VI, Oxford 1956, 22-37 (29); cf. Mandel (s. o. Anm. 22), 80 ff.

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least to get rid of our emotions, but to have them more abundantly; to banquet not to purge".77

Die beiden emotionalen Theorien der tragischen Lust als 'Ruhe nach dem Sturm' oder als 'Lust im und am Sturm' schließen sich jedoch nicht unbedingt aus, wie bereits das homerische Epos weiß. In der angeführten //j'as-Schlußszene erwacht in Achilleus zunächst die Sehnsucht nach Klage, er überläßt sich ihr völlig, und als er sich an ihr ergötzt und gesättigt hat, da weicht das Verlangen von Zwerchfell und Gliedern. In der poetischen Weisheit Homers scheinen die Lust am Schmerz und die Lust an der erleichternden Befreiung vom Schmerz miteinander vereint.

Eine Frage - viele Antworten: Vier Versuche, sich dem Problem zu nähern, haben wir genauer betrachtet: Kunst - Distanz - Erkenntnis - und die erleichternde und befreiende Lust an Jammer und Schrecken. Alle vier stammen, wie sich gezeigt hat, aus der Antike oder sind doch mehr oder minder stark von ihr beeinflußt.

Eine fünfte kann ich in diesem Rahmen nur andeuten: Goethe hat in seiner späten Nachlese zu Arist. Poetik von 1827 eher beiläufig den interessanten Gedanken geäußert, daß die Katharsis in der Tragödie durch ein Menschenopfer geschehe.78 Die verschiedenen ethnologischen, anthropo-logischen und religionswissenschaftlichen Theorien, die zur Erklärung der Entstehung der griechischen Tragödie entwickelt bzw. herangezogen worden sind: die Jahresdaimon-These von Gilbert Murray,79 die Scape-goat-Theorie der französischen Strukturalisten80 oder die Opfertheorie von Walter

7 7 F.L. Lucas, Tragedy in Relation to Aristotle 's Poetics, London 1927,51 f. 7 8 J.W. von Goethe, Nachlese zur aristotelischen Poetik (1827), in: Sämtl. Werke,

Zürich (Artemis) 1950, XIV 710. 7 9 G. Murray, in: J.E. Harrison, Themis. Α Study of the Social Origins of Greek

Religion, Cambridge 1912 (21927), Exkurs zu Kap. 8. 8 0 Cf. z.B. B.R. Girard, La violence et le sacre, Paris 1972.

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Burkert,81 sie alle, so verschieden sie auch sind, stimmen doch darin überein, daß hinter der entwickelten Kunstform Tragödie uralte Fruchtbarkeits-, Sühne- und Opferrituale stehen. So sieht Burkert als Urgrund der Tragödie das von der Gruppe gemeinsam vollzogene und gemeinsam erlebte Opfer des „Homo necans", das Leben zerstört, um Leben zu erhalten, jammernd beklagt und jubelnd gefeiert. Ist das ästhetische Opferritual der Tragödie immer noch auf geheimnisvolle Weise mit diesem Ursprung verbunden, und speist dieser das paradoxe tragische Vergnügen?82

Am Ende der Untersuchung sei angesichts der Vielfalt der Antworten betont, daß wir dem komplexen Problem des Vergnügens an tragischen Gegenständen mit einer monokausalen Erklärung wohl kaum gerecht werden können. Zu vielgestaltig sind die sich historisch ständig wandelnden Formen der Tragödie; zu verschieden - in ihrer intellektuellen, moralischen und emotionalen Reife - die Zuschauer; zu unterschiedlich schließlich zu verschiedenen Zeiten der Geschichte die Vorstellungen darüber, was als lustvoll empfunden werden darf und soll: im 17. Jahrhundert die Tugend, im 18. Jahrhundert das Gefühl, im 19. Jahrhundert die Weltordnung und im 20. Jahrhundert die Kunst. Je nach Zeit, Objekt und betrachtendem Subjekt werden also die genannten vier Gründe unterschiedlich starke Bedeutung gewinnen.

Im Falle der schönsten Tragödie - wie Aristoteles sagen würde - wirken alle vier gemeinsam in die gleiche Richtung und verschaffen uns das tiefe Erlebnis eines tragischen Vergnügens, das zugleich ästhetisch, intellektuell, moralisch und emotional ist, so daß wir „zugleich uns ergötzend weinen".

81 W. Burkert, Greek Tragedy and Sacrificial Ritual, GRBS 7, 1966, 87-121; id., Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen (RGW 82), Berlin 1972.

82 Cf. auch M. Bodkin, Archetypal Patterns in Poetry; Oxford 1934, 21 (und öfter); H. Weisinger, Tragedy and the Paradox of the Fortunate Fall, London 1953; Morrell (s. o. Anm. 77) 23 f.

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