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LORENZ STASSEN

ANGSTMöRDER

THRILLER

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

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Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten,

so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung,

da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand

zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Verlagsgruppe Random House FSC® N001967

2. Auflage 2017

Vollständige deutsche Erstausgabe 11/2017

Copyright © 2016 by Lorenz Stassen

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Heiko Arntz

Printed in Germany

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel punchdesign, München,

unter Verwendung eines Motivs von © Flügelwesen/photocase.de

und binik/shutterstock.com

Satz: Leingärtner, Nabburg

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-453-43879-8

www.heyne.de

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»Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun.«

Edmund Burke

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MIRIAM RÖLSCHEID

Mädchenname: Jansen

Alter: 35 Jahre

Größe: 172 cm

Gewicht: ca. 65 kg

Haarfarbe: blond

Beruf: Hausfrau

Familienstand: in Scheidung lebend

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DER WALDBODEN WAR FEUCHT UND KALT, und mit dem Bewusstsein

kehrten die Schmerzen zurück. Ein seltsames Knirschen drang an

ihr Ohr. Es klang zuerst ganz weit weg, wie aus einem anderen Uni-

versum. Aber es kam näher, näher an ihr Ohr heran, es wurde lau-

ter und lauter. Dann stach der Metallspaten dicht neben ihrem

Kopf in den Waldboden. Kein Traum. Keine Halluzinationen. Ihr

geschundener Körper zitterte, der Schmerz schwoll an. Dazu die

Kälte. Die Angst. Ein Fuß in schweren Lederstiefeln trieb das Me-

tall des Spatens tiefer in den Boden, das Erdreich löste sich und

wurde fortgeschleudert. Sie drehte den Kopf ein bisschen, was

Schmerzen in ihrem Nacken verursachte. Ihr Blick fand die Stelle,

wo sich bereits ein Erdhügel gebildet hatte. Kniehoch. Daneben

das Loch. Lang und schmal, aber noch nicht tief genug.

In Miriams Kopf ergab das Puzzle aus Erinnerungen ein lücken-

haftes Bild. Lückenhaft, weil sie viele Aussetzer gehabt hatte. Sie

wusste aber genau, wo sie sich jetzt befand. An der letzten Station

ihres Lebens. Miriam keuchte, rang nach Luft. Der rote Slip, den sie

heute Morgen nach der Dusche angezogen hatte, steckte als Kne-

bel in ihrem Mund. An den Handgelenken war die Haut von dem

Nylonseil aufgescheuert. Es brannte, als wären die Fesseln in Salz-

säure getränkt. Nur ein Wunder konnte sie jetzt noch retten, des-

sen war sie sich bewusst. Aber sie durfte die Hoffnung nicht auf-

geben. Niemals! Ein Jäger könnte auf einem Hochsitz sein und in

der Stille des Waldes ihr Wimmern hören. Sich fragen, woher das

Geräusch käme, vom Hochstand hinuntersteigen und tiefer in den

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Wald hineingehen. Oder vielleicht würde ein Liebespaar aufmerk-

sam werden, das hier einen abgeschiedenen Platz für ein heim-

liches Treffen gesucht hatte. Sie würde nicht aufgeben. Nein, die-

sen Gefallen würde sie ihm nicht tun.

Der Spaten stach wieder in die Erde. Ein dumpfes Geräusch ließ

sie aufhorchen. Das Metall war auf ein Hindernis gestoßen. Viel-

leicht eine Baumwurzel. Das könnte ihn daran hindern weiterzu-

graben. Er müsste sich eine neue Stelle suchen. Für einen Moment

verdrängte dieser Gedanke alle Schmerzen. Doch dann – erneut

ein Spatenstich und ein Knirschen. Sie sah, wie ein Stein zum Vor-

schein kam und auf dem Erdhügel landete, von dort herunterkul-

lerte. Dann ging es wie gewohnt weiter. Der nächste Spatenstich,

das Knirschen, das satte Erdreich, das sich löste und auf dem

Hügel landete.

Nach einer Weile trat Stille ein. Nur der Wind ließ die Blätter

sanft rauschen. Dann ein Klick, und das grelle Licht der Taschen-

lampe, das auf sie gerichtet wurde. Sie kniff die Augen zusammen.

Miriam glaubte, den Strahl fühlen zu können, wie er ihren nackten

Körper abtastete. Verschnürt wie ein Päckchen lag sie auf der

Seite. Sie spürte seine Nähe, roch seinen Atem, den Schweiß. Er

ging in die Hocke, und eine Hand berührte sie. Sanft strich er mit

seinen Fingern ihre Beine entlang, vom Fußgelenk nach oben über

die tätowierte Wade, die Schenkel … sie presste die Knie zusam-

men, so fest sie konnte.

Im nächsten Moment riss er an dem Nylonseil. Ein heftiger

Ruck, und sie fiel hart in das Erdloch, landete auf dem Rücken.

Schmerzen schossen wie Blitze durch ihren Körper. Ihr Aufschrei

wurde durch den Knebel gedämpft. Sie spürte den kalten Lehm auf

ihre Beine fallen. Noch eine Ladung und noch eine. Erde verteilte

sich über ihren Körper, bedeckte ihre Füße, die Beine, den Bauch,

dann ihre Brust und den Hals. Nur ihr Gesicht blieb frei.

Er arbeitete ruhig und gleichmäßig. Gegen das Licht des Voll-

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monds nur als Silhouette zu erkennen, schaufelte er mechanisch

die Erde von dem Hügel in das Loch zurück. Mit jedem Spaten

nahm das Gewicht auf ihrem Körper zu, auf ihrer Brust, das Atmen

fiel schwer. Immer noch war ihr Gesicht frei. Sie sollte sehen, was

er tat. Begreifen, was mit ihr geschah: lebendig begraben zu wer-

den. Die Schmerzen waren verschwunden, auch die Kälte des Bo-

dens verspürte sie nicht mehr. Sie fühlte gar nichts. Dann überkam

sie die Panik. Ihre Beine zitterten mit letzter Kraft, ihr Körper

krümmte sich. Sie zerrte an den Fesseln, das Nylonseil schnitt tie-

fer in die Handgelenke. Sie sog gierig Luft durch die Nase ein. Dann

landete der erste Spatenstich loser Erde auf ihrem Gesicht. Ruck-

artig drehte sie den Kopf zur Seite, schnaubte durch die Nase, um

sie freizubekommen, ihre Lungen waren leer. Doch erneut fiel eine

Ladung Erde auf ihr Gesicht. Sie bekam keine Luft mehr. Sie wand

sich, zuckte, bis die Muskeln erschlafften und sie allmählich ihr

Bewusstsein verlor.

Er wartete geduldig, bis sie sich nicht mehr rührte. Nur noch

wenige weiße Stellen ihrer Haut schauten hervor. Er stieß den Spa-

ten in die Erde, ging auf die Knie und befreite das Gesicht vom Erd-

reich. Im Licht des Vollmondes starrten ihn ihre toten Augen an.

Feine rote Äderchen durchzogen den Augapfel. Aufgeplatzt in den

Sekunden vor ihrem Tod. Ihre vollen Lippen, rot geschminkt, sa-

hen aus, als würde sie schmollen. Etwas Blut lief aus ihrem Mund-

winkel. Er nahm ein blau-weiß kariertes Stofftaschentuch und

tupfte das Blut ab. Nur noch Knochen und Haut, Organe, Muskeln

und Haare – sie selbst aber hatte aufgehört zu existieren. Miriam.

Er kam wieder auf die Beine. Schaufelte in aller Ruhe das Loch

zu. Bis ihr Körper ganz im Waldboden verschwunden war.

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1Ich hatte gerade einen Elfmeter vergeigt, als es an der Tür klingelte.

Etwas überrascht sah ich auf die Uhr an der Wand, es war halb

zwölf. Ich hatte die Zeit vergessen und außer Acht gelassen, dass

manche Menschen tatsächlich pünktlich erschienen. Ich suchte

nach der Fernbedienung und schaltete den Flachbildschirm aus.

Die Einzelteile der Playstation landeten in der Schublade des Fern-

sehmöbels. Mein Jackett hing über dem ausgesessenen Bürostuhl,

ich zog es an. Etwas Seriosität schien mir angebracht, eine Kra-

watte wäre übertrieben gewesen. Bevor ich den Raum verließ,

schob ich den Stuhl hinter den Schreibtisch und blickte mich noch

mal prüfend um, ob es hier nach dem Büro eines Strafverteidigers

aussah. Für den ersten Eindruck gab es keine zweite Chance, das

galt nicht nur für Bewerberinnen, sondern auch für mich als

Arbeitgeber.

Es klingelte erneut, als ich in die Diele trat. Ich betätigte den

Drücker und hörte, wie unten die Haustür aufsprang. Zu einem

Vorstellungsgespräch weder zu früh noch zu spät zu kommen,

wertete ich als Pluspunkt auf meiner Liste. Eine kurze Liste. Die

Ansprüche, um in meiner Kanzlei eine Stelle als Rechtsreferen-

darin zu ergattern, waren nicht sonderlich hoch. Da ich mir keine

Sekretärin leisten konnte, schien es wie ein Glücksfall, wenn sich

eine Jurastudentin zu mir verirrte. Männliche Bewerber lehnte ich

grundsätzlich ab. Nina Vonhoegen hatte sich per E-Mail beworben

und ein Foto mitgeschickt. Es war mir bei ihrem Anblick leicht ge-

fallen, sie anzurufen, und am Telefon hatte sie ebenfalls einen sehr

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sympathischen Eindruck gemacht. Dass die Bewerberin im ersten

Staatsexamen nur ein »Ausreichend« hatte, störte mich herzlich

wenig. Ich war in beiden Examen auf keine bessere Note gekom-

men, und mir waren Bewerbungsfotos wichtiger als Zeugnisse.

Die Holztreppe knarrte lauter als die morschen Planken eines

Dreimasters. Mein Büro befand sich in einem Wohnhaus, das zu

Beginn des letzten Jahrhunderts erbaut wurde. Nina nahm die

letzte Stufe und stand vor mir. In natura sah sie noch viel hübscher

aus als auf dem Foto. Die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz

nach hinten gebunden, ozonblaue Augen, umrandet von schwar-

zen Wimpern. Aber irgendetwas irritierte mich an ihr. Nina schien

es zu merken und verharrte an der Türschwelle, auf eine einla-

dende Geste wartend.

»Kommen Sie doch bitte rein.« Ich trat einen Schritt zurück.

Nina war etwas kleiner als ich, ich schätzte sie auf einen Meter

siebzig. Sie trug eine weiße Bluse und enge Jeans, dazu hellbraune

Stiefel, die bis zu den Knien reichten. Ihr beiger Trenchcoat war es,

der meine Befremdung auslöste. Der rechte Ärmel des Mantels

schlabberte hin und her. Ich schloss die Tür zum Treppenhaus und

überlegte, wie ich mich verhalten sollte. Ihr die rechte Hand zu ge-

ben, käme einem schlechten Scherz gleich.

Nina hatte keine.

Mir schoss durch den Kopf, dass sie ihre Behinderung in der Be-

werbung wahrscheinlich erwähnt hatte. Verdammter Idiot, dachte

ich, du hast nicht bis zu Ende gelesen. Ihr Foto hatte mir gereicht.

Fuck.

»Nicholas Meller«, stellte ich mich mit einem Lächeln vor und

reichte ihr die linke Hand.

»Nina Vonhoegen, hallo.« Sie hatte einen festen Händedruck.

»Bitte, ähm, gehen wir doch in mein Büro.« Ich zeigte zur Tür,

und Nina ging vor. Mit der linken Hand streifte sie den Trenchcoat

über die rechte Schulter. Ich wollte galant sein und ihr helfen.

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»Danke, geht schon.«

Zugegeben, meine Erfahrung im Umgang mit behinderten Men-

schen beschränkte sich darauf, mal einem Rollstuhlfahrer die Tür

aufzuhalten. Ihre Bluse war kurzärmlig, und nun sah ich das ganze

Ausmaß der Katastrophe. An der rechten Schulter ragte ein häss-

licher Stumpf heraus. Extrem dünn, nur Haut und Knochen, höchs-

tens dreißig Zentimeter lang.

Nina hatte es ohne meine Hilfe aus dem Mantel geschafft, legte

ihn über einen der beiden Stühle für die Mandanten und setzte

sich auf den anderen.

»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte ich. »Sie kriegen in meiner

Kanzlei den besten Kaffee von ganz Köln.«

»Ich trinke keinen Kaffee, danke«, sagte sie und wackelte mit

dem Stumpf. Es war eine ganz normale ablehnende Geste, doch

in meinen Augen sah es aus wie das Zucken eines Lämmer-

schwanzes.

»Etwas anderes?«, fragte ich, bemüht, nicht auf den Stumpf zu

starren.

»Nein, danke.«

»Wasser?«

Sie grinste. »Na gut, ein Wasser.«

Ich ging raus und holte es. In der Küche erst fiel mir ein, dass sie

»nein, danke« gesagt hatte.

Verbrennungen im Gesicht, Pigmentstörungen der Haut oder

Aknenarben konnten einen Menschen viel schlimmer verunstal-

ten als so ein blöder verkümmerter Arm. Trotzdem, Ninas Makel

war wie ein furchtbar schiefer Ton in einer ansonsten perfekten

Melodie.

Ich hatte allen Grund zur Annahme, dass sie mein seltsames

Verhalten bemerkt hatte, und das war mir peinlich. Richtig pein-

lich. Wie schon erwähnt, für den ersten Eindruck gab es keine

zweite Chance. Zurück im Büro, stellte ich das Glas vor ihr ab und

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ließ mich in meinen Drehstuhl fallen. Der Schreibtisch, wie eine

Barriere zwischen uns, gab mir etwas Selbstsicherheit zurück. Ich

sah mich auf dem Tisch um, suchte nach der Mail.

»Ihre Bewerbung lag eben noch hier.« Ich unterschlug, dass das

vor zwei Stunden war, bevor ich als Lukas Podolski im Trikot des

1. FC Köln die Bayern vorgeführt hatte. Es stand 9:3 im Stadion der

Bayern, ein sensationelles Ergebnis.

»Ich habe meine Behinderung bewusst verschwiegen«, sagte

Nina.

»Wirklich?« Mir fiel ein Stein vom Herzen. Meine Irritation war

also offenbar als normal einzustufen.

»Sie haben meine Bewerbung doch gelesen, oder?« Jetzt war sie

irritiert.

»Natürlich. Deshalb bin ich ja überrascht. Ich meine, weshalb

haben Sie das verschwiegen?«

»Weil Behinderungen furchtbar aufdringlich wirken können.

Von wegen: Schauen Sie her. Ich bin behindert. Geben Sie mir eine

Chance.«

Ich musste lächeln. Wie recht sie hatte.

»Mir geht es nicht um Mitleid. Ich möchte einen Job«, fuhr sie

fort. »Ich will wie eine ganz normale Referendarin behandelt wer-

den. Es versteht sich von selbst, dass ich nicht mit zehn Fingern

tippen kann. Ein Brief dauert bei mir eben etwas länger.«

»Das stört mich nicht.«

»Was stört Sie dann?«, fragte sie mit dem Selbstbewusstsein

eines Profiboxers während einer Pressekonferenz.

»Wieso glauben Sie, dass mich etwas an Ihnen stört?« Ich geriet

wieder in die Defensive.

Nina lächelte. »Wenn man mit einer Behinderung groß wird, ge-

hören seltsame Blicke zum Leben dazu. Ich kann mich nicht erin-

nern, jemals nicht angestarrt worden zu sein.«

»Empfinden Sie das als schlimm?«

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»Ich habe mich daran gewöhnt. Manchmal nervt es trotzdem.

Wie empfinden Sie es?«

»Ich?«

»Könnten Sie sich an meinen Anblick gewöhnen?« Sie strich

mit der linken Hand über den Stumpf, als würde sie sich kratzen.

»Denn das wäre wohl die Grundlage für eine Zusammenarbeit,

oder?«

Ninas Tonfall war herausfordernd, aber nicht respektlos. Wenn

sie allerdings mit den Professoren an der Uni genauso sprach, er-

klärten sich ihre mäßigen Noten wie von selbst.

»Ich habe kein Problem damit«, sagte ich. »Wenn Sie mir nur

etwas Zeit geben, mich daran zu gewöhnen. Mein Verhalten eben,

das war … Ich war unvorbereitet. Da steht so eine hübsche Frau,

und dann …« Ich merkte, dass ich mit meinem Reden nur noch

alles schlimmer machte.

»Und dann so ein ekliger Stumpf«, beendete sie den Satz und

fing an zu lachen. »Entschuldigung, ich stelle mir das gerade vor.«

Wir lachten beide.

»Was reizt Sie am Strafrecht?«, wechselte ich das Thema.

Nina fing an zu erzählen. Das »Ausreichend« im ersten Examen

erklärte sie damit, furchtbar nervös gewesen zu sein und die ein-

fachsten Sachen durcheinandergebracht zu haben, obwohl sie gut

vorbereitet gewesen war. Ich nickte. Bei mir war es lupenreine

Faulheit gewesen. Ich hatte vom ersten Semester an ein Gespür für

Jura entwickelt, manche Professoren bescheinigten mir so etwas

wie Talent. Aber Talent ohne Fleiß war wie Champagner ohne

Kohlensäure. Ohne Büffeln ging es nun mal nicht. Das juristische

Handwerk ließ sich weder auf dem Fußballplatz, in Kneipen, noch

im Bett mit Kommilitoninnen erlernen, selbst wenn die ein Ass im

Studium waren. Mein Studentenleben war großartig, ich hatte keine

Party ausgelassen und erst recht keine Gelegenheit zu vögeln. Und

darum saß ich jetzt hier. In einem etwas heruntergekommenen

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Altbau, dreißig Quadratmeter, Köln-Ehrenfeld. Im Rückgebäude

befand sich eine städtische Kita, und auch im Haus wohnten meh-

rere Familien. An manchen Tagen war das Kindergeschrei nicht

zum Aushalten. Doch die hohen Zimmerdecken und die großen

Fenster verliehen meinem Büro einen gewissen Charme, was mich

mit der übrigen Situation ein wenig versöhnte. Das Büro war im-

merhin eine Steigerung zu meiner letzten Absteige.

Ich verschwieg Nina die Highlights meiner Karriere. Das war

nicht das richtige Thema für ein Vorstellungsgespräch. Mit mei-

nem schlechten Examen ging ich zwar offen um, sorgte aber im-

mer für einen ironischen Unterton. Nina sollte das Gefühl bekom-

men, bei einem abgebrühten Strafverteidiger gelandet zu sein, der

noch nie etwas anderes machen wollte, als unschuldige Mandan-

ten freizubekommen. Während des Gespräches fiel mir auf, wie

ihre Augen immer wieder zu dem gerahmten Foto hinter mir an

der Wand schweiften. Das Bild zeigte eine Szene aus einem Film,

den Nina mit Sicherheit nicht kannte …

Ich gelangte schließlich zu der für mich wichtigsten Frage. »Wie

sind Sie auf meine Kanzlei gestoßen?«

Nina hatte mit der Frage gerechnet, das verrieten ihre Augen,

doch sie zögerte ein wenig, um die Antwort natürlicher wirken zu

lassen.

»Ich habe Sie im Gerichtssaal erlebt.«

»Wirklich?« Ich war ehrlich überrascht. »Was wurde denn ver-

handelt?«

»Ihr Mandant hatte geklaute Autos verschoben. Es ging darum,

wie weit er über die Machenschaften seiner Geschäftspartner in-

formiert war. Davon hing das Strafmaß ab.«

»Und?« Jetzt wollte ich es auch genau wissen.

»Anderthalb Jahre auf Bewährung.«

Ich erinnerte mich zwar nicht so genau an den Fall, aber was sie

sagte, klang schlüssig. Osteuropäische Autoschieber gehörten zu

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meiner Hauptklientel. Es hatte sich in gewissen Kreisen herumge-

sprochen, dass ich Russisch sprach und die russische Mentalität

verstand, denn ich wurde in Tomsk, in Westsibirien, geboren.

Meine Vorfahren waren im achtzehnten Jahrhundert dem Ruf der

Zarin Katharina gefolgt und an die Wolga umgesiedelt. Da mein

Vater ein gut ausgebildeter Chemieingenieur war, dauerte es et-

was länger, bis man uns in die alte Heimat zurückgehen ließ. Erst

als er an Krebs starb, siedelten meine Mutter, meine ältere Schwes-

ter und ich nach Deutschland um. Das war Anfang der Neunziger,

ich war damals sieben Jahre alt. Meine Großmutter blieb in Tomsk.

Sie fühlte sich zu alt, um sich noch mal an eine neue Heimat zu ge-

wöhnen, und wer außer ihr würde sich sonst um das Grab meines

Vaters kümmern.

»Warum waren Sie im Gericht?«, hakte ich nach.

»Ich habe mich in einer Hausarbeit mit dem Thema beschäftigt.

Ich wollte Theorie und Praxis nebeneinander kennenlernen.«

»Und da bin ich Ihnen aufgefallen? Wieso?«

Mit der Frage hatte Nina offensichtlich nicht gerechnet.

»Ich … ich fand Ihren Stil gut.« Sie wirkte verunsichert. Pinoc-

chio bekam eine lange Nase, wenn er log, Nina errötete leicht. Ein

bisschen zu schön, um wahr zu sein: eine hübsche junge Studen-

tin, die im Gerichtssaal saß und an meinen Lippen klebte, wäh-

rend ich vor versammelter Mannschaft den Staatsanwalt in seine

Schranken wies … Natürlich hörte ich gerne Komplimente, vor al-

lem von einer schönen Frau, selbst wenn sie nur einen Arm hatte,

aber das war dann doch etwas zu dick aufgetragen.

»Mein Stil also?«, bohrte ich kritisch nach.

»Ich, äh, ja. Es hat Spaß gemacht, Ihnen zuzuhören.«

Ich stützte meine Ellbogen auf die Tischplatte, faltete die Hände

vor meinem Gesicht und schaute sie an. »Passen Sie auf.« Ich blieb

ganz sachlich. »Wenn Sie irgendwann in einem Gerichtssaal sind

und sich vergaloppiert haben, mit einer Frage, die Sie besser nicht

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gestellt hätten, dann brechen Sie ab. Wechseln Sie das Thema, ma-

chen Sie irgendwas, aber gehen Sie niemals auf dem Pfad weiter,

der ins Verderben führt.«

Jetzt wurde Nina richtig rot im Gesicht. Ich hoffte, sie hatte be-

griffen. Ich hasste es, wenn man mir Märchen auftischte. Das taten

meine Mandanten oft genug. Von meiner Mitarbeiterin in spe

erwartete ich Ehrlichkeit.

»Ihre Kanzlei liegt genau an meiner Bahnlinie«, sagte sie mit ge-

senktem Blick. »Ich muss nur vier Stationen fahren. Und man hat

bei Ihnen nicht viel zu tun, das weiß ich von einer Freundin, die bei

Schmitt & Holgräf arbeitet. So bleibt mir mehr Zeit, um für mein

zweites Staatsexamen zu üben.«

Die Wahrheit tat weh. Nina wusste genau, wen sie vor sich hatte.

Mich. Nicholas Meller. Einen Underdog. Dem es seit Jahren mehr

schlecht als recht gelang, irgendwie den Kopf über Wasser zu hal-

ten. Ganz profane Gründe hatten sie zu mir geführt. Vier Straßen-

bahnhaltestellen. Und die Erwähnung der Kanzlei Schmitt & Hol-

gräf machte die Sache auch nicht besser. Ludger Schmitt gehörte

zu den erfolgreichsten Strafverteidigern Kölns und – zugegeben –

auch zu den besten. Wenn er Mandanten für uninteressant hielt,

schickte er sie zu mir. Eine Gefälligkeit seinerseits. Wir hatten uns

auf einer Benefizgala für krebskranke Kinder kennengelernt. Ich

war damals nur wegen meiner hübschen Begleiterin eingeladen

worden. Dr. Maria König, eine Oberärztin. Ludger Schmitt und ich

tranken an unserem Tisch als Einzige Kölsch, vielleicht fand er

mich deshalb sympathisch. Oder weil ich ein guter Zuhörer war

und über seine miserablen Witze gelacht habe, die an Chauvinis-

mus kaum zu überbieten waren. Maria fand den Kerl unaussteh-

lich und zeigte wenig Verständnis dafür, dass ich mich an diesem

Abend mehr mit ihm als mit ihr abgegeben hatte. Die Nacht ver-

brachten wir in getrennten Betten, und unsere Beziehung hielt

nicht mehr lange. Zu meiner Überraschung erinnerte sich Ludger

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Schmitt auch noch mit nüchternem Kopf an mich. Ohne die Fälle,

die er mir von da an zuspielte, wäre ich wohl längst pleite gewesen.

»Sie wollen also eine ruhige Kugel schieben?«

Nina nickte. »Wie gesagt, ich muss echt was fürs zweite Staats-

examen tun. Noch ein Ausreichend, und ich kriege nie einen Job.«

»Machen Sie sich selbstständig, so wie ich. Ich habe auch nur

zwei Ausreichend gehabt. Sie befinden sich also in guter Gesell-

schaft.« Ich erhob mich. »Sie haben die Stelle, wenn Sie wollen«,

sagte ich und reichte ihr gewohnheitsmäßig die rechte Hand. Ich

bemerkte meinen Fehler und streckte die Linke aus.

Nina stand auch auf und schlug ein.

»Willkommen in der Kanzlei Nicholas Meller. Wann können Sie

anfangen?«

»Wenn Sie wollen, nächste Woche.«

»Wenn Sie wollen, schon ab morgen. Sie können gern Ihre Un-

terlagen zum Lernen mitbringen, aber dann hätte ich schon mal

jemanden fürs Telefon. Es klingelt auch nicht oft, versprochen.«

Nina nickte mit einem charmanten Lächeln. Ihr Blick ging wie-

der zu dem Bild hinter mir.

»Nun fragen Sie schon«, sagte ich.

»Was?«

»Aus welchem Film das Foto ist?«

»Aus welchem Film ist das Foto?«

»Clockwork Orange.«

Sie hatte den Titel noch nie gehört. Nicht verwunderlich, der

Klassiker war von Anfang der Siebziger. Allerdings in Farbe, das

Schwarz-Weiß-Bild zeigte die Hauptfigur Alex DeLarge zusammen

mit seinen drei gewaltbereiten Freunden, Pete, Georgie und Dim,

die er seine »Droogs« nannte. Sie marschierten an einem künst-

lichen See entlang – in einem fiktiven Londoner Stadtteil, ähnlich

einer Trabantenstadt.

»War mal mein Lieblingsfilm. Jetzt nicht mehr.«

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»Und warum hängt das Bild noch da?«

»In dem Film fällt ein wichtiger Satz. ›Wenn ein Mensch nicht frei

wählen kann – also zwischen Gut und Böse –, hört er auf, ein Mensch

zu sein.‹ Ich finde, das passt ganz gut zu dem, was wir hier machen.

Wir vertreten meistens böse Menschen.«

»Gefällt mir, das Foto«, sagte Nina.

Sie folgte mir in die Diele, wo ein Schreibtisch und Aktenschränke

standen. In den Schränken war noch viel Platz. Ich erklärte ihr al-

les, Festnetztelefon und Faxgerät, wie die Akten sortiert sein soll-

ten und nicht waren. Das einzige wirkliche Schmuckstück meiner

Kanzlei war die Kaffeemaschine. Ein uraltes Teil, das ich auf einem

Flohmarkt erstanden hatte. Der Dampfkessel erzeugte unter hölli-

schem Lärm einen Druck von zehn bis zu zwölf Bar, und der Kaffee

schmeckte deshalb unvergleichlich cremig. Aber da Nina keinen

Kaffee trank, sondern nur Tee, beeindruckte sie der Anblick der

Wundermaschine auch nicht besonders.

Ich sah ihr nach, als sie wenig später die Stufen im Treppenhaus

nach unten ging. Eine junge Frau mit enorm viel Selbstbewusst-

sein, was wohl auch an ihrer Behinderung lag, mit der zu leben sie

gelernt hatte. Ich fragte mich, ob ich auf sie zugegangen wäre, sie

angesprochen hätte in einer Bar oder Kneipe, wenn sie keinen

Mantel, sondern nur die Bluse angehabt hätte? Ich musste nicht

lange überlegen. Nein. Niemals.

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2Die lehmverdreckten Reifen des schwarzen Toyota Hilux kamen

knirschend zum Stillstand. Im selben Moment schwang die Fahrer-

tür des schwarzen Pick-ups auf, während der Motor weiter lief.

Andreas Frings wand sich langsam aus dem Ledersitz heraus. Bloß

keine überstürzte Bewegung. Nichts tun, was diesen fiesen Schmerz

auslöste. In periodischen Abständen machte ihm der Rücken zu

schaffen. Meistens kam der Schmerz, wenn es draußen kühler

wurde.

Langsam ging er zur rot-weißen Schranke, steckte den Schlüs-

sel in das verchromte Vorhängeschloss. Das Schloss klemmte, wie

immer. Es brauchte etwas Feingefühl, dann ließ sich der Schlüssel

herumdrehen. Frings hob die Schranke, bis sie einrastete, ging zu

seinem Toyota zurück und fuhr hindurch. Dann wiederholte sich

die Prozedur, er musste die Schranke wieder schließen. Die Leute

würden es sonst als Einladung verstehen, trotz der Hinweisschil-

der durch das Naturschutzgebiet zu fahren, um ein paar Kilometer

Umweg auf der Landstraße zu sparen.

Der Motor wummerte untertourig. Frings fuhr im Schritttempo

über den Waldweg, bis er nach etwa einem Kilometer anhielt und

ausstieg. Auf der Ladefläche des Hilux passten zwei Hundeboxen

nebeneinander. Als er die linke Box öffnete, sprang Bosco sofort

heraus und positionierte sich neben dem linken Bein seines Herr-

chens. Er war ein brauner Deutsch Langhaar, groß und athletisch,

sein Fell braunweiß gescheckt. In der anderen Box wartete Gero

ungeduldig jaulend. Vor einem halben Jahr war Geros Vorgänger

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Arko an einer seltsamen Krankheit gestorben. Für Frings ein tragi-

scher Verlust – er betrachtete seine Hunde als Familienmitglieder

und hatte Mühe gehabt, schnell wieder einen neuen Hund dieser

Rasse zu bekommen. Hannoveraner Schweißhunde waren eine

Rarität. Wenn das Wild verletzt war und blutete, sprach der Waid-

mann von »Schweiß«, und ein Hund wie Gero konnte verletztes

Wild selbst über Kilometer hinweg wittern. Diese Rasse zählte zu

den zähesten Jagdhunden überhaupt. Jetzt sprang Gero lebhaft

von der Ladefläche. Er war erst zehn Monate alt, etwas kleiner als

Bosco und hatte ein einheitlich dunkelbraunes Fell. Frings schul-

terte seine Ledertasche und ging mit seinen Hunden in den Wald.

Ein Berufsjägerlehrling hatte gemeldet, dass drei Sprossen an der

Leiter eines Hochsitzes kaputt seien. Die Hunde gingen rechts und

links neben ihm. Als Frings den Hochsitz erreichte, sah er die Be-

scherung: sauber in der Mitte durchgebrochen! Das gesplitterte

Holz sah noch frisch aus. Der Forstwirtschaftsmeister überlegte,

ob es mutwillige Zerstörung war oder ob ein schwergewichtiger

Mensch versucht hatte, die Leiter zu erklimmen. Frings löste die

kaputten Sprossen und tat sie in seine Umhängetasche. Als er sich

zu seinen Hunden umdrehte, lag Gero nicht mehr neben Bosco,

der es sich unweit des Hochsitzes bequem gemacht hatte.

»Fuß!«, schrie Frings durch den Wald. Gero wusste sofort, dass

er gemeint war, und beendete den Fluchtversuch. Schuldbewusst

sah er zu seinem Herrchen. Frings ging zu ihm, nahm ihn an die

Leine.

Doch Gero wandte sich sofort wieder der Richtung zu, in die er

gegangen war. Der Schweißhund hatte Witterung aufgenommen.

Es war seinem jungen Alter geschuldet, dass Gero nicht auf Anhieb

parierte, aber das durfte sein Herrchen trotzdem nicht dulden.

Was war es, das seinen Hund aufstachelte, ein verwundetes Tier?

»Dann mach mal, such!«

Kaum hatte Frings grünes Licht gegeben, da ging Gero seiner

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Nase folgend los, zog kräftig an der Leine. Sein Herrchen hatte

Mühe, Schritt zu halten. Nach etwa dreißig Metern durchs Unter-

holz erreichten sie eine schmale Lichtung. Gero blieb stehen,

wirkte einen Moment orientierungslos, dreht sich im Kreis und

fing dann an zu buddeln.

Frings sah sich um. Da war kein verwundetes oder totes Tier,

und offensichtlich auch kein Bau.

»Aus!«, wies Frings den Hund an. »Platz!«

Bosco, der sie begleitet hatte, gehorchte sofort – Gero nur zö-

gernd, winselte aufgeregt. Frings sah sich die Stelle an, wo der

Schweißhund gegraben hatte. Der Boden war von Laub und Reisig

befreit, wirkte wie frisch aufgeworfen. Frings ging ächzend auf die

Knie. Die Erde war in der Tat sehr locker. Er grub vorsichtig ein

kleines Loch. Zunächst mit einer Hand, dann ließ er die Leine los

und grub mit beiden Händen. Er überlegt bereits, ob er zum Wa-

gen zurückgehen und die Schaufel holen sollte, als er mit den Fin-

gern auf etwas stieß, dass eindeutig keine Erde war. Etwas Helles

kam zum Vorschein.

Haut. Eine Stirn, eine Nase, ein Auge …

Entsetzt sprang Frings auf. Das tote Auge schien ihn direkt an-

zustarren.

Im selben Moment schoss der Schmerz wie ein Stromschlag in

die Lendenwirbel. Frings sackte auf die Knie, beugte sich nach

vorn, dadurch konnte er den Schmerz in seinem Rücken lindern.

Dem Förster war speiübel. Er streckte die Hand aus und bekam die

Hundeleine zu fassen. Gero buddelte schon wieder, Frings zog ihn

von dort weg.

»Aus!«, keuchte er. »Platz. Platz!«

Gero gehorchte. Frings versuchte ruhig ein- und auszuatmen,

ein und aus. Der Schmerz ließ etwas nach. Dann zerrte er sein

Handy aus der Hosentasche. Kein Netz! Was hatte er erwartet? Er

steckte es ein.

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Es kostete Frings Überwindung, erneut in das tote Gesicht zu

blicken. Offensichtlich eine Frau, wie die blonden Haare verrieten,

die undeutlich zu sehen waren. Das tote Auge starrte ihn unver-

wandt an, der süßliche Geruch von Verwesung lag in der Luft.

Er sah sich um. Niemand weit und breit. Nur die Geräusche des

Waldes. Frings wischte sich die erdigen Hände an der Hose ab,

straffte sich. Es ging, er konnte sich wieder bewegen. Er kam lang-

sam auf die Beine, tat jeden Schritt mit Bedacht und machte sich

auf den Weg zurück zu seinem Wagen.

Als er die Schranke erreichte, hatte er bereits wieder Empfang.

Frings wählte die Nummer der Polizei. Zehn Minuten später traf

der erste Streifenwagen ein.

Während ein Einsatzfahrzeug nach dem anderen eintrudelte,

gab Frings zu Protokoll, wie sein Schweißhund die Tote gefun-

den hatte, dass er selbst mit den Händen in der Erde gegraben

hatte, und erwähnte auch seine Rückenschmerzen, ließ kein De-

tail aus. Danach lauschte Frings den Gesprächen der Polizisten

und schnappte auf, dass die Leiche übel zugerichtet worden sei.

Auf Nachfrage bekam er keine Antwort, Frings wurde hier nicht

mehr gebraucht. Er gab den Polizisten den Schlüssel für die

Schranke, sie würden ihn später vorbeibringen. Dann stieg er in

seinen Toyota und fuhr davon. Erst als er zu Hause war und die

Umhängetasche vom Beifahrersitz nahm, fiel ihm ein, dass er in

seiner Aussage ein kleines Detail zu erwähnen vergessen hatte. Wenn

die Beamten ihm den Schlüssel für die Schranke vorbeibrächten,

würde er es ihnen noch sagen.

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3Nina hatte sich schnell eingearbeitet. Aber wenn ich ehrlich war,

gab es auch nicht besonders viel, in was sie sich einarbeiten

musste. Die Flaute, die seit Monaten herrschte, hielt noch immer

an. Meine Fälle warteten auf einen Prozesstermin, einen Strafbe-

fehl oder darauf, dass sich überhaupt mal was tat. In meinem Port-

folio befand sich ein Achtzehnjähriger, der kurz vor seinem Abitur

stand. Er hatte bei einer Schlägerei etwas zu fest zugelangt, und als

die Polizei eintraf, bekam eine unerfahrene Kommissaranwärterin

im Eifer des Gefechts auch noch einen Ellbogen von ihm ins Ge-

sicht. Widersprüchliche Zeugenaussagen. Jeder schob dem ande-

ren die Schuld zu. Deshalb würde es etwas länger dauern, bis sich

die Staatsanwaltschaft entschied, ob sie Anklage erhob und, wenn

ja, gegen wen. Dann gab es noch einen Einbrecher auf meiner

Liste und einen Verkehrssünder, der meinte, dass der Tacho seines

Audi A8 nicht richtig funktionierte, als er mit über hundert Stun-

denkilometern durch die Stadt raste. Die Flaute hielt nun schon

seit drei Monaten an, finanziell konnte ich das nur überstehen,

weil das Vorjahr überdurchschnittlich ergiebig gewesen war. Eine

zwölfköpfige Bande weißrussischer Autoschieber war auf frischer

Tat ertappt worden, wie sie in einer Werkstatt Luxuskarossen für

den Abtransport in Richtung Osten zerlegt hatte. Ich hätte dem

Leiter der Sonderkommission am liebsten eine Flasche Wodka als

Dankeschön geschickt. Zwei der Weißrussen ließen sich von mir

vertreten, und ich bekam mein Geld vorab in bar, wie es in diesen

Kreisen üblich war. Der eine hieß Jegor, der andere Michail. Sie

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waren Brüder und würden im Knast gut zurechtkommen. Wer sich

mit ihnen anlegte, landete zwangsläufig auf der Krankenstation.

Zu mir waren sie nett. Manchmal muss der Anwalt als Sündenbock

herhalten, in diesem Fall aber nicht. Mir gelang es, das Strafmaß

deutlich nach unten zu drücken. Anstatt sieben würden sie nur

drei Jahre absitzen. Nach der Urteilsverkündung hätten die Weiß-

russen mich am liebsten umarmt, aber die Handschellen ließen

das nicht zu. Von solchen Erfolgen konnte ich nicht ewig zehren,

meine Rücklagen schmolzen immer schneller dahin. Was mich

aber am allermeisten störte, war, dass Nina zur Kronzeugin dieser

Flaute wurde. Aber vielleicht spornte es sie ja an, noch mehr zu ler-

nen, damit sie nicht so endete wie Nicholas Meller.

Irgendwann am dritten oder vierten Tag hatte ich ihr das Du an-

geboten – in der Boss-Rolle hatte ich mich noch nie wohlgefühlt.

Außerdem ließ es sich so viel ungezwungener Plaudern. Ihre Be-

hinderung beschäftigte mich nach wie vor.

»Wieso hast du eigentlich keine Prothese?«

»Stell dir vor, ich hatte mal eine«, antwortete sie. »Mit vierzehn,

ungefähr eine Woche lang. Die tat ziemlich weh, und dann hat sie

sich auch noch gelöst, und plötzlich lag mein Arm auf der Straße.«

Ich musste lachen. Sie grinste.

»Bist du dann mit dem Arm in der Hand nach Hause ge-

gangen?«

»Ja. Die Leute haben ziemlich dumm geguckt.«

Mir gefiel ihre unbekümmerte Art. Dennoch, an jedem Tag, an

dem ich Nina bei der Arbeit zusah, wurde mir bewusst, warum die

Evolution uns zwei Hände beschert hatte. Das Leben war damit so

viel einfacher.

»Wie schneidest du dir die Fingernägel? Hilft dir deine Mitbe-

wohnerin?«, hatte ich sie irgendwann gefragt.

»Bei manchen Dingen hilft sie mir, aber nicht beim Nägelschnei-

den«, war ihre Antwort gewesen.

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Sie wohnte mit einer Chemiestudentin in einer Zweier-WG. Da

in Ninas Erzählungen bisher kein Freund vorkam, ging ich davon

aus, dass sie keinen hatte. Geboren und aufgewachsen war sie in

einem kleinen Ort in der Nähe von Krefeld. Ihre Eltern wohnten

immer noch dort und finanzierten Ninas Studium. Sie schien nicht

glücklich zu sein mit Jura, aber sie wollte das Studium durch-

ziehen.

Ich ließ nicht locker. »Gibt es eine Nagelschere, die man mit

einer Hand bedienen kann, und ich weiß nichts davon?«

Sie schüttelte den Kopf. »Bügelst du deine Hemden selbst?«

»Nein.« Ich verstand, was sie meinte.

An einem anderen Morgen brachte ich ein halbes Dutzend zu-

sammengefaltete Kartons von der Post mit. Im Büro lag ein Stapel

DVDs, die ich im Internet angeboten hatte. Nina sollte die Dinger

verpacken und wegschicken. Irgendwann wollte ich mir einen Kaf-

fee machen und sah, welch seltsame Verrenkungen sie da machte,

um die Pakete mit einer Hand zusammenzufalten.

»Warum sagst du nichts?« Ich trat näher, um ihr zu helfen.

»Stopp!«, fuhr sie mich an. »Ich schaffe das. Dauert nur ein paar

Sekunden länger. Okay?«

Ich zog mich zum Türrahmen zurück, blieb dort stehen und sah

zu.

Sie hielt inne. »Du nervst.«

»Ich weiß. Bist nicht die erste Frau, die das zu mir sagt.«

»Bist du eigentlich Single?«

Die Frage klang ziemlich beiläufig, und meine Antwort hätte Ja

lauten müssen.

»Nein«, antwortete ich stattdessen. Dr. Maria König und ich wa-

ren seit fast einem Jahr nicht mehr zusammen, aber ich hatte keine

Lust, auf das Thema Beziehung einzugehen.

Nina beugte sich nach vorne, bis sie mit dem Oberkörper fast

auf der Tischplatte lag. Sie tat das, um mit dem Kinn die Pappe auf

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dem Tisch zu fixieren, bevor sie die Rückwand des Kartons umfal-

tete. Es blieb nicht aus, dass sie mir dabei ihren runden Hintern in

der engen weißen Jeans entgegenstreckte. Sie hatte wirklich eine

tolle Figur.

Um sie nicht schamlos anzustarren, wandte ich mich ab, ging

zur Kaffeemaschine und machte mir einen Espresso. Der Espresso

war besonders laut und übertönte das Kindergeschrei aus dem In-

nenhof. Als ich zurückkam, war Nina fertig und stapelte die DVDs

in den Karton.

Ich lächelte sie aufmunternd an. »Was hältst du davon  – wir

bringen die Pakete zusammen zur Post und gehen dann mittag-

essen?«

»Wenn du zahlst«, antwortete sie. »Ich habe kein Geld für so

was.«

»Einverstanden.«

Von da an gingen wir öfter zusammen mittags essen.

Einen Vorteil hatte die Flaute. Mir blieb genug Zeit, mich auf ein

privates, wichtiges Ereignis vorzubereiten. Das bevorstehende

Kneipenfußballturnier. Dieses Jahr spielte ich im »Team Shoo-

ters«. Das Shooters war eine American Sportsbar. In der letzten

Saison hatte ich für das Tetra Pack, meine damalige Stammkneipe,

gekickt. Nach dem letzten Spiel hatte ich mich aber mit ein paar

Leuten aus meiner Mannschaft verkracht. Eine doofe Diskussion

unter Alkoholeinfluss hatte zum Streit geführt. So sehr ich Michael,

den Wirt, auch mochte, ich ging seitdem nicht mehr dorthin. Jetzt

konnte das Shooters auf meinen Einsatz zählen. Mir fehlte es aller-

dings an Kondition, weshalb ich joggte und von Tabak- auf Elektro-

zigarette umgestiegen war. Wenigstens bis das Turnier vorbei war,

musste ich meinen Nikotinkonsum einschränken. Nina machte

den Vorschlag, dass ich bei der Gelegenheit vielleicht ganz aufhö-

ren sollte zu rauchen.

An dem Tag, der mein Leben nachhaltig verändern sollte, kam

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ich ziemlich verkatert gegen Mittag ins Büro. Ich war nach dem

Training noch im Shooters versackt und hatte neue Whiskeysor-

ten getestet, die Lutz, der Wirt, rangeschafft hatte. Ein Fehler.

Da ich außer zwei Aspirin nichts gefrühstückt hatte, lud ich

Nina zum Mittagessen ein. Sie bestellte eine Currywurst mit Pom-

mes. In der Kneipe, wo wir waren, galt es als schick, die Wurst un-

geschnitten zu servieren. Als die Kellnerin den Teller vor Nina ab-

stellte, bemerkte sie das Problem. Die Frau sah uns etwas ratlos an.

Aber ich nahm kurzerhand mein Besteck und zerteilte die Wurst

in mundgerechte Stücke.

Wir fingen gerade an zu essen, als mein Handy vibrierte. Ich

kramte es genervt aus der Hosentasche. Die ersten drei Ziffern auf

dem Display waren 229, und das verriet mir, dass der Anruf aus

dem Polizeipräsidium kam.

»Meller«, meldete ich mich und achtete darauf, dass meine

Stimme gestresst klang. Ein Akt von Imagepflege, gute Anwälte

hatten immer furchtbar viel zu tun.

»Hauptkommissar Rongen, Kripo Köln«, ertönte es aus dem

Handy. »Ich habe hier einen Täter, der möchte Sie als Anwalt

haben.«

Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich hatte das Gefühl,

als habe in seiner Stimme ein ungläubiges Staunen mitgeschwun-

gen. Als ob der Mandant einem leidtun könnte, dass ich sein An-

walt war.

»Einen Täter?«, fragte ich. »Wurde er denn schon verurteilt?«

»Sie wissen, was ich meine.«

»Hat der Verdächtige auch einen Namen?«

»Wolfgang Rölscheid. Er hat gesagt, Sie hätten ihn schon mal

vertreten, und der Haftrichter hat Sie deshalb auf Wunsch des Be-

klagten zum Pflichtverteidiger bestellt.«

Ich erinnerte mich. So viele Mandanten hatte es im letzten Jahr

nicht gegeben. Rölscheid war ein Pferdewirt aus Bergheim-Gles-

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sen, etwas außerhalb von Köln. Er betrieb einen Reiterhof. An sich

ein feiner Kerl, aber ihm war die Faust ausgerutscht, zum Nachteil

seiner Ehefrau. Er hatte ihr zwei Zähne ausgeschlagen und das Na-

senbein gebrochen. Mir war es gelungen, die Sache als eine einma-

lige Angelegenheit im Affekt hinzustellen, und er kam mit einem

Strafbefehl, also ohne Gerichtsverfahren, davon. Trotzdem war er

damit vorbestraft. Seine Frau hatte nach der Attacke die Scheidung

eingereicht.

»Ja, das stimmt«, sagte ich. »Um was geht es diesmal?«

»Mord.«

Mir klappte der Mund auf. Nina bemerkte mein entsetztes Ge-

sicht und sah mich fragend an. Für einen Moment war ich sprach-

los.

»Sind Sie noch dran?«, ertönte es aus dem Handy.

»Sie scherzen?«, fragte ich.

»Nein. Er hat seine Ehefrau ermordet.«

»Seine Ehefrau? Aber …« Mein Gedanken rasten. Was war pas-

siert? Hatte Rölscheid erneut zugeschlagen, diesmal etwas fester?

»Kann ich ihm ausrichten, dass Sie vorbeikommen?«, fragte

Rongen.

»Ja. Und er soll vorher keine Aussage machen.«

»Keine Sorge. Er spricht nicht mit uns. Aber das muss er auch

nicht. Die Beweislage ist eindeutig.«

Ich hatte mich wieder etwas gefangen. »Das höre ich so oft, und

dann stellt sich heraus, dass Sie ihn wieder laufen lassen müssen.«

»Diesmal nicht. Das garantiere ich Ihnen. Sie finden uns im Prä-

sidium, Kommissariat elf. Thomas Rongen.«

Er beendete das Gespräch ohne ein weiteres Wort.

Ich sah Nina an.

»Schon mal einen Mordfall gehabt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich auch nicht.« Mir war der Appetit vergangen. Ich winkte der

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Kellnerin zu, ließ unser Essen einpacken und bezahlte die Rech-

nung.

»Im Ernst? Dein erster Mordfall?« Die Begeisterung in ihrer

Stimme war nicht zu überhören.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Irgendwann ist immer das erste Mal.«

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4Die Brücke von Arnheim war das letzte Ziel der Operation »Market

Garden«, des größten militärischen Luftlandeeinsatzes in der Ge-

schichte der Menschheit. Im September 1944 entwickelte der bri-

tische Field Marshal Bernard Montgomery einen tollkühnen Plan,

beseelt von dem Wunsch, den Zweiten Weltkrieg bis Weihnachten

zu beenden. Der Plan war, mittels Bodentruppen und Luftlande-

einheiten mehrere Rheinbrücken kurz nacheinander einzuneh-

men und so den entscheidenden Vorstoß ins Herz der deutschen

Industrie, das Ruhrgebiet, zu ermöglichen. Rund um die hollän-

dische Kleinstadt Arnheim starben bei dieser Großoffensive die

meisten Soldaten und Zivilisten.

Jetzt, rund siebzig Jahre später, befand sich das historische

Schlachtfeld in der Mitte seines Kellerraumes, auf einer eigens da-

für angefertigten, vier mal drei Meter großen Sperrholzplatte. Das

Kellerfenster hatte er mit Brettern verschlossen, damit es unmög-

lich war, von draußen etwas zu sehen. Warum er sich ausgerechnet

für die Schlacht um Arnheim entschieden hatte, wusste er selbst

nicht mehr so genau, aber die Idee, einen Kriegsschauplatz in sei-

nem Keller als Modell nachzubauen, war ihm beim Besuch des

»Miniatur-Wunderlandes« in der Speicherstadt von Hamburg ge-

kommen. Stundenlang hatte er sich dort aufgehalten und die fili-

grane Arbeit der Erbauer bewundert. Durchquerte man die riesige

Ausstellung mit ihren eintausenddreihundert Quadratmetern Mo-

dellfläche, gelangte man in wenigen Schritten von einer Schwei-

zer Berglandschaft, vorbei an einem modernen Flughafen, bis zu

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einem norwegischen Fjord und konnte zusehen, wie ein Contai-

nerschiff vollautomatisch anlegte. Dazwischen waren Großstädte

wie Hamburg oder Las Vegas nachgebaut. Die Welt im Modell sah

schöner aus als in der Wirklichkeit, fand er, und die Schöpfer die-

ser Miniaturen hatten wirklich nichts ausgelassen, kein noch so

kleines Detail. Er liebte das, diese Detailtreue. Er war regelrecht

berauscht davon. Im Miniatur-Hamburg gab es ein Miniatur-Lu-

xushotel. Er hatte lange davor gestanden und in eines der vielen

Fenster geschaut. Dahinter lag eine Suite, die in der Realität be-

stimmt tausend Euro die Nacht gekostet hätte. Auf dem Bett lagen

ein Mann und eine Frau. Die Figuren waren nahezu unbekleidet,

die Frau trug nur noch ihre schwarze Nylonstrümpfe, und die

Beine ragten weit gespreizt rechts und links von dem Mann in die

Höhe. Das Licht gedämpft. Kein Hochzeitskleid auf dem Boden,

keine Blumen in einer Vase, kein Kinderbett in der Suite. Nur die

beiden auf dem Bett, und er steckte in ihr. Der Mann war reich,

sonst könnte er sich so eine Suite nicht leisten – und die passende

Frau dazu. Sie arbeitete für einen noblen Escortservice. Nebenbe-

ruflich. Tagsüber schaute sie den Leuten als Zahnarzthelferin in

den Mund, saugte den Speichel ab, machte Silikonabdrücke. Oder

war sie selbst Zahnärztin? Ging es ihr gar nicht ums Geld, wollte sie

nur von fremden Männern gefickt werden? So oder so, sie schlüpfte

nach Feierabend in eine andere Rolle, suchte zahlungskräftige

Männer in teuren Hotels auf und ließ das mit sich machen, was ge-

rade hinter dem kleinen Miniaturfenster in der noblen Suite ge-

schah. Er spürte sein Herz klopfen, und er hörte ihre Stimmen, die

Frau, wie sie anfing zu stöhnen. Es klang nicht echt, kein bisschen,

ein bezahltes Stöhnen. Sie gab sich nicht mal viel Mühe. Nein, sie

war keine Zahnärztin, sie brauchte das Geld, dringend sogar, was

der Mann mit ihr tat, machte sie kein bisschen geil. Plötzlich

schlug das falsche Gestöhne in einen spitzen Schrei um. Nicht ge-

spielt. Der Mann hatte sie am rechten Fußgelenk gepackt, wirbelte

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ihren Körper herum und riss ihr den linken Nylonstrümpfe herun-

ter. Dann drückte er ihren Kopf fest ins Kissen, knebelte sie mit

dem Strumpf. Seine Hand knallte auf ihren nackten Arsch, hinter-

ließ einen roten Abdruck. Noch mal und noch mal drosch er auf sie

ein. Sie versuchte zu schreien, versuchte, seinem Griff zu entkom-

men. Keine Chance, das Kissen dämpfte die Schreie zusätzlich. Er

griff zum Boden, zu seiner Hose, zog den Ledergürtel heraus und

faltete ihn einmal. Dann peitschte er sie damit aus, auf den Rü-

cken, aber vor allem auf den nackten Arsch, die Striemen zeichne-

ten sich deutlich ab. Damit hatte die Schlampe nicht gerechnet. Sie

war von einem normalen Job ausgegangen, aber sie hatte sich in

der Tür geirrt. Sie dachte wohl, sich später unter der Dusche den

Dreck der Nacht abwaschen zu können. Jetzt aber färbte sich die

Haut ihrer Pobacken blutig rot, so fest schlug er zu. Sie sollte für ih-

ren dreisten Betrug büßen. Für das falsche Gestöhne, die fehlende

Lust. Er hatte dafür bezahlt.

Ein Kichern, der Situation völlig unangemessen, riss ihn aus sei-

ner Gedankenwelt. Die Frau hinter ihm sah attraktiv aus, mit lan-

gen, schwarz gelockten Haaren. Ihr Freund stand daneben, und

beide sahen, was es hinter dem Miniaturfenster zu sehen gab. Sie

kicherten. Seinetwegen. Er musste weg. Die beiden lachten ihn

aus. Die Frau flüsterte ihrem Freund etwas ins Ohr, sie lachten

noch lauter.

Arnheim war weit genug entfernt von der Realität, sowohl

räumlich als auch zeitlich. Hier konnte er voll und ganz eintau-

chen in seine Fantasien. Wer in Arnheim 1944 überleben wollte,

musste Härte zeigen. Gnade konnte tödlich sein. Das Modell ba-

sierte zum Großteil auf historischen Fakten, bis auf einige Details,

die er sich selbst ausgedacht hatte. Künstlerische Freiheit. Auf der

Brücke fuhren deutsche Tiger-II-Panzer auf. Die Zeit stand still. Es

war der Augenblick, kurz bevor das Inferno losbrach. Die Soldaten

warteten auf den Schießbefehl, während sie in Deckung kauerten

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und die Panzer mit schweren Geschützen über die Brücke rollten.

Der Tiger II wog in Wirklichkeit rund siebenundfünfzig Tonnen

mit Bewaffnung und brachte die Metallkonstruktion der Brücke

zum Beben. Es hatte bereits viele Tote gegeben, Market Garden

war ein blutiges Gemetzel, aber die große, alles entscheidende

Schlacht würde den Soldaten noch bevorstehen.

Mit der Lupe betrachtete er das Maschinengewehrnest am

linksrheinischen Brückenkopf, dort, wo die Engländer saßen, und

er entschied, die vorhandene Gruppe durch einen einfachen Sol-

daten zu verstärken. Die Männer am Maschinengewehr würden

das Feuer eröffnen, und auch beim Sterben waren sie die Ersten. Er

nahm die Pinzette, griff den Soldaten, der im Maßstab 1:76 knapp

zwei Zentimeter groß war, und setzte ihn direkt neben den Mann

am Maschinengewehr. Die Anordnung gefiel ihm. Mit der Pinzette

nahm er den Soldaten wieder weg, tupfte einen kleinen Tropfen

Kleber an seinen Fuß und stellte ihn zurück auf die Position, die

für ihn gedacht war. Es erforderte viel Fingerspitzengefühl und

eine ruhige Hand. Sein Blick wanderte zu dem Haus in der Nähe

der Brücke, ganz nah am Fluss auf der rechten Rheinseite – der

deutschen Seite. Das Haus hatte schon mehrere Treffer von Mör-

sergranaten abbekommen, die Bewohner waren längst geflüchtet.

Jetzt diente es dem Panzerkorps als Beobachtungsposten. Zum

Glück war das Dach noch intakt, wenn auch einige Ziegel fehlten.

Sie lagen verstreut um das Gebäude herum. Er hatte auf jedes De-

tail geachtet. Jeder einzelne Dachziegel war ein Puzzleteil seiner

Fantasie. Das Haus an der Brücke gab es nicht, historisch betrachtet,

aber dieses Haus war das Zentrum, der eigentliche Grund, war-

um er sich mit Modellbau beschäftigte und weshalb diese Schlacht

in seinem Keller stattfand. Auf dem Dachboden des Modellhauses

befand sich eine Kammer. Kleine, kaum sichtbare Riegel verhin-

derten, dass das Dach bei einer Erschütterung herunterfiel. Er

löste die Riegel. Seine Hand zitterte leicht, als er das Dach ab-

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