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LORENZ STASSEN
ANGSTMöRDER
THRILLER
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
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Verlagsgruppe Random House FSC® N001967
2. Auflage 2017
Vollständige deutsche Erstausgabe 11/2017
Copyright © 2016 by Lorenz Stassen
Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
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Redaktion: Heiko Arntz
Printed in Germany
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Satz: Leingärtner, Nabburg
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ISBN: 978-3-453-43879-8
www.heyne.de
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»Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun.«
Edmund Burke
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MIRIAM RÖLSCHEID
Mädchenname: Jansen
Alter: 35 Jahre
Größe: 172 cm
Gewicht: ca. 65 kg
Haarfarbe: blond
Beruf: Hausfrau
Familienstand: in Scheidung lebend
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DER WALDBODEN WAR FEUCHT UND KALT, und mit dem Bewusstsein
kehrten die Schmerzen zurück. Ein seltsames Knirschen drang an
ihr Ohr. Es klang zuerst ganz weit weg, wie aus einem anderen Uni-
versum. Aber es kam näher, näher an ihr Ohr heran, es wurde lau-
ter und lauter. Dann stach der Metallspaten dicht neben ihrem
Kopf in den Waldboden. Kein Traum. Keine Halluzinationen. Ihr
geschundener Körper zitterte, der Schmerz schwoll an. Dazu die
Kälte. Die Angst. Ein Fuß in schweren Lederstiefeln trieb das Me-
tall des Spatens tiefer in den Boden, das Erdreich löste sich und
wurde fortgeschleudert. Sie drehte den Kopf ein bisschen, was
Schmerzen in ihrem Nacken verursachte. Ihr Blick fand die Stelle,
wo sich bereits ein Erdhügel gebildet hatte. Kniehoch. Daneben
das Loch. Lang und schmal, aber noch nicht tief genug.
In Miriams Kopf ergab das Puzzle aus Erinnerungen ein lücken-
haftes Bild. Lückenhaft, weil sie viele Aussetzer gehabt hatte. Sie
wusste aber genau, wo sie sich jetzt befand. An der letzten Station
ihres Lebens. Miriam keuchte, rang nach Luft. Der rote Slip, den sie
heute Morgen nach der Dusche angezogen hatte, steckte als Kne-
bel in ihrem Mund. An den Handgelenken war die Haut von dem
Nylonseil aufgescheuert. Es brannte, als wären die Fesseln in Salz-
säure getränkt. Nur ein Wunder konnte sie jetzt noch retten, des-
sen war sie sich bewusst. Aber sie durfte die Hoffnung nicht auf-
geben. Niemals! Ein Jäger könnte auf einem Hochsitz sein und in
der Stille des Waldes ihr Wimmern hören. Sich fragen, woher das
Geräusch käme, vom Hochstand hinuntersteigen und tiefer in den
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Wald hineingehen. Oder vielleicht würde ein Liebespaar aufmerk-
sam werden, das hier einen abgeschiedenen Platz für ein heim-
liches Treffen gesucht hatte. Sie würde nicht aufgeben. Nein, die-
sen Gefallen würde sie ihm nicht tun.
Der Spaten stach wieder in die Erde. Ein dumpfes Geräusch ließ
sie aufhorchen. Das Metall war auf ein Hindernis gestoßen. Viel-
leicht eine Baumwurzel. Das könnte ihn daran hindern weiterzu-
graben. Er müsste sich eine neue Stelle suchen. Für einen Moment
verdrängte dieser Gedanke alle Schmerzen. Doch dann – erneut
ein Spatenstich und ein Knirschen. Sie sah, wie ein Stein zum Vor-
schein kam und auf dem Erdhügel landete, von dort herunterkul-
lerte. Dann ging es wie gewohnt weiter. Der nächste Spatenstich,
das Knirschen, das satte Erdreich, das sich löste und auf dem
Hügel landete.
Nach einer Weile trat Stille ein. Nur der Wind ließ die Blätter
sanft rauschen. Dann ein Klick, und das grelle Licht der Taschen-
lampe, das auf sie gerichtet wurde. Sie kniff die Augen zusammen.
Miriam glaubte, den Strahl fühlen zu können, wie er ihren nackten
Körper abtastete. Verschnürt wie ein Päckchen lag sie auf der
Seite. Sie spürte seine Nähe, roch seinen Atem, den Schweiß. Er
ging in die Hocke, und eine Hand berührte sie. Sanft strich er mit
seinen Fingern ihre Beine entlang, vom Fußgelenk nach oben über
die tätowierte Wade, die Schenkel … sie presste die Knie zusam-
men, so fest sie konnte.
Im nächsten Moment riss er an dem Nylonseil. Ein heftiger
Ruck, und sie fiel hart in das Erdloch, landete auf dem Rücken.
Schmerzen schossen wie Blitze durch ihren Körper. Ihr Aufschrei
wurde durch den Knebel gedämpft. Sie spürte den kalten Lehm auf
ihre Beine fallen. Noch eine Ladung und noch eine. Erde verteilte
sich über ihren Körper, bedeckte ihre Füße, die Beine, den Bauch,
dann ihre Brust und den Hals. Nur ihr Gesicht blieb frei.
Er arbeitete ruhig und gleichmäßig. Gegen das Licht des Voll-
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monds nur als Silhouette zu erkennen, schaufelte er mechanisch
die Erde von dem Hügel in das Loch zurück. Mit jedem Spaten
nahm das Gewicht auf ihrem Körper zu, auf ihrer Brust, das Atmen
fiel schwer. Immer noch war ihr Gesicht frei. Sie sollte sehen, was
er tat. Begreifen, was mit ihr geschah: lebendig begraben zu wer-
den. Die Schmerzen waren verschwunden, auch die Kälte des Bo-
dens verspürte sie nicht mehr. Sie fühlte gar nichts. Dann überkam
sie die Panik. Ihre Beine zitterten mit letzter Kraft, ihr Körper
krümmte sich. Sie zerrte an den Fesseln, das Nylonseil schnitt tie-
fer in die Handgelenke. Sie sog gierig Luft durch die Nase ein. Dann
landete der erste Spatenstich loser Erde auf ihrem Gesicht. Ruck-
artig drehte sie den Kopf zur Seite, schnaubte durch die Nase, um
sie freizubekommen, ihre Lungen waren leer. Doch erneut fiel eine
Ladung Erde auf ihr Gesicht. Sie bekam keine Luft mehr. Sie wand
sich, zuckte, bis die Muskeln erschlafften und sie allmählich ihr
Bewusstsein verlor.
Er wartete geduldig, bis sie sich nicht mehr rührte. Nur noch
wenige weiße Stellen ihrer Haut schauten hervor. Er stieß den Spa-
ten in die Erde, ging auf die Knie und befreite das Gesicht vom Erd-
reich. Im Licht des Vollmondes starrten ihn ihre toten Augen an.
Feine rote Äderchen durchzogen den Augapfel. Aufgeplatzt in den
Sekunden vor ihrem Tod. Ihre vollen Lippen, rot geschminkt, sa-
hen aus, als würde sie schmollen. Etwas Blut lief aus ihrem Mund-
winkel. Er nahm ein blau-weiß kariertes Stofftaschentuch und
tupfte das Blut ab. Nur noch Knochen und Haut, Organe, Muskeln
und Haare – sie selbst aber hatte aufgehört zu existieren. Miriam.
Er kam wieder auf die Beine. Schaufelte in aller Ruhe das Loch
zu. Bis ihr Körper ganz im Waldboden verschwunden war.
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1Ich hatte gerade einen Elfmeter vergeigt, als es an der Tür klingelte.
Etwas überrascht sah ich auf die Uhr an der Wand, es war halb
zwölf. Ich hatte die Zeit vergessen und außer Acht gelassen, dass
manche Menschen tatsächlich pünktlich erschienen. Ich suchte
nach der Fernbedienung und schaltete den Flachbildschirm aus.
Die Einzelteile der Playstation landeten in der Schublade des Fern-
sehmöbels. Mein Jackett hing über dem ausgesessenen Bürostuhl,
ich zog es an. Etwas Seriosität schien mir angebracht, eine Kra-
watte wäre übertrieben gewesen. Bevor ich den Raum verließ,
schob ich den Stuhl hinter den Schreibtisch und blickte mich noch
mal prüfend um, ob es hier nach dem Büro eines Strafverteidigers
aussah. Für den ersten Eindruck gab es keine zweite Chance, das
galt nicht nur für Bewerberinnen, sondern auch für mich als
Arbeitgeber.
Es klingelte erneut, als ich in die Diele trat. Ich betätigte den
Drücker und hörte, wie unten die Haustür aufsprang. Zu einem
Vorstellungsgespräch weder zu früh noch zu spät zu kommen,
wertete ich als Pluspunkt auf meiner Liste. Eine kurze Liste. Die
Ansprüche, um in meiner Kanzlei eine Stelle als Rechtsreferen-
darin zu ergattern, waren nicht sonderlich hoch. Da ich mir keine
Sekretärin leisten konnte, schien es wie ein Glücksfall, wenn sich
eine Jurastudentin zu mir verirrte. Männliche Bewerber lehnte ich
grundsätzlich ab. Nina Vonhoegen hatte sich per E-Mail beworben
und ein Foto mitgeschickt. Es war mir bei ihrem Anblick leicht ge-
fallen, sie anzurufen, und am Telefon hatte sie ebenfalls einen sehr
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sympathischen Eindruck gemacht. Dass die Bewerberin im ersten
Staatsexamen nur ein »Ausreichend« hatte, störte mich herzlich
wenig. Ich war in beiden Examen auf keine bessere Note gekom-
men, und mir waren Bewerbungsfotos wichtiger als Zeugnisse.
Die Holztreppe knarrte lauter als die morschen Planken eines
Dreimasters. Mein Büro befand sich in einem Wohnhaus, das zu
Beginn des letzten Jahrhunderts erbaut wurde. Nina nahm die
letzte Stufe und stand vor mir. In natura sah sie noch viel hübscher
aus als auf dem Foto. Die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz
nach hinten gebunden, ozonblaue Augen, umrandet von schwar-
zen Wimpern. Aber irgendetwas irritierte mich an ihr. Nina schien
es zu merken und verharrte an der Türschwelle, auf eine einla-
dende Geste wartend.
»Kommen Sie doch bitte rein.« Ich trat einen Schritt zurück.
Nina war etwas kleiner als ich, ich schätzte sie auf einen Meter
siebzig. Sie trug eine weiße Bluse und enge Jeans, dazu hellbraune
Stiefel, die bis zu den Knien reichten. Ihr beiger Trenchcoat war es,
der meine Befremdung auslöste. Der rechte Ärmel des Mantels
schlabberte hin und her. Ich schloss die Tür zum Treppenhaus und
überlegte, wie ich mich verhalten sollte. Ihr die rechte Hand zu ge-
ben, käme einem schlechten Scherz gleich.
Nina hatte keine.
Mir schoss durch den Kopf, dass sie ihre Behinderung in der Be-
werbung wahrscheinlich erwähnt hatte. Verdammter Idiot, dachte
ich, du hast nicht bis zu Ende gelesen. Ihr Foto hatte mir gereicht.
Fuck.
»Nicholas Meller«, stellte ich mich mit einem Lächeln vor und
reichte ihr die linke Hand.
»Nina Vonhoegen, hallo.« Sie hatte einen festen Händedruck.
»Bitte, ähm, gehen wir doch in mein Büro.« Ich zeigte zur Tür,
und Nina ging vor. Mit der linken Hand streifte sie den Trenchcoat
über die rechte Schulter. Ich wollte galant sein und ihr helfen.
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»Danke, geht schon.«
Zugegeben, meine Erfahrung im Umgang mit behinderten Men-
schen beschränkte sich darauf, mal einem Rollstuhlfahrer die Tür
aufzuhalten. Ihre Bluse war kurzärmlig, und nun sah ich das ganze
Ausmaß der Katastrophe. An der rechten Schulter ragte ein häss-
licher Stumpf heraus. Extrem dünn, nur Haut und Knochen, höchs-
tens dreißig Zentimeter lang.
Nina hatte es ohne meine Hilfe aus dem Mantel geschafft, legte
ihn über einen der beiden Stühle für die Mandanten und setzte
sich auf den anderen.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte ich. »Sie kriegen in meiner
Kanzlei den besten Kaffee von ganz Köln.«
»Ich trinke keinen Kaffee, danke«, sagte sie und wackelte mit
dem Stumpf. Es war eine ganz normale ablehnende Geste, doch
in meinen Augen sah es aus wie das Zucken eines Lämmer-
schwanzes.
»Etwas anderes?«, fragte ich, bemüht, nicht auf den Stumpf zu
starren.
»Nein, danke.«
»Wasser?«
Sie grinste. »Na gut, ein Wasser.«
Ich ging raus und holte es. In der Küche erst fiel mir ein, dass sie
»nein, danke« gesagt hatte.
Verbrennungen im Gesicht, Pigmentstörungen der Haut oder
Aknenarben konnten einen Menschen viel schlimmer verunstal-
ten als so ein blöder verkümmerter Arm. Trotzdem, Ninas Makel
war wie ein furchtbar schiefer Ton in einer ansonsten perfekten
Melodie.
Ich hatte allen Grund zur Annahme, dass sie mein seltsames
Verhalten bemerkt hatte, und das war mir peinlich. Richtig pein-
lich. Wie schon erwähnt, für den ersten Eindruck gab es keine
zweite Chance. Zurück im Büro, stellte ich das Glas vor ihr ab und
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ließ mich in meinen Drehstuhl fallen. Der Schreibtisch, wie eine
Barriere zwischen uns, gab mir etwas Selbstsicherheit zurück. Ich
sah mich auf dem Tisch um, suchte nach der Mail.
»Ihre Bewerbung lag eben noch hier.« Ich unterschlug, dass das
vor zwei Stunden war, bevor ich als Lukas Podolski im Trikot des
1. FC Köln die Bayern vorgeführt hatte. Es stand 9:3 im Stadion der
Bayern, ein sensationelles Ergebnis.
»Ich habe meine Behinderung bewusst verschwiegen«, sagte
Nina.
»Wirklich?« Mir fiel ein Stein vom Herzen. Meine Irritation war
also offenbar als normal einzustufen.
»Sie haben meine Bewerbung doch gelesen, oder?« Jetzt war sie
irritiert.
»Natürlich. Deshalb bin ich ja überrascht. Ich meine, weshalb
haben Sie das verschwiegen?«
»Weil Behinderungen furchtbar aufdringlich wirken können.
Von wegen: Schauen Sie her. Ich bin behindert. Geben Sie mir eine
Chance.«
Ich musste lächeln. Wie recht sie hatte.
»Mir geht es nicht um Mitleid. Ich möchte einen Job«, fuhr sie
fort. »Ich will wie eine ganz normale Referendarin behandelt wer-
den. Es versteht sich von selbst, dass ich nicht mit zehn Fingern
tippen kann. Ein Brief dauert bei mir eben etwas länger.«
»Das stört mich nicht.«
»Was stört Sie dann?«, fragte sie mit dem Selbstbewusstsein
eines Profiboxers während einer Pressekonferenz.
»Wieso glauben Sie, dass mich etwas an Ihnen stört?« Ich geriet
wieder in die Defensive.
Nina lächelte. »Wenn man mit einer Behinderung groß wird, ge-
hören seltsame Blicke zum Leben dazu. Ich kann mich nicht erin-
nern, jemals nicht angestarrt worden zu sein.«
»Empfinden Sie das als schlimm?«
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»Ich habe mich daran gewöhnt. Manchmal nervt es trotzdem.
Wie empfinden Sie es?«
»Ich?«
»Könnten Sie sich an meinen Anblick gewöhnen?« Sie strich
mit der linken Hand über den Stumpf, als würde sie sich kratzen.
»Denn das wäre wohl die Grundlage für eine Zusammenarbeit,
oder?«
Ninas Tonfall war herausfordernd, aber nicht respektlos. Wenn
sie allerdings mit den Professoren an der Uni genauso sprach, er-
klärten sich ihre mäßigen Noten wie von selbst.
»Ich habe kein Problem damit«, sagte ich. »Wenn Sie mir nur
etwas Zeit geben, mich daran zu gewöhnen. Mein Verhalten eben,
das war … Ich war unvorbereitet. Da steht so eine hübsche Frau,
und dann …« Ich merkte, dass ich mit meinem Reden nur noch
alles schlimmer machte.
»Und dann so ein ekliger Stumpf«, beendete sie den Satz und
fing an zu lachen. »Entschuldigung, ich stelle mir das gerade vor.«
Wir lachten beide.
»Was reizt Sie am Strafrecht?«, wechselte ich das Thema.
Nina fing an zu erzählen. Das »Ausreichend« im ersten Examen
erklärte sie damit, furchtbar nervös gewesen zu sein und die ein-
fachsten Sachen durcheinandergebracht zu haben, obwohl sie gut
vorbereitet gewesen war. Ich nickte. Bei mir war es lupenreine
Faulheit gewesen. Ich hatte vom ersten Semester an ein Gespür für
Jura entwickelt, manche Professoren bescheinigten mir so etwas
wie Talent. Aber Talent ohne Fleiß war wie Champagner ohne
Kohlensäure. Ohne Büffeln ging es nun mal nicht. Das juristische
Handwerk ließ sich weder auf dem Fußballplatz, in Kneipen, noch
im Bett mit Kommilitoninnen erlernen, selbst wenn die ein Ass im
Studium waren. Mein Studentenleben war großartig, ich hatte keine
Party ausgelassen und erst recht keine Gelegenheit zu vögeln. Und
darum saß ich jetzt hier. In einem etwas heruntergekommenen
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Altbau, dreißig Quadratmeter, Köln-Ehrenfeld. Im Rückgebäude
befand sich eine städtische Kita, und auch im Haus wohnten meh-
rere Familien. An manchen Tagen war das Kindergeschrei nicht
zum Aushalten. Doch die hohen Zimmerdecken und die großen
Fenster verliehen meinem Büro einen gewissen Charme, was mich
mit der übrigen Situation ein wenig versöhnte. Das Büro war im-
merhin eine Steigerung zu meiner letzten Absteige.
Ich verschwieg Nina die Highlights meiner Karriere. Das war
nicht das richtige Thema für ein Vorstellungsgespräch. Mit mei-
nem schlechten Examen ging ich zwar offen um, sorgte aber im-
mer für einen ironischen Unterton. Nina sollte das Gefühl bekom-
men, bei einem abgebrühten Strafverteidiger gelandet zu sein, der
noch nie etwas anderes machen wollte, als unschuldige Mandan-
ten freizubekommen. Während des Gespräches fiel mir auf, wie
ihre Augen immer wieder zu dem gerahmten Foto hinter mir an
der Wand schweiften. Das Bild zeigte eine Szene aus einem Film,
den Nina mit Sicherheit nicht kannte …
Ich gelangte schließlich zu der für mich wichtigsten Frage. »Wie
sind Sie auf meine Kanzlei gestoßen?«
Nina hatte mit der Frage gerechnet, das verrieten ihre Augen,
doch sie zögerte ein wenig, um die Antwort natürlicher wirken zu
lassen.
»Ich habe Sie im Gerichtssaal erlebt.«
»Wirklich?« Ich war ehrlich überrascht. »Was wurde denn ver-
handelt?«
»Ihr Mandant hatte geklaute Autos verschoben. Es ging darum,
wie weit er über die Machenschaften seiner Geschäftspartner in-
formiert war. Davon hing das Strafmaß ab.«
»Und?« Jetzt wollte ich es auch genau wissen.
»Anderthalb Jahre auf Bewährung.«
Ich erinnerte mich zwar nicht so genau an den Fall, aber was sie
sagte, klang schlüssig. Osteuropäische Autoschieber gehörten zu
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meiner Hauptklientel. Es hatte sich in gewissen Kreisen herumge-
sprochen, dass ich Russisch sprach und die russische Mentalität
verstand, denn ich wurde in Tomsk, in Westsibirien, geboren.
Meine Vorfahren waren im achtzehnten Jahrhundert dem Ruf der
Zarin Katharina gefolgt und an die Wolga umgesiedelt. Da mein
Vater ein gut ausgebildeter Chemieingenieur war, dauerte es et-
was länger, bis man uns in die alte Heimat zurückgehen ließ. Erst
als er an Krebs starb, siedelten meine Mutter, meine ältere Schwes-
ter und ich nach Deutschland um. Das war Anfang der Neunziger,
ich war damals sieben Jahre alt. Meine Großmutter blieb in Tomsk.
Sie fühlte sich zu alt, um sich noch mal an eine neue Heimat zu ge-
wöhnen, und wer außer ihr würde sich sonst um das Grab meines
Vaters kümmern.
»Warum waren Sie im Gericht?«, hakte ich nach.
»Ich habe mich in einer Hausarbeit mit dem Thema beschäftigt.
Ich wollte Theorie und Praxis nebeneinander kennenlernen.«
»Und da bin ich Ihnen aufgefallen? Wieso?«
Mit der Frage hatte Nina offensichtlich nicht gerechnet.
»Ich … ich fand Ihren Stil gut.« Sie wirkte verunsichert. Pinoc-
chio bekam eine lange Nase, wenn er log, Nina errötete leicht. Ein
bisschen zu schön, um wahr zu sein: eine hübsche junge Studen-
tin, die im Gerichtssaal saß und an meinen Lippen klebte, wäh-
rend ich vor versammelter Mannschaft den Staatsanwalt in seine
Schranken wies … Natürlich hörte ich gerne Komplimente, vor al-
lem von einer schönen Frau, selbst wenn sie nur einen Arm hatte,
aber das war dann doch etwas zu dick aufgetragen.
»Mein Stil also?«, bohrte ich kritisch nach.
»Ich, äh, ja. Es hat Spaß gemacht, Ihnen zuzuhören.«
Ich stützte meine Ellbogen auf die Tischplatte, faltete die Hände
vor meinem Gesicht und schaute sie an. »Passen Sie auf.« Ich blieb
ganz sachlich. »Wenn Sie irgendwann in einem Gerichtssaal sind
und sich vergaloppiert haben, mit einer Frage, die Sie besser nicht
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gestellt hätten, dann brechen Sie ab. Wechseln Sie das Thema, ma-
chen Sie irgendwas, aber gehen Sie niemals auf dem Pfad weiter,
der ins Verderben führt.«
Jetzt wurde Nina richtig rot im Gesicht. Ich hoffte, sie hatte be-
griffen. Ich hasste es, wenn man mir Märchen auftischte. Das taten
meine Mandanten oft genug. Von meiner Mitarbeiterin in spe
erwartete ich Ehrlichkeit.
»Ihre Kanzlei liegt genau an meiner Bahnlinie«, sagte sie mit ge-
senktem Blick. »Ich muss nur vier Stationen fahren. Und man hat
bei Ihnen nicht viel zu tun, das weiß ich von einer Freundin, die bei
Schmitt & Holgräf arbeitet. So bleibt mir mehr Zeit, um für mein
zweites Staatsexamen zu üben.«
Die Wahrheit tat weh. Nina wusste genau, wen sie vor sich hatte.
Mich. Nicholas Meller. Einen Underdog. Dem es seit Jahren mehr
schlecht als recht gelang, irgendwie den Kopf über Wasser zu hal-
ten. Ganz profane Gründe hatten sie zu mir geführt. Vier Straßen-
bahnhaltestellen. Und die Erwähnung der Kanzlei Schmitt & Hol-
gräf machte die Sache auch nicht besser. Ludger Schmitt gehörte
zu den erfolgreichsten Strafverteidigern Kölns und – zugegeben –
auch zu den besten. Wenn er Mandanten für uninteressant hielt,
schickte er sie zu mir. Eine Gefälligkeit seinerseits. Wir hatten uns
auf einer Benefizgala für krebskranke Kinder kennengelernt. Ich
war damals nur wegen meiner hübschen Begleiterin eingeladen
worden. Dr. Maria König, eine Oberärztin. Ludger Schmitt und ich
tranken an unserem Tisch als Einzige Kölsch, vielleicht fand er
mich deshalb sympathisch. Oder weil ich ein guter Zuhörer war
und über seine miserablen Witze gelacht habe, die an Chauvinis-
mus kaum zu überbieten waren. Maria fand den Kerl unaussteh-
lich und zeigte wenig Verständnis dafür, dass ich mich an diesem
Abend mehr mit ihm als mit ihr abgegeben hatte. Die Nacht ver-
brachten wir in getrennten Betten, und unsere Beziehung hielt
nicht mehr lange. Zu meiner Überraschung erinnerte sich Ludger
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Schmitt auch noch mit nüchternem Kopf an mich. Ohne die Fälle,
die er mir von da an zuspielte, wäre ich wohl längst pleite gewesen.
»Sie wollen also eine ruhige Kugel schieben?«
Nina nickte. »Wie gesagt, ich muss echt was fürs zweite Staats-
examen tun. Noch ein Ausreichend, und ich kriege nie einen Job.«
»Machen Sie sich selbstständig, so wie ich. Ich habe auch nur
zwei Ausreichend gehabt. Sie befinden sich also in guter Gesell-
schaft.« Ich erhob mich. »Sie haben die Stelle, wenn Sie wollen«,
sagte ich und reichte ihr gewohnheitsmäßig die rechte Hand. Ich
bemerkte meinen Fehler und streckte die Linke aus.
Nina stand auch auf und schlug ein.
»Willkommen in der Kanzlei Nicholas Meller. Wann können Sie
anfangen?«
»Wenn Sie wollen, nächste Woche.«
»Wenn Sie wollen, schon ab morgen. Sie können gern Ihre Un-
terlagen zum Lernen mitbringen, aber dann hätte ich schon mal
jemanden fürs Telefon. Es klingelt auch nicht oft, versprochen.«
Nina nickte mit einem charmanten Lächeln. Ihr Blick ging wie-
der zu dem Bild hinter mir.
»Nun fragen Sie schon«, sagte ich.
»Was?«
»Aus welchem Film das Foto ist?«
»Aus welchem Film ist das Foto?«
»Clockwork Orange.«
Sie hatte den Titel noch nie gehört. Nicht verwunderlich, der
Klassiker war von Anfang der Siebziger. Allerdings in Farbe, das
Schwarz-Weiß-Bild zeigte die Hauptfigur Alex DeLarge zusammen
mit seinen drei gewaltbereiten Freunden, Pete, Georgie und Dim,
die er seine »Droogs« nannte. Sie marschierten an einem künst-
lichen See entlang – in einem fiktiven Londoner Stadtteil, ähnlich
einer Trabantenstadt.
»War mal mein Lieblingsfilm. Jetzt nicht mehr.«
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»Und warum hängt das Bild noch da?«
»In dem Film fällt ein wichtiger Satz. ›Wenn ein Mensch nicht frei
wählen kann – also zwischen Gut und Böse –, hört er auf, ein Mensch
zu sein.‹ Ich finde, das passt ganz gut zu dem, was wir hier machen.
Wir vertreten meistens böse Menschen.«
»Gefällt mir, das Foto«, sagte Nina.
Sie folgte mir in die Diele, wo ein Schreibtisch und Aktenschränke
standen. In den Schränken war noch viel Platz. Ich erklärte ihr al-
les, Festnetztelefon und Faxgerät, wie die Akten sortiert sein soll-
ten und nicht waren. Das einzige wirkliche Schmuckstück meiner
Kanzlei war die Kaffeemaschine. Ein uraltes Teil, das ich auf einem
Flohmarkt erstanden hatte. Der Dampfkessel erzeugte unter hölli-
schem Lärm einen Druck von zehn bis zu zwölf Bar, und der Kaffee
schmeckte deshalb unvergleichlich cremig. Aber da Nina keinen
Kaffee trank, sondern nur Tee, beeindruckte sie der Anblick der
Wundermaschine auch nicht besonders.
Ich sah ihr nach, als sie wenig später die Stufen im Treppenhaus
nach unten ging. Eine junge Frau mit enorm viel Selbstbewusst-
sein, was wohl auch an ihrer Behinderung lag, mit der zu leben sie
gelernt hatte. Ich fragte mich, ob ich auf sie zugegangen wäre, sie
angesprochen hätte in einer Bar oder Kneipe, wenn sie keinen
Mantel, sondern nur die Bluse angehabt hätte? Ich musste nicht
lange überlegen. Nein. Niemals.
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2Die lehmverdreckten Reifen des schwarzen Toyota Hilux kamen
knirschend zum Stillstand. Im selben Moment schwang die Fahrer-
tür des schwarzen Pick-ups auf, während der Motor weiter lief.
Andreas Frings wand sich langsam aus dem Ledersitz heraus. Bloß
keine überstürzte Bewegung. Nichts tun, was diesen fiesen Schmerz
auslöste. In periodischen Abständen machte ihm der Rücken zu
schaffen. Meistens kam der Schmerz, wenn es draußen kühler
wurde.
Langsam ging er zur rot-weißen Schranke, steckte den Schlüs-
sel in das verchromte Vorhängeschloss. Das Schloss klemmte, wie
immer. Es brauchte etwas Feingefühl, dann ließ sich der Schlüssel
herumdrehen. Frings hob die Schranke, bis sie einrastete, ging zu
seinem Toyota zurück und fuhr hindurch. Dann wiederholte sich
die Prozedur, er musste die Schranke wieder schließen. Die Leute
würden es sonst als Einladung verstehen, trotz der Hinweisschil-
der durch das Naturschutzgebiet zu fahren, um ein paar Kilometer
Umweg auf der Landstraße zu sparen.
Der Motor wummerte untertourig. Frings fuhr im Schritttempo
über den Waldweg, bis er nach etwa einem Kilometer anhielt und
ausstieg. Auf der Ladefläche des Hilux passten zwei Hundeboxen
nebeneinander. Als er die linke Box öffnete, sprang Bosco sofort
heraus und positionierte sich neben dem linken Bein seines Herr-
chens. Er war ein brauner Deutsch Langhaar, groß und athletisch,
sein Fell braunweiß gescheckt. In der anderen Box wartete Gero
ungeduldig jaulend. Vor einem halben Jahr war Geros Vorgänger
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Arko an einer seltsamen Krankheit gestorben. Für Frings ein tragi-
scher Verlust – er betrachtete seine Hunde als Familienmitglieder
und hatte Mühe gehabt, schnell wieder einen neuen Hund dieser
Rasse zu bekommen. Hannoveraner Schweißhunde waren eine
Rarität. Wenn das Wild verletzt war und blutete, sprach der Waid-
mann von »Schweiß«, und ein Hund wie Gero konnte verletztes
Wild selbst über Kilometer hinweg wittern. Diese Rasse zählte zu
den zähesten Jagdhunden überhaupt. Jetzt sprang Gero lebhaft
von der Ladefläche. Er war erst zehn Monate alt, etwas kleiner als
Bosco und hatte ein einheitlich dunkelbraunes Fell. Frings schul-
terte seine Ledertasche und ging mit seinen Hunden in den Wald.
Ein Berufsjägerlehrling hatte gemeldet, dass drei Sprossen an der
Leiter eines Hochsitzes kaputt seien. Die Hunde gingen rechts und
links neben ihm. Als Frings den Hochsitz erreichte, sah er die Be-
scherung: sauber in der Mitte durchgebrochen! Das gesplitterte
Holz sah noch frisch aus. Der Forstwirtschaftsmeister überlegte,
ob es mutwillige Zerstörung war oder ob ein schwergewichtiger
Mensch versucht hatte, die Leiter zu erklimmen. Frings löste die
kaputten Sprossen und tat sie in seine Umhängetasche. Als er sich
zu seinen Hunden umdrehte, lag Gero nicht mehr neben Bosco,
der es sich unweit des Hochsitzes bequem gemacht hatte.
»Fuß!«, schrie Frings durch den Wald. Gero wusste sofort, dass
er gemeint war, und beendete den Fluchtversuch. Schuldbewusst
sah er zu seinem Herrchen. Frings ging zu ihm, nahm ihn an die
Leine.
Doch Gero wandte sich sofort wieder der Richtung zu, in die er
gegangen war. Der Schweißhund hatte Witterung aufgenommen.
Es war seinem jungen Alter geschuldet, dass Gero nicht auf Anhieb
parierte, aber das durfte sein Herrchen trotzdem nicht dulden.
Was war es, das seinen Hund aufstachelte, ein verwundetes Tier?
»Dann mach mal, such!«
Kaum hatte Frings grünes Licht gegeben, da ging Gero seiner
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Nase folgend los, zog kräftig an der Leine. Sein Herrchen hatte
Mühe, Schritt zu halten. Nach etwa dreißig Metern durchs Unter-
holz erreichten sie eine schmale Lichtung. Gero blieb stehen,
wirkte einen Moment orientierungslos, dreht sich im Kreis und
fing dann an zu buddeln.
Frings sah sich um. Da war kein verwundetes oder totes Tier,
und offensichtlich auch kein Bau.
»Aus!«, wies Frings den Hund an. »Platz!«
Bosco, der sie begleitet hatte, gehorchte sofort – Gero nur zö-
gernd, winselte aufgeregt. Frings sah sich die Stelle an, wo der
Schweißhund gegraben hatte. Der Boden war von Laub und Reisig
befreit, wirkte wie frisch aufgeworfen. Frings ging ächzend auf die
Knie. Die Erde war in der Tat sehr locker. Er grub vorsichtig ein
kleines Loch. Zunächst mit einer Hand, dann ließ er die Leine los
und grub mit beiden Händen. Er überlegt bereits, ob er zum Wa-
gen zurückgehen und die Schaufel holen sollte, als er mit den Fin-
gern auf etwas stieß, dass eindeutig keine Erde war. Etwas Helles
kam zum Vorschein.
Haut. Eine Stirn, eine Nase, ein Auge …
Entsetzt sprang Frings auf. Das tote Auge schien ihn direkt an-
zustarren.
Im selben Moment schoss der Schmerz wie ein Stromschlag in
die Lendenwirbel. Frings sackte auf die Knie, beugte sich nach
vorn, dadurch konnte er den Schmerz in seinem Rücken lindern.
Dem Förster war speiübel. Er streckte die Hand aus und bekam die
Hundeleine zu fassen. Gero buddelte schon wieder, Frings zog ihn
von dort weg.
»Aus!«, keuchte er. »Platz. Platz!«
Gero gehorchte. Frings versuchte ruhig ein- und auszuatmen,
ein und aus. Der Schmerz ließ etwas nach. Dann zerrte er sein
Handy aus der Hosentasche. Kein Netz! Was hatte er erwartet? Er
steckte es ein.
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Es kostete Frings Überwindung, erneut in das tote Gesicht zu
blicken. Offensichtlich eine Frau, wie die blonden Haare verrieten,
die undeutlich zu sehen waren. Das tote Auge starrte ihn unver-
wandt an, der süßliche Geruch von Verwesung lag in der Luft.
Er sah sich um. Niemand weit und breit. Nur die Geräusche des
Waldes. Frings wischte sich die erdigen Hände an der Hose ab,
straffte sich. Es ging, er konnte sich wieder bewegen. Er kam lang-
sam auf die Beine, tat jeden Schritt mit Bedacht und machte sich
auf den Weg zurück zu seinem Wagen.
Als er die Schranke erreichte, hatte er bereits wieder Empfang.
Frings wählte die Nummer der Polizei. Zehn Minuten später traf
der erste Streifenwagen ein.
Während ein Einsatzfahrzeug nach dem anderen eintrudelte,
gab Frings zu Protokoll, wie sein Schweißhund die Tote gefun-
den hatte, dass er selbst mit den Händen in der Erde gegraben
hatte, und erwähnte auch seine Rückenschmerzen, ließ kein De-
tail aus. Danach lauschte Frings den Gesprächen der Polizisten
und schnappte auf, dass die Leiche übel zugerichtet worden sei.
Auf Nachfrage bekam er keine Antwort, Frings wurde hier nicht
mehr gebraucht. Er gab den Polizisten den Schlüssel für die
Schranke, sie würden ihn später vorbeibringen. Dann stieg er in
seinen Toyota und fuhr davon. Erst als er zu Hause war und die
Umhängetasche vom Beifahrersitz nahm, fiel ihm ein, dass er in
seiner Aussage ein kleines Detail zu erwähnen vergessen hatte. Wenn
die Beamten ihm den Schlüssel für die Schranke vorbeibrächten,
würde er es ihnen noch sagen.
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3Nina hatte sich schnell eingearbeitet. Aber wenn ich ehrlich war,
gab es auch nicht besonders viel, in was sie sich einarbeiten
musste. Die Flaute, die seit Monaten herrschte, hielt noch immer
an. Meine Fälle warteten auf einen Prozesstermin, einen Strafbe-
fehl oder darauf, dass sich überhaupt mal was tat. In meinem Port-
folio befand sich ein Achtzehnjähriger, der kurz vor seinem Abitur
stand. Er hatte bei einer Schlägerei etwas zu fest zugelangt, und als
die Polizei eintraf, bekam eine unerfahrene Kommissaranwärterin
im Eifer des Gefechts auch noch einen Ellbogen von ihm ins Ge-
sicht. Widersprüchliche Zeugenaussagen. Jeder schob dem ande-
ren die Schuld zu. Deshalb würde es etwas länger dauern, bis sich
die Staatsanwaltschaft entschied, ob sie Anklage erhob und, wenn
ja, gegen wen. Dann gab es noch einen Einbrecher auf meiner
Liste und einen Verkehrssünder, der meinte, dass der Tacho seines
Audi A8 nicht richtig funktionierte, als er mit über hundert Stun-
denkilometern durch die Stadt raste. Die Flaute hielt nun schon
seit drei Monaten an, finanziell konnte ich das nur überstehen,
weil das Vorjahr überdurchschnittlich ergiebig gewesen war. Eine
zwölfköpfige Bande weißrussischer Autoschieber war auf frischer
Tat ertappt worden, wie sie in einer Werkstatt Luxuskarossen für
den Abtransport in Richtung Osten zerlegt hatte. Ich hätte dem
Leiter der Sonderkommission am liebsten eine Flasche Wodka als
Dankeschön geschickt. Zwei der Weißrussen ließen sich von mir
vertreten, und ich bekam mein Geld vorab in bar, wie es in diesen
Kreisen üblich war. Der eine hieß Jegor, der andere Michail. Sie
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waren Brüder und würden im Knast gut zurechtkommen. Wer sich
mit ihnen anlegte, landete zwangsläufig auf der Krankenstation.
Zu mir waren sie nett. Manchmal muss der Anwalt als Sündenbock
herhalten, in diesem Fall aber nicht. Mir gelang es, das Strafmaß
deutlich nach unten zu drücken. Anstatt sieben würden sie nur
drei Jahre absitzen. Nach der Urteilsverkündung hätten die Weiß-
russen mich am liebsten umarmt, aber die Handschellen ließen
das nicht zu. Von solchen Erfolgen konnte ich nicht ewig zehren,
meine Rücklagen schmolzen immer schneller dahin. Was mich
aber am allermeisten störte, war, dass Nina zur Kronzeugin dieser
Flaute wurde. Aber vielleicht spornte es sie ja an, noch mehr zu ler-
nen, damit sie nicht so endete wie Nicholas Meller.
Irgendwann am dritten oder vierten Tag hatte ich ihr das Du an-
geboten – in der Boss-Rolle hatte ich mich noch nie wohlgefühlt.
Außerdem ließ es sich so viel ungezwungener Plaudern. Ihre Be-
hinderung beschäftigte mich nach wie vor.
»Wieso hast du eigentlich keine Prothese?«
»Stell dir vor, ich hatte mal eine«, antwortete sie. »Mit vierzehn,
ungefähr eine Woche lang. Die tat ziemlich weh, und dann hat sie
sich auch noch gelöst, und plötzlich lag mein Arm auf der Straße.«
Ich musste lachen. Sie grinste.
»Bist du dann mit dem Arm in der Hand nach Hause ge-
gangen?«
»Ja. Die Leute haben ziemlich dumm geguckt.«
Mir gefiel ihre unbekümmerte Art. Dennoch, an jedem Tag, an
dem ich Nina bei der Arbeit zusah, wurde mir bewusst, warum die
Evolution uns zwei Hände beschert hatte. Das Leben war damit so
viel einfacher.
»Wie schneidest du dir die Fingernägel? Hilft dir deine Mitbe-
wohnerin?«, hatte ich sie irgendwann gefragt.
»Bei manchen Dingen hilft sie mir, aber nicht beim Nägelschnei-
den«, war ihre Antwort gewesen.
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Sie wohnte mit einer Chemiestudentin in einer Zweier-WG. Da
in Ninas Erzählungen bisher kein Freund vorkam, ging ich davon
aus, dass sie keinen hatte. Geboren und aufgewachsen war sie in
einem kleinen Ort in der Nähe von Krefeld. Ihre Eltern wohnten
immer noch dort und finanzierten Ninas Studium. Sie schien nicht
glücklich zu sein mit Jura, aber sie wollte das Studium durch-
ziehen.
Ich ließ nicht locker. »Gibt es eine Nagelschere, die man mit
einer Hand bedienen kann, und ich weiß nichts davon?«
Sie schüttelte den Kopf. »Bügelst du deine Hemden selbst?«
»Nein.« Ich verstand, was sie meinte.
An einem anderen Morgen brachte ich ein halbes Dutzend zu-
sammengefaltete Kartons von der Post mit. Im Büro lag ein Stapel
DVDs, die ich im Internet angeboten hatte. Nina sollte die Dinger
verpacken und wegschicken. Irgendwann wollte ich mir einen Kaf-
fee machen und sah, welch seltsame Verrenkungen sie da machte,
um die Pakete mit einer Hand zusammenzufalten.
»Warum sagst du nichts?« Ich trat näher, um ihr zu helfen.
»Stopp!«, fuhr sie mich an. »Ich schaffe das. Dauert nur ein paar
Sekunden länger. Okay?«
Ich zog mich zum Türrahmen zurück, blieb dort stehen und sah
zu.
Sie hielt inne. »Du nervst.«
»Ich weiß. Bist nicht die erste Frau, die das zu mir sagt.«
»Bist du eigentlich Single?«
Die Frage klang ziemlich beiläufig, und meine Antwort hätte Ja
lauten müssen.
»Nein«, antwortete ich stattdessen. Dr. Maria König und ich wa-
ren seit fast einem Jahr nicht mehr zusammen, aber ich hatte keine
Lust, auf das Thema Beziehung einzugehen.
Nina beugte sich nach vorne, bis sie mit dem Oberkörper fast
auf der Tischplatte lag. Sie tat das, um mit dem Kinn die Pappe auf
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dem Tisch zu fixieren, bevor sie die Rückwand des Kartons umfal-
tete. Es blieb nicht aus, dass sie mir dabei ihren runden Hintern in
der engen weißen Jeans entgegenstreckte. Sie hatte wirklich eine
tolle Figur.
Um sie nicht schamlos anzustarren, wandte ich mich ab, ging
zur Kaffeemaschine und machte mir einen Espresso. Der Espresso
war besonders laut und übertönte das Kindergeschrei aus dem In-
nenhof. Als ich zurückkam, war Nina fertig und stapelte die DVDs
in den Karton.
Ich lächelte sie aufmunternd an. »Was hältst du davon – wir
bringen die Pakete zusammen zur Post und gehen dann mittag-
essen?«
»Wenn du zahlst«, antwortete sie. »Ich habe kein Geld für so
was.«
»Einverstanden.«
Von da an gingen wir öfter zusammen mittags essen.
Einen Vorteil hatte die Flaute. Mir blieb genug Zeit, mich auf ein
privates, wichtiges Ereignis vorzubereiten. Das bevorstehende
Kneipenfußballturnier. Dieses Jahr spielte ich im »Team Shoo-
ters«. Das Shooters war eine American Sportsbar. In der letzten
Saison hatte ich für das Tetra Pack, meine damalige Stammkneipe,
gekickt. Nach dem letzten Spiel hatte ich mich aber mit ein paar
Leuten aus meiner Mannschaft verkracht. Eine doofe Diskussion
unter Alkoholeinfluss hatte zum Streit geführt. So sehr ich Michael,
den Wirt, auch mochte, ich ging seitdem nicht mehr dorthin. Jetzt
konnte das Shooters auf meinen Einsatz zählen. Mir fehlte es aller-
dings an Kondition, weshalb ich joggte und von Tabak- auf Elektro-
zigarette umgestiegen war. Wenigstens bis das Turnier vorbei war,
musste ich meinen Nikotinkonsum einschränken. Nina machte
den Vorschlag, dass ich bei der Gelegenheit vielleicht ganz aufhö-
ren sollte zu rauchen.
An dem Tag, der mein Leben nachhaltig verändern sollte, kam
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ich ziemlich verkatert gegen Mittag ins Büro. Ich war nach dem
Training noch im Shooters versackt und hatte neue Whiskeysor-
ten getestet, die Lutz, der Wirt, rangeschafft hatte. Ein Fehler.
Da ich außer zwei Aspirin nichts gefrühstückt hatte, lud ich
Nina zum Mittagessen ein. Sie bestellte eine Currywurst mit Pom-
mes. In der Kneipe, wo wir waren, galt es als schick, die Wurst un-
geschnitten zu servieren. Als die Kellnerin den Teller vor Nina ab-
stellte, bemerkte sie das Problem. Die Frau sah uns etwas ratlos an.
Aber ich nahm kurzerhand mein Besteck und zerteilte die Wurst
in mundgerechte Stücke.
Wir fingen gerade an zu essen, als mein Handy vibrierte. Ich
kramte es genervt aus der Hosentasche. Die ersten drei Ziffern auf
dem Display waren 229, und das verriet mir, dass der Anruf aus
dem Polizeipräsidium kam.
»Meller«, meldete ich mich und achtete darauf, dass meine
Stimme gestresst klang. Ein Akt von Imagepflege, gute Anwälte
hatten immer furchtbar viel zu tun.
»Hauptkommissar Rongen, Kripo Köln«, ertönte es aus dem
Handy. »Ich habe hier einen Täter, der möchte Sie als Anwalt
haben.«
Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich hatte das Gefühl,
als habe in seiner Stimme ein ungläubiges Staunen mitgeschwun-
gen. Als ob der Mandant einem leidtun könnte, dass ich sein An-
walt war.
»Einen Täter?«, fragte ich. »Wurde er denn schon verurteilt?«
»Sie wissen, was ich meine.«
»Hat der Verdächtige auch einen Namen?«
»Wolfgang Rölscheid. Er hat gesagt, Sie hätten ihn schon mal
vertreten, und der Haftrichter hat Sie deshalb auf Wunsch des Be-
klagten zum Pflichtverteidiger bestellt.«
Ich erinnerte mich. So viele Mandanten hatte es im letzten Jahr
nicht gegeben. Rölscheid war ein Pferdewirt aus Bergheim-Gles-
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sen, etwas außerhalb von Köln. Er betrieb einen Reiterhof. An sich
ein feiner Kerl, aber ihm war die Faust ausgerutscht, zum Nachteil
seiner Ehefrau. Er hatte ihr zwei Zähne ausgeschlagen und das Na-
senbein gebrochen. Mir war es gelungen, die Sache als eine einma-
lige Angelegenheit im Affekt hinzustellen, und er kam mit einem
Strafbefehl, also ohne Gerichtsverfahren, davon. Trotzdem war er
damit vorbestraft. Seine Frau hatte nach der Attacke die Scheidung
eingereicht.
»Ja, das stimmt«, sagte ich. »Um was geht es diesmal?«
»Mord.«
Mir klappte der Mund auf. Nina bemerkte mein entsetztes Ge-
sicht und sah mich fragend an. Für einen Moment war ich sprach-
los.
»Sind Sie noch dran?«, ertönte es aus dem Handy.
»Sie scherzen?«, fragte ich.
»Nein. Er hat seine Ehefrau ermordet.«
»Seine Ehefrau? Aber …« Mein Gedanken rasten. Was war pas-
siert? Hatte Rölscheid erneut zugeschlagen, diesmal etwas fester?
»Kann ich ihm ausrichten, dass Sie vorbeikommen?«, fragte
Rongen.
»Ja. Und er soll vorher keine Aussage machen.«
»Keine Sorge. Er spricht nicht mit uns. Aber das muss er auch
nicht. Die Beweislage ist eindeutig.«
Ich hatte mich wieder etwas gefangen. »Das höre ich so oft, und
dann stellt sich heraus, dass Sie ihn wieder laufen lassen müssen.«
»Diesmal nicht. Das garantiere ich Ihnen. Sie finden uns im Prä-
sidium, Kommissariat elf. Thomas Rongen.«
Er beendete das Gespräch ohne ein weiteres Wort.
Ich sah Nina an.
»Schon mal einen Mordfall gehabt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht.« Mir war der Appetit vergangen. Ich winkte der
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Kellnerin zu, ließ unser Essen einpacken und bezahlte die Rech-
nung.
»Im Ernst? Dein erster Mordfall?« Die Begeisterung in ihrer
Stimme war nicht zu überhören.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Irgendwann ist immer das erste Mal.«
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4Die Brücke von Arnheim war das letzte Ziel der Operation »Market
Garden«, des größten militärischen Luftlandeeinsatzes in der Ge-
schichte der Menschheit. Im September 1944 entwickelte der bri-
tische Field Marshal Bernard Montgomery einen tollkühnen Plan,
beseelt von dem Wunsch, den Zweiten Weltkrieg bis Weihnachten
zu beenden. Der Plan war, mittels Bodentruppen und Luftlande-
einheiten mehrere Rheinbrücken kurz nacheinander einzuneh-
men und so den entscheidenden Vorstoß ins Herz der deutschen
Industrie, das Ruhrgebiet, zu ermöglichen. Rund um die hollän-
dische Kleinstadt Arnheim starben bei dieser Großoffensive die
meisten Soldaten und Zivilisten.
Jetzt, rund siebzig Jahre später, befand sich das historische
Schlachtfeld in der Mitte seines Kellerraumes, auf einer eigens da-
für angefertigten, vier mal drei Meter großen Sperrholzplatte. Das
Kellerfenster hatte er mit Brettern verschlossen, damit es unmög-
lich war, von draußen etwas zu sehen. Warum er sich ausgerechnet
für die Schlacht um Arnheim entschieden hatte, wusste er selbst
nicht mehr so genau, aber die Idee, einen Kriegsschauplatz in sei-
nem Keller als Modell nachzubauen, war ihm beim Besuch des
»Miniatur-Wunderlandes« in der Speicherstadt von Hamburg ge-
kommen. Stundenlang hatte er sich dort aufgehalten und die fili-
grane Arbeit der Erbauer bewundert. Durchquerte man die riesige
Ausstellung mit ihren eintausenddreihundert Quadratmetern Mo-
dellfläche, gelangte man in wenigen Schritten von einer Schwei-
zer Berglandschaft, vorbei an einem modernen Flughafen, bis zu
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einem norwegischen Fjord und konnte zusehen, wie ein Contai-
nerschiff vollautomatisch anlegte. Dazwischen waren Großstädte
wie Hamburg oder Las Vegas nachgebaut. Die Welt im Modell sah
schöner aus als in der Wirklichkeit, fand er, und die Schöpfer die-
ser Miniaturen hatten wirklich nichts ausgelassen, kein noch so
kleines Detail. Er liebte das, diese Detailtreue. Er war regelrecht
berauscht davon. Im Miniatur-Hamburg gab es ein Miniatur-Lu-
xushotel. Er hatte lange davor gestanden und in eines der vielen
Fenster geschaut. Dahinter lag eine Suite, die in der Realität be-
stimmt tausend Euro die Nacht gekostet hätte. Auf dem Bett lagen
ein Mann und eine Frau. Die Figuren waren nahezu unbekleidet,
die Frau trug nur noch ihre schwarze Nylonstrümpfe, und die
Beine ragten weit gespreizt rechts und links von dem Mann in die
Höhe. Das Licht gedämpft. Kein Hochzeitskleid auf dem Boden,
keine Blumen in einer Vase, kein Kinderbett in der Suite. Nur die
beiden auf dem Bett, und er steckte in ihr. Der Mann war reich,
sonst könnte er sich so eine Suite nicht leisten – und die passende
Frau dazu. Sie arbeitete für einen noblen Escortservice. Nebenbe-
ruflich. Tagsüber schaute sie den Leuten als Zahnarzthelferin in
den Mund, saugte den Speichel ab, machte Silikonabdrücke. Oder
war sie selbst Zahnärztin? Ging es ihr gar nicht ums Geld, wollte sie
nur von fremden Männern gefickt werden? So oder so, sie schlüpfte
nach Feierabend in eine andere Rolle, suchte zahlungskräftige
Männer in teuren Hotels auf und ließ das mit sich machen, was ge-
rade hinter dem kleinen Miniaturfenster in der noblen Suite ge-
schah. Er spürte sein Herz klopfen, und er hörte ihre Stimmen, die
Frau, wie sie anfing zu stöhnen. Es klang nicht echt, kein bisschen,
ein bezahltes Stöhnen. Sie gab sich nicht mal viel Mühe. Nein, sie
war keine Zahnärztin, sie brauchte das Geld, dringend sogar, was
der Mann mit ihr tat, machte sie kein bisschen geil. Plötzlich
schlug das falsche Gestöhne in einen spitzen Schrei um. Nicht ge-
spielt. Der Mann hatte sie am rechten Fußgelenk gepackt, wirbelte
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ihren Körper herum und riss ihr den linken Nylonstrümpfe herun-
ter. Dann drückte er ihren Kopf fest ins Kissen, knebelte sie mit
dem Strumpf. Seine Hand knallte auf ihren nackten Arsch, hinter-
ließ einen roten Abdruck. Noch mal und noch mal drosch er auf sie
ein. Sie versuchte zu schreien, versuchte, seinem Griff zu entkom-
men. Keine Chance, das Kissen dämpfte die Schreie zusätzlich. Er
griff zum Boden, zu seiner Hose, zog den Ledergürtel heraus und
faltete ihn einmal. Dann peitschte er sie damit aus, auf den Rü-
cken, aber vor allem auf den nackten Arsch, die Striemen zeichne-
ten sich deutlich ab. Damit hatte die Schlampe nicht gerechnet. Sie
war von einem normalen Job ausgegangen, aber sie hatte sich in
der Tür geirrt. Sie dachte wohl, sich später unter der Dusche den
Dreck der Nacht abwaschen zu können. Jetzt aber färbte sich die
Haut ihrer Pobacken blutig rot, so fest schlug er zu. Sie sollte für ih-
ren dreisten Betrug büßen. Für das falsche Gestöhne, die fehlende
Lust. Er hatte dafür bezahlt.
Ein Kichern, der Situation völlig unangemessen, riss ihn aus sei-
ner Gedankenwelt. Die Frau hinter ihm sah attraktiv aus, mit lan-
gen, schwarz gelockten Haaren. Ihr Freund stand daneben, und
beide sahen, was es hinter dem Miniaturfenster zu sehen gab. Sie
kicherten. Seinetwegen. Er musste weg. Die beiden lachten ihn
aus. Die Frau flüsterte ihrem Freund etwas ins Ohr, sie lachten
noch lauter.
Arnheim war weit genug entfernt von der Realität, sowohl
räumlich als auch zeitlich. Hier konnte er voll und ganz eintau-
chen in seine Fantasien. Wer in Arnheim 1944 überleben wollte,
musste Härte zeigen. Gnade konnte tödlich sein. Das Modell ba-
sierte zum Großteil auf historischen Fakten, bis auf einige Details,
die er sich selbst ausgedacht hatte. Künstlerische Freiheit. Auf der
Brücke fuhren deutsche Tiger-II-Panzer auf. Die Zeit stand still. Es
war der Augenblick, kurz bevor das Inferno losbrach. Die Soldaten
warteten auf den Schießbefehl, während sie in Deckung kauerten
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und die Panzer mit schweren Geschützen über die Brücke rollten.
Der Tiger II wog in Wirklichkeit rund siebenundfünfzig Tonnen
mit Bewaffnung und brachte die Metallkonstruktion der Brücke
zum Beben. Es hatte bereits viele Tote gegeben, Market Garden
war ein blutiges Gemetzel, aber die große, alles entscheidende
Schlacht würde den Soldaten noch bevorstehen.
Mit der Lupe betrachtete er das Maschinengewehrnest am
linksrheinischen Brückenkopf, dort, wo die Engländer saßen, und
er entschied, die vorhandene Gruppe durch einen einfachen Sol-
daten zu verstärken. Die Männer am Maschinengewehr würden
das Feuer eröffnen, und auch beim Sterben waren sie die Ersten. Er
nahm die Pinzette, griff den Soldaten, der im Maßstab 1:76 knapp
zwei Zentimeter groß war, und setzte ihn direkt neben den Mann
am Maschinengewehr. Die Anordnung gefiel ihm. Mit der Pinzette
nahm er den Soldaten wieder weg, tupfte einen kleinen Tropfen
Kleber an seinen Fuß und stellte ihn zurück auf die Position, die
für ihn gedacht war. Es erforderte viel Fingerspitzengefühl und
eine ruhige Hand. Sein Blick wanderte zu dem Haus in der Nähe
der Brücke, ganz nah am Fluss auf der rechten Rheinseite – der
deutschen Seite. Das Haus hatte schon mehrere Treffer von Mör-
sergranaten abbekommen, die Bewohner waren längst geflüchtet.
Jetzt diente es dem Panzerkorps als Beobachtungsposten. Zum
Glück war das Dach noch intakt, wenn auch einige Ziegel fehlten.
Sie lagen verstreut um das Gebäude herum. Er hatte auf jedes De-
tail geachtet. Jeder einzelne Dachziegel war ein Puzzleteil seiner
Fantasie. Das Haus an der Brücke gab es nicht, historisch betrachtet,
aber dieses Haus war das Zentrum, der eigentliche Grund, war-
um er sich mit Modellbau beschäftigte und weshalb diese Schlacht
in seinem Keller stattfand. Auf dem Dachboden des Modellhauses
befand sich eine Kammer. Kleine, kaum sichtbare Riegel verhin-
derten, dass das Dach bei einer Erschütterung herunterfiel. Er
löste die Riegel. Seine Hand zitterte leicht, als er das Dach ab-
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