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Türkische „Gastarbeiterkinder“ in den 1970er-Jahren · Archivnachrichten 44 / 2012 49 Ende der...

Date post: 11-Oct-2019
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Archivnachrichten 44 / 2012 48 Zwischen Integration und Separation Im Spätherbst 1961 kamen die ersten Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutsch- land. Eine Zugfahrt von Istanbul nach Stuttgart dauerte in diesen Jahren über eine Woche und kostete drei türkische Monatslöhne. Es erforderte viel Mut und Zuversicht, einen solchen gewagten Schritt zu unternehmen. Weder die tür- kischen Arbeitskräfte noch die deutsche Öffentlichkeit dachten damals daran, dass damit ein Prozess einsetzte, der zu einer dauerhaften Einwanderung führen würde. Heute leben im Südwesten 282 000 Menschen mit türkischem Pass. Türkische Wurzeln haben rund 430 000. In Industriestädten wie Heilbronn ma- chen sie rund sieben Prozent der Be- völkerung aus. Die Kinder und Enkel der Gastarbeiter aus den 60er- und 70er- Jahre – ob mit türkischem oder deutschen Pass – sind inzwischen zu einem festen Bestandteil der baden-württembergischen Gesellschaft geworden. Spätestens seit den 80er-Jahren war klar: Die Gastarbeiter kehren nicht – wie ursprünglich geplant – nach zwei Jahren in die Türkei zurück, sondern wollen mit ihren Familien in der Bundesrepu- blik Deutschland bleiben. Damit stellte sich die Frage ihrer Integration. Fremde werden zwangsläufig irgendwann ein- mal Einheimische, diese Entwicklung positiv zu gestalten, wurde nun zu einer vordringlichen gesellschaftspolitischen Aufgabe. Türkische „Gastarbeiterkinder“ in den 1970er-Jahren Verein türkischer Arbeitnehmer in Heilbronn fordert Schulklassen für türkische Gastarbeiterkinder. Quellen für den Unterricht 43 Ulrich Maier Vorlage: Stadtarchiv Heilbronn, ZS-39518, „Unter- richt für ausländische Schüler 1964 – 1977“
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Archivnachrichten 44 / 201248

Zwischen Integration und Separation

Im Spätherbst 1961 kamen die erstenGastarbeiter aus der Türkei nach Deutsch-land. Eine Zugfahrt von Istanbul nachStuttgart dauerte in diesen Jahren übereine Woche und kostete drei türkischeMonatslöhne. Es erforderte viel Mut undZuversicht, einen solchen gewagtenSchritt zu unternehmen. Weder die tür-kischen Arbeitskräfte noch die deutscheÖffentlichkeit dachten damals daran,dass damit ein Prozess einsetzte, der zueiner dauerhaften Einwanderung führenwürde. Heute leben im Südwesten 282 000 Menschen mit türkischem Pass.Türkische Wurzeln haben rund 430 000.In Industriestädten wie Heilbronn ma-chen sie rund sieben Prozent der Be-völkerung aus. Die Kinder und Enkel derGastarbeiter aus den 60er- und 70er-Jahre – ob mit türkischem oder deutschenPass – sind inzwischen zu einem festenBestandteil der baden-württembergischenGesellschaft geworden.Spätestens seit den 80er-Jahren warklar: Die Gastarbeiter kehren nicht – wieursprünglich geplant – nach zwei Jahrenin die Türkei zurück, sondern wollenmit ihren Familien in der Bundesrepu-blik Deutschland bleiben. Damit stelltesich die Frage ihrer Integration. Fremdewerden zwangsläufig irgendwann ein-mal Einheimische, diese Entwicklungpositiv zu gestalten, wurde nun zu einervordringlichen gesellschaftspolitischenAufgabe.

Türkische „Gastarbeiterkinder“ in den 1970er-JahrenVerein türkischer Arbeitnehmer in Heilbronn fordert Schulklassen für türkische Gastarbeiterkinder.

Quellen für den Unterricht 43 Ulrich Maier

Vorlage: Stadtarchiv Heilbronn, ZS-39518, „Unter-richt für ausländische Schüler 1964 – 1977“

Archivnachrichten 44 / 2012 49

Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahrebegann man sich zu fragen, wie man mit den ständig zunehmenden Schüler-zahlen aus Gastarbeiterfamilien umge-hen sollte, die ohne Deutschkenntnissein die bestehenden Grund- und Haupt-schulklassen aufgenommen wurden. Derzuständige Heilbronner Schulrat musstedamals gegenüber der Heilbronner Stim-me bekennen: Wir haben keine speziellenLeistungen für Gastarbeiterkinder (Heil-bronner Stimme vom 31.1.1970). Die Situation war für Lehrer, Kinder ausdeutschen Familien und Gastarbeiter-kinder gleichermaßen unbefriedigendund erforderte eine Lösung.In diesem Zusammenhang wurde derkurz zuvor gegründete Verein der tür-kischen Arbeitnehmer in Heilbronn e.V. ineiner bemerkenswerten Eigeninitiativebei der Heilbronner Stadtverwaltungvorstellig und forderte Hilfe bei der Or-ganisation von begleitendem mutter-sprachlichem Unterricht – zuvor war ervom baden-württembergischen Kultus-ministeriums zurückgewiesen worden.Wenig später wurden Vorbereitungsklas-sen für Gastarbeiterkinder eingerichtet,die den Kindern genügend Deutsch-kenntnisse vermitteln sollten, um in re-guläre Klassen aufgenommen werden zu können.Cem Özdemir, Bundesvorsitzender derGrünen, und nach eigenem Bekenntnisanatolischer Schwabe, 1965 in Bad Urachgeboren, erinnert sich an seine Schulzeitin Baden-Württemberg während der70er-Jahre mit gemischten Gefühlen. InDeutsch hatte er bis in die vierte Klassedie Note mangelhaft. Er schaffte trotz-dem den Aufstieg, studierte an der Evan-gelischen Fachhochschule für Sozialwe-sen in Reutlingen Sozialpädagogik undwechselte gleich nach dem Examen zumDiplompädagogen 1994 als Abgeordne-ter von Bündnis 90/Die Grünen in denDeutschen Bundestag.Was für ihn als Angehörigem der zwei-ten Generation noch eher eine Ausnahmewar, ist heute Normalität geworden.Immer mehr Schülerinnen und Schüleraus türkischen Familien beginnen nachdem Erwerb der Hochschulreife eineakademische Ausbildung. Gleichzeitig istin den letzten Jahren aber auch ein zu-nehmender Trend unter türkischstämmi-gen Jugendlichen zu erkennen, sich ab-zukapseln, ihre eigene Identität vermehrtin ihren türkischen Wurzeln zu suchenund einer weiteren Integration kritisch

Gewerkschaften und Vertriebenenver-bände äußerten sich kritisch über solcheNachrichten und das Bundesarbeits-ministerium beeilte sich zu dementieren:Es besteht zunächst nicht die Absicht, ausländische Arbeitnehmer in die Bundes-republik zu holen.2

Die Skepsis war verständlich, denn dieArbeitslosigkeit in Deutschland bewegtesich im Jahre 1954 noch um die 7%. Sie hatte aber im 4. Quartal 1954 bereitsdeutlich abgenommen und betrug einJahr darauf, im September 1955, beiMännern nur noch 1,8%. Gleichzeitigdeutete das starke Wirtschaftswachstumauf einen Arbeitskräftemangel in abseh-barer Zeit hin.3

Die oben zitierte Schlagzeile ist aberauch aus einem anderen Grund auf-schlussreich. Bis in die 70er-Jahre wurdein Deutschland noch der Begriff Fremd-arbeiter verwendet, der in der Zeit desNationalsozialismus für die Zwangsar-beiter in der deutschen Wirtschaft ge-bräuchlich war. Er hatte den Begriff aus-ländische Wanderarbeiter abgelöst, der inder Kaiserzeit verwendet wurde. Der Be-griff Gastarbeiter begann sich parallel zurAuseinandersetzung mit der jüngstendeutschen Geschichte in den 60er-Jahrendurchzusetzen, bis auch er in Frage ge-stellt wurde, nämlich als klar wurde, dassdie überwiegende Zahl der Arbeitsmi-granten in Deutschland bleiben würden.Heute bevorzugt man die BezeichnungPersonen mit Migrationshintergrund. Der Begriff Gastarbeiter wird nur nochin der Forschung verwendet, wenn vonden 70er- und 80-Jahren die Rede ist.Der sprachliche Wandel spiegelt die Ent-wicklung der Einschätzung des Vorgangsder Arbeitsmigration nach Deutschlandund der beginnenden Integration wider.Die Migrationsforschung4 unterscheidetvier Phasen der Migration in die Bun-desrepublik:

1. Die Arbeitsmigration bis 19732. Der verstärkte Familiennachzug nachdem Anwerbestopp 1973

3. Die Phase der faktischen Niederlas-sung seit 1980

4. Die Minderheitenbildung seit Endeder 80er-Jahre.

Der Brief des Vereins der türkischen Ar-beitnehmer Heilbronn kann der 1. Phasezugeordnet werden.

gegenüber zu stehen. Viele von ihnen befinden sich nach eigenem Empfindenin einer Zwangssituation, müssen sie sich doch bis zum Alter von 23 Jahrenfür die deutsche oder die türkische Staats-bürgerschaft entscheiden.Heute unterscheiden sich Kinder undJugendliche der dritten Gastarbeiter-generation von ihren deutschen Mit-schülern in ihren schulischen Leistungenimmer weniger, wie viele Schulleiter,Lehrkräfte und Ausbilder bestätigen. IhreIntegration ist heute eher eine gesamt-gesellschaftliche Aufgabe als eine schuli-sche Herausforderung. Diese Aufgabe erfordert Offenheit und Toleranz vonallen. Ein Blick zurück in die Geschichteder 60er- und 70er-Jahre, als die erstentürkischen Gastarbeiter nach Baden-Württemberg kamen, kann dabei helfen.

Fremdarbeiter – Gast-arbeiter – Mitarbeiter

Als erste Gastarbeiter kamen Italienernach Deutschland. Fremdarbeiter stattRekruten lautete die Schlagzeile einerdeutsche Tageszeitung (HamburgerEcho), die am 10.11.1954 über Verhand-lungen zwischen Bundeswirtschafts-minister Ludwig Erhard und dem italie-nischen Außenminister über die An-werbung von 100 000 bis 200 000 Arbei-tern aus Italien berichtete. Im Zusam-menhang mit dem Aufbau der Bundes-wehr und der beginnenden Rüstungs-produktion sei bald mit einem Arbeits-kräftedefizit zu rechnen.1

Cem Özdemir, Bundesvorsitzender vonBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFoto: Steffen Kugler / Getty Images

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Die schulische Situation der Gastarbeiterkinder: Lehrer sind überfordert – die Ausbildung ist gefährdet[...] Was tut man zum Beispiel, um den Kindern der Gastarbeiter eine ausreichende Schul-bildung zuteil werden zu lassen? Oberschulrat Hoffmann: „Wir haben keine speziellen Leistungen für Gastarbeiter-Kinder.“Im Stadtkreis Heilbronn unterliegen zur Zeit 261 Ausländer-Kinder nach dem Schul-verwaltungsgesetz der Grundschulpflicht. 102 Türken, 65 Italiener, 54 Griechen, 23 Spanier.Dazu kommen noch Portugiesen, Österreicher, Ungarn und Jugoslawen.

Achtklässler ohne DeutschkenntnisseDas Kultusministerium räumt den Schulleitern zwar die Möglichkeit ein, spezielle Aus-länder-Klassen einzurichten. Dazu braucht man aber zumindest 20 Schüler gleicher Natio-nalität und etwa gleichen Alters, Bedingungen, die an keiner Heilbronner Schule erfülltwerden. So behilft man sich mit Mischklassen. Und wenn ein 14-Jähriger Ausländer nachDeutschland kommt, wird er normalerweise eben in die achte Klasse gesteckt, selbst wenn erkein Wort Deutsch versteht. So kommt es, dass an manchen Heilbronner Unterrichtsstätten– gelinde gesagt – etwas prekäre Zustände herrschen.

36 Prozent AusländerDas Musterbeispiel ist die Sontheimer Grundschule. Dort sind in der Klasse 1a von 54 (!)Schülern zehn Ausländer. In der Parallelklasse kommen auf 34 Deutsche nicht weniger als19 Ausländer. Das sind knapp 36 Prozent der Klasse [...].Ein Lehrer, der eine mehr als 50-köpfige Anfängerklasse unterrichten muss und zudem nochgegen Verständigungsschwierigkeiten anzukämpfen hat, ist hoffnungslos überfordert. DerUnterricht leidet zwangsläufig, weil die ausländischen Kinder oft Anweisungen und Aus-führungen nicht verstehen. Und das geht wieder zu Lasten der deutschen Schüler. MancherLehrer sagt unter dem Zwang der Situation: „Ich ziehe eben meinen Stoff durch. Ob diemitkommen oder nicht, darum kann ich mich nicht entscheidend kümmern. Schließlichhabe ich sie nicht geholt!“ [...].

Gastarbeiter lebensnotwendigManche Heilbronner Unternehmen könnten ohne „gastarbeitende“ Ausländer ihre Pfortenschließen. Aber tun sie auch genug, um diesen ein menschenwürdiges Leben zu verschaffen?Eine soziale Leistung könnte zum Beispiel die sprachliche Schulung der von ihnen ins Land geholten Ausländer sein. Gegenargument eines Arbeitgebers: „Aber warum denn? Die machen ja doch nur die Hilfsarbeiten, für die man keine Sprachkenntnisse braucht.“ Es hilft jedenfalls nichts, sich immer hinter irgendwelchen Verordnungen, Erlassen oder Gesetzen zu verschanzen. Die ausländischen Gastarbeiter sind ein wichtiger Bestandteil derdeutschen Wirtschaft und sie müssen deshalb auch zum Bestandteil des sozialen Lebenswerden, nicht nur „notwendiges Übel“. Und Schulpflicht bedeutet nicht zuletzt auch Schul-recht.

Heilbronner Stimme vom 31. Januar 1970. Vorlage: Stadtarchiv Heilbronn, ZS-1398 „Gastarbeiter“

Wer unterrichtet die türkischen Gastarbeiter-kinder in Heilbronn?

Die Kinder der Gastarbeiter wurden zunächst – ohne Rücksicht auf ihre man-gelnden Sprachkenntnisse – in die Regelschulen aufgenommen, was zu pro-blematischen Verhältnissen führte. Soberichtete die Heilbronner Stimme am31.7.1970:

arbeiter schätzten den Wohlstand, dieArbeitsverhältnisse und die sozialen Leis-tungen in Deutschland mehr und mehr.So blieben die türkischen Gastarbeiterimmer länger hier und begannen auchzunehmend, ihre Familien nachzuholen.Das führte zum Abkommen über sozialeSicherheit vom 4.4.1964, wonach die tür-kischen Arbeitnehmer ebenfalls Kinder-geld bezogen und sozialrechtlich mitihren deutschen Kollegen gleichgestelltwurden. Eine mögliche Rückkehr in dieTürkei wurde von vielen nun immerweiter hinausgeschoben.

Türkische Gastarbeiter kommen nach Baden-Würt-temberg

Nach vorausgehenden Anwerbe-Ab-kommen mit Italien (1955), Spanien undGriechenland (1960) folgte am 30.10.1961eine deutsch-türkische Vereinbarungüber die Anwerbung von Arbeitskräften.Die Initiative ging in erster Linie von der Türkei aus, die eine befristete Arbeits-migration nach Deutschland als Maß-nahme gegen die Arbeitslosigkeit im eigenen Land sah. Ein weiterer Vorteilbestand für die Türkei darin, dass drin-gend benötigte Devisen ins Land kamen.Außerdem erhoffte man sich von denRückkehrern mit ihrem in deutschenFirmen erworbenen Know-how einenModernisierungsschub. Die ersten türkischen Gastarbeiter nachdem Anwerbeabkommen kamen im November 1961. Um die Zuwanderungaus der Türkei zu lenken, richtete dieBundesanstalt für Arbeit in Istanbul einedeutsche Verbindungsstelle ein. Hierwurden die türkischen Arbeitskräftenach einer Eignungsprüfung und einermedizinischen Untersuchung für denEinsatz in der deutschen Wirtschaft aus-gewählt. 1961 bis 1973 beantragten deut-sche Unternehmen bei der Bundesanstaltfür Arbeit rund 710 000 Arbeitskräfteaus der Türkei.1968 meldeten die Stuttgarter Nach-richten: Türken werden am meisten ange-fordert. Deshalb sind sie auch am schwer-sten zu haben. Zehn Wochen müssen dieFirmen allein auf Hilfsarbeiter warten.Türkinnen sind dagegen schon eher zu be-kommen, besonders Analphabetinnen 5.Die Frage der Integration in die bun-desrepublikanische Gesellschaft stelltesich beiden Seiten noch nicht. Die türki-schen Gastarbeiter hatten das Ziel, sichmit dem in Deutschland ersparten Geldeine Existenz in der Heimat aufzubauen.Um diese Einstellung zu fördern, warnach dem Anwerbeabkommen die Ar-beitserlaubnis der einzelnen Gastarbeiterursprünglich auf zwei Jahre begrenzt.Damit sollte im Interesse der Bundesre-publik Deutschland und der Türkei einedauerhafte Niederlassung verhindertwerden. Diese Regelung wurde jedochbereits ein Jahr später aufgegeben. Diedeutschen Unternehmen hatten kein Interesse daran, ihre gut eingelernten Arbeitskräfte zu verlieren und die Gast-

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Die Gastarbeiterfamilien empfandendiese Situation als belastend. So bildetensich Initiativen, die einen muttersprach-lichen Unterricht begleitend zum Regel-unterricht forderten. Die Griechenmachten in Heilbronn den Anfang. Seit1967 wurde griechischer Unterricht ander Dammschule Heilbronn von griechi-schen Lehrern erteilt: 25 Kinder ausHeilbronn im Alter von sechs bis drei-zehn Jahren besuchten im Frühjahr 1967an drei Nachmittagen in der Woche ineiner jahrgangsübergreifenden KlasseUnterricht in ihrer Heimatsprache.Drei Jahre später startete der soeben gegründete Verein türkischer Arbeitneh-mer in Heilbronn e.V. eine ähnliche Initiative. Darüber berichtete die Heil-bronner Stimme am 26. Mai 1970:

Der Sprecher des Vereins, Ihsan Sonkaya,wandte sich, nachdem monatelangnichts geschehen war, in einem Brief am31.8.1970 direkt an den Oberbürger-meister von Heilbronn und bat um Hilfebei der Einrichtung türkischer Schul-klassen. Außerdem stellte er weitere Zieleseines Vereines vor: Eröffnung von Kin-derkrippen und Sprachkurse für Erwach-sene. Auch dafür bat er um Unterstützung.Jetzt wurde die Stadt aktiv und wandtesich an das Oberschulamt in Stuttgart.Vier Monate später konnte in Heilbronn-Sontheim eine Vorbereitungsklasse fürtürkische Kinder eröffnet werden. DieKinder wurden von türkischen Lehrernin ihrer Heimatsprache unterrichtet underhielten außerdem noch zehn Stundenwöchentlich Deutschunterricht. In den

folgenden Jahren wurden an fast allenGrund- und Hauptschulen Vorberei-tungsklassen eingerichtet und von deut-schen Lehrern innerhalb des baden-württembergischen Schulwesens unter-richtet. Sobald als möglich sollten dieSchüler dann in die deutschen Regel-klassen aufgenommen werden. Danebenkonnte, auf privater Basis, nachmittagsmuttersprachlicher Unterricht angebo-ten werden.

Verwendung der Quelle im Unterricht

Wer kümmert sich um die Gastarbeiter-kinder? Diese Frage bündelt die Problemevon Gastarbeiterfamilien der ersten Ge-neration und schneidet auch das ThemaIntegration an. In der deutschen Öffent-lichkeit wurde der muttersprachlicheUnterricht noch lange kontrovers disku-tiert und teilweise eher als Integrations-hindernis betrachtet.Von der konkreten Frage ausgehend erschließen sich den Schülerinnen undSchülern zahlreiche Detailaspekte. Siekönnen aus der Quelle herausarbeiten,welche Ziele aus Gastarbeiterperspektive1970 als vordringlich angesehen wurden:vorschulische Kinderbetreuung, Lösungder unbefriedigenden Schulsituationund Vermittlung von Deutschkenntnis-sen. Dabei werden auch die sozialpoliti-schen Defizite baden-württembergischerInstitutionen deutlich.Methodisch reizvoll wäre auch ein ge-staltpädagogischer Ansatz: Schreibe ausder Perspektive des Oberbürgermeisterseinen Antwortbrief! Ein Vergleich derSchülerarbeiten wird reichhaltigen Dis-kussionsstoff geben.Vom Brief des türkischen Arbeitneh-mervereins an den Oberbürgermeisterder Stadt Heilbronn ausgehend kannweiter danach gefragt werden, wie es zuder Entwicklung vom anfangs zeitlichbefristeten Einsatz vorwiegend alleinste-hender ausländischer Arbeitskräfte zuFamiliengründung bzw. Familienzusam-menführung mit zeitlich unbefristeterAufenthaltsperspektive kam. In einemVergleich mit heute können die Ent-wicklung der Integration untersucht,Defizite festgestellt und Lösungen dis-kutiert werden.Die Quelle kann auch Anlass dafürsein, im Bekannten- oder Verwandten-kreis nachzufragen und die Erinnerung

Heilbronner Stimme, 26. Mai 1970. Vorlage: Stadtarchiv Heilbronn ZS-6498 „Türkischer Arbeitnehmerverein Heilbronn“

1 | Gastarbeiterunterkunft Ende der Sechziger JahreVorlage: Stadtarchiv Karlsruhe, 8/BA Schlesiger A8a/15/3/2

2 | Gastarbeiterunterkunft Heilbronn 1970Foto: Heilbronner Stimme

von Zeitzeugen an ihre ersten Jahre inHeilbronn bzw. in anderen Städten desLandes in den Unterricht einzubeziehen.Aufgrund der leichten Lesbarkeit undder guten Verständlichkeit kann dieQuelle in allen Schularten und Klassen-stufen eingesetzt werden, wenn dasThema Gastarbeiter behandelt wird. Sielässt sich auch mit einem Besuch desStadtarchivs Heilbronn verbinden. In der Zeitgeschichtlichen Sammlung findenLehrer und Schüler zahlreiche Parallel-texte, vor allem Zeitungsartikel aus derOrtspresse (Heilbronner Stimme, Heil-bronnjournal oder Neckarecho). Die Archivare sind bei der Vorbereitung einesArchivbesuchs gerne behilflich.

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Literatur

Stadtarchiv Heilbronn, Zeitgeschicht-liche Sammlung, „Gastarbeiter“.

Ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger in Heilbronn, Geschichte, Vereine, Fakten. Redaktion: ChristianBritzke und Manfred Urban. Heraus-gegeben von der Stadt Heilbronn. Heilbronn 1997.

Deutsche im Ausland, Fremde inDeutschland. Migration in Geschichteund Gegenwart. Herausgegeben vonKlaus J. Bade. München 1992.

Hermann Bausinger: Lauter Ausländer... Die südwestdeutsche Kultur als Im-porterzeugnis. In: Baden-Württemberg.Eine politische Landeskunde II. Heraus-gegeben von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg(Schriften zur politischen LandeskundeBaden-Württembergs 18). Stuttgart1991.

Svenja Falk: Dimensionen kurdischerEthnizität und Politisierung. Eine Fall-studie ethnischer Gruppenbildung in derBundesrepublik Deutschland. Baden-Baden 1998.

Ulrich Herbert: Geschichte der Aus-länderpolitik in Deutschland. Saison-arbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter,Flüchtlinge. München 2001.

Ulrich Maier: Siedlungsgeschichte desUnterlandes. Von der Steinzeit bis heute.Heilbronn 1997.

Ulrich Maier: „Fremd bin ich eingezo-gen...“. Zuwanderung und Auswande-rung in Baden-Württemberg. Gerlingen2002.

Karl-Heinz Meier-Braun und Rein-hold Weber: Kleine Geschichte der Ein-und Auswanderung in Baden-Württem-berg. Leinfelden-Echterdingen 2009.

Günther Seitter u.a.: Türken bei uns.Politik und Unterricht 2/2000.

3 | Gastarbeitertreff vor den Kinos auf der Heilbron-ner Allee, 1970Foto: Heilbronner Stimme

4 | Gastarbeiter auf dem Heilbronner HauptbahnhofFoto: Heilbronner Stimme

Anmerkungen

1 Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpoli-tik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter,Gastarbeiter, Flüchtlinge. München 2001, S. 202).2 Erklärung des Bundesarbeitsministers, zitiertnach Vereinigter Wirtschaftsdienst (VWD)29.11.1954.3 Herbert, S. 202.4 Vgl. Svenja Falk: Dimensionen kurdischer Eth-nizität und Politisierung. Eine Fallstudie ethnischerGruppenbildung in der Bundesrepublik Deutsch-land. Baden-Baden 1998, S.149 ff.5 Zitiert nach Karl-Heinz Meier-Braun undReinhold Weber: Kleine Geschichte der Ein- undAuswanderung in Baden-Württemberg. Leinfelden-Echterdingen 2009, S. 132 f.

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