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trend Dokumentation zum Wirtschaftstag 2006

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trend Dokumentation Wirtschaftstag 01.06.2006
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7 II/2006 t r end W olfgang Schüssel betonte, Ludwig Erhard sei „eine ganz besondere Ge- stalt“ der europäischen Wirtschafts- geschichte: „Erhard war ein Europäer der aller- ersten Stunde, der eine federführende Rolle nicht nur für Deutschland, sondern für die eu- ropäische Integration gespielt hat“, sagte der Bundeskanzler Österreichs. „Er war ein Vor- und Nachdenker.“ Das Wirken Erhards sei bis heute spürbar. Heute jedoch gehe eine Angst um in Europa. „Die Angst vor Reformen.“ Die sei nicht nur in Deutschland so, auch in Frankreich und Italien habe die Bevölkerung Angst vor der Modernisie- rung des Sozialstaats. Auch in den Staaten Mit- tel- und Osteuropas begönnen inzwischen ganz ähnliche Diskussionen wie in den Ländern West- europas. „Es ist nirgendwo einfach, Reformen umzusetzen und eine mutige Reformagenda durchzuhalten“, betonte Schüssel. Globalisie- rung werde als eine Bedrohung empfunden. „Es ist schon eigentümlich, dass in einem Land wie Deutschland, das Exportweltmeister ist, Globa- lisierung als Unwort gilt“, kritisierte Schüssel. Wenn man aber in die Tiefe ginge, stelle man fest, dass Wählerinnen und Wähler immer zwei Grundströmungen hätten, sagte Schüssel. Die ei- ne sei das Streben nach Sicherheit und Stabilität. Die andere sei jedoch die Sehnsucht nach dem Neuen, nach dem Wandel – und damit nach Re- formen. Schüssel sagte, es gebe weltweit kaum sicherere und stabilere Gesellschaftsmodelle als die der Deutschen und Österreicher. „Aber wie sind wir da hingelangt? Nicht durch Reformver- weigerung, sondern durch ständige Verände- rungen, Innovationen, Erfindungen, durch die Suche nach dem Neuen, nach dem jeweiligen Be- sten“, sagte Schüssel. „Was aber gestern richtig war, ist heute und morgen eben nicht mehr ge- nug.“ Erneuerung sei der entscheidende Motor, auf den sich die Gesellschaften Europas wieder konzentrieren müssten. Schüssel erinnerte in Reformerfolg Österreich – Perspektiven für Europa Wolfgang Schüssel, Bundeskanzler der Republik Österreich und Präsident des Europäischen Rates Perspektiven
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7II/2006 trend

Wolfgang Schüssel betonte, LudwigErhard sei „eine ganz besondere Ge-stalt“ der europäischen Wirtschafts-

geschichte: „Erhard war ein Europäer der aller-ersten Stunde, der eine federführende Rollenicht nur für Deutschland, sondern für die eu-ropäische Integration gespielt hat“, sagte derBundeskanzler Österreichs. „Er war ein Vor-und Nachdenker.“ Das Wirken Erhards sei bisheute spürbar.

Heute jedoch gehe eine Angst um in Europa.„Die Angst vor Reformen.“ Die sei nicht nur inDeutschland so, auch in Frankreich und Italienhabe die Bevölkerung Angst vor der Modernisie-rung des Sozialstaats. Auch in den Staaten Mit-tel- und Osteuropas begönnen inzwischen ganzähnliche Diskussionen wie in den Ländern West-europas. „Es ist nirgendwo einfach, Reformenumzusetzen und eine mutige Reformagendadurchzuhalten“, betonte Schüssel. Globalisie-rung werde als eine Bedrohung empfunden. „Es

ist schon eigentümlich, dass in einem Land wieDeutschland, das Exportweltmeister ist, Globa-lisierung als Unwort gilt“, kritisierte Schüssel.

Wenn man aber in die Tiefe ginge, stelle manfest, dass Wählerinnen und Wähler immer zweiGrundströmungen hätten, sagte Schüssel. Die ei-ne sei das Streben nach Sicherheit und Stabilität.Die andere sei jedoch die Sehnsucht nach demNeuen, nach dem Wandel – und damit nach Re-formen. Schüssel sagte, es gebe weltweit kaumsicherere und stabilere Gesellschaftsmodelle alsdie der Deutschen und Österreicher. „Aber wiesind wir da hingelangt? Nicht durch Reformver-weigerung, sondern durch ständige Verände-rungen, Innovationen, Erfindungen, durch dieSuche nach dem Neuen, nach dem jeweiligen Be-sten“, sagte Schüssel. „Was aber gestern richtigwar, ist heute und morgen eben nicht mehr ge-nug.“ Erneuerung sei der entscheidende Motor,auf den sich die Gesellschaften Europas wiederkonzentrieren müssten. Schüssel erinnerte in

Reformerfolg Österreich –Perspektiven für EuropaWolfgang Schüssel,Bundeskanzler der Republik Österreich und Präsident des Europäischen Rates

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diesem Zusammenhang an Friedrich August vonHayek, der den Wettbewerb als Entdeckungs -verfahren begriff, weil er Lösungen hervorbringt,die ex ante niemand kennen kann.

Mit Blick auf die Politik der Bundesregierung inDeutschland erklärte Schüssel, in Österreichhabe es durchaus Phasen gegeben, in denendie große Koalition gut funktioniert habe. „Ichhabe aber auch Phasen erlebt, wo sie über-haupt nicht funktioniert hat“, sagte der öster-reichische Bundeskanzler. Die Bedingung fürdas Funktionieren einer großen Koalition seidie Übereinstimmung bei einem großen Pro-jekt. „Das ist ein wichtiger Punkt. Wenn es das

nicht gibt, dann ist auch die Bindung für einegroße Koalition zu wenig gegeben.“ Für diegroße Koalition in Österreich sei dieses großeProjekt der Beitritt zur Europäischen Unionzwischen Ende der achtziger und Mitte derneunziger Jahre gewesen. „Dieses Projekt warfür uns lebens-, ja überlebenswichtig. Wir hät-ten sonst diesen enormen Quantensprung niegeschafft“, sagte Schüssel.

Die Erfolge der österreichischen Regierung seit2000 auf dem Gebiet wirtschaftspolitischerReformen seien ohne die Vorarbeit der großenKoalition in den Jahren zuvor kaum möglichgewesen. Die Internationalisierung der öster-reichischen Wirtschaft und das Aufbrechenverkrusteter Strukturen seien nur durch denEU-Beitritt Österreichs zustande gebracht wor-den. „Diese Phase der großen Koalition will ichnicht missen“, sagte Schüssel. Gerade Deutsch-land könne zu Beginn des 21. Jahrhunderts einsolches großes Projekt der Umstrukturierungund des Neubeginns vertragen. „Nur bedarf esnatürlich der Bereitschaft, auf ein solches The-ma einzugehen“, sagte Schüssel.

Der Bundeskanzler erklärte allerdings auch,dass es Phasen der großen Koalition in Öster-reich gegeben habe, in denen es das große Pro-jekt nicht mehr gegeben habe und die Bindungder Koalition verloren gegangen sei. „Aus-gangspunkt war die Rentenreform und dieErhöhung der Lohnzusatzkosten wegen dergestiegenen Gesundheitskosten in den Jahrenvor 1999“, sagte Schüssel. „Das ist ja auch fürDeutschland interessant zu sehen, warum die-ser Kitt der großen Koalition gebröckelt ist.“Österreich habe damals deutlich erkannt, dasses eines flexibleren Arbeitsmarkts bedürfte.„Wir haben heute ein Kündigungsschutzrecht,dass den Betrieben weit gehende Freiheit, aberden Arbeitnehmern auch individuellen Sozial-schutz bietet.“

Die Vermittlungsdauer für Stellensuchende seidurch verschiedene Maßnahmen im Bereichder staatlichen Arbeitsvermittlung auf durch-schnittlich 100 Tage reduziert worden. InDeutschland liege der Vergleichswert weit hö-her, sagte Schüssel. Zudem habe sich die öster-reichische Regierung entschlossen, für einePortabilität der Betriebsrenten zu sorgen. Dieshabe die Mobilität der Arbeitnehmer zwischenden Betrieben deutlich erhöht. Österreich habeferner das Renteneintrittsalter heraufgesetzt.„Das hat natürlich massive Auswirkungen

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Wirtschaftsrat ehrtEU-Ratspräsident Wolfgang Schüssel

Gedenkmünze Ludwig Erhard in Gold für Österreichs Kanzler„Österreich und Deutschland sind gute Nachbarn, wichtige Handelspartnerund enge Verbündete in Europa. Mit Bundeskanzler Schüssel steht ein weitüber seine Landesgrenzen hinaus respektierter Staatsmann an der Spitze derRegierung in Österreich. Seine Regierung hat mutige Schritte unternommen,um Österreich zukunftsfest zu machen durch die Konsolidierung des Staats-haushaltes in nur vier Jahren, Anhebung des Renteneintrittsalters und Stär-kung der Privatvorsorge, durch drastische Vereinfachung des Steuersystemsbei einer Nettoentlastung von drei Milliarden €, durch beherzte Privati sierungder Staatsbetriebe, durch Schaffung von mehr Autonomie für Univer sitätenund durch eine Hochschulreform mit Beendigung der Verbeamtung derProfessoren.“

Dies erklärte der Präsident des Wirtschaftsrates, Prof. Dr. Kurt J. Lauk, bei derEhrung des EU-Ratspräsidenten, Österreichs Bundeskanzler Wolfgang Schüs-sel, während des Wirtschaftstages 2006. Schüssel erhielt die „GedenkmünzeLudwig Erhard in Gold“ für seine hervorragenden Verdienste um die SozialeMarktwirtschaft in Österreich und Europa. Lauk weiter: „Österreich schlägtDeutschland derzeit in mehreren Disziplinen: Ob Beschäftigung, Wachstum,Investitionen oder Staatsfinanzen – Österreich liegt vorne!“ Schüssel gebe alsPräsident des Europäischen Rates Orientierung: „Er ist ein Glücksfall für Öster-reich und für Europa.“

Nach Altbundeskanzler Helmut Kohl und dem ehemaligen französischenMinisterpräsidenten Pierre Raffarin ist Wolfgang Schüssel der dritte Trägerdieser höchsten Auszeichnung des Wirtschaftsrates.

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gehabt“, sagte Schüssel. Der Bundeskanzlererinnerte an die großen Demonstrationen, diees in Österreich gegen die Politik seiner Regie-rung gegeben habe. Inzwischen sei Österreichjedoch das einzige Land in der EU, bei dem derAnteil der Pensionszahlungen am Brutto -inlandsprodukt (BIP) leicht sinke. „Also: es zahltsich aus. Es ist schwierig, aber mit einer ge -wissen Beharrlichkeit und Gelassenheit imUmgang lassen sich Reformen umsetzen“, sag-te Schüssel.

Gleiches gelte für die Steuerreform, die Öster-reich auf den Weg gebracht habe. Bereits diegroße Koalition habe die Gewerbesteuer abge-schafft. Seit Januar 2005 sei die Körperschafts-steuer für die Unternehmen massiv von 35 auf25 Prozent gesenkt worden. Dies sei für dieSicherung des Standorts von entscheidenderBedeutung gewesen, betonte Schüssel. Zahl -reiche Unternehmenszentralen hätten sich inÖsterreich angesiedelt, zudem sprudelten dieSteuereinahmen bereits ein Jahr nach dem In-krafttreten der Reform kräftig. „Das zeigt: esfunktioniert. Man muss sich nur trauen“, sagteSchüssel.

Österreich bietet damit nach den WortenSchüssels gutes Anschauungsmaterial für eineUnternehmensteuerreform in Deutschland.Sinkende Steuersätze könnten durch dasAnkurbeln der Wirtschaft und der Investitions-tätigkeit für steigende Steuereinnahmen sor-gen. „Mut, nicht Kleinmut ist erforderlich.“ Dieshabe im Übrigen auch Ludwig Erhard mit sei-nen Entscheidungen bewiesen.

Schüssel erklärte, Österreich habe bei der Privati -sierung von früheren Staatsbetrieben erheb -liche Fortschritte vorzuweisen. Die Schwerin -dust rie in Ost-Österreich sei früher nicht ausideologischer Motivation heraus verstaatlichtworden, sondern um sie vor dem Zugriff derSowjets zu schützen. Nach einer Krise der Stahl-industrie in den achtziger Jahren habe man dieBe triebe jedoch schrittweise reprivatisierenmüssen. Dies habe bereits in der Regierungszeitder großen Koalition begonnen, sei aber nach2000 noch konsequenter fortgesetzt worden.Die staatlichen Konzerne hatten nach den Wor-ten Schüssels im Jahr 2000 rund sechs Milliar-den € Schulden angehäuft. Dem Schuldenberggegenüber gestanden habe ein Wert der staat -lichen Beteiligungen von nur 5,5 Milliarden €.„Daraufhin haben wir sehr marktnah agiert. Wirhaben die Aufsichtsräte völlig entpolitisiert und

uns die besten Manager geholt. Heute, fünf Jah-re später, sind die Konzerne schuldenfrei und derRestwert der Minderheitsbeteiligungen beträgtneun Milliarden €.“ Allerdings habe die Regie-rung Österreichs nicht nur gespart und Schul-den zurückgezahlt, sondern auch in die Infra-struktur investiert. „Wir investieren heute dop-pelt so viel in Schiene und Straße wie vor demJahr 2000.“ Im Bereich der Autobahnfinanzie-rung komme Österreich durch die Umstellungauf ein Mautsystem für LKW und PKW in -zwischen ohne einen einzigen Steuereuro aus,betonte Schüssel. „Das ist ein interessantes Mo-dell, denn die Bürger bekommen mit einer dermodernsten Infrastrukturen Europas eine Ge-genleistung.“ Ferner seien auch die Forschungs-ausgaben in der Alpenrepublik verdoppelt wor-den. „Gerechtigkeit ist wichtig, keine Frage“, sag-te Schüssel. „Wer aber beginnt, wirtschaftlichenFortschritt und soziale Gerechtigkeit gegenein-ander auszuspielen, der ist auf dem Holzweg.Beides funktioniert nur Hand in Hand.“

Der amtierende europäische Ratspräsident be-tonte, wie wichtig es sei, die Lissabon-Strategieder Europäischen Union voranzutreiben. Es seidarum richtig, dass der deutsche Bundeswirt-schaftsminister Michael Glos von Bundeskanz-lerin Angela Merkel als zentraler Koordinatorauf diesem Gebiet eingesetzt worden sei. „Wirbrauchen eine sichtbare Person, die den Prozessvorantreibt“, sagte Schüssel. Es dürfe nicht sein,dass ein solches wichtiges Vorhaben unsichtbarim Beamtenapparat vonstatten gehe. In diesemZusammenhang wies Schüssel auf die Fort-schritte bei den jahrelangen Verhandlungenum die umstrittene EU-Dienstleistungsrichtli-nie hin. Zwar bliebe das erzielte Ergebnis hinterdem Wünschbaren zurück. Jedoch sei es besser,auf einem richtigen Weg kleine Fortschritte zuerzielen als gar keine. In wenigen Jahren werdedie Diskussion um eine weit reichende Liberali-sierung der Dienstleistungsmärkte ohnehinwieder aufgegriffen, prophezeite Schüssel.

Abschließend verwies der BundeskanzlerÖsterreichs auf die zahlreichen positiven Re-formbeispiele in Europa. Großbritannien, dieskandinavischen Länder und auch Österreichhätten sich aus Krisen herausgearbeitet. Daskönne auch Deutschland gelingen. „Sie habenein riesiges Potenzial!“, sagte Schüssel. �

Aus Rede Wirtschaftstag 2006

„Österreich bietet gutes Anschauungsmaterialfür eine Unternehmensteuerreform in Deutschland.“

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Die Bundeskanzlerin betonte, Deutsch-land müsse aus eigener Kraft herauswieder eine dynamische Volkswirt-

schaft werden. „Deutschland hat eine Verant-wortung für Europa“, betonte Angela Merkel.„Wenn Europa das Lissabon-Ziel erreichen will,der dynamischste Kontinent der Welt zu wer-den, dann geht das nicht ohne ein dynamischesDeutschland.“

Merkel sagte, der Respekt der Bundesregierunggelte gegenüber allen Wählergruppen. „Ausmeiner Sicht ist vor dem Hintergrund desWahlergebnisses die große Koalition die Kon-stellation, die am besten und am zuverlässig-sten umsetzen kann, was uns das Wahlergeb-nis mit auf den Weg gegeben hat.“ Merkel sag-te, sie sehe ihre Aufgabe darin, die Chancen der

Großen Koalition voll auszunutzen und „denWillen des Wählers so zu nutzen, dass dabei fürDeutschland etwas Gutes herauskommt“. Re-formen könne man indes nur umsetzen, wennauch ein großer Teil der Bevölkerung davonüberzeugt sei.

Die Überzeugung, dass Reformen zu einer Ver-besserung der Lage führten, sei in Deutschlandjedoch noch nicht so stark ausgeprägt wie daszu wünschen wäre. „Die Menschen sind überviele Jahre – im Übrigen länger als Rot-Grünregiert hat – an einen Kreislauf gewöhnt wor-den, der mit Versprechungen begann, die rela-tiv häufig nicht erfüllt wurden.“ Die Unsicher-heit hinsichtlich der Gestaltungsfähigkeit derPolitik sei im Zuge dessen bei den Menschenimmer größer geworden. „An vielen Stellen

Deutschland fit machen –Regierungs programm fürden WiederaufstiegDr. Angela Merkel MdB,Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland

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wurden Erwartungen enttäuscht – und wirmüssen Sorge haben, dass am Ende nur nochEnttäuschungen erwartet werden.“ Aus die-sem Kreislauf müsse sich die Politik befreien.„Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir zu einerPolitik kommen, bei der wir den Bürgern sagen,was die Realität ist.“ Dazu gehöre die Aufstel-lung eines Bundeshaushalts, bei dem sich nichtam Ende eines Jahres die am Anfang des Jahresaufgestellten Haushaltsansätze regelmäßig alsMakulatur herausstellten. „Deshalb haben wiruns zu einer ehrlichen Haushaltspolitik ent-schieden“, sagte Merkel.

Die Bundeskanzlerin verwies in diesem Zusam-menhang auf die ungünstige Struktur der Bun-desausgaben. Durch die hohen konsumtivenAusgaben und den hohen Anteil für die Bedie-nung der Schulden sei der Spielraum für Zu-kunftsinvestitionen bescheiden. Die Bundesre-gierung stehe vor der Herausforderung, nebendem Europäischen Stabilitäts- und Wachs-tumspakt vor allem auch die Verschuldungs-grenze des Artikels 115 Grundgesetz wieder ein-zuhalten, wonach die Neuverschuldung nichthöher als die Investitionen sein dürfen. Dies seischwieriger als die Einhaltung des Stabilitäts-pakts, erläuterte Merkel. Aus diesem Grundesei die avisierte Mehrwertsteuererhöhung un-umgänglich. „Was leider in der öffentlichenDiskussion zu kurz kommt, ist, dass wir gleich-zeitig die Lohnzusatzkosten um netto 1,6 Pro-zentpunkte senken werden“, sagte Merkel. „Dasist etwas, das für die Arbeitgeber und Arbeit-nehmer nicht ohne Bedeutung ist.“

Merkel erklärte, die zweite wichtige wirt-schaftspolitische Säule der großen Koalition seidie Förderung des Wirtschaftswachstums. Ausdiesem Grunde habe die Bundesregierung einInvestitionsprogramm für die gesamte Legisla-turperiode beschlossen. Damit sollten Akzentegesetzt werden. „Wenn wir die Politik von Rot-Grün damit vergleichen, was wir da gemachthaben, dann wird an mehreren Stellen eingrundsätzlicher Mentalitätswechsel sichtbar.“Die Bundesregierung gebe in der laufenden Le-gislaturperiode sechs Milliarden € mehr ausfür Forschung und Entwicklung. Dies sei derBeitrag, den die öffentliche Hand auf Bundes-ebene leisten müsse, um bis 2010 drei Prozentdes Bruttoinlandsprodukts für Forschung undEntwicklung auszugeben. „Wenn Deutschlanddas nicht schafft, werden wir international beiInnovationen und neuen Produkten nicht wett-bewerbsfähig bleiben“, betonte die Regie-

rungschefin. Merkel erklärte in diesem Zusam-menhang die Notwendigkeit des Innovations-rates, den die Bundesregierung sich beratendzur Seite gestellt habe. Dieser sei erforderlich,um die nötige Expertise bereitzustellen.

Merkel betonte, ein weiterer wichtiger Menta-litätswandel der Großen Koalition im Vergleichzur Vorgängerregierung betreffe die Behand-lung privater Haushalte als Arbeitgeber durchentsprechende steuerliche Regelungen. „MeineVision ist, Privathaushalte eines Tages so zu be-handeln wie einen normalen Arbeitgeber. Dasheißt, dass Dienstleistungsjobs in Privathaus-halten entstehen können – egal ob für Kinder-betreuung oder Gartenarbeit.“ Sie erinnerte andie jahrelange Debatte um das so genannteDienstmädchenprivileg. „Davon sind wir weg.Wir fördern jetzt Stellen im Privathaushaltsteuerlich, aber das muss noch ausgebaut wer-den.“

Die Große Koalition investiere zudem mehrGeld in die Verkehrsinfrastruktur und habePublic Private Partnership (PPP) vorangetrie-ben. „Wir haben Maßnahmen ergriffen, dieDeutschland wieder besser zu einem mobilenLand machen.“

Außerdem habe die Bundesregierung insbe-sondere durch die vorteilhaften Abschrei-bungsbedingungen bis zur Umsetzung einergroßen Unternehmensteuerreform 2008 einFörderpaket für den Mittelstand auf den Weggebracht. Merkel verwies ferner auf den Be-schluss, einen Normenkontrollrat einzurichten,mit dessen Hilfe die Bürokratiekosten quantifi-ziert und reduziert werden sollen. „Bürokratie-abbau wird von uns allen ja immer wieder ge-nannt, aber die Bürokratiekosten waren bis-lang nie messbar, nie quantifizierbar – deshalbhalte ich diesen Schritt für außerordentlichwichtig.“ Merkel verteidigte die Beschlüsse derBundesregierung zum Anti-Diskriminierungs-gesetz. Die alte Bundesregierung habe in Brüs-sel bei der Richtlinie Fakten geschaffen, an de-nen sie im Nachhinein nicht mehr vorbei ge-kommen sei. Merkel sagte, die nun gefundeneRegelung entspreche nicht ihren Wunschvor-stellungen, sie habe jedoch überwiegend sym-bolischen Wert. „Wenn ich mir die Breite derAufgaben in Deutschland anschaue, dannhängt daran nicht das Schicksal der Bundes -republik“, betonte Merkel.

„Meine Vision ist, Privathaushalte eines Tagesso zu behandeln wie einen normalen Arbeitgeber.“

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Wichtiger für die Koalition sei es zum Beispiel,Anreize für Arbeit zu schaffen. Die Hartz-IV-Ge-setzgebung sei bereits reformiert worden, umden Druck auf Arbeitsunwillige zu erhöhen.„Wir haben ein Gesetz beschlossen, welchesimmerhin sicherstellt, dass Menschen, die einArbeitsangebot bekommen und dies mehr-mals ausschlagen, zum Schluss überhaupt kei-ne Leistung mehr bekommen – und wenn sie esein- oder zweimal ausschlagen, deutlicheLeistungskürzungen zu erwarten haben.“ Diessei absolut notwendig. Zudem würden durchdie Überführung der Ich-AG und des Über -brückungsgeldes in ein neues Existenzförder-instrument bis zu eine Milliarde € pro Jahr ge-spart. Merkel machte jedoch auch deutlich,dass dies noch nicht ausreiche. „Wir werdeneine weitere grundlegende Überholung brau-chen.“ Die Grundidee von Hartz IV ist nach denWorten Merkels jedoch weiterhin richtig. DieUnion habe sich seit jeher für eine Zusammen-legung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zueinem Förderinstrument ausgesprochen. „Daswar eine alte Unionsforderung.“ Man habe im-mer gewusst, dass das Gesetz, dem die Unionim Bundesrat zugestimmt habe, einige Unzu-länglichkeiten habe. „Aber an der grundsätz -lichen Idee, Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu-sammenzulegen, zweifele ich auch heute nicht– sie ist und bleibt richtig.“

Merkel kritisierte die Kompetenzprobleme inden Jobcentern, die sich aus der gemeinsamenZuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit(BA) und der Kommunen ergäben. Jedochzweifle sie daran, dass es vernünftig sei, die Zu-

ständigkeit allein auf die Kommunen zu über-tragen. „Bei allen Respekt vor den Kommunen:Sie haben nicht unbedingt die Fähigkeit, je-manden von der Uckermark nach München zuvermitteln. Wir brauchen hier eine Verzah-nung, aber die Funktionsfähigkeit muss fraglosnoch einmal überdacht werden.“ Darüber wer-de die große Koalition im Herbst sprechen.Ebenso müsse darüber gesprochen werden, „obdie Leistungen, die man über Hartz IV erhält,ausreichend Anreize zur Arbeitsaufnahme ge-ben.“ Jeder habe die Pflicht, im Rahmen seinerMöglichkeiten mit eigener Arbeit selbst fürsein Auskommen zu sorgen, unterstrich dieBundeskanzlerin. „Und wir müssen auchsicherstellen, dass diese alte Regel gilt: Wennjemand arbeitet, muss er mehr bekommen, alswenn er nicht arbeitet.“

Merkel erklärte in diesem Zusammenhang,dass die Bundesregierung im Herbst ein Ge-samtkonzept für den Niedriglohnsektor vorle-gen werde. Dann müsse man sich indes auchgenau anschauen, inwieweit es möglich sei,Arbeit zu subventionieren und einen Kom -bilohn einzuführen. „Wir müssen dafür sorgen,dass der Slogan ,Fördern und Fordern‘ wirklichwahr wird“, umschrieb Merkel das Grundprin-zip. Gegenwärtig werde an einigen Stellennicht genug gefordert, an anderen wiederumwürden die Arbeitsuchenden nicht hinrei-chend gefördert. „Das Hauptanliegen heißt,sich nicht in Hartz IV einzurichten, sondern ausHartz IV wieder herauszukommen in richtigeArbeit“. Merkel gestand indes zu, dass es in derGroßen Koalition sehr schwierig sei, die arbeits-rechtliche Programmatik der Union etwa hin-sichtlich betrieblicher Bündnisse für Arbeitdurchzusetzen.

Die Bundeskanzlerin erklärte, für Erfolge aufdem Arbeitsmarkt bedürfe es neben den ge-nannten Maßnahmen einer Senkung der Lohn-zusatzkosten und einer stärkeren Entkoppe-lung der Sozialversicherungsbeiträge von denArbeitskosten. „Wir haben uns vorgenommen,die Lohnzusatzkosten auf unter 40 Prozent derBruttolöhne zu senken“, sagte Merkel. „Das ist,wenn Sie sich die Lage der sozialen Sicherungs-systeme anschauen, ein ehrgeiziges Ziel.“ DieBundeskanzlerin erklärte, die Anhebung desgesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahresei ein wichtiger Reformschritt, der in anderenpolitischen Konstellationen als der Großen Ko-alition weitaus schwieriger umzusetzen gewe-sen wäre. 20 Millionen Rentnern seien indes

„Wenn jemand arbeitet, muss er mehr bekommen,als wenn er nicht arbeitet.“

Stärkung der Wettbewerbsfähigkeithat Priorität

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keine Kürzungen zuzumuten gewesen. „Ichweiß, dass 80 Milliarden € aus dem Bundes-haushalt in die Rentenkasse fließen – ich weißaber auch, was weitere Nullrunden für 20 Mil-lionen Rentner bedeuten.“

Die Bundeskanzlerin erklärte, das Hauptaugen-merk der anstehenden Gesundheitsreformmüsse auf einer Strukturveränderung liegen.„Diese Strukturveränderung muss mehr Wett-bewerb und mehr Transparenz in das Systembringen und nach meiner festen Überzeugungden Versicherten zu einem mündigen Subjektin diesem System machen.“ Dies sei in der gro-ßen Koalition eine schwierig umzusetzendeAufgabe. „Wir brauchen eine Gebührenord-nung für Ärzte und wir brauchen Transparenzim stationären Bereich – und dann werden wirin Deutschland erstmals in der Lage sein, Preisezu vergleichen und entscheiden können, wowas am besten gemacht wird.“ Dies sei in dergegenwärtigen budgetierten Struktur nichtmöglich. „Das sind Zustände, bei denen wirGeld verschwenden, die müssen beendet wer-den“, sagte Merkel. Die Bundeskanzlerin mach-te sich zudem für „vernünftige“ Preisstrukturenim Arzneimittelbereich stark. „Wenn ich sagevernünftig, dann heißt das, dass man vor allemfür die forschende Pharmaindustrie die Preisenicht beliebig deckeln kann, weil es dann keinePharmaforschung mehr gibt.“ Die Bundesrepu-blik habe „ein hohes Interesse“ daran, die for-schende pharmazeutische Industrie im Land zuhalten und nach Möglichkeit weiter auszubau-en. Merkel sagte, dass das Gesundheitswesentrotz aller Strukturreformen langfristig nichtbilliger werde. In einer Gesellschaft, die medi -zinisch mehr leisten könne und in der die Men-schen älter werden, werde das Gesundheits -system mehr kosten, insbesondere dann, wennes als Wachstumsmarkt ausgestaltet werde.„Wir dürfen jedoch nicht alle Mehr kosten denKranken auflasten“, warnte Merkel. „Unter denschrittweise steigenden Kosten werden auchsolidarische Beiträge sein.“

Wenn die Bundesregierung sicherstellen wolle,dass die Menschen in Deutschland den Weg derReformen weiter mitgingen, dann gehe es beider Reform des Gesundheitswesens um einender sensibelsten Bereiche überhaupt. „Wennman heute mit älteren Menschen spricht undsagt, wir wollen keinen Weg in die Zweiklassen-medizin, dann müssen Sie als Politikerin auf-passen, dass Sie nicht ausgelacht werden. DieMenschen empfinden, dass es in unserem Land

schon an vielen Stellen in diese Richtung geht.“Merkel sagte, sie wolle nicht, dass es soweitkomme. „Und deshalb halte ich die Reform desGesundheitswesens für eine der anspruchs-vollsten Reformen, die wir zu bewerkstelligenhaben.“

Merkel kündigte an, die Bundesregierung wer-de in den kommenden Monaten Eckpunkte füreine Unternehmensteuerreform und eine Re -form der Erbschaftssteuer vorlegen. „Wir wol-len erreichen, dass die, die ihr Geld min destenszehn Jahre lang im Unternehmen lassen, amEnde keine Erbschaftssteuer mehr zu zahlenhaben.“ Dies sei ein wichtiges Signal an die Mit-telständler und werde im Januar 2007 umge-setzt.

Die Bundeskanzlerin ging ferner auf die EU-und G8-Präsidentschaft Deutschlands im kom-menden Jahr ein. „Wir haben damit die Mög-lichkeit, in wichtigen internationalen Berei-chen Akzente zu setzen und zu gestalten.“ MitBlick auf die EU-Präsidentschaft im erstenHalbjahr 2007 nannte Merkel zwei Punkte, dieihr besonders wichtig seien. „Auf der einen Sei-te müssen wir dafür sorgen, dass sich der Bin-nenmarkt in Europa wirklich zu einem Binnen-markt entwickelt. Ich sehe protektionistischeTendenzen, was nationale Champions anbe-langt. Wenn wir einen europäischen Binnen-markt haben wollen, dann müssen wir unsauch zu europäischer Gemeinsamkeit beken-nen. Dann können wir nicht bei jeder Fusionoder bei jedem Merger sagen, das passt unsnicht, weil wir damit nationale Anteile verlie-ren.“ Zweitens gehe es ihr darum, das Thema„better regulation“ auf EU-Ebene anzugehenund mithin alle Richtlinien zu durchforsten, diein den vergangenen 50 Jahren angehäuft wor-den seien. „Man muss den Mut haben, auchmal welche zu streichen“, sagte Merkel. Zudembetonte die Bundeskanzlerin, aus ihrer Sicht seiin der EU in den kommenden Jahren das The-ma Vertiefung wichtiger als das Thema Erwei-terung.

Merkel erklärte abschließend, sie schätze diekonstruktive Kritik des Wirtschaftsrates an dergroßen Koalition. „Ich hoffe, dass wir Deutsch-land in den kommenden Jahren gemeinsamweiter voranbringen werden.“ �

Aus Rede Wirtschaftstag 2006

„Wir haben die Möglichkeit, in wichtigen internationalenBereichen Akzente zu setzen und zu gestalten.“

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Robert M. Kimmit betonte, in den vergan-genen Monaten sei eine neue Lebendig-keit im deutsch-amerikanischen Verhält-

nis spürbar geworden. „Kanzlerin Merkel undPräsident Bush und auch ihre Minister spre-chen viel häufiger und mit mehr Offenheitüber die wichtigen Fragen“, sagte Kimmit. Die-se gestärkte deutsch-amerikanische Partner-schaft als Kern einer starken europäisch-ameri-kanischen Partnerschaft sei entscheidend, umgemeinsam die globalen Herausforderungenzu meistern. „Sie ermöglicht uns, die Chancender globalisierten Welt zur Mehrung von Wohl-stand und Sicherheit zu nutzen.“

Globale Herausforderungen erforderten Füh-rungsstärke, die nur eine wirkliche europäisch-amerikanische Partnerschaft leisten könne. Die

neue deutsche Regierung habe wichtige Schrit-te unternommen, um die Tradition und denGeist der deutsch-amerikanischen und dertransatlantischen Kooperation wiederzubele-ben, sagte Kimmit. Führungsstärke in einemtransatlantischen Verhältnis müsse auf einemstarken wirtschaftlichen Fundament basieren.„Die innere Stärke eines Landes ist heute zu-nehmend davon abhängig, dass eine Volkswirt-schaft sich den Herausforderungen der Globa-lisierung anpassen kann und deren Vorteilenutzt.“

Deutschland und die USA profitierten enormvon der Globalisierung, unterstrich der ameri-kanische Vize-Finanzminister. Deutschland seider größte Warenexporteur der Welt. Die USAseien als das bevorzugte Ziel ausländischer In-

Für Stabilität und Sicherheit:Neue Qualität für transatlantische BeziehungRobert M. Kimmit, Stellvertretender Finanzminister der USA

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vestitionen darauf angewiesen, dass ausländi-sche Investoren zusätzliches Kapital ins Landbrächten, das aus den eigenen Rücklagen nichtaufgebracht werden könne. Für die US-Wirt-schaft sei die Globalisierung bislang eine Quel-le wirtschaftlicher Dynamik gewesen – und siehabe viele neue Arbeitsplätze geschaffen. DieWirtschaft der USA habe seit 1995 im Jahres-durchschnitt 1,6 Millionen neue Arbeitsplätzegeschaffen. Die Flexibilität und Fluktuation aufdem amerikanischen Arbeitsmarkt sei indesgrößer als auf dem deutschen.

Die Steigerung der Produktivitätsrate in denUSA zeige, dass ein flexibler Arbeits- und Pro-duktmarkt die Zahl der Arbeitsplätze und dieProduktivität der Arbeitnehmer steigere. „DieProduktivität hat in den USA im Verlauf derletzten drei Jahrzehnte stetig zugenommen,zunächst durch den Einzug der Informations-technologie und in jüngster Zeit durch die Ein-führung von neuen Technologien in der Dienst-leistungsbranche“, erläuterte Kimmit. DieseProduktivitätssteigerung werde durch einendynamischen Arbeitsmarkt und flexible Regu-lierung möglich, die sich rasch den neuen Mög-lichkeiten des technischen Fortschritts anpass-ten. So mache „kreative Zerstörung“ den Wegfrei, damit Ideen und Kapital zu besseren Inve-stitionen und in bessere Jobs fließen könnten.„Durch sie können Innovation und Humanka-pital in mehr Möglichkeiten und steigende Ein-kommen umgewandelt werden“, sagte Kim-mit.

Was in wirtschaftlicher Hinsicht dynamisch sei,könne auf der persönlichen Ebene jedoch zuSchwierigkeiten führen. Amerikaner machtensich ebenso wie Europäer Sorgen darum, wel-che Auswirkungen die Globalisierung auf ihrenArbeitsplatz und ihre Familie habe. „Trotz dervielen neuen Möglichkeiten vollzieht sich einJobwechsel nicht ohne Schmerzen“, sagteKimmit. Doch die Antwort auf diese Stress -situation könne nicht darin liegen, auf dieWachstumsbremse zu treten, indem man dieFlexibilität des Arbeitsmarktes einschränke.„Ganz im Gegenteil: Die Antwort muss sein, un-sere wirtschaftliche und soziale Infrastrukturso auszurichten, dass sie Dynamik unter-stützt.“

Studien der OECD sagten voraus, dass dieAnwendung von ‘best practice’-Prinzipien beider Regulierung von Warenmärkten das euro-päische Wirtschaftswachstum um jährlich 3,2

Prozent steigern könnten – dies entsprichtnach den Worten Kimmits 850 € zusätzlich proJahr für jeden Mann, jede Frau und jedes Kindin der EU. „Durch die Flexibilisierung der Ar-beitsmärkte würde Europa die Beschäftigungs-rate um sechs bis neun Prozent steigern. Dasentspricht der Schaffung von 22 Millionen neu-en Arbeitsplätzen in der EU.“ Kimmit betonte,dass dieser Befund unabhängig von derVerfüg barkeit von Sozialleistungen gelte. „Fle-xibilität muss nicht um den Preis niedriger So-zialstandards erkauft werden.“ Länder wie Dä-nemark kombinierten großzügige Leistungenfür Arbeitslose mit flexiblen Regelungen desArbeitsmarktes und Programmen zur Jobver-mittlung und seien das beste Gegenbeispiel fürden Einwand, mehr Flexibilität auf demArbeits markt ginge notwendigerweise zu Las -ten der sozialen Sicherheit. Dänemarks Arbeits-losenquote von fünf Prozent entspreche inetwa der der USA. Die durchschnittliche Ver-weildauer auf einem Arbeitsplatz sei dabeiebenso hoch wie in Großbritannien und nurwenig höher als in den USA.

„Jedes Land muss sein Modell nach seinen eige -nen sozialen Prioritäten wählen. Aber Deutsch-land kann seine wirtschaftliche Flexibilität er-höhen, ohne dadurch die Grundlagen des deut-schen Gesellschaftsvertrages zu gefährden“,betonte Kimmit. Die USA sähen Deutschlandnach den Worten des stellvertretenden Finanz-ministers gerne in der traditionellen Rolle alsEuropas Wachstumsmotor. „Das Land befindetsich in einer guten Ausgangslage, um mitmutigen Reformen große Schritte nach vorn zumachen.“ Deutsche Unternehmen seien wie-

Europäisch-amerikanischePartnerschaft bringt

Führungsstärke

„Jedes Land muss sein Modell nach seinen eige nen sozialen Prioritäten wählen.“

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der wettbewerbsfähig und aufgrund derfreund lichen Stimmung in der Lage, sowohl inDeutschland als auch im Ausland zu investie-ren und Arbeitsplätze zu schaffen.

Die Wähler hätten der Großen Koalition ihr Ver-trauen ausgesprochen und ihr ein klares Man-dat erteilt. „Die frühen Anstrengungen der Ko-alition, das Haushaltsdefizit unter Kontrolle zubringen, haben zusammen mit einem verstärk-ten Wirtschaftswachstum die Defizitquote re-duziert. Das erweitert den fiskalpolitischenSpielraum, um die Übergangskosten der Refor-men abzumildern“, erklärte Kimmit. Ein be-schleunigter Reformprozess in Deutschland hät-te nach Einschätzung Kimmits Auswirkungenauf ganz Europa. Die Lissabon-Strategie sei ver-einbart worden, um im freundschaftlichenWettbewerb die Motivation für schwierige, aber

notwendige Reformen zu erhöhen. „Was bislangfehlt, ist ein Land, das mit gutem Beispiel voran-geht.“ Wenn Deutschland diese Rolle übernäh-me, würde der Rest des Kontinents folgen. An -gela Merkels Vision für die Wiederbelebung derdeutschen Wirtschaft sei glaubwürdig, sagteKimmit. Sie fuße auf dem “Kreativen Imperativ”,den die Kanzlerin in ihrer Rede auf dem diesjäh-rigen Weltwirtschaftsforum erläutert habe. „Siereagiert damit auf die ganze Bandbreite an He -rausforderungen, die die Globalisierung mit sichbringt. Sie entwickelt den Gedanken der Innova-tion über ein begrenztes Verständnis von For-schung, Entwicklung und Bildung hinaus wei-ter.“ Die Bundeskanzlerin beziehe sich zudemauf Ludwig Erhard. Sie widme sich der prak -tischen Anwendbarkeit der Erhard’schen Ideenin der heutigen Zeit. Reformen in Deutschlandmüssten im Grunde oft nur informelle Entwick-lungen formalisieren, die in der deutschen Wirt-schaft bereits heute Realität seien. Die verbes-serte Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unter-nehmen sei zumindest teilweise das Ergebnisinformeller Vereinbarungen zwischen Arbeit-nehmern und Arbeitgebern. Sie ermöglichteneine flexiblere Gestaltung der Arbeitsverhältnis-se und längere Arbeitszeiten – trotz strikterRegulierung des Arbeitsmarktes.

Die Formalisierung dieser Vereinbarungen ma-che die Wirtschaft effizienter und berge da -rüber hinaus das Potenzial, die Einnahmesi tu -ation des Staates durch Reduzierung des grau-en Arbeitsmarktes zu verbessern.

Amerikanische und andere ausländische Anle-ger seien bereit, mehr Kapital, Arbeitsplätze,und Management-Know-how nach Deutsch-

Deutschland und die USA sind Partner in der Gestaltung der globalen wirtschaftlichenEntwicklung

GrenzüberschreitendeInvestitionen bedeutenenorme Vorteile fürVolkswirtschaften

„Ein beschleunigter Reformprozess in Deutschlandhätte Auswirkungen auf ganz Europa.“

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land zu bringen, sobald sich das Investitions -klima verbessert habe. GrenzüberschreitendeInvestitionen stellten enorme Vorteile fürVolkswirtschaften dar.

Auf europäischer Seite sei es wichtig, dass dieEU-Mitgliedstaaten die Kommission bei derDurchsetzung der Übernahmerichtlinie unter-stützten und protektionistischen TendenzenEinhalt geböten. „Die vertiefte Marktintegra -tion steht hier vor einer ersten großen Prüfung.Werden die neuen Regeln nicht durchgesetzt,bedeutet dies einen großen Schlag gegen einGründungsprinzip Europas: die Freizügigkeitdes Kapitals unter den EU-Mitgliedstaaten“,warnte Kimmit. Deutschland habe bislang Ver-suchen widerstanden, Beteiligungen an gro-ßen deutschen Konzernen politisch zu verhin-dern. Die Beteiligung der Private-Equity-Grup-pe Blackstone an der Deutschen Telekom sei einpositives Signal für das Investitionsklima inDeutschland.

Das Gewicht Deutschlands und der USA in derWeltwirtschaft machten die beiden Länder zunatürlichen Partnern in der Gestaltung globa-ler wirtschaftlicher Entwicklungen. Entschei-dend sei, dass Deutschland und die USA mit ei-ner Stimme sprächen und die politischen Her-ausforderungen entschlossen angegangenwerden. So könnten beispielsweise die Ameri-kaner ihr Leistungsbilanzdefizit kaum durchunilaterale Maßnahmen abbauen. „Was wirdringend brauchen, ist ein geordneter Aus-gleich zwischen weltweiten Ersparnissen undder Nachfrage“, erklärte Kimmit. Im Zentrumder globalen wirtschaftlichen Kooperation soll-te zudem die Schaffung eines offenen Handels-systems stehen. Deutschland profitierte enormvon der Handelsliberalisierung und habe daherein Interesse an Verantwortung in einer Füh-rungsrolle in der europäischen Handelspolitik.Eine erfolgreiche Doha-Runde, die Fortschrittebei Zöllen und Marktzugang für landwirt-schaftliche Erzeugnisse, Industriegüter undDienstleistungen bringe, sei im Interesse derUSA und Deutschlands. Da die „Fast-Track“-Ver-handlungsbefugnis des US-Präsidenten aller-dings Mitte 2007 ablaufen werde, gebe es nurnoch wenig Zeit für einen Durchbruch.Deutschland solle seinen großen Einfluss gel-tend machen und die EU in Richtung einer Po-sition lenken, die den Stillstand beim Zugangzu den Agrarmärkten überwinde. „Wenn dasmöglich ist, können wir gemeinsam als Partnerauf ehrgeizige Ergebnisse hinwirken und die

Verhandlungen zu einem erfolgreichen Ab-schluss bringen“, betonte Kimmit.

Der stellvertretende US-Finanzminister gingferner auf die Rolle der Finanzministerien beider Bekämpfung des Terrorismus und der Ver-breitung von Massenvernichtungswaffen ein.„In der Welt nach dem 11. September 2001 tra-gen diese Ministerien eine neue Last, da Ter -roristen, Waffenhändler und andere kriminelleAkteure versuchen, mithilfe von Banken ihrGeld anzulegen und zu verschieben.“ Finanz-ministerien seien heute auch zu Sicherheits -ministerien geworden, da sie eng mit den tra-ditionellen Sicherheitsbehörden zusammenar-beiteten, um die Sicherheit ihrer Bürger zu ge-währleisten. Kimmit verwies auf ÄußerungenAngela Merkels, wonach kein Staat die Bedro-hung des internationalen Terrorismus alleineabwehren könne. „Auch dafür müssen Europaund Amerika zusammenstehen, sagte Kimmit.

Als weitere wichtige Bereiche der strategischenZu sammenarbeit nannte Kimmit die För de -rung der Demokratien in Osteuropa, den Frie-den im Kosovo, Afghanistan, die Situation imIrak und die Bedrohung durch Iran. „Die vor unsliegenden Jahre werden in vielerlei Hinsichtschwierig sein“, sagte Kimmit. „Ich bin jedochüberzeugt, dass sie keine schwierigen Jahre fürdie deutsch-amerikanischen Beziehungen seinwerden. Ganz im Gegenteil, aus meiner Sichtwerden unsere Beziehungen sich zum Nutzenunserer beider Staaten und der Welt weiter po-sitiv entwickeln.“ �

Aus Rede Wirtschaftstag 2006

Globale Herausforderungenerfordern Führungsstärke

„Die vor uns liegenden Jahre werden in vielerlei Hinsicht schwierig sein.“

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Klaus Schwab sprach vom Übergang der„Wissensgesellschaft“ zur „intelligentenGesellschaft“. Wissen werde gegenwärtig

durch das Internet zum Allgemeingut. Wissensei statisch. Intelligenz hingegen sei ein dyna-mischer Prozess, der die Anwendung, die Er-neuerung und die Integration von Wissen be-schreibe. „Die intelligente Wirtschaft beruhtauf dauernder Innovation“, betonte Schwab.„Und wenn die deutsche Exportwirtschaft heu-te so gut dasteht in der Welt, dann vor allemdeshalb, weil sie diesen Schritt in die intelligen-te Wirtschaft relativ rasch vollzogen hat.“ DieWelt stehe am Beginn einer dritten Globalisie-rungswelle. Die erste sei vor allem von Natio-nen getragen worden auf Basis der Theorie derkomparativen Kostenvorteile von David Ricar-do. Dann sei die zweite Welle gekommen, die inden vergangenen 50 Jahren vor allem von denmultinationalen Unternehmen getragen wor-den sei. Die gegenwärtige dritte Welle, „ein Tsu-

nami gewissermaßen“, werde von den Indivi-duen getragen, weil es möglich sei, selbst Klein-unternehmen oder Individuen weltweit zu ver-netzen.

„Ich sehe fünf Herausforderungen für die deut-sche Wirtschaft“, sagte Schwab.

� Die erste sei die Verlagerung des weltweitenwirtschaftlichen Schwerpunktes von Westnach Ost, „das Auferstehen von Indien, Chinaund anderen Ländern als globale Wirt-schaftskräfte“. Schwab machte deutlich, dassdie deutsche Wirtschaft bei Fortschreibender heutigen Wachstumsraten in 75 Jahrenim Vergleich zu China marginalisiert seinwerde. „Ein oder 1,5 Prozent genügen einfachnicht“, warnte Schwab. Mit den derzeitigenWachstumsraten werde die Bundesrepublikihre Probleme am Arbeitsmarkt nie in denGriff bekommen.

Innovationen als Antwortauf die GlobalisierungProf. Dr. Klaus Schwab, Executive Chairman, Weltwirtschaftsforum

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19II/2006 trend

� Die zweite Herausforderung sei der „Kampfder Talente“. Der Vorsprung der deutschen„Intelligenzgesellschaft“ werde durch die gutausgebildeten Wissenschaftler und Fachkräf-te zunehmend aufgezehrt.

� „Die dritte Herausforderung, die auf uns zu-kommen wird, ist die Globalisierungswellebei den Dienstleistungen“, sagte Schwab.„Unsere Wirtschaft wird zunehmend ge-prägt durch die Globalisierungsmaßnahmenbei höherwertigen Dienstleistungen im For-schungsbereich

� Die vierte Herausforderung für die deutscheund europäische Wirtschaft ist nach denWorten Schwabs das Entstehen neuerKonkurrenten. Wenn man heute über Chinaund Indien rede, spreche man meist nochüber europäische oder amerikanische Unter-nehmen, die dort Produktionsstätten aufge-baut hätten. Chinesische und indische Unter-nehmen jedoch würden in den kommendenJahren zu starken Konkurrenten der euro -päischen Konzerne heranwachsen. „Konzer-ne wie Lenovo und Mittal werden Mitspielerim internationalen Geschehen sein“, prophe-zeite Schwab.

� Die fünfte Herausforderung sei die weltwei-te Rohstoffverknappung durch den Nachfra-geboom in den aufstrebenden Volkswirt-schaften. „Das wird zu gewaltigen Restruktu-rierungsprozessen innerhalb der Wirtschaftführen“, sagte Schwab. „China ist bereits

heute – mit Ausnahme von Energie – derweltweit größte Konsument von Rohstoffen.Sei es Zement, Stahl oder Weizen.“

Wie muss Deutschland auf die Herausforde-rungen reagieren? „Wir müssen den kreativenImperativ zum Ziel in allen Bereichen machen– in der Wirtschaft, in der Gesellschaft, in derPolitik“, forderte Schwab. Der Vorsitzende desWeltwirtschaftsforums kritisierte, dass dieBundesrepublik beim Wettbewerbsbenchmar-king des World Economic Forum (WEF) nur an15. Stelle stehe. „Heute zählen nur noch Spitzen-leistungen“, sagte Schwab. Interessant sei derVergleich des 15. Rangs in der Gesamtplatzie-rung mit dem Rang der Bundesrepublik imHinblick auf die Qualität und Innovationskraftdes Managements. „Hier steht die Bundesre -publik an erster Stelle.“ Das deutsche Manage-ment werde als das beste weltweit betrachtet,müsse sich aber in einem mittelmäßigen Um-feld bewegen, kritisierte Schwab.

Der WEF-Vorsitzende sagte, es sei schwierigeinzusehen, warum sich Deutschland mit dennotwendigen Reformen so schwer tue. „Re -formen“ sei zunächst ein viel zu defensiverBegriff, um die Herausforderungen der Zukunftzu beschreiben. Eigentlich gehe es um „Inno -vationen“ und um „Vorbereitungen auf dieZukunft“. „Wenn Reformen ausgehandelt wer-den von Interessengruppen oder Parteien,dann kann man über die Spieltheorie einfach

„Ich sehe fünf Herausforderungen für diedeutsche Wirtschaft und drei ,goldene Regeln‘.“

Im Übergang von der Wissen- zur

intelligenten Gesellschaft

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zeigen, dass ein suboptimales Ergebnis heraus-kommt“, erläuterte Schwab weiter.

Einen weiteren Grund, warum Reformenschwierig umzusetzen seien, beschwöre eineSituation herauf, in der Psychologen von „tota-ler Verneinung“ sprechen würden. „Ich habe dieBefürchtung, dass wir bei einem weiteren He -rausschieben der Reformen nicht mehr das po -sitive Klima haben, in dem wir uns heute befin-den“, warnte Schwab. „Reformen sind nicht nurdann erfolgreich, wenn sie umfassend sind, son-dern insbesondere dann, wenn sie auch schnellsind.“ In der Welt von morgen werde nicht mehrallein der große Fisch den kleinen fressen, son-dern vor allem der schnelle den langsamen. „Wirbrauchen den kreativen Imperativ nicht nur inden Unternehmen, wir brauchen ihn vor allemin der Gesellschaft“, sagte Schwab.

Er verwies auf das Beispiel der skandinavischenLänder. Diese hätten zwar eine höhere Staats-quote als die Bundesrepublik, könnten jedoch inwesentlichen Bereichen ihrer Gesellschaft weitmehr Flexibilität aufweisen als die Deutschen.„Das gibt ihnen einen Wettbewerbsvorteil“, sag-te Schwab. Er betonte, dass die großen Heraus-forderungen der Zukunft nicht durch die Unter-nehmen, die Politik oder die Zivilgesellschaft al-lein gelöst werden könnten. „Was wir brauchen,sind Plattformen der Zusammenarbeit. Was wiraber auch brauchen, ist eine neue gegenseitigeDurchdringung von privatem und öffentlichem

Sektor. Wir brauchen mehr öffentlich-privatePartnerschaften“, sagte Schwab. Das WEF sei ge-genwärtig in mehr als 20 Partnerschaften aktiv.Ein Beispiel sei die Zusammenarbeit des WEFmit der Informationstechnologiebranche undder ägyptischen Regierung, um das Erziehungs-system des Landes zu revolutionieren. „Wirbrauchen auch mehr Social Entrepreneurship“,forderte Schwab. Die großen sozialen Aufgabenkönnten nicht vom Staat allein gelöst werden.„Wir brauchen Unternehmen, die diese sozialenInnovationen unten im Einzelkampf an der Ba-sis bewirken und als Musterbeispiele dastehen.“

Schwab nannte „drei goldene Regeln“, die eszwingend zu beachten gelte.

� „Die einzige Methode, heute die Wettbe-werbsfähigkeit zu sichern, ist, in die Fähigkei-ten und Talente zu investieren.“ Nur so sei esmöglich, beim Wettbewerb der Talente mit-halten zu können.

� Die zweite goldene Regel sei das Bekenntniszu Meriokratie. „Das bedeutet nicht, dass wirerfolgreiche soziale Netze in Frage stellensollten. Aber es bedeutet, dass man Erfolgrei-che nicht bestrafen, sondern fördern muss.“

� Gute Führungspersönlichkeiten, so die nachAuffassung Schwabs dritte goldene Regel,zeichneten sich aus durch „Seele, Herz, Ver-stand und gute Nerven.“

Aus Rede Wirtschaftstag 2006

„Was wir aber auch brauchen, ist eine neue gegenseitigeDurchdringung von privatem und öffentlichem Sektor.“

Wir brauchenUnternehmen, die als Muster dastehen

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Soziale Marktwirtschaft war nie ein starresKonzept, sondern immer eine Leitidee“,betonte Bundeswirtschaftsminister Mi-

chael Glos (CSU). Sie beruhe auf der Erfahrung,dass Freiheit und Selbstverantwortung unge-ahnte Kräfte mobilisierten und so die Grundla-ge für wirtschaftliche Dynamik schafften.„Wirtschaftliche Dynamik und Leistungsfähig-keit sind für Ludwig Erhard und die anderenVorkämpfer der Sozialen Marktwirtschaft diewesentlichen Fundamente sozialer Ziele gewe-sen“, erinnerte Glos. „Wir müssen immerschauen, dass sich weder das Wirtschaftlichenoch das Soziale zu sehr nach einer Seite ver-schiebt.“ In der Großen Koalition sei die Gefahr,dass sich das Gewicht zu sehr auf die Seite derMarktwirtschaft verschiebe, etwas geringer,sagte Glos. „Deshalb ist es meine Aufgabe alsMinister einer großen Koalition, für die Durch-setzung marktwirtschaftlicher Positionen zukämpfen.“ Die Soziale Marktwirtschaft sei die

Voraussetzung dafür, dass alle Bevölkerungs-schichten eine Chance bekämen, einen Anteilam wirtschaftlichen Erfolg zu erlangen. Hinzukomme die Notwendigkeit des sozialen Aus-gleichs. „Jedoch nur für diejenigen, die ein ak-zeptables Auskommen unter Marktbedingun-gen nicht erzielen könnten“, betonte Glos. „Undnicht für diejenigen, die es nicht erzielen wol-len und nicht genügend eigene Anstrengun-gen dafür unternehmen.“ Die wirtschaftlicheLeistungsfähigkeit und der subsidiäre sozialeAusgleich stünden in einem steten Span-nungsverhältnis, das ein permanentes Austa-rieren erfordere. Dies sei in Österreich gelun-gen und müsse auch in Deutschland wieder ge-lingen, sagte Glos.

„Heute fordern vor allem die Globalisierungund der demographische Wandel von uns,dieses Spannungsverhältnis zwischen Eigen-verantwortung und sozialem Ausgleich neu zu

Wirtschaftspolitik fürein starkes EuropaMichael Glos MdB, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie

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ordnen, um das, was Ludwig Erhard sich zumZiel gesetzt hat, nämlich Wohlstand für alle, zuermöglichen.“ Glos sagte, dies sei die ent -scheidende Herausforderung für die Wirt-schaftspolitik. Österreich sei es im Vergleich zuDeutschland jedoch bislang besser gelungen,auf die Herausforderungen zu reagieren.

Glos erinnerte daran, dass die Bundesrepubliknach der Wiedervereinigung nach seinen Wor-ten „den Schutt von Sozialismus und Kommu-nismus beiseite räumen musste.“ Die Wieder-vereinigung sei „Lust und Last zugleich“. Sie ha-be die westdeutsche Wirtschaft in den vergan-genen 15 Jahren mit hohen Transferzahlungenbelastet. Dies könne jedoch auf Dauer keineAusrede für unterlassene Reformen sein. „Undda haben wir auch eine Verpflichtung für dieEuropäische Union“, sagte Glos. „Alle Mitglie-der der EU sind gefordert, mit einer erfolg -reichen Wirtschaftspolitik im eigenen Land zueinem wirtschaftlich starken Europa beizu -tragen.“

Deshalb sei es eine gute Nachricht für ganzEuropa, dass es in Deutschland wirtschaftlichwieder aufwärts gehe. Das Wachstum habesich beschleunigt. Die Aussichten für die weite-re Wirtschaftsentwicklung im laufenden Jahrseien günstig. Glos bekräftigte, dass die Bun-desregierung 2006 mit einem Wachstum vonrund 1,5 Prozent rechne. Wenn es gut laufe, seijedoch auch mehr möglich. Die Hauptaufgabebleibe jedoch die Bekämpfung der hohen

Arbeitslosigkeit. „Das ist im Grunde auch dieKernaufgabe der Wirtschaftspolitik“, sagteGlos. Zuletzt sei die Arbeitslosigkeit zwar im Zu-ge der Frühjahrsbelebung zurückgegangen, je-doch seien 4,5 Millionen Arbeitslose nach wievor zu viele. „Die Zahl ist zu hoch“, sagte Glos.„Ich bin überzeugt, dass wir wieder mehrWachstum brauchen. Denn ohne Wachstumlassen sich die Probleme unseres Landes nichtlösen.“ Deutschland brauche einen kräftigenWachstumsschub durch „Vorfahrt für Inno -vationen und Investitionen“.

Glos verwies darauf, dass die Bundesregierungihren Beitrag dazu leiste, den Anteil der For-schungsausgaben bis 2010 auf drei Prozent desBruttoinlandsprodukts anzuheben. „Wir brau-chen die private Wirtschaft, damit sie sich dar-an beteiligt“, sagte Glos. „Aus leeren staat -lichen Kassen allein kann man es nicht schaf-fen.“

Der Bundeswirtschaftsminister betonte, dassdie Regierung auch Erfolge suchen müsse beiden Themen Deregulierung und Bürokratieab-bau. „Ich meine, die Bürokratie ist eine der neu-en Geißeln unserer Zeit“, sagte Glos. Auch fürden Arbeitsmarkt sei es wichtig, Freiheitsräu-me zu eröffnen, um die Anreiz- und Lenkungs-funktion der Löhne zu stärken. „Ich glaube nachwie vor, dass zu viel Schutz vor Entlassungenein großes Einstellungshemmnis ist“, erklärteder Minister. Das sei indes in der großen Koali-tion schwer voranzubringen. Die Union müssejedoch weiter daran arbeiten. „Ich glaube, esgibt sogar vernünftige Sozialdemokraten – und

Ohne Wachstum lassensich die Probleme inunserem Land nicht lösen

„Aus leeren staat lichen Kassen allein kann man es nicht schaffen.“

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ich hoffe, dass die sich innerhalb ihrer eigenenOrganisation durchsetzen.“

Der CSU-Politiker betonte die Notwendigkeitei ner „guten Unternehmensteuerreform“.Zwar sei die Steuerlast im internationalen Ver-gleich nicht besonders hoch, die Steuersätze je-doch wirkten abschreckend. „Mein Leitmottoist: Besser niedrigere Steuersätze und wenigerAusnahmen als hohe Steuersätze, die durchlö-chert sind wie ein Schweizer Käse und die dieInnovationskraft der Menschen hauptsächlichauf das Steuerthema lenken statt auf die tech-nischen Entwicklungsabteilungen der Unter-nehmen.“

Ein neues Gleichgewicht zwischen Eigenver-antwortung und sozialem Ausgleich müsseauch durch eine Modernisierung der Sozialver-sicherungssysteme herbeigeführt werden. „Ichhalte es für ganz wichtig, dass die große Koali-tion im Koalitionsvertrag festgeschrieben hat,dass die staatlich verordneten Lohnzusatzko-sten 40 Prozent nicht übersteigen dürfen“, sag-te Glos. Anfang 2007 würden in einem erstenSchritt die Beiträge zur Arbeitslosenversiche-rung um „mindestens“ zwei Prozentpunktesinken, sagte der Bundeswirtschaftsminister.„Ich finde es auch richtig, dass zur Entlastungder Rentenversicherung ab 2012 die Regelar-beitszeit schrittweise auf 67 Jahre angehobenwird.“ Bei der anstehenden Gesundheitsreformmüsse die große Koalition aufpassen, dass amrichtigen Ende begonnen werde. „Das Nach-denken darüber, woher man Einnahmen be-kommt, darf nicht im Vordergrund stehen.“ Im

Vordergrund stehen müsse Sparen und mehrEffizienz bei den Ausgaben.

Der Bundeswirtschaftsminister betonte, dass einGroßteil der Rahmenbedingungen für die deut-sche Wirtschaft inzwischen auf europäischerEbene bestimmt werde. „Deswegen haben wirdie Verpflichtung, Europapolitik mit zu gestal-ten. Und das ist der Grund dafür, warum dasWirtschaftsministerium neben dem Außenmi-nisterium ein wichtiger Arm nach Europa ist“, er-klärte Glos. Der wirtschaftliche Arm nach Brüsselsei verpflichtet, für wirtschaftspolitisch günstigeRahmenbedingungen in Deutschland zu sorgen.Glos verwies auf das Subsidiaritätsprinzip. Nurwo eine europäische Regelung einen Mehrwertverspreche, sei eine solche erforderlich. „Sonstbrauchen wir sie eigentlich nicht“, sagte Glos.„Deswegen muss ein Thema unserer Ratspräsi-dentschaft sein, dass wir die Kommission auffor-dern, dass europäische Richtlinien entbürokrati-siert werden.“ Glos versprach, für eine Entbüro-kratisierung europäischer Regelungen im Sinneder Wirtschaft zu kämpfen. Der Minister beton-te, dass Europa nur stabil bleiben könne, wenndie Gemeinschaftswährung stabil bleibe. „Des-wegen halte ich es ungeheuer wichtig, dass dieBundesrepublik Deutschland den EuropäischenStabilitätspakt wieder einhält“, unterstrich Glos.„Wenn man langfristig Wachstum haben will,muss man auch stabilitätsgerecht handeln.“

Aus Rede Wirtschaftstag 2006Wachstumsschub durch

Vorfahrt für Innovationenund Investitionen

„Deswegen muss ein Thema unserer Ratspräsidentschaft sein,die Kommission aufzufordern, dass europäische

Richtlinien entbürokratisiert werden.“

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62 trend II/2006

Rund 2.000 Gäste aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft folgten der Einla-dung zum Wirtschaftstag 2006 in Berlin. Wie ein roter Faden zog sich die Über-zeugung durch alle Diskussionen: Europa wird unter den globalen Wirtschafts-mächten nur eine führende Rolle spielen können, wenn es konsequenter als bis-her auf Wachstum und Beschäftigung setzt. Gerade Deutschland ist gefordert,die notwendigen Reformen für ein stärkeres Wirtschaftswachstum, eine Bele-bung des Arbeitsmarktes, die Sicherung der Sozialsysteme und solide Staats -finanzen voranzutreiben und die vorhandenen Chancen und Potenziale ent-schlossener zu nutzen. Die Bildungs- und Forschungspolitik sind neu auszurich-ten, damit wir uns auch in Zukunft mit hochqualifizierten Arbeitskräften und in-novativen Gütern und Dienstleistungen auf dem Weltmarkt behaupten können.Die Europäische Union ist dabei auf ihre Kernkompetenzen zu beschränken.

Wirtschaftstag 2006

Deutschland erneuern – Wettbewerbsfähigkeitfür Europa gewinnen

im Internet – Aktuelles, Archiv, Daten, Kontakte: www.wirtschaftsrat.de

Page 19: trend Dokumentation zum Wirtschaftstag 2006

63II/2006 trend

Bundesdelegierten-versammlung 2006Freiheit – Verantwortung– und zugleich ChanceBericht des Präsidenten Kurt J. Lauk

Die Bundeskanzlerin hat mit dem Leit-prinzip „Mehr Freiheit wagen“ den Bür-gern wie den Unternehmern aus dem

Herzen gesprochen. Unser Freiheitsbegriff istweder Nachtwächterstaat noch Raubtierka -pitalismus. Wir verstehen Freiheit als Verant-wortung und zugleich als Chance. Aber dieseKoalition hat sich in der Tagesarbeit von demLeitprinzip der Bundeskanzlerein weit ent-fernt. Der ihr vom Wirtschaftsrat und von derWirtschaft eingeräumte Vertrauensvorschuss

ist inzwischen verbraucht. Die Union läuft Ge-fahr, ihre marktwirtschaftlichen Prinzipiendem Koalitionspartner und dem Koalitionsfrie-den zu opfern. Vor diesem Hintergrund ist esverständlich: Die Seele des Wirtschaftsrateskocht!

Der erste Grund ist eine ungehemmte Blocka-depolitik der SPD. Sie verhindert die Schaffungneuer Arbeitsplätze; und leistet der Ausbeu-tung unserer Sozialsysteme bewusst Vorschub.

Page 20: trend Dokumentation zum Wirtschaftstag 2006

Der zweite Grund ist die mangelnde Sichtbar-keit von wirtschaftspolitischen Konturen in derUnion.

Es ist für uns wichtig, hörbar unsere Stimme zuerheben. Wir setzen auf vier Prioritäten:

� Sanierung der Staatshaushalte;� Deckelung der solidarischen Sozialsysteme;� Flexibilisierung des Arbeitsmarktes;� der Abbau der ausufernden Bürokratie.

Deutschland steht vor einer Richtungsentschei-dung – entweder starker Bürger, guter Staat,oder aber starker Staat, schwacher Bürger. Wirwollen, dass der Bürger den Staat gestaltet undnicht umgekehrt.

Unbestritten sind Erfolge der Bundeskanzlerinin der Außenpolitik. Deutschland ist wiederwer in der Welt. Deutschland lässt das missver-ständliche Achsendenken hinter sich und hatseine Führungsrolle in Europa neu austariert.Unser transatlantisches Bündnis ist wieder vonMisstrauen befreit. Deutschland erweitert dieGeschäftsgrundlagen mit seinen Nachbarnebenso wie mit Russland und China. Bundes-kanzlerin Merkel hat nachgewiesen, dass siediese komplexe Koalition führen kann. Jetzt zü-gig die drängenden Reformthemen der Innen-politik anzupacken, ist das Gebot der Stunde.

Wir sind nicht so naiv anzunehmen, dass dieGroße Koalition das Unionsprogramm 1:1 um-setzen und in Reinkultur verwirklichen könnte.Niemand darf überrascht sein, dass diese Re-gierung auch sozialdemokratische Positionenumsetzt, ob uns das gefällt oder nicht. Ich weiß,es gefällt uns nicht. Entscheidend ist aber,Schwarz-Rot muss mehr erreichen als Rot-Grün. Daher muss konkretes Regierungshan-deln deutlich über Koalitionsvereinbarungenhinausgehen. Kompromisse sind zwar nötig,aber die Koordinaten der Union müssen deut-lich sichtbar bleiben.

Der Wirtschaftsrat teilt die Sorge, dass dieUnion ihr marktwirtschaftliches Profil verliert,dass ihre ordnungspolitische Kompassnadel,ins Trudeln gerät. Große Koalition darf nichtheißen, dass die CDU marktwirtschaftliche Ko-or dinaten außer Kraft setzt. Umgekehrt wirdein Schuh draus. Drei Bundesminister habenihre Hausaufgaben nicht gemacht.

Bundesminister Müntefering schiebt die drin-gend erforderlichen Reformen auf dem Ar beits -markt immer weiter hinaus. Er behindert dieSchaffung neuer Arbeitsplätze. Bundesgesund-heitsministerin Schmidt kann sich von der Bür-gerzwangsversicherung nicht trennen. Struk -turreformen sind notwendig. Und Bundes -finanzminister Steinbrück erliegt einem funda-mentalen Irrtum, wenn er behauptet, der Staathabe ein Problem bei den Einnahmen und nichtbei den Ausgaben. Hinzu kommt, dass derFinanzminister statt für die Abschaffung derGewerbesteuer für die Verbreiterung der Ge-werbesteuer auf Selbstständige und Freiberuf-liche ausdehnen möchte. Mit uns läuft dasnicht. Wir werden uns mit solchen Ergebnissensozialdemokratischer Philosophie nicht ab -finden. Für uns bleiben die CDU-Programmevon Leipzig und Düsseldorf die Richtlinie.

64 trend II/2006

„Der Wirtschaftsrat ist als Organisation auf gutem Weg. Er hat sich inden letzten zwölf Monaten in vielen Bereichen neu aufgestellt, erstmalshaben wir stabil über 10.000 Mitglieder erreicht: Das sind immerhin Un-ternehmen in der Summe mit über fünf Millionen Arbeitsplätzen. Da-mit haben wir eine Verdoppelung der Mitgliederzahl seit 1991, währendzum gleichen Zeitraum zwei Drittel der Verbände in Deutschland mitmassivem Mitgliederschwund kämpfen. Wir stehen im Wettbewerb mitetwa 2.000 beim Bundestag akkreditierten Verbänden. Wir können stolzauf das sein, was wir gemeinsam erreicht haben!

2013 wird der Wirtschaftsrat 50 Jahre alt. Wir werden bis dahin auch wei-ter dynamisch wachsen und uns modernisieren, verändern, aufstellen,wie die Zeit es erfordert. Wir werden deshalb die ständige Modernisie-rung – Marke und Produkt – im Wirtschaftrat weiter verbessern, attrak-tiver machen. Und wir werden intern die Themen mitgliederfreundlicheIT-Struktur und neues Marketingkonzept anpacken.

Wir sind als Wirtschaftsrat für die Investitionsprojekte gut gerüstet. Wirwerden die Zukunft sichern und die Schwächen angehen. Beste Voraus-setzung ist dafür die positive Haushaltslage durch sparsame Verwen-dung der Mitgliedsbeiträge. Dank hierfür an den Schatzmeister Dr.Schleifer sowie Generalsekretär Hans Jochen Henke.

Unsere wichtigste Basis ist der persönliche Einsatz des Ehrenamtes. Erzeichnet den Erfolg des Wirtschaftsrates in besonderer Weise aus. Durchsein Engagement steht der Wirtschaftsrat auf festem Boden. Ich dankedeshalb besonders unseren Landesvorsitzenden und den Landesvor-ständen, den Sektionsvorständen und den Sektionssprechern, den Vor-sitzenden und mehr als 500 Mitgliedern der Bundesfachkommissionensowie ganz herzlich allen Mitgliedern!

Besonderer Dank gilt auch meinen Kollegen im Präsidium und im Bun-desvorstand sowie der Bundesgeschäftsführung und allen Mitarbeiternauf Bundes- und Landesebene. Sie alle haben dazu beigetragen, dass wirauf ein sehr erfolgreiches Geschäftsjahr zurückblicken können.“

„Kompromisse sind zwar nötig, aber die Koordinaten der Unionmüssen deutlich sichtbar bleiben.“

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65II/2006 trend

Im Koalitionsvertrag steht, Abbau der Arbeits-losigkeit sei zentrale Verpflichtung der Regie-rungspolitik, meine Damen und Herren. Damitmuss jetzt ernst gemacht werden. Was aber ge-schieht? Die Zahl der sozialversicherungspflich-tigen Arbeitsplätze sinkt weiter, von 26,2 Millio-nen im Herbst 2005 auf 25,8 im Frühjahr 2006.Die Belebung des Arbeitsmarktes ist die eigent-liche Reformaufgabe. Jetzt gilt, Regierungsan-spruch in Wirklichkeit umsetzen.

Die nächsten 15 Monate sind entscheidend fürden Erfolg oder Misserfolg der Großen Koaliti-on. Der Wirtschaftsrat wird der Bundeskanzle-rin den Rücken stärken, wenn es um marktwirt-schaftliche Koordinaten geht, die wir bislangvermissen. Es widerspricht sowohl unserer Ord-nungspolitik wie einer seriösen Finanzpolitik,wenn nur ein Drittel der Haushaltssanierungüber Ausgabenkürzungen stattfindet undgleichzeitig die größte Steuererhöhung seit1945 eingefädelt wird. Wenn alle Bürger mit hö-herer Mehrwertsteuer geschröpft werden, aberdie Lohnzusatzkosten nicht oder nicht ausrei-chend sinken und damit der Konjunkturauf-schwung gefährdet wird, dann läuft das in diefalsche Richtung. Wenn die Leistungsträger mitReichensteuer bestraft und damit ins Auslandvertrieben werden, läuft das in die falsche Rich-tung. Und wenn der Gesundheitssoli kommtund den Selbständigen und Freiberuflern dieGewerbesteuer zusätzlich droht, dann läuft dasin die falsche Richtung.

Mit uns geht dies nicht. Das ist keine Politik inder Tradition Ludwig Erhards. Die Leistungsträ-ger verdienen weder Neid noch Missgunst, son-dern sie brauchen Zuspruch und Ermunterung,damit sie in diesem Land die Rahmenbedin-gungen haben, um ihre Leistungen erbringenzu können und damit solidarisch den anderenhelfen zu können.

Der Wirtschaftsrat hat als erster vor mehr alseinem Jahr durch flächendeckende Kam -pagnen maßgeblich dazu beigetragen, dass derrot-grüne Entwurf zum Anti-Diskriminierungs-gesetz letztendlich gefallen ist. Einiges ist ver-ändert worden, aber noch weit weg von einer1:1-Umsetzung. Was unter Rot-Grün falsch war,kann unter Schwarz-Rot nicht richtig sein. DerWirtschaftsrat wird deshalb seine bundeswei-te Kampagne gegen das Antidiskriminierungs-gesetz fortsetzen. Der Wirtschaftsrat hat schoneinmal 40 Nachbesserungen durchgesetzt.Jetzt muss vor allem das Klagerecht der Ge-

werkschaften fallen. Wir geben nicht auf in die-ser Sache, sondern kämpfen weiter.

Wir müssen uns immer wieder vor Augen füh-ren, warum weniger Staat besser ist als zu vielStaat. Ist der freie und starke Staat wirklich ge-wollt? Erschreckend ist die Umfrage „Perspekti-ve Deutschland“. 76 Prozent der Bürger wollenmehr Umverteilung und damit noch mehrStaat. Diese Umfrage erschreckt.

Zudem erschreckt die Rolle rückwärts der SPDbei ihrem neuen Grundsatzprogramm. Sie fälltselbst noch hinter Schröder zurück – Neidsteu-er, Reichensteuer, Vermögenssteuer, gefährli-ches Leitbild vorsorgender Sozialstaat. Damitblockiert die SPD notwendige Reformen undleistet dem Missbrauch von Sozialleistungenbewusst Vorschub. Wir widersprechen aus-drücklich dieser Philosophie. Der Staat ist jetztschon überfordert. Jeder Zweite in Deutschlanderwirtschaftete Euro wird über den Staats -apparat umverteilt. Seit Jahren haben wir einstrukturelles Defizit von über 60 Milliarden €.Und nur noch 39 Prozent der Bürger in un -serem Lande beziehen Lebensunterhalt auseigenem Erwerbseinkommen. Mit dem sozial-staatlichen Ansatz fällt Deutschland im Wohl-standsvergleich immer weiter zurück. Deut-sche Bank Research warnt: Beim Pro-Kopf-Ein-kommen liegt Deutschland abgeschlagen aufnur noch Platz 11 der alten EU-15. Spanien undselbst Italien werden uns in den nächsten Jah-ren überholen. Unser Land darf aber nichtmehr länger auf der Standspur liegen bleiben,während andere auf der Überholspur an unsvorbeiziehen.

Die Globalisierung schlägt unerbittlich zu. Diedrei Schwergewichte USA, EU 15 und Japan er-wirtschaften mit einem Achtel der Weltbevöl-kerung über 70 Prozent aller Güter und Dienstein dieser Welt. Damit verfügen wir pro Kopf un-gefähr über das 17fache an Gütern und Dienst-leistungen von dem, was dem übrigen Durch-schnitt in der Welt zur Verfügung steht. Chinaträgt heute gerade mal vier Prozent zur globa-len Wertschöpfung bei. Glaube bitte keiner,dass das so bleibt. Die Mehrheit der heute ar-men Länder wird sich immer größere Stückevom Wohlstandskuchen abschneiden wollen.Dieser Kuchen wird aber langsamer wachsenals der Appetit derer, die sich neu zu Tische set-zen.

„Die Politik muss den Bundeshaushalt aus der Geiselhaftnicht mehr funktionsfähiger Sozialkassen befreien.“

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Wir brauchen ein viel intelligenteres Wirtschaf-ten. Die bisherige Verhaltensweise im Umgangmit unseren Steuergeldern, mit unserer Sozial-politik, mit unserer angeblichen Solidaritätreicht nicht mehr aus, um uns zuverlässig in dieZukunft zu führen. Die Politik muss den Bun-deshaushalt aus der Geiselhaft nicht mehrfunktionsfähiger Sozialkassen befreien. DasNachgießen von Wasser hilft – wie wir alle wis-sen – bei löcherigen Eimern wenig. Die Decke-lung der solidarischen Sozialsysteme ist not-wendig. Denn nach oben hin offene Sozialsys -teme konterkarieren jede Haushaltssanierung.Wir als Unternehmer wissen: Wenn die Kostenaus dem Ruder zu laufen beginnen, gibt es nurim ersten Schritt die Möglichkeit der Deckelungund dann muss man strukturell einsparen undsich wirklich auf das Notwendige konzentrie-ren. Man findet immer noch was, wo man spa-ren kann, ohne an die Solidarität mit denen, diesie wirklich brauchen, zu tasten. Wir brauchenVorsorge nach Risikokalkulation. Mit Kapital-unterlegung ist die Vorsorge erst richtig ange-legt. Dies ist das, wofür wir stehen. Dies ist das,was wir brauchen.

Wir brauchen auch bessere Kriterien und klareKriterien für jene, die sich dem Gemeinwesenals nicht erwerbsfähig präsentieren. Solangedie Einnahmen nicht durch Wachstum steigen,müssen die Sozialhaushalte eingefrorenwerden. Das gilt für die Rentenversicherung,die Krankenversicherung, die Hartz-Gesetzeund die Subventionierung in der Familienpoli-tik.

1. Wir brauchen eine Generalrevision für Arbeitsrecht und Hartz Langzeitarbeitslose sind aus derSozialstaatsfalle zu befreienSeit der Einführung von Arbeitslosengeld II imJanuar 2005 sind die Bedarfsgemeinschaftenum eine Million auf 3,9 Millionen Menschen biszum März 2006 angestiegen. Das muss kor -rigiert werden. Eine Generalrevision ist uner-lässlich. Die Hartz-Reformen entpuppen sichals Fässer ohne Boden. Nach Anstieg der Kostenvon 14 auf 25 Milliarden im Jahr 2005, drohendie Kosten im laufenden Jahr von geschätzten25 auf 28 Milliarden € auszuufern. Innerhalbvon zwei Jahren haben sich die Kosten also ver-doppelt. Statt nach neuen Finanzierungsmit-teln zu suchen, sollte die Bundesregierungdurch Generalrevision die Leistungen senken.

Hierzu gehören die Abschaffung der zweijähri-gen Zuschläge auf das Arbeitslosengeld II, stär-kere Überprüfung der Erwerbsfähigkeit von Ar-beitslosengeld-II-Empfängern durch Amtsärz-te, pauschale Unterkunftszahlungen direkt nuran den Vermieter, weitere Verschärfung der Kri-terien zur Bildung von Bedarfsgemeinschaftendurch Absenkung des Schonvermögens bei Be-dürftigkeitsprüfung sowie Rückkehr zum Un-terhaltsrückgriff wie in der früheren Sozialhil-fe. Wir sollten uns an die Werte der Familien indiesem Zusammenhang erinnern.

Die Absenkung des Arbeitslosengeldes II um 30Prozent bei Arbeitsverweigerung sollte Regel-fall werden. Uns allen sind täglich Geschichtenbekannt, dass Menschen, die arbeiten können,nicht arbeiten wollen, weil es bequemer ist, Ar-beitslosengeld II zu beziehen. Der Vorwurf gehtnicht an die, die das nutzen. Das muss mora-lisch jeder mit sich selbst ausmachen. Der Vor-wurf geht gegen ein System, das in die falscheRichtung führt. Hier sind wir gefordert und wirstellen uns dieser Aufgabe.

Gesetzlicher Kombilohn muss sich auf die wirk-lich bedürftigen Arbeitslosengeld-II-Empfän-ger konzentrieren. Der Wirtschaftsrat lehnt un-mittelbare Lohnzuschüsse an die Arbeitgeberab, um Missbrauch und Drehtüreneffekte zuvermeiden. Sonst droht ein weiteres Milliar-dengrab. Wir wenden uns entschieden gegendie Einführung eines gesetzlichen Mindestloh-nes. Die Gewerkschaften bauen auf mittelalter-liche Wagenburgenmentalität. Sie machen dieTore auf dem Arbeitsmarkt zu. Für diejenigen,die drin sind, die übrigens immer weniger wer-

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„Die Vorsorge aus selbst erwirtschaftetem Einkommen, Private Kranken-versicherung und Immobilien zur Altersversicherung, dürfen natürlichnicht angetastet werden. Die bisherigen Reformansätze, insbesondereunter Rot-Grün, zeichnen sich allesamt durch Halbherzigkeit und Flick-schusterei aus. Von Schwarz-Rot erwarten wir mehr.

Was in anderen Ländern als Selbstverständlichkeit gilt, wird in Deutsch-land immer wieder von den Besitzstandswahrern blockiert. Dabei müs-sen wir illusionslos einsehen: Soziale Marktwirtschaft in ihrer augen-blicklichen Verfassung hat den Reiz des Exportschlagers verloren. Re-formländer wie Mittel-, Osteuropa sowie Länder Asiens haben sich fürdas liberalere angelsächsische Modell entschieden.

Historische Aufgabe ist es, die Soziale Marktwirtschaft aus ihrer Erstar-rung wieder zu befreien und weiter zu entwickeln. Das sind wir unserenErben schuldig. Wenn der Großen Koalition dies nicht gelingt, wird siescheitern.“

„Wir haben die guten Ideen, wir müssen sie Realität werden lassen. Dann schaffen wir Wohlstand und mehr Wachstum.“

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den, ist es kurzfristig gut. Schlimm aber fürjene Millionen, die hinein wollen. Das ist unso -zial, generell genuin unsozial.

Woher nehmen die Gewerkschaften Arroganzund Anspruch, für das Wohl aller Beschäftigtenzu sprechen, wenn es nur noch 6,8 MillionenGewerkschaftsmitglieder gibt? 40 ProzentSchwund seit 1991, dies entspricht faktisch derZahl der Arbeitssuchenden. Dieser Mitglieder-schwund ist eine glatte Delegitimation der Ge-werkschaften in diesem Land. Je weniger Mit-glieder, desto unsinniger die Forderungen.Besonders unsinnig ist ein Mindestlohn von8,70 €pro Stunde. Das würde bedeuten, dass 39Prozent der Arbeitsplätze in Ostdeutschlandsubventioniert werden müssten. Keiner könntedas bezahlen. Deshalb würden sie wegfallen.Opfer wären vor allem die Geringqualifizierten.Also: mit uns keinen Mindestlohn!

Der gesetzliche Kündigungsschutz näher ranan die Betriebserfordernisse. Aktuelle Regie-rungspläne benachteiligen wieder einmal denMittelstand, Deutschlands eigentlichen Jobmo-tor. Wir fordern den Arbeitsminister auf, dasverkrustete Arbeitsrecht endlich aufzuspren-gen: Legalisierung betrieblicher Bündnisse oh-ne Gewerkschaftsveto, eine traditionelle starkeForderung von uns; Beibehaltung der sach-grundlosen Befristung von Arbeitsverträgen;individuelle Vereinbarungen zwischen Be-schäftigten und Unternehmern, wie in derSchweiz längst üblich und erfolgreich prakti-ziert.

2. Gesundheitsprämien und mehrWettbewerb schaffen ein zukünftigesGesundheitswesen und nichtBürgerzwangsversicherung und neue StaatsmedizinEs gibt einen Grundsatz, von dem wir nicht ab-weichen in der Gesundheitspolitik: Der Patientmuss die steuernde Größe im Gesundheitswe-sen sein und nicht der Staat.

Die SPD-Bürgerzwangsversicherung ist ord-nungspolitisches Gift, zwingt alle Bürger in ei-ne Staatsmedizin, kassiert durch höhere Steu-ern nur ab, beseitigt aber nicht strukturelle Pro-bleme. Unsere klare Warnung an die Union ist,nicht auf das Dreisäulenmodell hereinzufallen.Eine aktuelle Prognos-Studie belegt: Ohne Ge-gensteuern droht mittelfristig der Anstieg derSozialbeiträge um 50 Prozent. Das bedeutet ei-nen weiteren Verlust von einer Million Arbeits-plätzen, wenn nicht gegengesteuert wird. DieLast der Sozialbeiträge ist einer der Hauptgrün-de für den Existenzkampf vieler Mittelständler.

„Deutschland leistet sich monatelang Streikwegen täglicher Mehrarbeit von 18 Minuten.Ich kenne keinen erfolgreichen Mittelständ-ler, der weniger als 60 Wochenstunden ar-beitet. Er geht mit gutem Beispiel voran undhat längst auch die Arbeitszeit seiner Mitar-beiter, die auch mitziehen, auf 40 Stundenund mehr erhöht, und zwar ohne die Ge-werkschaft und ohne Arbeitgeberverbändezu fragen. Diese Freiheit muss sein. Auch dieGewerkschaftsfunktionäre arbeiten mittler-weile längst über 45 Stunden, denn die Zeitbrauchen sie auch, um den Mitgliedern denUnsinn der 35-Stunden-Woche zu erklären!“

„Geringqualifizierte sind ein besonderes Prob-lem für unsere Gesellschaft. Diese Gruppewächst weiter, solange zwölf Prozent dieHauptschule ohne Abschluss verlassen undweitere fünf Prozent keinen Abschluss in derLehre erreichen. Das heißt, fast 20 Prozent ei-nes Jahrgangs, sind ohne qualifizierten Ab-schluss oder Ausbildung. Das ist ein Boden-satz, der erschreckend ist. Hier müssen wir an-setzen. Hier muss in Bildung investiert wer-den. Hier muss in die Schulen investiert wer-den. Hier müssen alle Kräfte in der Gesell-schaft zusammenwirken, um die Ausbildungder nächsten Generation auf ein erträglichesMaß zu bringen, damit sie einsatzfähig undgebrauchsfähig in dieser Gesellschaft arbeitenund mitwirken können. Deshalb ist die guteAusbildung junger Menschen die effizientesteArbeitsmarktpolitik. Kein Jugendlicher darflänger ohne Schul- oder Berufsabschluss sein.“

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Mit massiver Arbeitsplatzvernichtung undGeldverschwendung im Gesundheitswesenmuss Schluss sein.

Ein Drittel der Krankenhäuser steht vor dem fi-nanziellen Aus, da bislang nicht wirtschaftlichgeführt, so eine McKinsey-Studie. Allein hierließen sich fünf Milliarden € einsparen, ohneschlechtere Versorgung. Wie kann es sein, dassin Deutschland jedes fünfte Arzneimittel un -genutzt im Müll landet – Schaden: vier Milliar-den €; dass bei uns doppelt so viele Computer-tomographien gemacht werden wie in Frank-reich, trotzdem sind die Menschen nicht gesün-der; dass Franzosen, Spanier, Schweden, Grie-chen, Schweizer, Holländer gesünder sind, ob-wohl sie relativ weniger für die Gesundheitspo-litik aufwenden; dass der deutsche Durch-schnittspatient doppelt so häufig zum Arztgeht wie ein Amerikaner, Franzose, Brite oderNiederländer, dass er dreimal so oft geröntgtwird; dass seine Verweildauer im Krankenhausdie anderer Nationen bei weitem übertrifft.Kernpunkt einer Gesundheitsreform muss alsoeine strukturelle Reform sein, so, wie wir Unter-nehmer sie auch machen würden.

Der Wirtschaftrat lehnt die Pläne für einen Ge-sundheitssoli ganz klar ab. Entgegen den Be-hauptungen kommt er gerade nicht den jun-gen Familien mit Kindern zugute. Sie würdenbeim Gesundheitssoli mit etwa 197 Euro imDurchschnitt im Jahr zusätzlich belastet. Statt-dessen werden die Rentner mit 173 Euro proJahr entlastet, die ohnehin die höchsten Ge-sundheitskosten verursachen. Der Wirtschafts-rat fordert, Wirtschaftlichkeitsreserven zu he-ben, Wachstumsmarkt Gesundheitswesen und

Wettbewerb zu entfesseln. Dazu brauchen wir:Abkoppelung der Gesundheitskosten vom Be-schäftigungsverhältnis bei Einführung einerGesundheitsprämie für das medizinisch Not-wendige, Erhöhung der sozial gestaffelten Ei-genbeiträge, vollständige private Absicherungdes gesamten Zahnbereichs, der privaten Un-fallrisiken und des Krankengeldes, mehr Trans-parenz über die Kosten der medizinischen Be-handlung – vor allem durch Wechsel zum Kos -tenerstattungsprinzip – weniger Regulierungund Bürokratie sowie Förderung des Wettbe-werbs, sowie die Aufhebung des Verhandlungs-monopols der Kassenärztlichen Vereinigung.

Wir kämpfen für den Erhalt der Privaten Kran-kenversicherung und gegen die Enteignungder Altersrückstellungen, meine Damen undHerren, die diese Kassen gebildet haben. Das istunser Geld, das ist unser Eigentumsanspruch.Das muss erhalten bleiben. Die Einbeziehungder privaten Krankenversicherung in ein maro-des Umlagesystem lehnen wir entschieden ab.

3. Nur durch echte Konsolidierung aufder Ausgabenseite können der Pleite-staat Deutschland saniert und mehrWachstumsdynamik erreicht werdenFinanzminister Steinbrück liegt falsch: Nachden Steuererhöhungen von 30 Milliarden €haben wir mit Sicherheit kein Einnahme -problem mehr, sondern ein Ausgabenproblem.Bei einer Rekordverschuldung von 1,5 Billionen€ ist die Schuldenfalle längst zugeschnappt.Denn die jährlichen Neuschulden reichen heu-te nicht einmal dazu aus, die Zinsen für die al-ten Kredite zu bedienen. Die Sanierung derStaatshaushalte kann ohne Deckelung der soli-

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darischen Sozialsysteme nicht gelingen. Die ho-he Staatsverschuldung Wohlstand, Wachstumund Zukunftschancen. Ein überschuldeterStaat nützt niemandem, schadet allen und un-seren Kindern und Enkeln am meisten.

Die jüngste Studie der Europäischen Zentral-bank vom April 2006 beweist, Wirtschafts-wachstum ohne Konsolidierung funktioniertnicht. Das Wirtschaftswachstum von Konsoli-dierungsländern liegt mit drei Prozent doppeltso hoch wie bei den ReformverweigerernDeutschland, Frankreich und Italien. Das sindeindeutige Zahlen. Statt echter Einsparungenhat die Bundesregierung eine der größtenSteuererhöhungen von 30 Milliarden durchge-setzt. Die Entlastungen der Steuerreform von2000 sind bereits zu zwei Dritteln wieder zu-rückgenommen.

Die strukturelle Schieflage bei den Bundesfi-nanzen ist unverändert. Steueraufkommen imBund mit 193 Milliarden decken nicht einmalgesetzliche Verpflichtungen ab. Soziales, Zin-sen, Personal verschlingen 198 Milliarden bei193 Milliarden Einnahmen. Das wäre der Bank-rott jedes Unternehmens, jeden Haushalts. DieSenkung der Staatsausgaben ist dringend er-forderlich. Unsere EU-Nachbarn haben uns daslängst vorgemacht.

4. Attraktive Unternehmensteuersätzesorgen dafür, dass der Staat wiedermehr in der Kasse hat, ohne die Unter-nehmen aus dem Land zu treibenDie SPD sollte einsehen: Von jedem zusätzlichverdienten Euro kassiert der Fiskus bis zu68 Cent. Das ist ein absoluter Rekord in Europa.Zusatzbelastung durch indirekte Steuern sindweitere acht Prozent vom Brutto. Das heißt, wirsind im Grunde bei 75 Prozent Steuerlast, wennalles in allem gerechnet wird. Beim Schafsche-ren sollte man aufhören, wenn die Haut kommt.Das muss auch beim Steuereintreiben gelten.

Der Wirtschaftsrat wendig sich grundsätzlichgegen immer neue Sondersteuern. Wer glaubt,die Solidarität in unserer Gesellschaft könneüber das Finanzamt hergestellt werden, der irrtgründlich. Nachhaltige Solidarität heißt, dieZahl der Leistungsträger zu erhöhen und sie zuermutigen, statt sie durch abschreckende Kon-ditionen außer Landes zu treiben. Nur einebreite Basis von Leistungsträgern ermöglichtdie Solidargemeinschaft mit den Bedürftigen.Die Bundesregierung sollte erkennen, dassDeutschland in Unternehmensteuerrecht und

Steuerbelastung der Bürger weit abgeschlagenist. Unternehmensgewinne werden hier effek-tiv mit einem EU-Spitzenwert von 36 Prozentbelastet. Länder wie Österreich oder Skandina-vien liegen um zehn Prozentpunkte niedriger.Der EU-Durchschnitt liegt sogar bei 24 Prozent.Daher legt der Wirtschaftrat im Juni Eckpunktefür eine Unternehmensteuerreform vor. Be -sonders dringlich ist die Vereinfachung desSteuerrechts. Es kennt so viele Ausnahmen,dass es keiner mehr versteht! Oberste Prioritäthat für uns die Abschaffung der Gewerbesteu-er. Einbeziehung der Freiberufler in die Gewer-besteuer wäre ein Frontalangriff gegen dieUnternehmer in unserem Land. Das brächte dieSeele unserer Mitglieder nochmals zum Ko-chen.

Deutschland braucht attraktive Unterneh-mensteuersätze von deutlich unter 30 Prozent.Hiervon muss auch der Mittelstand profitieren.Das ist entscheidend für die Steuergerechtig-keit. Abgeltungssteuer von einheitlich 24 Pro-zent auf Zinsen, halbe Dividenden, Veräuße-rungsgewinne bringen dem Finanzstandortmehr Wettbewerbsfähigkeit und wir sind aus-

„Wir brauchen, das ist unsere zentrale Forde-rung, dafür werben wir, eine Schuldenbrem-se nach Schweizer Vorbild. Dem Staat mussendlich die Kreditkarte entzogen werden.Die Unterstützung dieser Forderung durchdie Ministerpräsidenten Milbrandt undÖttinger haben wir bereits erreicht. Wir sindfür eine Grundgesetzänderung nach der derStaat ein ausgeglichenes Budget vorzulegenhat. Jahr für Jahr, ohne neue Schulden.“

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drücklich gegen eine Verschiebung dieser Ab-geltungssteuer ins Jahr 2010.

Wegfall der Erbschaftssteuer bei zehnjährigerBetriebsfortführung ist Bestandteil der Koaliti-onsvereinbarung. Wir wollen das auch in derSteuerreformvorlage wiedersehen. Neues Ab-kassieren bei Immobilienbesitzern lehnt derWirtschaftsrat ab. Vertrauensschutz bei dieserAlterssicherung aus versteuertem Geld darfnicht angetastet werden.

Nach einer großen Steuerreform muss es Bere-chenbarkeit und Verlässlichkeit geben. Das sollPlanungssicherheit für die Wirtschaft schaffenund Schwung in die Konjunktur bringen.

5. Keine ideologischen Tabus in derEnergiepolitik, denn sie hatdie Chance vom Kostentreiber zum Innovationsmotor zu werdenIm EU-Vergleich ist Deutschland Energiehoch-preisland. Der Staatsanteil am Benzinpreis istüber 70 Prozent. Bei 1,40 € je Liter kassiert derStaat einen Euro. Das ist EU-Rekord. Der Strom-preis für Privathaushalte stieg um 40 Prozentvon 40 auf 57 € pro Monat im Durchschnitt.Und der Staatsanteil am Strompreis liegt beiüber 40 Prozent. Deutschland kann es sichnicht länger leisten, die Abwanderung derIndustrie, die Energie braucht, zu riskieren. Hierist eine Kehrtwende notwendig.

Wir importieren heute bereits über 70 Prozentder Energie aus politisch instabilen Regionen –Tendenz steigend. Dabei ist der höhere Stellen-wert der Versorgungssicherheit mehr als ge-rechtfertigt. Umso wichtiger ist es: Ein breiterEnergiemix ohne ideologisches Tabu muss blei-

ben. Die SPD hat immer noch kein Konzept fürCO2-freien Ausstieg aus der Kernenergie. Erwürde 256 Milliarden € Kosten verursachen.Der Ausstieg aus der Kernenergie ist verant-wortungsloser Umgang mit Volksvermögen.Wir sollten Abstand davon nehmen.

Wir fordern daher eine Wende in der Energie-politik. Sie hat die Chance, vom Kostentreiberzum Innovationsmotor zu werden. Das ist drin-gend notwendig. Ideologisch überzogene Steu-ern und Abgabenlasten für Energie können wirreduzieren, Laufzeiten für Kernkraftwerke ver-längern – international sind bei der jüngstenGeneration 60 Prozent üblich – und erneuerba-re Energien schneller in die Wettbewerbsfähig-keit führen: aber bitte keine Dauersubvention!Vor allem muss unser Land wieder zum Motorinnovativer Energietechnologien werden. BeiClean-Coal-Projekten und Kernkraftwerken dervierten Generation muss Deutschland eineFührungsrolle übernehmen. Das Erbe von Rot-Grün: Die Investitionen in Energieforschungseit 1998 sind um 40 Prozent gesunken, wäh-rend die USA und Japan mittlerweile über dasFünffache im Vergleich zu Deutschland in Ener-gie investieren. Deshalb muss Energiefor-schung als strategische Zukunftsforschungweiter ausgebaut werden.

6. Wir brauchen einen bundesweitenMentalitätswandel für Forschungund InnovationenWohlstand ist auf Dauer nur haltbar, wennDeutschland bei Forschung und Innovation bes-ser wird und leistungsfähiger als die Konkur-renten. Wir brauchen einen bundesweitenMentalitätswandel, damit die von der Bundes-kanzlerin ausgerufene zweite Gründerrepublik

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Realität werden kann. Die Bürger müssen wie-der Lust bekommen, Unternehmer zu werdenund Unternehmen zu gründen. Nach wie vor istder bürokratische Aufwand für Unternehmens-gründungen in Deutschland abschreckend, vielzu hoch, in den USA im Schnitt fünf Tage, inDeutschland 24 Tage. Existenzgründern drohtder Erstickungstod im Paragraphendschungel.Das muss geändert werden. Deshalb ist Verwal-tung zu halbieren, Zahl der Unternehmer zuverdoppeln die richtige Perspektive.

Wir sind vor einem neuen Gründungsboom.Starthilfe für innovative Neu- und Ausgrün-dungen kann gegeben werden. Damit muss vorallem die private Finanzierung von Startupsattraktiver werden. EU-weit haben mit PrivateEquity und Venture Capital finanzierte Unter-nehmen seit 2000 eine Million Arbeitsplätzegeschaffen. Deutschland hingegen lässt enor-mes Wachstumspotenzial brach liegen undverjagt Investoren durch verantwortungsloseHeuschreckendebatten. Dabei hat der Verursa-cher dieser Debatte, Müntefering sein Name,selbst die Verträge unterschrieben und hat andie so genannten Heuschrecken als Verkehrs-minister Tank & Rast verkauft. Er hat die Eisen-bahnerwohnungen an die Heuschrecken ver-kauft. Und dann stellt er sich hin und be-schimpft sie. Das ist die Unehrlichkeit, die wirin dieser Republik abschaffen müssen.

Deshalb ist jetzt die zügige Umsetzung des Ko-alitionsvertrags wichtig. Abbau rechtlicher undsteuerlicher Barrieren für private Beteiligun-gen, Verbesserung der Mittelstandsfinanzie-rung und Verabschiedung eines Private-Equity-Gesetzes sind dringend notwendig. ZusätzlicheSpinn-offs gezielt fördern und die Vernetzungvon Wirtschaft, Wissenschaft und Forschungweiter ausbauen. Deutschland hat alle Voraus-setzungen, gute Ideen Realität werden zu las-sen. Wir haben die guten Ideen, wir müssen sieRealität werden lassen. Dann schaffen wirWohlstand und mehr Wachstum in unseremLand.

Benjamin Franklin hat einmal zu recht gesagt:„Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu ge-winnen, wird am Ende beides verlieren.“ Nochzu oft wirft uns ein deutscher Gendefekt zu-rück: Der Ruf nach Staat wird laut, wenn Angstvor dem Markt um sich greift – eine absurde Re-aktion. Schon Ludwig Erhard warnte vor derHand in der Tasche des Nachbarn. Der Wahndes Versorgungsstaates führe zum sozialen

Untertanen, wie er formulierte. Deshalb istoberste Priorität ein Kurswechsel zu mehr un-ternehmerischer Freiheit und damit zu mehrWachstum und Beschäftigung und Wohlstandin unserem Land.

Das wirtschaftspolitische Credo des Wirt-schaftsrates lautet: Wenn wir die Wahl habenzwischen mehr Rente oder mehr Geld für For-schung, dann wählen wir Forschung.

Wenn wir die Wahl haben zwischen Subventio-nen für Familien oder mehr Geld für die Ausbil-dung unserer Kinder, dann wählen wir die Aus-bildung unserer Kinder.

Und wenn wir die Wahl haben zwischen mehrSolidarbeiträgen zulasten der Leistungsträgeroder mehr unternehmerischer Freiheit, dannwählen wir mehr unternehmerische Freiheit.Wir Unternehmer sind bereit, Mitverantwor-tung zu tragen.

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Keine Gesellschaft in Europa ist so unter-nehmungslustig wie die deutsche. Nie-mand reist mehr und hat größere Lust, et-

was Abenteuerliches zu unternehmen. KeinVolk unternimmt lieber etwas im Schatten alswir Deutsche – und betreibt Schwarzarbeit.Sich jedoch im klassischen Sinne unternehme-risch zu betätigen und ein Unternehmen zugründen, kommt in diesem Lande immer weni-ger Menschen in den Sinn.

Statt die Lust am Unternehmen zu befördern,wird in diesem Land viel zu viel unternommen,um unter dem vermeintlichen Nimbus der so-zialen Gerechtigkeit die Umverteilung von Ein-kommen und Vermögen „zu verbessern“. Dieeigene Leistung wird immer weniger zur An-triebskraft des individuellen Wohlstandes. Die

Bürokratie tut hierzu ein Übriges. Das Allge-meine Gleichbehandlungsgesetz, das so ge-nannte AGG, ist Höhepunkt einer solchen Ent-wicklung. Hier fallen Reden und Tun der Akteu-re sichtbar auseinander.

Fast jede Entscheidung der großen Koalitionführt nicht zu weniger, sondern zu mehr Büro-kratie, Komplexität und Intransparenz. Inso-fern ist die Frage berechtigt: „Was sollte heutejemanden veranlassen, etwas eigenständig,verantwortlich und Risikobehaftetes zu unter-nehmen?“

Auf den ersten Blick mögen die Hauptmotivefür Unternehmensgründungen in rein mate-riellen Anreizen liegen. Ich frage jedoch: „Werwirbt in dieser Gesellschaft eigentlich noch da-

Mehr Freiheit wagenheißt Leistung belohnen

Bericht des Generalsekretärs Hans Jochen Henke

„Ludwig Erhard hat bereitsfestgestellt, dass dem Unter-nehmer kein bequemesDasein oder eine beschau -liche Rente winkt. Vielmehrwird von ihm zu jeder Zeitvoller Einsatz und unein ge -schränk te Leistungsbereit-schaft gefordert“.

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für, dass junge Leistungsträger mit Leiden-schaft und Lust gute Ideen, Kreativität, orga -nisatorisches Talent und Mut einsetzen undBereitschaft zeigen, andere Menschen mitzu-nehmen und zu begeistern?“

In den 50er und 60er Jahren war der Mittelstandin diesem Land maßgeblich von diesem Geistgeprägt. Ich behaupte, dieser Geist ist nicht tot.Er ist vielleicht an der einen oder anderen Stelleetwas erschüttert, erlahmt oder irritiert, aber esgibt nach wie vor Institutionen, in denen er lebt.Ich bin stolz darauf, Mitverantwortung für einesolche Organisation zu tragen.

Leistung und unternehmerischeVerantwortung sind Säulen fürWachstum und BeschäftigungWir müssen uns offen dazu bekennen, dass Ge-winne erzielen und Mehrwert schaffen, diereinvestiert werden können, elementareGrundvoraussetzung für Wachstum und Be-schäftigung in unserem Land sind. All zu oftwird bislang der Fehlschluss gezogen, dass erstdem einen etwas weggenommen werdenmuss, damit andere zufrieden gestellt werdenkönnen. Die Kapitalismusdebatte macht deut-lich, dass auf sehr gefährliche, fast demagogi-sche Weise der marxistische Grundgedankevom ausbeuterischen Unternehmer benutztwurde, um von den Missständen der rot-grünen Reformpolitik abzulenken.

Weil der vorsorgende Sozialstaat am Ende ist,wird die Last der Gemeinschaft jenen aufge-bürdet, die rechtzeitig vorgesorgt haben. DerVorsitzende Richter am Bundesverfassungs -

gericht, Di Fabio, sagt: „Das grundlegende Prin-zip der Gegenseitigkeit und damit der Gerech-tigkeit funktioniert in einer Gemeinschaft vonfreien Individuen und Persönlichkeiten nurdann, wenn der produktive Eigennutz ge nü -gend Raum hat und erst dann in zweiter Stufein gesellschaftlich vernünftige Bahnen gelenktwird“.

Reichensteuer, Mindestlohn, die Forderungnach einer Erhöhung von Vermögen- und Erb-schaftsteuern sind falsche Ansatzpunkte undwidersprechen diesem Grundverständnis fun-damental. Gewinn durch Leistung, Freiheit zurSelbstständigkeit und Respekt vor dem Eigen-tum anderer sind unveränderliche Grundwertedes Unternehmertums in Deutschland. Das inunserer Öffentlichkeit falsche Bild des Unter-nehmers muss endlich korrigiert werden.

Umso mehr ist es zu begrüßen, dass die CDUeine Debatte über die Grundwerte unsererGesellschaft im Rahmen von Freiheit, Gerech-tigkeit und Solidarität angestoßen hat, an dersich der Wirtschaftsrat intensiv beteiligt. ImVordergrund der Debatte sollten folgendeFragestellungen stehen:

� „Welche Verantwortung tragen Unternehmenund Unternehmer heute für unser Land?“

� „Was tut dieses Land mit seiner Gesellschaftfür Unternehmer und Unternehmen?“

� „In welchem Verhältnis steht dieses Themazu den drei Grundwerten Freiheit, Gerechtig-keit und Solidarität?“

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� „Welche Bedeutung besitzen die heutigengesellschaftlichen Megatrends Globalisie-rung und demographischer Wandel in unse-rer Gesellschaft?“

� „Welche speziell von christdemokratischenGrundwerten getragenen Anliegen sind alsThemenschwerpunkt hier von Bedeutung?“

Der Wirtschaftsrat ist keinAbziehbild der CDUIm Rahmen der CDU-Grundsatzkommission, ander ich für den Wirtschaftsrat als Vorsitzenderdes Arbeitskreises „Verantwortung der Un -ternehmer“ mitwirke, werden wir auch die Wer-tedebatte innerhalb unserer Organisation in-tensiv führen. Mitte des Jahres wird bei einerKlausurtagung das Präsidium einige Kernforde-rungen formulieren. Darüber hinaus planen wirunter Einbezug aller interessierten Mit gliederdie Durchführung eines Werteforums. Bis EndeSeptember 2006 besteht die Gelegenheit, dieBeratungsergebnisse in die weitere Diskussionder Gesamtkommission einzubringen. Der Wirt-schaftsrat ist ein wirtschaftlich und ordnungs-politisch ausgerichtetes Kompetenzzentrum. Ineiner föderalen Bundesrepublik mit 16 Ländernund 16.000 Kommunen, die alle mit finanzieller,personeller und organisatorischer Eigenstän-digkeit ausgestattet sind, ist es ein großer Vor-teil, dass auch der Wirtschaftsrat horizontal undvertikal breit aufgestellt ist und rechtlich, poli-tisch und finanziell eigenständig agiert.

Wir bewegen uns in einem sich ständig wan-delnden Markt. In Brüssel sind rund 20.000 Ver-bände registriert und organisiert, in Deutsch-land rund 14.000, davon 8.500 mit hauptamtli-

cher Führung. Knapp 2.000 davon sind beimBundestag registriert. Bei mehr als zwei Dritteldieser Verbände schwindet der Mitgliederbe-stand dramatisch. Diese Entwicklung machtauch vor den Gewerkschaften und den Spitzen-verbänden der deutschen Industrie und Wirt-schaft nicht Halt. Hinzu kommen allein in Ber-lin mehr als 100 Public-Affairs-Agenturen undeigenständige Konzernrepräsentanzen.

Der Wirtschaftsrat nimmt eine gegenläufigeEntwicklung: Seine Mitgliederzahlen steigenkontinuierlich auf nunmehr über 10.000. Den-noch sind wir gut beraten, weiterhin intensivzu überprüfen, wie das Profil und die Wahr-nehmbarkeit des Wirtschaftsrates nachhaltigverbessert werden kann. Attraktiv sind seineAlleinstellungsmerkmale und hier liegen auchin Zukunft unsere Chancen. Es gibt keinen Ver-band, der so branchenübergreifend aufgestelltist wie der Wirtschaftrat. Wir vertreten alle Un -ternehmensgrößen, von dem Einpersonen-Dienstleister bis zu den größten Unterneh-mungen in diesem Land. Wir haben acht Bun-desfachkommissionen mit herausragendenUnternehmerpersönlichkeiten an der Spitzeund über 500 Unternehmensvorständen sowieRepräsentanten aus Wissenschaft und Politik.Ergänzt werden diese Kommissionen durchthemenbezogene Arbeitskreise sowie projekt-bezogene Allianzen und Partnerschaften mitanderen Verbänden, Medien und beteiligtenAkteuren.

Der Wirtschaftsrat istordnungspolitischer VordenkerWir waren von Anbeginn ein Treiber für diegroße Steuerreform und Mitstreiter bei dem

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Thema der Sanierung der Staatsfinanzen. Beider Mitbestimmung fordern wir ebenso konse-quent die Rückverlagerung von mehr Verant-wortung in die Betriebe. Als erster Verband ha-ben wir uns bereits vor dem Regierungswech-sel für eine Kehrtwende hin zu einer wettbe-werbsorientierten und ideologiefreien Ener-giepolitik eingesetzt.

Von der Bundes- bis hin zur Landes- und Sekti-onsebene stärken wir die Kampagnefähigkeitdes Wirtschaftsrates. Hierzu ist Intensivierungder Presse- und Öffentlichkeitsarbeit dringenderforderlich. Unsere Kampagnethemen in derzweiten Jahreshälfte 2006 sind u. a.:

� Antidiskriminierung � öffentliche Finanzen, Konsolidierung der

Haushalte� sowie die Fortführung der Kampagne zur Ar-

beitsmarktpolitik

Der Wirtschaftsrat setzt auf die aktive Mitwirkung seiner MitgliederNach meinem Selbstverständnis müssen wirviel stärker eine Mitmach-Organisation wer-den. Hierzu arbeiten wir intensiv an einemMarketing-Gesamtkonzept und einer IT-Mo-dernisierung. Mein Appell richtet sich auch andie Mitglieder: „Wenn die Minderheit wirt-schaftlich denkender, leidenschaftlich ausge-richteter Bürgerinnen und Bürger sowie Unter-nehmerpersönlichkeiten in diesem Land stär-ker Einfluss nehmen und mehrheitsfähig wer-den wollen, dann müssen wir unternehmeri-sche Verantwortung nach außen vorleben, undUnternehmertum nicht nur mit negativen Bot-

schaften belegen. Motivation und Begeiste-rung – das färbt auf junge Menschen nachhal-tig ab.“

Der Wirtschaftsrat bindetjunge Leistungsträger aktiv einBesonders stolz sind wir auf unsere dynami-sche Nachwuchsorganisation, den WR-Junio-renkreis mit bereits mehr als tausend Mitglie-dern. Mit dem jüngst etablierten Vorstand un-ter dem Vorsitz von Paul Jörg Feldhoff habenwir eine voll legitimierte Führung geschaffen.Der Geist und das Selbstverständnis, mit demdie jungen Leute antreten, ist ein hoffnungs-volles Element für unsere Organisation.

Der Wirtschaftsrat in einer globalisierten WeltDer Wirtschaftsrat in Brüssel ist mit mehr als100 Mitgliedern unsere europäische Speerspit-ze. Dort gibt es regelmäßige Jours Fixes mit EU-Abgeordneten und einen Beirat mit hochrangi-gen Vertretern der EU-Kommission. Mehr als 70Prozent der Regelungen kommen bereits ausBrüssel – dieser Entwicklung müssen wir Rech-nung tragen.

Erstmals werden wir in der zweiten Jahres -hälfte 2006 eine Plattform in Brüssel zur In -tensivierung des Dialogs zwischen Vertreternder EU-Gremien und Unternehmen in Deutsch-land schaffen. Darüber hinaus befindet sicheine Sektion in New York in Gründung. Bei die-ser Sektion sowie bei allen weiteren Anfragenaus großen Kapitalen legt der Wirtschaftsratgroßen Wert auf eine maßvolle kosten -orientierte und risikominimierende Vorge-hensweise.

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Kein halbes Jahr hat es gedauert, die An-fangseuphorie der Mitglieder des Wirt-schaftsrates über die schwarzrote Bundes-

regierung zu dämpfen. Aus Zuversicht wurdeerst Nachsicht über Anfangsschwierigkeiten,dann Vorsicht, nun Enttäuschung: Im Mai schlugdas gute Starturteil ins Negative um: Nur noch48 Prozent bewerten die Arbeit des Merkel-Ka-binetts positiv (2 Prozent: sehr gut – 46 Prozent:eher gut), 49 Prozent dagegen negativ. Seltenverbreitete ein Start größeren Optimismus. Sel-ten wurde aber auch eine Politeuphorie schnel-ler enttäuscht.

Noch allerdings sehen die meisten der im Maian der Wirtschaftsrats-Polit-Puls-Umfrage teil-nehmenden 2061 Wirtschaftsführer einen Posi-tiveinfluss auf ihr Unternehmen. Vergleichtman aber die Regierungsqualität mit der ausden letzten Tagen von Rot-Grün, dann bewertennur 57 Prozent die Rahmendaten für ihr Unter-nehmen besser, 37 Prozent schlechter. Kritisiertwird fehlender Reformelan. Und, dass die Sozial-systeme nicht durch Strukturveränderungen

verbessert, sondern durch immer neue Abgabenohne erkennbaren Systemwechsel zum Schwä-cheln gebracht werden. Verärgerung auch darü-ber, dass sich die Politik selbst unter dem Druckanhaltend hoher Arbeitslosigkeit und exorbi-tanter Staatsverschuldung weit von ihren Re-formforderungen entfernt hat.

Die Unternehmer urteilen umso unzufriedener,desto enger die Politbereiche etwas mit Wirt-schaft zu tun haben. 59 Prozent unterstützen dieFamilien-, 36 Prozent die Bildungs- und For-schungspolitik und 30 Prozent die Föderalis-musreform. Mit der Energiepolitik sind dagegennur 13, den Lohnnebenkosten gerade noch elf,mit der Steuerpolitik – schlechtestes Urteil –blasse acht Prozent zufrieden. Je wichtiger dasPolitfeld für die Zukunft Deutschlands, destoschlechter das bisher Erreichte.

Jeweils an oder über 90 Prozent fordern den Ab-bau der Kosten im öffentlichen Dienst, die Locke-rung des Kündigungsschutzes, die Stärkung derprivaten Altersvorsorge sowie die Einhaltungder Maastrichter Defizitkriterien. Für die Kombi-löhne sprechen sich 62, für das Elterngeld im-merhin 55 Prozent aus. 91 Prozent widerspre-chen der These von Kurt Beck, den Staat für sei-ne vielfältigen Aufgaben besser mit Steuermit-teln auszustatten. 79 Prozent der Wirtschaftsrä-te bieten an, in Zukunft stärker bei der Reformunseres Sozialstaates in die Pflicht genommenzu werden.

Wirtschaft beklagt das „Weiter-so-Syndrom“

Belebung des Arbeitsmarktes

die große Steuerreform

Senkung der Lohnzusatzkosten

Sicherung einer Energieversorgung zu wettbewerbsfähigen Preisen

Familienpolitik

die FöderalismusreformVerlängerung der Laufzeiten von KernkraftwerkenVerstärkte Kosten-Nutzen-Analyse bei umweltpolitischen Maßnahmen

23%

27%

29%

53%

57%

63%

66%

77%

24%

36%

0 10 20 30 40 50 60 70 80

die Sanierung der Staatsfinanzen

Stärkung von Bildung und Forschung

4%

17%

79%

k. A.

nein

ja

4%

23% 73%nein ja

k. A.

Stimmen Sie zu, dass die Unternehmen und Unternehmer verstärkteGesamtverantwortung in Staat und Gesellschaftübernehmen sollten? *

* Befragungszeitraum:09. 05. - 19. 05. 2006n = 2.061TNS-Emnid

Stimmen Sie zu, dass die Unternehmen einenverstärkten Beitrag zur Familienpolitik leisten sollten

durch Verbesserung der Möglichkeiten, Beruf undFamilie miteinander verbinden zu können? *

WR-Polit-Puls

Klaus-Peter Schöppner,Geschäftsführer von TNS-Emnid

Wie wichtig ist Ihnen, dassfolgende politische Ziele in dieser Legislaturperiodeangepackt werden? *

Übersicht: Anteile „sehr wichtig“

Page 33: trend Dokumentation zum Wirtschaftstag 2006

77II/2006 trend

In der Diskussion auf Podium I wurden zen-trale Fragen rund um die Vertiefung und Er-weiterung der Europäischen Union erörtert.

Moderator Henning Krumrey, Leiter der FocusParlamentsredaktion, warf die Frage auf, obsich EU-Beitrittsländer wie Rumänien ange-sichts der politischen Diskussionen überhauptnoch in der Europäischen Union willkommenfühlten.

Ovidiu Victor Gant, Beobachter von Rumänienim Europäischen Parlament, sagte, er fühle sichdurchaus dazu gehörend. Für ihn gehe es da -rum, dass die alten und neuen EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsam Europa gestalteten. Für Rumä-nien stelle sich die Frage – anders als für Norwe-ger oder Schweizer – nach einem EU-Beitrittnicht. Wie ein Kartenhaus seien die kommunisti-schen Regime in Osteuropa nach dem Mauerfallzusammengebrochen. Für Rumänien sei der EU-Beitritt eine logische Konsequenz dessen. „Der

Verfassungsvertrag ist leider in Frankreich undin den Niederlanden abgelehnt worden“, sagteGant. Es hätten jedoch viele andere Staaten denVertrag ratifiziert, einschließlich Rumänien undBulgarien – trotz der Tatsache, dass sie nochnicht Mitglieder der EU seien. „Es ist offensicht-lich, dass wir auf diesem Wege weiter machenmüssen“, sagte Gant. „Es geht ja nicht nur umden juristischen Rahmen der EU, sondern mei-ner Meinung nach auch um den europäischenGeist, um die europäische Idee.“ Die Mitglied-schaft in der EU bedeute nicht nur, wirtschaftli-che Vorteile genießen zu dürfen, sondern auchgewisse Werte zu teilen. „Die Verfassung bedeu-tet für mich auch eine mehr und mehr wirkendeallgemeine Einhaltung der Spielregeln, egal obes die Einzahlungen in den EU-Haushalt, dieWährungsunion, das Schengener Abkommenoder die Außen- oder Verteidigungspolitik anbe-langt.“ Dabei spiele es auch keine Rolle, ob es umältere oder neuere Mitgliedstaaten gehe.

Podium IIn das Thema „Vertiefungvor Erweiterung – Europahandlungsfähig gestalten“führten ein: Hartmut Nas-sauer MdEP, VorsitzenderCDU/CSU-Gruppe im Euro-päischen Parlament sowieZdenek T°uma, Gouverneur,Tschechische Nationalbank.

Unter der Moderation vonHenning Krumrey, Leiter derParlamentsredaktion Focus,Berlin, diskutierten: OvidiuVictor Gant, Beobachter vonRumänien im EuropäischenParlament; Eggert Vosche-rau, Stellvertretender Vorsit-zender des Vorstands derBASF AG; Klaus-Peter Müller,Sprecher des Vorstands derCommerzbank; Daniel Gros,Direktor des Centre for Euro-pean Policy Studies (CEPS).

Vertiefung vor Erweiterung – Europahandlungsfähig gestalten

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78 trend II/2006

Hartmut Nassauer sagte, Vertiefung und Er-weiterung in der Europäischen Union müss-ten jeweils getrennt analysiert werden. DerVorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im Euro-päischen Parlament begann mit der Analyseder Erweiterung. Es stelle sich die Frage, obnach der Aufnahme von zehn Mitgliedstaatenim Mai 2004 weitere Aufnahmen möglichoder notwendig seien. „Ich spreche dabeinicht über die Fälle Rumänien und Bulgarien,denn hier sind die grundsätzlichen Entschei-dungen gefallen, egal wie man dazu stehenmag“, sagte Nassauer. Beide Länder würdenaufgenommen. Die einzige offene Frage sei,ob die Aufnahme der beiden Länder zumJanuar 2007 oder 2008 vollzogen werde.

„Wie geht es danach mit der Erweiterung wei-ter?“, fragte Nassauer. Dies beinhalte die Fra-ge, welche Ausdehnung die EU überhaupt ha-ben solle. Ein erster Hinweis finde sich in denEU-Verträgen. Dort heiße es, dass jeder euro-päische Staat, der die Grundsätze der Freiheitachte, beantragen könne, Mitglied der EU zuwerden. Mithin sei die Frage zu untersuchen,ob Staaten, die nur zum Teil oder nur zu ei-nem kleinen Teil europäische Staaten seien,aufgenommen werden könnten. Noch wichti-ger sei der Passus, dass eine Mitgliedschaftzur EU zwar beantragt werden könne, es aberaus juristischer Sicht keinen Anspruch auf ei-

ne Mitgliedschaft gebe. „Kein Staat hat diesenAnspruch – nicht die Türkei, nicht die Schweizund auch nicht Norwegen“, stellte Nassauerklar. „Die EU-Mitglieder entscheiden völligfrei, ob sie ein neues Mitglied in ihren Clubaufnehmen oder nicht.“

Mit Blick auf die Aufnahme der zwölf mittel-und osteuropäischen Staaten in die EU erklär-te Nassauer, die Teilung Europas habe nur miteiner Öffnung nach Osten beantwortet wer-den können. „Dies ist die Bedingung für einefriedliche, freiheitliche, demokratische undrechtsstaatliche Entwicklung in diesen Län-dern.“ An dieser Entwicklung habe insbeson-dere Deutschland ein existenzielles Interesse.Nassauer sagte, im Großen und Ganzen seidie Erweiterung geglückt, sie sei insbesonde-re aus wirtschaftlicher Sicht ein großer Erfolg,gerade für Deutschland.

Nassauer kritisierte jedoch, dass die Bundes-regierung die Freizügigkeit für Arbeitnehmeraus den mittel- und osteuropäischen Staatenfür weitere drei Jahre eingeschränkt habe.Dies werde Deutschland im Wettbewerb umdie besten Köpfe zurückwerfen.

Ein weiteres Problem bei der zurückliegendenErweiterung sei die Tatsache, dass zwar denBeitrittsländern erhebliche Anstrengungenabverlangt worden seien, die alten Mitglied-staaten der EU aber zu wenig für ein erfolgrei-ches Gelingen der Erweiterung in ihren eige-nen Ländern getan hätten. „Wenn es kein Zu-sammengehörigkeitsgefühl mit den Beitritts-ländern gibt, dann gibt es auch nicht die Soli-darität, die man etwa benötigt, um zu be-gründen, warum man Geld in die Handnimmt, um diesen Ländern zu helfen“, kriti-sierte Nassauer. „Allein mit wirtschaftlichenVorteilen, ja selbst mit der friedensstiftendenFunktion der Erweiterung ist der Vorgang derErweiterung für viele Menschen bei unsoffensichtlich nicht hinreichend erklärt.“ Essei versäumt worden, deutlich zu machen,dass es im Kern nicht um eine Erweiterung,sondern um die Wiederherstellung einer frei-heitlichen europäischen Ordnung gehe, die esfrüher bereits gegeben habe. „Das Bewusst-sein dafür haben wir nicht hinreichend ent -wickelt“, kritisierte Nassauer.

Hartmut Nassauer MdEPVorsitzender CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament

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79II/2006 trend

Die Grundlage für dieses Bewusstsein sei abervorhanden, da die europäischen Staaten einegemeinsame Geschichte und gemeinsameWerte verbinde. „Diese Gemeinsamkeit be-zeichnet gleichzeitig die Grenze Europas unddamit auch die Grenze für mögliche Erweite-rungen“, sagte Nassauer. „Europa endet dort,wo die geschichtlichen Voraussetzungen fürdie gemeinsamen kulturellen Wurzeln nichtmehr gegeben sind. Dies schließt nach mei-nem Verständnis eine Aufnahme der Türkei indie Europäische Union aus.“ Die Türkei sei fürdie EU ein sehr wichtiger Partner. Nach denWorten Nassauers müssen aber andere insti-tutionelle Voraussetzungen für die Zusam-menarbeit mit der Türkei gefunden werden.„Wir brauchen jetzt eine Konsolidierung desStandes, der bislang erreicht wurde.“

Zur Vertiefung der EU sagte Nassauer, diesemüsse vor allem mehr Handlungsfähigkeit er-öffnen. „Sie zielt auf die Integration der EU.“Materiell gehe es dabei um die Frage, welcheZuständigkeiten auf Ebene der EU und welcheauf der Ebene der Mitgliedstaaten angesie-delt werden sollen. Formell gehe es um dieFrage, mit welchen Methoden die EU ihre Zu-ständigkeiten ausüben solle. „Mit der Frageder Vertiefung hängt also zwingend die Fragezusammen, wohin die EU sich entwickeln

soll.“ Die Vertiefung könne ebenso wenigschrankenlos voran getrieben werden wie dieErweiterung grenzenlos sein könne. „Die Vor-stellung der EU als überstaatliche Einrichtungist jedenfalls eine zu begrenzende. Wir wollennicht schrankenlos und beliebig weit Zustän-digkeiten auf die EU übertragen“, betonteNassauer.

Dazu bedürfe es eines Maßstabs, und dieserMaßstab sei das Prinzip der Subsidiarität. „DieEU soll sich also füglich nur mit Dingen befas-sen, die sie auf der überstaatlichen Ebene bes-ser erledigen kann.“ Wenn man die Zustän-digkeitsordnung so definiere, gewinne siePlausibilität, sagte Nassauer. „Dann kannman nämlich begründen, warum die EU et-was macht. Mit Plausibilität gewinnt dasHandeln der EU auch Akzeptanz.“ Gegenwär-tig fehle es allerdings an einer Subsidiaritäts-kultur auf europäischer Ebene, mithilfe dererpräzise untersucht werde, was auf EU-Ebeneund von den untergeordneten Gebietskörper-schaften geregelt werden könne. „Wir wollenuns nicht zum Europäischen Bundesstaatentwickeln“, betonte Nassauer. Darum benö-tige auch die Vertiefung eine Grenze. „Erwei-terung und Vertiefung müssen begrenzt blei-ben. Überdehnung stellen Handlungsfähig-keit und Akzeptanz in Frage.“

Eggert Voscherau, Stellvertretender Vorsitzen-der des Vorstands der BASF AG, sagte, ein hand-lungsfähiges Europa sei zwar wichtig, ein er-folgreiches Europa aber sei wichtiger. „Fast 50Jahre lang haben wir den Unglücklichen jen-seits des Eisernen Vorhangs erzählt, wir wollenden nicht, wir wollen euch. Jetzt kostet es unsalle was, und dann sagen wir: aber bitte nichtso schnell. Das können wir weder den Ru -mänen, den Polen noch den anderen Ländernin dieser Form klar machen. Denn wir habennichts anderes als Glück gehabt, dass wir aufder richtigen Seite des Eisernen Vorhangs wa-ren“, sagte Voscherau. Die EU sei bislang nichtüber den „Wohlstandsegoismus“ der einzelnenLänder hinaus gekommen. Europa werde nurdann erfolgreich sein, wenn verstanden werde,dass nicht Schutzmaßnah men, sondern Öff-nung unsere Zukunft am besten sicherten.„Das ist nicht nur konkret bei Märkten der Fall– das ist auch insgesamt zu verstehen: „Wirmüssen Europa eben nicht zukunftsfest,sondern zukunftsoffen machen – offen für

Wettbewerb, offen für Innovati onen“, sagteVoscherau.

Die Frage Krumreys, ob die Wirtschaft über-haupt auf eine politische Union in Europa an-gewiesen sei, beantwortete Klaus-Peter Müller,

Page 36: trend Dokumentation zum Wirtschaftstag 2006

80 trend II/2006

Zdenek T°uma stellte die Frage, ob die Europäi-sche Union tatsächlich einem Dilemma zwi-schen Vertiefung und Erweiterung gegen-überstehe. „Wir sollten den Integrationspro-zess von zwei Seiten – vom ökonomischenund politischen Standpunkt aus – betrach-ten“, sagte T°uma. Vom ökonomischen Stand-punkt aus gesehen seien sowohl Vertiefungder EU als auch deren Erweiterung primärspontane Prozesse. Dies gelte jedoch nichtnotwendigerweise aus politischer Sicht. „Un-glücklicherweise werden diese beiden Aspek-te oft verwechselt – und dies kann zu irrefüh-renden Schlussfolgerungen führen“, mahnteT°uma.

Zunächst ging T°uma auf die ökonomische Per-s pektive ein. „Als ein Neuling der EU kann ichbestätigen, dass wir eine spontane Integrati-on mit der EU beobachtet haben, lange bevorder Beitrittsfahrplan für unser Land über-haupt öffentlich genannt wurde“, betonte derGouverneur der Tschechischen Nationalbank.„Deswegen rechne ich auch nicht damit, dassdie Erweiterung der EU allein wegen einesfehlenden politischen Willens zu Erweiterungenden wird.“

Marktkräfte würden die EU-Nachbarländer„im Spiel halten“, prophezeite T°uma. Die poli-tischen und institutionellen Rahmenbedin-

gungen könnten den Prozess zwar befördernoder bremsen, jedoch kaum ganz beenden.

Aus ähnlichen Gründen verliefe auch die Ver-tiefung der bestehenden EU aus ökonomi-scher Sicht weiterhin eher spontan. „Wir be-obachten zum Beispiel eine dynamische Inte-gration der Finanzarchitektur und eine wach-sende Zahl grenzüberschreitender Unterneh-menszusammenschlüsse – sowohl im Finanz-sektor als auch in anderen Branchen“, sagteT°uma.

Auch hier würde ein angemessenes institu-tionelles Regelwerk helfen, sagte der Gouver-neur der Tschechischen Nationalbank. Aberder Konsolidierungsprozess schreite auch oh-ne ein solches voran. „Aus ökonomischer Sichtziehe ich deshalb die Schlussfolgerung, dassdas angebliche Dilemma zwischen EU-Erwei-terung und Vertiefung so gar nicht existiert“,sagte T°uma. „Tatsächlich gehen beide Vorgän-ge in der Praxis in jedem Moment unverän-dert weiter voran, politische Entscheidungs-träger haben deswegen nur sehr begrenzteMöglichkeiten, sich zwischen diesen beidenAspekten der Integration zu entscheiden.“

Allerdings werde die Fragestellung unter Be-rücksichtigung der politischen Dimensionweitaus komplexer. Zwar finde die wirtschaft-liche Integration relativ unabhängig vom po-litischen Willen statt, wenngleich das politi-sche Regelwerk auch die Geschwindigkeit derökonomischen Integration beeinflusse. Dochseien Politiker gefangen zwischen ihrer Visioneines integrierten Europas und dem Druck ih-rer Wähler in ihrem Heimatland, die ihre Be-sitzstände wahren wollten. „Ihre Unfähigkeit,den Wählern die Vorzüge der europäischenIntegration zu erklären, ist eine Quelle derFrus tration – und sie setzt der wirtschaftlichmehr und mehr integrierten EU bei ihrer poli-tischen Erweiterung und Vertiefung engeGrenzen“, warnte T°uma.

Diese Situation verführe Politiker dazu, dasArgument eines angeblichen Dilemmas zwi-schen Erweiterung und Vertiefung zu nutzen.„Aber Unternehmer werden Politiker nichtum Erlaubnis fragen, wenn sie beabsichtigen,einen Firmensitz in der Türkei oder auf dem

Zdenek T°umaGouverneur Tschechische Nationalbank

Page 37: trend Dokumentation zum Wirtschaftstag 2006

81II/2006 trend

Sprecher des Vorstands der Commerzbank, mitder Feststellung, eine politische Union habeseiner Auffassung nach entscheidende Vortei-le. Müller kritisierte jedoch, dass die „Politik dieMenschen verloren“ habe. „Die Politik hat einTempo vorgelegt, das die Mehrzahl der betrof-fenen europäischen Bevölkerung nicht mehrverstanden hat“, sagte Müller. „Der negativeAusgang der Verfassungsreferenden in Frank-reich und den Nieder landen ist die Chance, in-nezuhalten, Konsens herzustellen und das Kon-zept der Europäischen Union neu zu veran-kern“, sagte Müller. Der bisher scheinbar gel-tende Automatismus stetiger Vertiefung beigleichzeitiger Erweiterung per „Kabinett-Diplo-matie“ sei seit Juni 2005 in Frage gestellt. „Vie-le Bürger sehen in der Europäischen Integrati-on eben noch keine überzeugende Antwort aufdie Heraus forderungen der Globalisierung,sondern betrachten sie vielmehr als Teil desProblems.“ Die nun angestoßene Phase der Re-flexion sollte daher dazu genutzt werden, denBürgern zuzuhören, ihre Erwartungen an dieEU besser zu verstehen und eine überzeugendeDiskussion über ihre künftige Gestalt zu füh-ren. Zudem gelte es, im globalen Wettbewerbum leistungsfähige Märkte und Institutioneneigenständige Antworten für die EU zu ent -

wickeln. Die abstrakten Konzepte der „Er -weiterung“ und „Vertiefung“ könnten daherkeine eigenständigen Ziele „an sich“ sein, son-dern lediglich zentrale Mittel zu deren Errei-chung, betonte Müller.

Daniel Gros, Direktor des Centre for EuropeanPolicy Studies (CEPS), erklärte in Übereinstim-mung mit Zdenek T°uma, zwischen Vertiefungund Erweiterung der EU bestehe kein Wider-spruch. Gros konstatierte, die Malaise der EUkonzentriere sich im Wesentlichen auf die gro-ßen Länder wie Deutschland, Frankreich undItalien. Diese Länder hätten es versäumt, sichrechtzeitig auf die EU-Erweiterung und die Glo-balisierung einzustellen. „Das ist das grund-sätzliche Problem“, sagte Gros. Der Bevölke-rung seien Versprechungen gemacht worden,die nicht hätten gehalten werden können. „DieProbleme Europas sind zur jetzigen Zeit fastimmer nicht ein Problem der europäischen Ver-fassung, sondern der schlechten Verfassungder Staaten, insbesondere der größeren Mit-gliedstaaten“, sagte Gros. Gros machte deut-lich, dass der Erweiterungs- und Vertiefungs-prozess der EU seit jeher zwei parallel laufendeVorgänge gewesen seien, die sich nicht gegen-seitig ausschlössen.

Balkan zu eröffnen. Sie werden ihre Regierun-gen auch nicht fragen, wenn sie ihre Aktivitä-ten in Mitgliedstaaten innerhalb der derzeiti-gen EU-Grenzen intensivieren wollen. Sie wer-den es einfach tun“, betonte T°uma. Die Rolleder Regierungen sei darum nicht, die sponta-ne ökonomische Integration der EU zu behin-dern, sondern diesen Prozess zu fördern. „Mei-

ne zweite Schlussfolgerung lautet deshalb:Unzufriedenheit mit der Unfähigkeit, die be-stehende EU politisch zu vertiefen, darf nichtzum Argument dafür werden, die politischeErweiterung zu bremsen. Die Wirtschaft wirdihren Weg auch ohne die Politik machen –Europa aber würde verlieren, wenn die Politiknicht mitzieht.“

Page 38: trend Dokumentation zum Wirtschaftstag 2006

82 trend II/2006

Romanus Otte, stellvertretender Chef -redakteur der Welt am Sonntag, mode-rierte auf dem zweiten Podium die Debat-

te um den „Schlüsselfaktor Bildung und For-schung – Innovationspolitik für den Arbeits-markt von morgen“.

Hans-Jörg Bullinger, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, betonte, dass Deutschland nur alskreative, innovative Gesellschaft überlebensfä-hig sei. „Vorsprung durch Innovation ist der ein-zige Weg, um am Standort Deutschland Arbeitund Wohlstand zu sichern“, erklärte Bullinger.Eine Exportnation wie Deutschland müsse Pro-dukte und Dienstleistungen anbieten, die aufden Weltmärkten konkurrenzfähig seien. „Wennwir in Deutschland einen deut lich höheren Le-bensstandard haben wollen als andere Länder,dann müssen wir auch etwas her stellen oder et-was leisten, was diese nicht können – innovati-ve, einzigartige Produkte und Dienstleistungen,für die Verbraucher auch bereit sind, einen hö-heren Preis zu bezahlen“, sagte Bullinger. Bil -dung und Forschung schafften die Grundlagenfür Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit.

Jürgen Kluge, Direktor, McKinsey & CompanyInc., stimmte zu. Dabei stehe Bildung am Be-ginn einer Wirkungskette, deren letztes Gliedgesellschaftlicher Wohlstand sei. „Die Bedeu-tung von Bildung verstärkt sich insgesamt noch– sowohl für jeden Einzelnen als auch für dieGesellschaft.” Der Grund sei der Strukturwan-del hin zu einer auf Wis sen basierenden Dienst-leistungsgesellschaft. „Wissen ist nahezu dereinzige Rohstoff Deutsch lands. Geschaffen wirder durch Bildung und umgesetzt wird er in In-novationen – die Basis für Wachstum und da-mit für Wohlstand.” Um in Zukunft erfolgreichzu sein und unser Wohlstandsniveau zu haltenoder sogar zu stei gern, seien alle gefordert: Bür-ger, Unternehmen und Politik. Umfrageergeb-nisse belegten, dass die Existenz einer solidari-schen Leistungsgesellschaft erwünscht undmöglich sei. „Die Deutschen zeigen sich näm-lich keineswegs reformmüde: Sechs von zehnBefragten plädieren für einen schnelleren ge-sellschaftlichen Wandel hin zu mehr Markt inMa ßen“, sagte Kluge. Dafür seien sie bereit,mehr Lebensrisiken selbst zu tragen und größe-re soziale Unter schiede hinzunehmen.

Podium IIIn das Thema „Schlüsselfak-tor Bildung und Forschung –Innovationspolitik für denArbeitsmarkt von morgen“führten ein: Thomas RachelMdB, ParlamentarischerStaats sekretär bei der Bun-desministerin für Bildungund Forschung sowie Dr.Dieter Hundt, Präsident,Bundesvereinigung derDeutschen Arbeitgeberver-bände.

Unter der Moderation vonRomanus Otte, stellvertre-tender Chefredakteur derWelt am Sonntag diskutier-ten: Hans-Jörg Bullinger,Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft; Jürgen Kluge,Direktor, McKinsey & Com-pany Inc.; Edward Krubasik,Präsident des Zentralver-bands Elektrotechnik- undElektroindustrie (ZVEI);Klaus Schmidt, Vorsitzenderder Vorstände der DEKRAe.V. und der DEKRA AG.

Schlüsselfaktor Bildungund Forschung –Innovationspolitik für denArbeitsmarkt von morgen

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83II/2006 trend

Thomas Rachel sagte, im Wettbewerb derKraft- und Wohlstandsquellen in Deutschlandmüssten Bildung, Forschung und Wissen-schaft ganz oben stehen. „Denn sie sind derSchlüssel für die Zukunftsfähigkeit unseresLandes.“ Dies habe auch die neue Bundesre-gierung so wahrgenommen. „Wir sagen aberzu Beginn ganz offen, dass sich neben der Po-litik auch die Wirtschaft in den Dienst dieserSache stellen muss, damit wir Deutschlandwieder zu einem Pionierland für Innovatio-nen machen können“, betonte Rachel.

Die Bundesrepublik brauche eine stimmigeInnovationspolitik, weil sie nach wie vor diedrittgrößte Industrienation weltweit sei. 16,5Prozent aller OECD-Exporte an Technologie-gütern machten Deutschland zum export-stärksten Land. „Wir haben auch Stärken hier:hohe politische und soziale Stabilität, einegute Infrastruktur. Wir haben ohne Frage einegewisse Rolle in Europa. Aber: Wir sollten unsdavor hüten, im Technologie- und Bildungs-wettbewerb von unseren Nachbarn abge-hängt zu werden“, warnte Rachel.

Ein wichtiges gesellschaftspolitisches Anlie-gen sei es, dass alle jungen Menschen eine be-rufliche Perspektive bekämen. „Wir können esuns weder volkswirtschaftlich noch demogra-

phisch leisten, dass junge Frauen und Männernicht in die Arbeitswelt integriert werden.“Deutschland müsse in die Menschen und ihreTalente investieren, forderte Rachel. „Aberauch die Arbeitnehmer, die bereits im Er-werbsleben stehen, müssen wir in den Blicknehmen. Denn ganz klar ist, Bildung ist ein le-benslanger Prozess.“ Bildung eröffne Lebens-perspektiven und Teilhabechancen in der Ge-sellschaft. „Deshalb müssen wir uns gemein-sam darum bemühen.“

Um die Arbeitsplätze der Zukunft zu ent -wickeln, habe Bundesbildungsministerin An-nette Schavan (CDU) einen Innovationskreiszum Thema berufliche Bildung und einen In-novationskreis zum Thema Weiterbildungeinberufen, an dem auch wichtige Vertreterder deutschen Wirtschaft beteiligt seien.„Wenn wir sagen, Deutschland muss Talent-schmiede werden, dann heißt das, dass wiralle Begabungsreserven heben müssen. Dasheißt auch, dass wir die Potenziale, die bei denMigranten liegen, sehen und erkennen müs-sen.“ Bei der Bildungspolitik gehe es darum,die Begabten ebenso zu fördern wie dieBenachteiligten. Deshalb habe die große Ko-alition die Förderung für die Begabten aufge-stockt. „Wir brauchen Leistungseliten in derBundesrepublik, damit die Volkswirtschaftwieder nach vorne kommt“, betonte Rachel.

Deutschland brauche darüber hinaus qualifi-zierte Wissenschaftler. „Die Herausforderungwill ich Ihnen nur mit einer einzigen Zahldeutlich machen: In China wurden zwischen1997 und 2004 mehr Forscher eingestellt, alswir in Deutschland insgesamt haben.“ Dieszeige das dramatische Tempo in Asien.Gemessen an dem Ziel, drei Prozent des Brut-toinlandsprodukts für Forschung und Ent-wicklung ausgeben zu wollen, fehlten derBundesrepublik rund 90.000 Ingenieure.Deshalb sei es ein Glücksfall, dass die Zahl derStudienberechtigten steigen werde. Die Bun-desländer und der Bund stünden deshalballerdings auch vor der Herausforderung, denStudierwilligen Chancen zu geben, ihre be-rufliche Qualifizierung an Hochschulen undFachhochschulen vorzubereiten. „Deswegenhat die Bundesbildungsministerin den

Thomas Rachel MdBParlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung

Page 40: trend Dokumentation zum Wirtschaftstag 2006

84 trend II/2006

Edward Krubasik, Präsident des Zentralver-bands Elektrotechnik- und Elektroindustrie(ZVEI), betonte ebenfalls, Grundlage jeder er-folgreichen Wirtschaftspolitik sei, die Innovati-ons-, Wachstums- und Wettbewerbsfähigkeitzu stärken. Deutschlands Chancen lägen in derInnovation – und nicht allein bei der Kosten-senkung. „Innovationen sind ohne kreativeKöpfe nicht möglich. Exzellenz in Ausbildung,Bildung und Wissen ist in einem rohstoffarmenLand wie Deutschland die Basis von Wertschöp-fung, Innovation und Wachstum.”

Klaus Schmidt, Vorsitzender der Vorstände derDEKRA e.V. und der DEKRA AG, hält den Wandelvon der produzierenden Industrie hin zurDienstleistungsge sellschaft in Deutschland für„unaufhaltsam”. Beim Wertschöpfungsanteilnach Sektoren liege die Dienstleistungsbran-che bereits weit vorne: Etwa 70 Prozent desBruttoinlandsprodukts gingen auf das Kontovon Dienstleistungen. „Dementsprechend hatdie Bedeutung von Humankapital deutlich zu-genommen”, sagte Schmidt. Die Dienst leis -

tungs branche beschäftige überdies bereitsmehr als zwei Drittel aller Erwerbstätigen inDeutschland. „Humankapital fördert – das istunbestritten – Innovationen und Wachstum.Deutschland hat dabei erheblichen Nachholbe-darf, speziell im Dienstleistungssektor”, sagteSchmidt. Ein Indikator dafür seien die Ausga-ben für Forschung und Entwicklung. Der Anteilder deutschen FuE-Aktivitäten am Bruttoin-landsprodukt liege mit 2,5 Prozent nur nochleicht über dem OECD-Mittel. Das Ziel der Bun-desregierung, zur Verbesserung der Wettbe-werbsfähigkeit Deutsch lands die Investitionenin Bildung und Forschung zu erhöhen, sei des-halb richtig.

Bullinger betonte, motivierte und gut ausgebil-dete Fachkräfte seien die wichtigste Ressourcefür den Standort Deutschland. In den nächstenJahren sei jedoch ein Fachkräftemangel abseh-bar. Insbesondere in den zukunftsträchtigenSchlüsseltechnologien würden Wissenschaftlerund Ingenieure fehlen.

Krubasik sagte, die deutsche Wirtschaft brau-che jährlich weit mehr als 10.000 Ingenieureder Elektro- und Informationstechnik. Es habe2005 jedoch nur 8.000 Absolventen gegeben.„In fünf bis zehn Jahren könnte sich diesesMissverhältnis wieder einstellen, wenn wirnicht die heutigen Trends durch eine Reihe vonMaßnahmen umkehren”, warnte Krubasik.Nach den Erfahrungen der letzten fünf Jahrenehme der Akademikerbedarf der deut schenWirtschaft allein wegen des Wandels der Be-schäftigungsstruktur zugunsten for schungs-und wissensintensiver Wirtschaftszweige unddes Innovationsdrucks jährlich um über

Bundesländern einen Hochschulpakt an -geboten, mit dem wir zwei Ziele erreichenwollen: Einerseits sollen die Hochschulen fürden absehbaren Studentenandrang offengehalten werden. Andererseits soll die Qua -lität der Lehre gestärkt werden“, erläuterteRachel.

Autonomie und Wettbewerb seien die Leitbil-der der christdemokratischen Wissenschafts-politik, sagte der Parlamentarische Staatsse-kretär. „Dabei wollen wir uns als Bundesregie-rung bemühen, die Strukturen in den Bil-dungs- und Forschungseinrichtungen in denBlick zu nehmen, die Profilbildung zu stärken

und die Spitzenforschungszentren in ihrer in-ternationalen Ausstrahlung zu verbessern“,sagte Rachel. Damit dies umgesetzt werdenkönne, habe die Bundesregierung beschlos-sen, den Anteil der Forschungs- und Bildungs-investitionen am Bruttoinlandsprodukt spür-bar zu steigern. „Noch nie hat eine Bundesre-gierung so viel Geld für Forschung und Ent-wicklung zur Verfügung gestellt.“ Die Bun-desregierung habe ihren Anteil zur Steige-rung der Forschungsausgaben beigesteuert,nun sei auch die Wirtschaft gefragt, ihren An-teil zu leisten, forderte Rachel. „Wir brauchendas Zusammenspiel von Politik und Wirt-schaft.“

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85II/2006 trend

Das Engagement der Arbeitgeber in der Bil-dungspolitik fasste BDA-Präsident DieterHundt unter dem Motto „Bildung schafft Zu-kunft“ zusammen. Bildung schaffe Zukunftfür Menschen, unterstrich Hundt. „Die Ent-wicklung von Berufsfähigkeit und Persönlich-keit ist der entscheidende Schlüssel für dieTeilhabe an der wirt schaftlichen, gesellschaft-lichen und kulturellen Entwicklung der Zeit“,sagte der Arbeitgeberpräsident. Bildungschaffe auch Zukunft für die Wirtschaft:„Wirtschaftliche Entwicklung ist abhän gigvon den Kompetenzen der Menschen in Be-trieben, in Forschung und Ent wicklung. DerWirtschaftsstandort ist auf den Bildungs-standort Deutschland an gewiesen“, betonteHundt. Bildung schaffe ferner Zukunft für dasgesamte Land: „Deutschland benötigt einePrioritätenset zung in der Bildung. Erforder-lich ist eine Umschichtung von teuren sozial-politi schen Reparaturmaßnahmen hin zu In-vestitionen in Bildungschancen“, erklärte derBDA-Präsident.

Eine umfassende Debatte über Bildungsrefor-men sei inzwischen in Gang gekommen. „Zen-trale Auf gabe ist es jetzt, das Bildungssystemauf neue Herausforderungen auszurichtenund notwendige Reformen umzusetzen be-ziehungsweise die bereits begonnenen Refor-men zu forcieren“, forderte der Arbeitgeber-

präsident. Schlüsselfaktoren für den Unter-nehmenserfolg in Deutschland seien unteranderem die Ausbildungsfähigkeit der Schul-abgänger, die Berufsfähigkeit der Absolven-ten der dua len Ausbildung und die Beschäfti-gungsfähigkeit der Hochschulabsolventen so-wie der Erhalt eines hohen Qualifikationsni-veaus der Beschäftigten. „Grundlage für dieReformen müssen die erfolgreichen markt-wirtschaftlichen Prinzipien sein, auf denenauch der unternehmerische Erfolg beruht“,sagte Hundt. Dazu zählten insbesondere Au-tonomie und Wettbewerb für die Einrichtun-gen im Bildungssystem. Dies führe zu größe-ren Bildungserfolgen und zu einer kontinu-ierlichen Leistungssteigerung der Bil -dungseinrichtungen.

Vor dem Hintergrund einer zunehmend inter-national vernetzten Wirtschaft gewönnen diegrenzüberschreitende Mobilität und die in-terkulturelle Erfahrung für die Unternehmenkontinuierlich an Bedeutung, erläuterteHundt. „Diese Mobilität muss im Rahmen derAusbildung ausge baut werden. Das gilt be-sonders für die Auszubildenden in der beruf-lichen Bildung.“ Die Abschottung der Bil-dungsbereiche sei jedoch zu überwinden, for-derte der Arbeitgeberpräsident. „Aus bisheri-gen Abschlüssen müssen neue Anschlüsseentstehen. Durchlässigkeit ist vor allem zwi-schen beruflicher und hochschulischer Bil-dung, aber auch zwischen den Schulformensowie zwischen Be rufstätigkeit und Weiter-bildung erforderlich“, so Hundt weiter.

Wichtige Instrumente dabei seien ein euro-päischer und ein nationaler Qualifikations-rahmen, die nach den Worten des Arbeitge-berpräsidenten beide rasch entwickelt undumgesetzt werden müssen. „Transparenz undVergleich barkeit von Kompetenzen und Fä-higkeiten sichert Mobilität und Durchlässig-keit.“ Die in Deutschland erschreckend hoheKorrelation zwischen sozialer Herkunft undBil dungserfolg entspreche dem Zusammen-hang von sozialer Herkunft und Wahl des Bil -dungsganges. „Dieser Zusammenhang kannentkoppelt werden, wenn konsequent aufKompetenzen und nicht auf Abschlüsse ge-schaut wird“, betonte Hundt. Dies schaffe dieGrundlage für ein hohes Qualifikationsni-

Dr. Dieter HundtPräsident Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände

Page 42: trend Dokumentation zum Wirtschaftstag 2006

86 trend II/2006

50.000  zu. „Wir haben in Deutschland im inter-nationalen Vergleich einen deutlichen Nach-holbedarf an technisch ausgebildeten Men-schen”, sagte Krubasik.

Bullinger betonte, die Deutschen seien noch im-mer hervorragende Erfinder und Ingenieure.„Doch viele bahnbre chende Erfindungen wur-den nicht in Deutschland, sondern in Asien undden USA zu Innovatio nen, zu erfolgreichen Pro-dukten umgesetzt“, kritiserte Bullinger. Ob auseiner Idee ein marktreifes Produkt werde, ent-scheide sich in den Unternehmen. „Doch oftsind die Innovationsprozesse ineffizient undwenig systematisiert.“ Je inno vativer ein Unter-nehmen sei, desto profitabler sei es auch.„Wachstumsstarke Unternehmen er zielen fastdrei Viertel ihrer Umsätze mit Produkten, diejünger als drei Jahre sind. Kreative Ideen reichendafür alleine nicht aus, sie müssen in erfolgrei-che Produkte am Markt umgesetzt wer den.“

Romanus Otte stellte die Frage, ob eine Renais-sance der Ingenieurkunst in Deutschland zubeobachten sei. „Es gibt etwas Hoffnung“, sag-

te Bullinger. Allerdings werde der Ingenieur-mangel noch eine Weile anhalten. Gegenwär-tig studierten noch immer mehr junge Men-schen Soziologie und Psychologie als Inge-nieurwissenschaften. Bullinger kritisierte, dasssich der Mythos „vom genialen Erfinder“ auchheute noch hartnäckig halte, obwohl schon lan-ge nachgewiesen sei, dass meist mehrere For-scher oder ganze Gruppen hinter den Erfolgenstünden. „Heute stehen wir vor einem erneu-ten Paradigmenwechsel hin zu unternehmens -übergreifenden Netzwerken.“ An die Stelle dertraditionellen großen Unternehmen und staat-lichen Forschungseinrichtungen treten nachden Worten Bullingers flexible Innovations-netzwerke. Bullinger erläuterte, dass in einer ri-sikoaversen Gesellschaft die Innovationsfähig-keit verkümmere. „Innovation ist immer mit ei-nem Risiko verbunden, denn der Erfolg amMarkt hängt von vielen unvorhersehbaren Ent-wicklungen ab. Wir sind in Deutschland aber ei-ne Gesell schaft geworden, die ein extremes Si-cherheitsbedürfnis entwickelt hat. Wir inve-stieren lieber in Immobilien als in neue Techno-logien oder Geschäftsideen.”

veau der Gesamtbevölkerung, für individuel-le Entwicklungsmöglichkeiten von Fach- undFührungskräften und für die Herausbildungvon Eliten im Wettbewerb.

„Arbeitgeber formulieren nicht nur Forderun-gen, sie engagieren sich auch in vielfältigerWeise bei der Umsetzung von Reformansät-zen im Bildungsbereich“, stellte Hundt klar.Beispiel sei die Bun desarbeitsgemeinschaft„Schulewirtschaft“, die kontinuierlich wach-se. Hundt forderte, dass Schulen und Hoch-schulen intensiver von den Kooperationsan-

geboten der Unter nehmen Gebrauch machensollten, um damit den erforderlichen Praxis-bezug für Schüler und Studierende sowie fürLehrer und Professoren sicherzustellen. „DieVerbindung aus der Vermitt lung von schuli-schem und hochschulischem Wissen mit derberuflichen Wirklichkeit sichert Anwen-dungsfähigkeit und erleichtert den berufli-chen Einstieg“, betonte der BDA-Präsident.Ziel aller Akteure müsse es sein, das Individu-um, die Bildung seiner Persönlichkeit sowiedie Entwicklung seines Potenzials und seinerBerufsfähigkeit in den Mittelpunkt zu stellen.

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Auf dem Podium III wurde unter Modera-tion von Roland Tichy, Stellv. Chefredak-teur des Handelsblatts, die Frage erör-

tert, wie der hohen Arbeitslosigkeit beizukom-men ist und der Sozialstaat zukunftsfest ge-staltet werden kann.

Martin Kannegiesser, Präsident des Arbeitge-berverbandes Gesamtmetall, betonte, Deutsch-land müsse weiter daran arbeiten, das Land andie veränderten Bedingungen einer globali -sierten Wirtschaft anzupassen. „Allein mit dendynamisch wachsenden Ländern China und In-dien sind drei Milliarden Menschen zusätzlichin diesen globalen Arbeitsmarkt eingetreten“,sagte Kannegiesser. Gerade wenig qualifizierteArbeiten gerieten unter hohen Wettbewerbs-druck. Der Weltmarkt gebe ein hohes Tempo vor.„Je besser wir uns auf die Veränderungen ein-

stellen, desto höher sind unsere Chancen – auchauf dem Arbeitsmarkt“, unterstrich Kannegies-ser. Der Gesamtmetall-Präsident sagte, die Bun-desrepublik müsse den Sozialstaat zukunftsfestgestalten und seine Finanzierung neu organi-sieren. Das veränderte Umfeld der Globalisie-rung erfordere, die Sozialversicherungssystemeneu auszutarieren. „Es geht dabei nicht um dieDemontage des Sozialstaats“, betonte Kanne-giesser. Die Deutschen aber hätten in den ver-gangenen Jahrzehnten ihre Ansprüche immerhöher geschraubt und nicht darauf geachtet,dass die Leistungskraft nicht mehr Schritt hal-ten könne. Das habe die Sozialsysteme teuerwerden lassen und die Arbeitskosten nach obengetrieben. „Wenn wir es ernst meinen, müssenwir die Schaffung von Arbeitsplätzen wirklich inden Vordergrund stellen – und alles andere trittda hinter zurück“, sagte Kannegiesser.

Podium IIIIn das Thema „Arbeit schaf-fen – Sozialstaat zukunfts-fest gestalten“ führten ein:Peter Müller MdL, Minister-präsident des Saarlandessowie Prof. Dr. Hans-WernerSinn, Präsident, Ifo Institutfür Wirtschaftsforschung.

Unter der Moderation vonRoland Tichy, Stellv. Chef -redakteur des Handelsblattsdiskutierten: Martin Kanne-giesser, Präsident des Arbeit-geberverbandes Gesamt me-tall; Frank-Jürgen Weise, derVorstandsvorsitzende derBundesagentur für Arbeit(BA); CDU-GeneralsekretärRonald Pofalla; GerhardRupprecht, Mitglied des Vor-stands der Allianz AG.

Arbeit schaffen – Sozialstaat zukunftsfest gestalten

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Peter Müller machte deutlich, dass Innovatio-nen in entwickelten Industriestaaten der ent-scheidende Faktor für Wachstum und Wohl-stand seien. „Innovation steigert die indust -rielle Wettbewerbsfähigkeit und schafft undsichert Ar beitsplätze“, sagte der saarländi-sche Ministerpräsident. Um Innovationenhervorzubringen, komme es vor allem auf denInformationsaus tausch zwischen Wirtschaftund Wissenschaft an. Die enge Vernetzungvon Technologieangebot und -nachfrage er-mögliche Transferprozesse und wechselseiti-ge Lerneffekte. „Denn es genügt nicht, Neueszu erfinden. Um möglichst viel Beschäftigungzu schaffen, kommt es vor allem darauf an, in-novative Produkte und Dienstleistungen tat-sächlich auf den Markt zu bringen“, betonteMüller. Das Saarland habe darum im Rahmenseiner regionalen Innovationsstrategie Clu-ster gebildet, in denen Bil dungs- und For-schungseinrichtungen sowie auch Unterneh-men ihre Kompetenzen bündelten und zu -sammen an gemeinsamen Projekten, Produk-ten und Wertschöpfungsketten arbeiteten.

Müller erläutere, dass es darüber hinaus einerhöheren Flexibilität am Arbeitsmarkt bedür-fe. „Angesichts der hohen Lohnkosten inDeutschland braucht die Wirtschaft flexibleArbeitsmärkte. Viele Unternehmen haben mitder Flexibilisierung der Arbeitszeiten gute Er-

fahrungen gemacht“, betonte der Minister-präsident. Die Anpassung der Beschäftigungan die Auftragslage sichere Arbeitsplätze.Analog solle die Ent lohnung stärker an den Er-trag der Unternehmen angepasst werdenkönnen, etwa durch Einmal zahlungen in Ab-hängigkeit von der Ertragslage, erklärte Mül-ler. „Öffnungsklauseln tragen ebenfalls dazubei, die Arbeitsbedingungen an die betriebli-chen Gegebenheiten anzupassen“, sagte derMinisterpräsident. Staatliche Mindestlöhnehingegen wären der falsche Weg. Die Verein-barung der Lohnhöhe solle Sache der Ar beit -geberver bände und Gewerkschaften sein, for-derte Müller.

Der CDU-Politiker machte ferner deutlich,dass eine bessere Altersvorsorge, mehr Eigen -ka pital und höhere Produktivität durch Mit -arbeiterbetei ligung notwendig seien.

„Zahlreiche Herausforderungen unserer Zeitlassen sich mit Hilfe von mehr Mitarbeiterbe-teiligung bewältigen“, zeigte sich Müllerüberzeugt. Die Beteiligung der Arbeitnehmeram Gewinn respektive Kapital ihres Unter-nehmens biete Vorteile für Beschäftigte, Un-ternehmen und die Gesellschaft. „Die Be-schäftigten erhalten durch eine Kapitalbetei-ligung eine zusätzliche Ein kommensquelleund eine ergänzende Altersvorsorge sowiebetriebliche Mitentschei dungsmöglich kei -ten.“ Durch variable Entgeltbestandteile wer-de das Entloh nungssystem flexibler, so dassdie Einstellungsbereitschaft der Betriebe stei-ge, erläuterte der Ministerpräsident. „Für Un-ternehmen ver spricht Mitarbeiterbeteiligungerweiterte Finanzierungsmöglich keiten, eineErleichterung der Nachfolgeregelung undVorteile bei der Akquise und Bindung von Ar-beitskräften. Sie steigert zudem nachweislichProduktivität, Rentabi lität und Innovationsfä-higkeit“, sagte Müller. Die Gesell schaft profi-tierte von einer breiteren Streuung von Pro-duktivvermögen und Kapitalerträgen. Mitar -beiterbeteiligung fördere darüber hinaus dieEntwicklung einer Unternehmenskultur, dievon Partnerschaft und Mitverantwortung ge-prägt sei.

Müller betonte ferner, dass sich aufgrund derdemographischen Entwicklung in der gesetz-

Peter Müller MdLMinisterpräsident des Saarlandes

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Frank-Jürgen Weise, der Vorstandsvorsitzendeder Bundesagentur für Arbeit (BA), machte indiesem Zusammenhang deutlich, dass derdeutsche Sozialstaat heute unter ganz anderenRahmenbedingungen als noch vor 20 Jahrenagiere. „Die Veränderungen der Wirtschafts-und Arbeitswelt haben zu vielfältigen Heraus-forde rungen für die Zukunft geführt“, sagteWeise. Der Globalisierungsdruck führe zu ei-nem erheblichen Kostendruck in den Betrie-ben. Internationale Konkurrenzfähigkeit istnach den Worten Weises nur über hohe Wert-schöpfung und Innovationen möglich. Ausdem technischen Fortschritt resultierte zu-gleich eine große Nachfrage nach qualifizier-ten Arbeitneh mern. Sowohl das Beschäfti-gungsniveau als auch die Arbeitslosenquotevariierten stark mit dem Qualifi kationsniveau.„Eine gute Ausbildung ist der beste Schutz ge-gen Arbeitslosigkeit“, betonte der Vorstands-chef der BA. Weise forderte, vor diesem Hinter-

grund müsse auch die Weiterbildung in denBetrieben verstärkt werden. Ferner gehe es inDeutschland um eine bessere Vereinbarkeitvon Familie und Beruf. Das Potenzial der Älte-

lichen Rentenversicherung das zahlenmäßigeVerhältnis von Beitragszahlern zu Rentenbe-ziehern weiter verschlechtern werde. Derzeitkäme auf zwei Arbeitnehmer ein Rentner, imJahr 2030 werde es nur noch ein Arbeitnehmersein. „Die Alterssicherung der Zukunft wirddeshalb auf mehreren Säulen ruhen. Die ge-setzliche Rente wird ihre zentrale Rolle verlie-ren, wohingegen die private und betrieblicheAltersvorsorge an Bedeutung gewinnen wer-den“, erläuterte Müller. „Das Drei-Säulen-Mo-dell der Altersvorsorge ist demographiefest,weil es sich sowohl auf das Umlage- als auchauf das Kapitaldeckungsverfahren stützt.“

Damit der Beitragssatz zur gesetzlichen Ren-tenversicherung und damit die Lohnzusatz-kosten be zahlbar blieben, müsse sich die Bun-desrepublik auf eine längere Lebensarbeits-zeit einstellen. „Zunächst ist das durchschnitt-liche Rentenzugangsalter an das gesetzlicheEintrittsalter anzunähern, etwa durch weni-ger Frühverrentungen. Mittel- bis langfristigist eine schrittweise Anhebung des gesetz -lichen Renteneintrittsalters unvermeidlich“,so Müller. Ebenso trage ein früherer Berufs-eintritt, zum Beispiel durch kürzere Studien-zeiten, zur Verlängerung der Lebensarbeits-zeit bei.

Müller kritisierte die Intransparenz und Kom-plexität des Steuersystems. „Ein hohes Wirt-

schaftswachstum stabilisiert die Einnahmender sozialen Sicherungssysteme. Daherbraucht Deutschland ein international wett-bewerbsfähiges Steuersystem, das Investitio-nen, Wachstum und Beschäftigung fördert“,erklärte der Ministerpräsident. Ein effizientesSteuersystem müsse sich an den Kriterien ge -ringer Erhebungsaufwand, Finanzierungs-,Investitions- und Rechtsformneutralität so-wie Trans parenz und Planungssicherheitmessen lassen. Der Abbau von Subventionenund Ausnahmetatbe ständen schaffe Spiel-räume für eine Senkung der Steuertarife. Da-rüber hinaus müsse das Steuer recht wesent-lich vereinfacht werden. „Bei der für 2008 ge-planten Reform der Unternehmensbesteue-rung ist der Mittelstand besonders zu berück-sichtigen. Kleine und mittlere Unternehmenstellen die meisten Arbeits- und Ausbil -dungsplätze bereit. Angesichts des Eigenkapi-talmangels braucht der Mittelstand steuerli-che An reize, welche die Bildung von Eigenka-pital aus einbehaltenen Gewinnen erleich-tern“, forderte Müller.

Ferner sei eine Reform der betrieblichen Erb-schaftsteuer nach britischem Vorbild hilf-reich. „Um den unter nehmerischen Generati-onswechsel zu erleichtern, sollen Erben, die ei-nen Betrieb zehn Jahre lang fortführen, keineErbschaftsteuer zahlen müssen“, erklärteMüller.

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Hans-Werner Sinn erläuterte, dass die Globa-lisierung, die seit dem Aufstieg der asiati-schen Tigerländer, dem Fall des Eisernen Vor -hangs und zuletzt durch die Beteiligung In-diens stark an Dramatik gewonnen habe, ei-ne internationale Lohnkonvergenz erzwinge,die zunächst vor allem die gering qualifizier-te Arbeit betreffe. „Die Löhne für einfache Ar-beit geraten in der westlichen Welt unterDruck, und die Lohnskala spreizt sich nach un-ten hin aus. Die Welt wird ihr neues Gleichge-wicht erst nach vielen Jahrzehn ten der Anpas-sung gefunden haben“, prophezeite Sinn.

Die Länder des Westens haben nach seinenWorten die Wahl zwischen Mengen- undLohnreaktionen. Länder, die sich den Markt-kräften widersetzten, indem sie die Lohn-spreizung mit politischen Mitteln verhinder-ten, würden in die Massenarbeitslosigkeit ge-trieben, erklärte der Präsident des Ifo-Insti-tuts. Sinn warnte vor gesetzlichen Mindest-löhnen. Diese schützten nicht jene Menschen,denen man helfen wolle, sondern treibe sie indie Arbeitslosigkeit. “Westliche Beispiele, diefunktioniert haben, ziehen nicht. Erstens ste-hen wir erst am Beginn der Phase einer wach-senden Niedriglohnkonkurrenz bei einfacherIndustriearbeit, was den Ländern, die Min-destlöhne haben, noch genug Probleme berei-ten wird” unterstrich Sinn. Und zweitens gebe

es im vereinten Deutschland noch für längereZeit viel größere Standortunterschiede als inan deren Ländern. “Mindestlöhne, die in West-deutschland für tolerierbar gehalten werden,führen in Ostdeutschland zu einer weiterenVernichtung von Arbeitsplätzen”, sagte Sinn. Sinn empfahl stattdessen Innovationsoffensi-ven. Diese könnten den Druck lindern. “Dochkann niemand den Besitzer technischen Wis-sens daran hindern, dieses Wissen in Niedrig-lohnländern zu verwerten”, führte der Ifo-Prä-sident aus. Die Konkurrenzsitua tion für einfa-che Arbeiter werde dadurch nicht wesentlichentschärft. “Vom Fax-Gerät bis zum MP3-Play-er hat es schon viele Innovationen gegeben,die nicht in Deutschland kleben blieben.” Hilf-reich zur Verteidigung hoher Löhne und zurAbmilderung des Konkurrenzdrucks seien voral lem Bildungsoffensiven. “Denn nur das Wis-sen, das man im Kopf hat, kann man verkau-fen”, sagte Sinn. “Aber selbst wenn sofort dieEcole maternelle und die Ganztagsschule ein-geführt und weitere sinnvolle Maßnahmenzur Verbesserung des Schul- und Universitäts-systems realisiert würden, kämen die erstenbesser ausgebildeten Schüler doch erst in 15Jahren auf den Arbeitmarkt”, sagte der For-scher.

Das Land brauche aber auch schnellere Lösun-gen. Lohnersatzleistungen wie das Arbeitslo-sengeld II wirkten wie Mindestlöhne, da dieprivate Wirtschaft das überbieten muss, wasder Staat für das Nichtstun zahlt. “Auch siezwingen Deutschlands gering Qualifizierte indie Arbeitslosigkeit”, erklärte Sinn. “Die Ar-beitslosigkeit kostet, wenn man die Frührent-ner mit ein rechnet, fast genau 100 MilliardenEuro, die Bediensteten in den Arbeitsagentu-ren und Rentenkassen noch nicht gerechnet.”Die Kosten der Arbeitslosigkeit würden schonheute nicht mehr beherrscht. Der deutscheWeg, den Kräften der Globalisierung durchein umfangreiches Lohnersatzsystem trotzenzu wollen, sei gescheitert. “Deutschland stehtam Ende dieses Weges”, sagte Sinn.

Die einzige Möglichkeit, eine Existenz sichern-de Sozialpolitik im Einklang mit der interna-tionalen Niedriglohnkonkurrenz zu betrei-ben, liege im Kombilohn. “Der Staat mussdauerhaft jenen helfen, die bei ihrer Arbeit

Prof. Dr. Hans-Werner SinnPräsident Ifo Institut für Wirtschaftsforschung

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ren müsse besser genutzt werden. SozialeGerechtigkeit, so Weise, dürfe indes nicht mitWohltätigkeit verwechselt werden.

CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla sagte,durch die Überschüsse bei der Bundesagenturfür Arbeit im laufenden Jahr sehe er Chancen füreine noch stärkere Absenkung der Arbeitslosen-versicherung als bislang geplant. Möglicherwei-se könne der Beitragssatz von derzeit 6,5 ProzentAnfang 2007 nicht nur um zwei, sondern um 2,5Prozentpunkte gesenkt werden, sagte Pofalla.Komme es zu einer Senkung um 2,5 Prozent-punkte, bedeute dies eine Entlastung um fast 20Milliarden €. Das wäre die größte Senkung derLohnnebenkosten in den vergangenen Jahr-zehnten. Der Generalsekretär der CDU fordertezudem weitere Änderungen an der Arbeits-marktreform „Hartz IV“ ein. Es sei eine Fehlent-wicklung, dass Langzeitarbeitslose oft nur Teil-zeit-Jobs in genau dem Umfang annähmen, derim Rahmen der Zuverdienstmöglichkeiten er-laubt sei. Die Betroffenen hätten eine Verpflich-tung zur Arbeit, wenn ihnen eine zumutbareVollzeitstelle angeboten werde. Pofalla betonte,auch die Ein-Euro-Jobs und die Zuschläge fürden Übergang vom Arbeitslosengeld I auf dasArbeitslosengeld II müssten angesichts der Kos -tenexplosion überprüft werden.

Gerhard Rupprecht, Mitglied des Vorstands derAllianz AG, machte auf die Bedeutung der Re-form der Sozialen Sicherungssysteme für denArbeitsmarkt aufmerksam. „Durch die demo-graphische Belastung stoßen die umlagefinan-zierte Renten- und Krankenversicherung an ih-re Grenzen. Das liegt vor allem daran, dass kei-ne Investitionen in die Zukunft stattfinden“,sagte Rupprecht. Deutschland habe bei der ka-pitalgedeckten Altersvorsorge erheblichen

Nach holbedarf, betonte der Allianz-Vorstand.Mehr als 80 Prozent der Alterseinkommen inDeutschland stammten heute aus den umlage-finanzierten Systemen. Die Kernfunktion dergesetzlichen Rentenversicherung werde sich inden kommenden Jahren jedoch von der Lebens-standardsicherung zur Grundsicherung ent-wickeln. Die Riester-Rente sei auf einem gutenWeg. Für die gesetzliche Krankenversicherunggelte, dass die Förderung des Wachstums-markts Gesundheitswesen nur über eine Be-grenzung der „Zwangssolidarität“ im Sozial-staat auf den notwendigen Umfang erfolgenkönne. „Nur die Leistungen, über die der Bürgereigenverantwortlich entscheidet, ermöglicheneinen Wachstumsmarkt, der nicht von Kosten-dämpfungsgesetzen bedroht wird“, sagteRupprecht. Die Sicherung des Sozialstaatserfordere mehr Kapitaldeckung auch bei derFinanzierung des Gesundheitswesens. �

Berichterstattung Wirtschaftstag 2006

Erwin Lamberts und Peter Hahne

nicht genug verdienen. Die Devise sollte sein,dass jeder zu dem Lohn arbeiten muss, zudem er Arbeit findet, dass aber der Staat die-sen Lohn notfalls durch ein Sozialeinkommenauffüllt, so dass in der Summe aus beiden Ein-kommen das soziale Existenzminimum er-reicht wird. Mindesteinkommen kann man si-chern, Mindestlöhne nicht.” Der Wissen-schaftler empfahl das Modell der „aktivieren-den Sozialhilfe“. „Dieser vom Ifo Institut, vomSachver ständigenrat und vom Wissenschaft-lichen Beirat beim Bundesministerium fürWirtschaft vertre tene Ansatz ist eine prak -

tische Möglichkeit, die sich auf einfacheWeise durch eine Modifikation des Hartz-IV-Tarifs realisieren lässt”, erläuterte Sinn. DerStaat spare mit ihr kurzfristig rund acht Mil -liar den €, länger fristig sogar bis zu 20 Milliar-den € pro Jahr. Lohnzuschüsse müssten dabeijedoch als Subjekt- statt als Objekt förderungkonzipiert werden, weil die Ob jektförderungzu große Streuverluste nach sich zöge. “Umdie Kosten des Programms im Griff zu halten,ist es unabdingbar, die För derung an den sub-jektiven Verhältnissen auszurichten“, sagteSinn.


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