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Treffpunkt Tante Clara: „Hamburgs Sphinx“ · Treffpunkt Tante Clara: „Hamburgs Sphinx“ Ein...

Date post: 18-Oct-2020
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Page 1: Treffpunkt Tante Clara: „Hamburgs Sphinx“ · Treffpunkt Tante Clara: „Hamburgs Sphinx“ Ein Mikrokosmos kulturellen Lebens 1925-1944 . Ausstellung in der Staats- und Universitätsbibliothek

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Treffpunkt Tante Clara: „Hamburgs Sphinx“ Ein Mikrokosmos kulturellen Lebens 1925-1944 Ausstellung in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky 18. Januar - 3. März 2013 Eröffnung: Donnerstag, 17. Januar 2013, 18 Uhr Eine Ausstellung von Nele Lipp Mein Dank geht an: meine Mutter Henriette Müller, geb. Benthien (†), die mit ihrer Sammlung und ihren Aufzeichnungen half, die Geschichte Clara Benthiens für die Nachlebenden zu bewahren; an Dr. Hans-Ulrich Wagner und Friedrich Deth-lefs (Deutsches Rundfunkarchiv), die es ermöglichten, die Moritaten-Aufnahme von 1937 auf eine CD zu brin-gen, an Michael Wiedemann, der dazu verhalf, dass einige Bilder restauriert wurden, an Birgit Bartl-Engelhardt, die das Wissen über ihre zaubernden Großeltern János und Rosa Bartl sowie historische Zauberdokumente für die Ausstellung zur Verfügung stellte sowie an Prof. Dr. Gabriele Berger und Dr. Marlene Grau, die die Ausstel-lung in der Staats- und Universitätsbibliothek ermöglicht haben. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky Ausstellungsheft Nr. 2 Haamburg, 2013 Redaktion: Dr. Marlene Grau Druck: Staats- und Universitätsbibliothek

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Das Leben ist das Leben und die Kunst ist die Kunst aber das Leben künstlerisch zu leben das ist die Lebenskunst! (Eintrag im Gästebuch, P. A., 12.7.1936)

Postadresse „Tante Clara, Hamburg, Germany“ genügte einst, denn fast jeder Hamburger, bis hin zum Briefträger, kannte den hinter diesem Namen steckenden Künstlerkeller. Doch nach sechzig Jahren ist dieser Ort in Vergessenheit geraten, denn seine Geschichte wurde bisher nicht aufgezeichnet1. Auch leben inzwischen ehemaligen Gäste nicht mehr, um berichten zu können. Die Hauptfigur selbst, um die herum sich eine kulturell prototypische Gruppierung der Zeit versammelte, war von bescheidenem Charakter, kümmerte sich nicht um ihre „publi-city“, sondern lebte für die, die sich ihr anvertrauten, ihre Freunde und ihre Familie. Sie hielt es niemals für wichtig, etwas von ihrer persönlichen Geschichte für die Nachwelt aufzuzeich-nen. Lediglich die von ihr geretteten Objekte2 überlebten in Woll- oder Wachstuchdecken gewickelt auf Dachböden. Der Künstlerkeller, seine Gäste, der Moritatengesang, der Kunst-handel und mit ihnen alles, was in den vorderen und den hinteren Räumen am Brandsende 13 / Ecke Raboisen geschah, wurden nach und nach vergessen. - So jedenfalls stellt es sich aus der heutigen Perspektive dar, denn Clara Benthien hatte nicht das Glück, in der Nachkriegs-zeit noch bekannt zu sein3 wie die Düsseldorfer „Mutter Ey“, aus deren Kaffeestübchen in den Zwanziger Jahren eine Kunstgalerie wurde, in der Berühmtheiten wie Otto Dix, Max Ernst und Otto Pankok verkehrten. Doch wie im Kontext dieser Düsseldorfer Kunstlegende wird auch bei der Betrachtung des Geschehens um „Tante Clara“ ein Stück Kunst- und Kul-turgeschichte lebendig, das nach dieser Ausstellung hoffentlich in die Kategorie „unvergess-lich“ gehoben wird.

Die Aufgabe, darzulegen, was den Künstlerkeller, seine Zeit und die darin Lebenden bewegte, liegt heute darin, zu erkennen, dass sich dort wie in einer Sammellinse ein Mikro-kosmos kulturellen Lebens und dessen Bedingungen in den Jahren 1925 bis 1944 bildete - und dies in wirtschaftlich und bald auch existenziell extrem schwieriger Zeit. Was zunächst noch als trotziges Motto des Künstlerkellers galt und mit den Worten Wir sind als Originale

1 Erwähnt wurde „Tante Clara“ jeweils kurz in: - Hans Richter: Reeder Badong, Berlin 1935, S. 86 und 100. - Konrad Tegtmeier: ABC der christlichen Seefahrt, Hamburg 1948. - Ingrid Warburg-Spinelli: Erinnerungen 1910-1989. Die Dringlichkeit des Mitleids und die Einsamkeit, nein zu sagen, Hamburg 1990, S. 59: Ich erinnere mich, dass ich Jahre später, als ich in Hamburg studierte (Winterse-mester 1930/1931 bei Ernst Cassirer und Erwin Panofski), mit meinem Vater einen Vortrag von Paul Tillich (1886-1965, protestantischer Theologe) hörte. Nach dem Vortrag ging Professor Tillich mit den Studenten und meinem Vater [Dr. Fritz Warburg] zu „Tante Klara“, einem Kellerlokal, das damals sehr beliebt war. Als es ihm zu rauchig wurde, sagte mein Vater: Warum gehen wir nicht alle zu uns nach Hause? - Die 1. Auflage von Claire Waldoff: Weeste noch..!, Düsseldorf 1953, zeigte neben S. 104 eine Abbildung aus der Künstlerkneipe „Bei Tante Klara“, die in der von Volker Kühn 1997 in Berlin herausgegebenen neuen Auf-lage jedoch aus nicht nachvollziehbaren Gründen fehlt. - Im Katalog der Ausstellung „Entfesselt. Expressionismus in Hamburg um 1920“ findet sich eine Abbildung (S. 17.), die eine Nische der Künstlerkneipe zeigt. Bildunterschrift: Künstlertreff „Tante Klara“ (in allen drei Fällen fälschlich mit K geschrieben). - In Maike Bruhns: Kunst in der Krise, Hamburg 2001, S. 327, finden sich sechs Zeilen zu Tante Clara, in denen sich allerdings sechs Fehler bzw. unrichtige Aussagen befinden. - Auf mehreren Seiten wird der Künstlerkeller beschrieben in: Ragnar Tessloff: Als Hitler meine Geige verspiel-te, Berlin 2003, S.138 -139 und auf den Seiten 149 und 153. 2 Tondokumente von 1937, vier Gästebücher, ein Moritatenbuch, Fotografien, Briefe, Postkarten, ein Notizbuch, Zeitungsartikel sowie zahlreiche Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen. 3 Lediglich ein Artikel in der WELT AM SONNTAG aus dem Jahr 1958 erinnerte noch einmal an sie und ihren Künstlerkeller. Doch das Andenken bestand aus fehlerhaften Informationen und einer untypischen Skizze.

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geboren, darum sollen wir nicht als Kopien sterben4 zum Ausdruck gebracht wurde, wandelte sich im Laufe weniger Jahre in eine bedrohte Einstellung. Diese fand hier jedoch einen Schutzraum, der sich, getarnt hinter Punsch, Flaschenbier und Munterkeiten, glücklicherweise zu einem nicht denunzierten Ort des Widerstands in Hamburg entwickeln konnte. Das wusste jeder, der einmal dort war, wiederkam und seine Freunde mitbrachte. Wer es merkte und da-bei ein braunes Hemd trug, schwieg.

Es fanden sich hier Formen der künstlerischen und menschlichen Stellungnahme zu psychischen, sozialen und politischen Problemstellungen. In deren Mittelpunkt stand, ihren nassen „Handtuchventilator“ schwingend und immer lauter in den zahlreichen von „ihren“ Künstlern für sie geschaffenen Moritaten herumblödelnd, „Tante Clara“ mit ihrem Humor und ihrem nicht alltäglichen Mut, mit dem sie und ihr im Hintergrund mit seinen Freimaurer-freunden, wie zum Beispiel dem Maler Karl Prahl, wirkenden Mann Hans Benthien vielen Menschen das Durchhalten und in einigen Fällen auch das Überleben ermöglichten. CLARA BENTHIEN Clara Gertrud Antoinette Benthien wurde am 27. September 1887 als Tochter des Architekten Carl Vetter und seiner ersten Frau Christine Antoinette Josephine Henriette5 in Düsseldorf geboren.

Clara Vetter um 1905 (© Archiv Nele Lipp)

Sie wurde zur Hutmacherin ausgebildet, da sie künstlerische Fähigkeiten zeigte.

Am 23.3.1912 heiratete sie den Fabrikantensohn6, Dekorationsmaler und Malermeister Hans Carl Louis Benthien (1881-1947) aus Hamburg. Am 6.9.1913 wurde ihre Tochter Henni Karla Louise in Hamburg geboren und Hans Benthien, ein begabter Zeichner und Maler, der auf Wunsch der Eltern das Anstreicherhandwerk erlernt hatte, eröffnete, um seiner Familie

4 Eintrag von Nelly Boche im Gästebuch, 22.4.1932. 5 Nachname unbekannt. 6 Der Vater betrieb gemeinsam mit einem Partner in Hamburg auf der Reeperbahn die Firma Benthien & Rauch, eine kleine Fabrik für künstliche Blumen. Die Mutter klöppelte Spitzen und brachte die modischen Federn an den Hüten der Damen nach erlittenen Regengüssen mit einem kleinen Küchenmesser wieder in Form. Die Eltern hatten einen florierenden Laden für diese Waren.

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eine finanzielle Grundlage zu schaffen, eine Malerfirma. Die Familie zog nach Eimsbüttel in ein Haus mit Garten am Sandweg 33. Hans Benthien arbeitete mit mehreren Angestellten. Seine Pferde zogen einen Wagen mit Leitern für Fassadenanstriche. Am liebsten betätigte er selbst sich aber als Marmorierer und Kunstmaler. Er dekorierte Entrées und Treppenhäuser in Hamburger Villen mit Blumen-motiven7. Privat zeichnete und malte er gern und hatte Freunde in der Hamburger Kunstszene.

In der Nachbarschaft am Sandweg befand sich die gerade von Josef Schippers und Otto Ernst Wilhelm von der Ville gegründete Schausteller-Firma „Schippers von der Ville“. Man war befreundet. Otto von der Ville konnte Schwerter schlucken und Josef Schippers war allein durch seine Größe (2,12 m) bereits eine Attraktion.8 Möglicherweise hatte dieser Kon-takt mit der Schaustellerei Einfluss auf die später von Clara Benthien entwickelten Moritaten-Darbietungen, die, historisch gesehen, einen ihrer Ursprünge in der Bänkelsängerei auf Jahr-märkten hatten. Als Hans Benthien im Ersten Weltkrieg an die russische Front eingezogen war, hielt Clara sich und ihre kleine Tochter am Sandweg 38 mit einem kleinen Modesalon und ihrer Hutmacherei über Wasser. Hier besuchten sie auch befreundete Modistinnen wie zum Bei-spiel Clem Callman und deren Arbeitgeber Louis A. Rothschild9 aus Düsseldorf.

Clara, Henni und Hans, um 1919 (© Archiv Nele Lipp) Nach seiner Rückkehr aus Russland erfuhr Hans Benthien, dass fast alle seiner Mitarbeiter und auch seine Pferde im Krieg gefallen waren. Außerdem war mit dem Anstreichen und Ausmalen in dem verarmten Hamburg kein Geld zu verdienen. Die Menschen hatten andere Sorgen.

Hans Benthien begann in dieser Situation, als Kaufmann mit dem Spirituosenhandel zu experimentieren. Das Metier war ihm nicht ganz fremd, da seine Urgroßeltern (seine Mut-ter war eine geborene Heuß) noch Besitzer des legendären Heußhofes10, einer vornehmen Gartenwirtschaft in Eimsbüttel mit gepflegtem Weinkeller gewesen waren. 7 zum Beispiel die des befreundeten Albert Ballin in der Badestraße. 8 1923 gründeten sie in Altona eine Fabrik für „Fahrwerke“ wie zum Beispiel „Die wilde Maus“. Sie erfanden neben der Achterbahn nicht nur das Kettenkarussell, sondern auch den Autoscooter. Sie exportierten ihre Erfin-dungen bis in die USA. 9 Callmann arbeitete bei Louis A. Rothschild, Königsallee 2, Düsseldorf. 10 Der Heußhof wurde 1784 von Peter Rudolph Christian Heuß gegründet. Eine bewegte Geschichte von Pleiten und Wiederaufbau mündete in einer Neueröffnung im Jahr 1809 durch die Witwe Molière, geb. Heuß. Ihre Kü-che, von deren Qualität sich noch Klopstock und Mozarts Witwe Constanze überzeugt hatten, war so gut, dass im Deutsch-Dänischen Krieg (1848-1850) das Gebäude nicht gebrandschatzt wurde. Nach Constanze wurde der Wirtssohn Constantin Heuß benannt. Das Haus erhielt unter späteren Besitzern wegen seiner Geschichte den Namen „La belle alliance“, was eine weitere Hamburger Straßennamensgebung veranlasste.

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Ansicht des neuen Heußschen Wirtschaftshauses in Eimsbüttel, von der Westseite, Abb. aus: Helmut Alter, Fritz Lachmund, Monika Menze: Mein Eimsbüttel. Von der ländlichen Idylle zum großstädtischen Bezirk, Hamburg 1983, S. 62. VON DER WEINPROBIERSTUBE ZUM KÜNSTLERKELLER Benthien gründete um 1919, zunächst gemeinsam mit einem Partner, eine Firma, die er nach einer ärgerlichen Auseinandersetzung ab 1926 im Alleingang unter dem Namen Weingross-handlung H. C. Louis Benthien weiterführte.

Dazu richtete er am Hahntrapp 5 in den unterirdischen Gewölben der später zerstörten und bis heute als Mahnmal erhaltenen St. Nicolaikirche eine Weinprobierstube ein, die er sich kurze Zeit mit Hamburgs ältester Weinhandelsfirma C.C.F. Fischer teilte11. Wie deren Geschäftsführer Johannes Carstens und Benthiens Bruder, der Kaufmann Franz Benthien, wurde Hans Benthien Mitglied der Freimaurer in der Johannisloge Hamburg.

Am Hahntrapp besuchten ihn bald nicht nur Weinliebhaber, sondern auch Künstler-freunde, wie der Kollege Robert Schneller, der wie Benthien auf Wandmalerei spezialisiert war, und seine Logenbrüder.

Clara Benthien in der schlichten Küche von Benthiens Weinstuben, um 1925 (© Archiv Nele Lipp) Als die Räumlichkeiten wegen großer Nachfrage zu eng wurden, zog Benthien mit dem Büro für den Weinhandel in die Hohen Bleichen 5/7 und 1932 mit der Probierstube in Kellerräume,

11 Diese Firma nutzte die Räume noch bis ins Jahr 2005.

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die günstig zwischen Innenstadt, Hauptbahnhof und Hamburger Kunsthalle12 gelegen waren: Brandsende 13 / Ecke Raboisen. Diesen Ort nannte er: Benthiens Weinstuben.

Da es dort schon bald nötig wurde, zur Weinprobe an aufrecht stehenden Fässern auch ein paar belegte Brote anbieten zu können, musste die Ehefrau – zunächst küchentechnisch - in den „Katakomben“ mitarbeiten. Neben belegten Broten gab es auch „Katzengeschrei“13. Getränke wie Flaschenbier und die heiß zu trinkende rote „Sylter Welle“14 ergänzten die Wein- und Sektkarte. Das sprach sich auch bei Matrosen aus dem Hamburger Hafen und bei Touristen herum. Bald erschienen Gäste aus allen Ländern, mit denen in Hamburg Handel getrieben wurde, zum Beispiel aus Chile, China, Dänemark, England, Finnland, Frankreich, Griechenland, Holland, Island, Kanada, Lappland, Norwegen, Schweden, Spanien und den USA.15

Es wurden Holzbänke mit roten Kissen für die wachsende Zahl der Gäste installiert und Clara Benthien entwarf Hocker, Tische und Lampen, um sie bei Kunsthandwerkern in Auftrag zu geben. Auch die alten Freunde, wie zum Beispiel Josef Schippers und Otto von der Ville sowie die Maler Carl Prahl und Robert Schneller fanden sich neben anderen Kunstschaf-fenden hier wieder ein. Zusätzlich kamen viele Neugierige, auch durch die unmittelbare Nähe zur Hamburger Kunsthalle, dem Thalia Theater und den Hamburger Kammerspielen16, die noch keine eigenen Bistros betrieben. So kam es, dass die Probierstube um 1930 allmählich zur legendären Künstlerkneipe „Tante Clara“ wurde. Ins Gästebuch schrieb man nun:

Hier trifft man Hamburger Geistes-Crème Devise ist: Bohème, Bohème! Hier folgt ein Jeder seinem Spleen - drum: Jeder einmal bei Benthien! Lizzie Wischfahl (?), 12.11.1931

Hans trat nun - nicht minder fleißig - mit seinem Weinhandel in den Hintergrund und im Licht stand die warmherzige und einfallsreiche Clara und ihr „Montparnasse de Hambourg“17, das humorvoll als bis zu den Niagarafällen hin bekannt eingestuft wurde. 1937 fand sich im Gästebuch der Ausspruch: Tante Clara ist Hamburg. Und auch die Presse war inzwischen aufmerksam geworden: [...]Wir sehen Schauspieler, die gerade noch in den Kammerspielen aufgetreten sind, Akademiker, Maler, Journalisten: alles trifft sich hier in diesem gemütlichen Keller [...]. Hans Reissing18 Sogar als die Zeiten sich durch die Weltwirtschaftskrise 1929 extrem verschlechterten, fühlten sich die Gäste bei „Tante Clara“ immer gut. Es gab Essen oder ein Bier auf Kredit. Ein Seemann schrieb ins Gästebuch: So eine gute Frau habe ich noch nicht früher gesehen. Unsere Mutter. Ich fühle mich wohl in Tante Klaras Lokal.

Es war jedoch nicht nur Mütterlichkeit und wärmender Alkohol, der die Menschen immer wieder an diesen Ort trieb, sondern eben auch das intellektuelle Klima. Dies formulier-te ein Gast mit den Worten: Stets, wenn wir Tante Clara seh’n, woll’n wir zu höh’ren Werten gehen!19

12 Der Kontakt zur Hamburger Kunsthalle wurde später aus verschiedenen Gründen wichtig. So durfte „Tante Clara“ ab 1939 mit Personal und Gästen im Keller des Museums Schutz vor drohenden Bombeneinschlägen suchen. 13 Bratkartoffeln mit Mettwurst und Zwiebeln. Zum ersten Mal angerichtet in einem Winter, als draußen vor dem Fenster die Katzen schrien. 14 Heißer Rotwein mit Rum und Zucker. 15 Dies ist belegt durch Einträge in den Gästebüchern. 16 1918-1928 am Besenbinderhof 50. 17 So bezeichnet in einem Gästebucheintrag von 1932. 18 Name der Zeitung und Datum nicht bekannt. 19 Gästebucheintrag vom 14.9.1938.

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Bald stellte Clara für mittellose Künstler20 tröstend warme Mahlzeiten und Getränke gegen eine Zeichnung, ein Bild, eine kleine Skulptur oder ein kunstgewerbliches Objekt - oft auch ohne Gegenleistung - zur Verfügung. Sie bot auch an, in ihren Räumen etwas zum Verkauf auszustellen. Diese Offerten wurden gern in Anspruch genommen.

Eine schmale Treppe geht in den ausgedehnten weiten Keller. Tante Klara wird die liebenswürdige Wirtin genannt, die hier die Maler und Schauspieler bemuttert. Sie sit-zen Bank an Bank hinter hölzernen Tischen, trinken wenig oder viel, wie sie es gerade können, und sind unbändig vergnügt dabei. Die Bilder, die sie hier verkauften, sind gar nicht erst aufgehängt, sie stehen fertig und unfertig, gerahmt und ungerahmt an den Wänden, in den Ecken und legen Zeugnis dafür ab, wie der Geist dieser arbeit^-samen und begabten Stadt auch den Malern nicht fremd blieb. Tante Klara ist eine Künstlermutter, wie sie sein muß, sie sorgt für ihre Gäste, hat ein freigiebiges Herz, rheinischen Humor, einen klugen Kopf und ein scharfes Urteil.21

Der Schriftsteller und Redakteur Konrad Tegtmeier schrieb in seiner Ode an Tante Klara: Klara, Du sorgende Mutter der Musen: Du aller Künste vielliebliche Tante!22

Clara Benthien war Schritt für Schritt von der Hutmacherin über die Innenarchitektin und Kunsthändlerin zur Muse der Künste und selbst zur Künstlerin geworden. In ihrem Reisepass vom 7. August 1940 findet sich - die Tatsachen vereinfachend - die Berufsbezeich-nung „Kunsthändlerin“.

Reisepass Clara Benthiens mit Berufsbezeichung „Kunsthändlerin“ und mit in den Stempeln gelöschten Haken-kreuzen, gültig 1940-1945. (© Archiv Nele Lipp) Die Künstler waren sehr froh, wenn sie sich um ihre Bilder, Skulpturen und kunstgewerbliche Arbeiten kümmerte. Ein Gast schrieb dazu am 2.12.1931 ins Gästebuch:

20 Viele Künstler konnten, vor allem wenn sie allein von ihrer Kunst existieren wollten, und das war ja das Ideal, kaum ihren Lebensunterhalt realisieren. Dies belegt auch die Tatsache, dass sogar der Senat sich 1932 nach der Weltwirtschaftskrise durch den Ankauf von Bildern aus der Ausstellung „Künstler in Not“ für Hamburger Künstler engagierte. 21 Wolfgang Drews: Hermann, Dorothea und Güldenstern. Kurzer Filmbesuch in Hamburg und Holstein, BZ, 7. August 1935. 22 Die gesamte Ode trug der Verfasser im Hamburger Reichssender am 13.2.1937 vor.

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Wenn Du Kunst bei „Clara“ warst, so danke Gott und sei zufrieden. Nicht jedem auf dem weiten Markt, ist dieses Glück beschieden. Jasha (?) Vogler

Robert Schneller war inzwischen beauftragt worden, Decken und Wandbemalungen für die Gewölbe der Kellerräume anzufertigen, die jeweils eigene Bezeichnungen, wie „Alte Loge“, „Neue Loge“, „Langer Gang“ und Ecke mit „Guba23-Tisch“ erhielten.

„Neue Loge“ (© Archiv Nele Lipp)

Robert Schneller: Eins der sechs Elemente des Wandgemäldes in „Benthiens Weinstuben Tante Clara“ (© Archiv Nele Lipp)

23 Rudolf Anton Guba (1884-1950); Motive des Malers waren Hamburger Hinterhofidyllen, Schiffe im Hafen und auf der Nordsee. Aber auch norddeutsche Moorlandschaften erfasste er in stimmungsvollen Bildern.

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Am Eingang des Künstlerkellers wurde eine Glasvitrine installiert, in der Kunstgewerbler, wie zum Beispiel Erwin Winkler24, Schmuck und kleine Gefäße aus Messing, Kupfer oder Silber präsentieren konnten.

Schon bald wurde immer mehr Personal nötig.

Das Personal von Hans und Clara Benthien bei einer Betriebsfeier, Anfang der 1930er Jahre Mit der Zeit verirrte sich auch der eine oder andere „Braunrock“ an diesen Ort, doch einer der vier kräftigen und musikalisch begabten Türsteher, die abwechselnd Dienst hatten, pfiff bei dessen Herannahen ab 1933 den Refrain aus der Moritat Die Verdunkelung, die für die nun-mehr „Tante Clara“ genannte Gastwirtin gedichtet war. So wusste man gleich Bescheid, dass der Moment zum Themenwechsel gekommen war.

„Trau niemals der Verdunkelung...“ (© Archiv Nele Lipp) Im Gästebuch finden sich dazu brisante Eintragungen wie zum Beispiel: Und was das Schönste ist bei Tante Clara Da trifft man keine Sarah!!! (H. Schnyder) Mit einer anderen Schrift wurde später zwischen diese Zeilen geschrieben: Sogar dutzendweise, Gottseidank!! (Anonym) Aus dem Gästebuch mit diesen Eintragungen wurden etliche Seiten herausgeschnitten, auf denen politisch allzu Riskantes formuliert oder das verhasste Hakenkreuz erschienen war. 24 Er gestaltete das Hamburger Rathaussilber.

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In den dreißiger Jahren wurden Moritatentafeln gemalt, zu denen „Tante Clara“ - ebenfalls humorvoll von Künstler-Gästen verfasste - Bänkellieder, zum Beispiel das über Little Jim aus Usambara oder, den härter werdenden Zeiten entsprechend, das über Die Kleiderkarte, in ihrem leicht rheinisch eingefärbten Sprechgesang kommentierte. Die Bilder waren auf Rollos gemalt, die an der Decke befestigt waren und nach Bedarf herunter gelassen wurden. Wurde keine Moritat gesungen, so konnte man das an der Wand dahinter angebrachte Portrait der „Tante Clara“ von Otto Wild sehen.

„Tante Clara“ unter ihren Moritatentafeln und vor ihrem Portrait von Otto Wild. Foto: Hans Gerhard (© Archiv Nele Lipp) DIE FREUNDIN CLAIRE WALDOFF Eine der Inspirationen zu ihren derb-humorvollen Moritaten hatte Claras drei Jahre ältere Freundin Claire Waldoff25 - ebenfalls eine Rheinländerin - gegeben, die ab 1936 gern vor ihren Auftritten im Bronzekeller oder im Haus Vaterland bei „Tante Clara“ einkehrte, sich aber „Diskretion“ darüber ausbat. Von ihr, die, wie man sagte, schon Marlene Dietrich das dunkle Timbre vermittelte, hing dann bald ein Portrait in einem der verzweigten Kellerräume.

25 1884-1957 (eigentlich Clara Wortmann) Die Schauspielerin, Kabarettistin und Chansonnière wurde als Toch-ter eines Gastwirts in Gelsenkirchen geboren. Nach einer Schauspielausbildung, jedoch ohne musikalischen Anteil, hatte sie 1907 ihren ersten Erfolg mit Liedern im Kabarett Roland von Berlin. Sie wurde in den 1920er und 1930er Jahren vor allem in Berlin in der Scala, dem Kabarett der Komiker und im Wintergarten mit ihren frechen und originellen Chansons im Berliner Jargon sehr erfolgreich, in denen sie das Berliner „Milljöh“ und die Obrigkeiten bis hin zu Hermann Göring (in: Hermann heest er... rechts Lametta, links Lametta und der Bauch wird immer fetta un in Preussen ist er Meester - Hermann heest er) in frechen Kommentaren, die wie der „Hermann“-Chanson zum Teil vom Volke weitergedichtet waren, bloß stellte. Neben anderen schrieb auch Kurt Tucholsky Texte für sie, wenn sie nicht gerade selbst etwas verfasste. Sie trat auch in Revuen von Erik Charell auf. Ihre Volks- und Bänkellieder, Gassenhauer, Schlager, Couplets, Operettenlieder und Chansons wurden im Rundfunk gesendet und auf Schallplatten gepresst. Waldoff war eine enge Freundin Clara Benthiens und ihrer Familie. Waldoffs wurde in Ost- und Westdeutschland wiederholt gedacht. 1987 schuf Klaus Gendris den erstaunlich draufgängerischen DDR-Film Claire Berolina und 1997 schrieb Maegie Koreen (ebenfalls aus Gelsenkirchen) die Biografie Immer feste druff. Das freche Leben der Kabarettkönigin Claire Waldoff, in der sie hervorhebt, dass die Waldoff die erste war, die aus den politischen und sozialen Realitäten ihrer Zeit Chanson-Themen machte.

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Gustav Tolle: Claire Waldoff (in Benthiens Künstlerlokal) [aus: Claire Waldoff: Weeste noch..!, Düsseldorf / München, 1953, zwischen S. 104 und 105.] Waldoff, 1933 wegen Mitwirkung bei Veranstaltungen der kommunistischen „Roten Hilfe“ auf die „Schwarze Liste“ der Nazis gesetzt, wurde im Künstlerkeller - mutig mit einem Heili-genschein versehen - zum Motiv eines vieldeutigen Wandgemäldes von Robert Schneller. Neben Waldoff, die hier - die Volksweise „Frau Spinnerin“ singend - dargestellt ist, sind Heinrich Zille, eine den Schicksalsfaden spinnende Norne, eine kleine Hitlerkarikatur, der Sensenmann und unverdrossen voranschreitende Hamburger Geschäftsleute dargestellt.

Robert Schneller: Heinrich Zille und Claire Waldoff (Ölfarbe und Blattgold auf Holz), um 1931 (© Foto: Archiv Nele Lipp) Ein Pferdekopf in der linken oberen Ecke des Gemäldes erinnert an Pablo Picassos etwa zur selben Zeit entstandenes berühmtes Wandbild Guernica (1937). Zusätzlich lässt das angstver-zerrte Wiehern des auf Heinrich Zille blickenden und vor einer kleinen Hitlerfigur scheuen-den Pferdes Böses ahnen. Mit diesem Bild, auf eine Postkarte gedruckt, wurde für den Künst-lerkeller geworben. Es stand als Wahrzeichen für diesen Ort.

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DER SINN FÜR LITERATUR UND DOPPELTEN BODEN

Hier ist der Ort! Für ein freies Wort! Darum gefiel es mir! Am liebsten – hier! (M. ... Steffen im Gästebuch 21.6.1932)

Wenn die Gäste bei „Tante Clara“ auch gern offen ihre Meinung äußerten, solange der Pfiff des Türstehers noch nicht die Warnmelodie verkündete, so wurde es doch zunehmend wich-tig, sich doppeldeutig auszudrücken. In dieser Hinsicht entfaltete sich in den hier verkehren-den Kreisen wachsendes Geschick und auf der anderen Seite wohl auch eine erstaunliche To-leranz seitens der uniformierten Gäste, falls sie einmal doch ahnten, wes Geistes Kinder hier versammelt waren.

Einer der Gäste war der Buchhändler und Eigentümer der Bücherstube Felix Jud, der - er war kein Jude, wie der Name hätte nahe legen können - selbst auf Anraten eines befreunde-ten Anwalts seinen Namen nicht änderte. 1923 hatte Jud in den Colonaden 104 ein Buchge-schäft eröffnet. Während der aufkommenden nationalsozialistisch beherrschten Zeit provo-zierte er durch offensive Schaufensterdekorationen:

Er hängte einen großen Barockrahmen in sein Schaufenster, oben unter der Bilderleis-te war die Judenkarikatur aus dem Stürmer ‚Jud bleibt Jud‘ - der krummbeinige, krummnasige, spitzbäuchige wörtliche Jude. Darunter Felix Jud, ein Foto als Säug-ling auf dem Lammfell, dann ein Foto als Konfirmand, ein weiteres aus der Gegen-wart, darunter ‚Jud bleibt Jud‘. Das war nicht zu bezweifeln. Aber quer zu dem Gan-zen ein Wäschebrett für ‚Persil bleibt Persil‘.26

Oder er legte massenhaft dieses Buch ins Fenster:

Richard Katz: Heitere Tage mit braunen Menschen, Berlin 1930.

26 Wilfried Weber / Marina Krauth: Und wer besorgt das Spielzeug? 75 Jahre Hamburger Bücherstube Felix Jud & Co, Hamburg 1998.

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Weitere Besucher aus der Literaturszene waren zum Beispiel Carl Brinitzer, ein Freund Claire Waldoffs; das Verlegerpaar Hildegard und Eugen Claassen; Fred Endrikat, der Kabarettist und Dichter lustig-skurriler Verse; Walter Gättke; Hans Harbeck, der Feuilletonist, Kabaret-tist und zeitweilige Schriftleiter des Kammerspiel-Journals Der Freihafen; der Dichter, Maler und Feuilletonist Carl Albert Lange27, der das von Musäus’ Volksmärchen bis zu Madame de Staël als Land der Dichter und Denker bezeichnete Deutschland nun das der Richter und Henker nannte; Richard Ringelnatz; Paul Schurek, der Feuilletonist und Barlachforscher; Joachim Ringelnatz; Ernst Rowohlt; Richard Schulz, ein Verfechter und Dichter der Kunst-sprache ESPERANTO; Curt Seibert, Anekdotensammler und Autor von Witzgeschichten; Oswald Spengler, von dem gesagt wurde, er vergäße bei Tante Clara den von ihm in einem Buchtitel geprägten Untergang des Abendlandes sowie Konrad Tegtmeier, der Moritaten für „Tante Clara“ verfasste. Neben diesen tauchte aber auch der stark dem Nationalsozialismus verbundene Historiker Walter Frank im Künstlerkeller auf.

In den Gästebucheinträgen von 1932 findet sich eine Skizze des jüdischen Schauspie-lers Siegfried Arno (genannt: Der „Deutsche Chaplin“) traulich auf einer Seite mit der Unter-schrift des Antisemiten Fritz Mackensen, der ab 1933 am Aufbau der Nordischen Kunsthoch-schule in Bremen beteiligt war, zu der es hieß, sie werde „schöpfend aus dem Urgrunde deutsch-nordischen Volkstums, mitarbeiten am Aufbau arteigener Kultur im Sinne Adolf Hit-lers“28. Tauchten Hakenkreuze in den Gästebüchern auf, so wurden die Seiten säuberlich her-ausgeschnitten.29 DIE „SPHINX“ „Tante Clara“ avancierte zu einem „Unikum“, ähnlich dem, als das Friedrich Hollaender Claire Waldoff beschrieb. Auch Clara Benthien entwickelte eine Art magischer Ausstrahlung, die ihr unter anderem den Titel „Hamburgs Sphinx“ eintrug, als die sie 1934 (von einem Dichter mit dem Pseudonym K2) einmal wieder poetisch verehrt wurde. Das ebenfalls wie eine Moritat wirkende Gedicht mit dem Titel „Tante Clara“ fand sich als Typoskript30 im Nachlass. Der Autor fragt:

Warum kommt man hier zusammen? Gibt es hier noch Geld dazu? Sind hier schöner die la femmen, Hat das Kalbfleisch hier Hautgout??

Nichts davon ist zu entdecken – Tisch und Stühle unbequem, Grausig dunkle alte Ecken, Und die Wand aus nassem Lehm. Eine Luft, nicht durchzuhauen. Bilder, Qualm und viel Geschrei, In den Gängen grosses Stauen Und kein einzger Sitzplatz frei!

27 Über ihn erschien in der Reihe bibliothemata die Publikation „...dass ich ein Dichter bin, fühle ich Tag und Nacht“, Hamburg 1993. 28 Staatsarchiv Bremen, 3–4. a. Nr. 1075 [12] 29 Laut mündlicher Überlieferung durch Henriette Müller, die Tochter der Benthiens. 30 © Archiv Nele Lipp.

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Und ein paar Strophen weiter heißt es:

Wieder Hirn und Augen denken..... Bilder rechts und Bilder links.. Musst man sie der Tante schenken? Pfändete sie all das rings?

[...] Wächst – was Künstler ja ersehn’n sich, Glück hier in der flachen Hand?? Zeigt die Tante als Mäzen sich?? Gibt sie unter „Ungenannt“?? Nichts davon ist zu entdecken.. [...]

Warum kommt man hier zusammen??? Gibt es hier noch Geld dazu? [...] An der Ecke von Raboisen – Sieben Stufen und dann links..... Ihr, die alt – und ihr die neu sind: „Hut ab“: Hier wohnt Hamburgs Sphinx.....

Im Gästebuch von 1935 bis 1938 tauchte der Begriff „Sphinx“ noch einmal auf. Ob es einen Zusammenhang mit dem langen Gedicht gibt oder ob der Unterzeichnende der Dichter war, sei dahin gestellt:

4 = 5 Grad ist immer ungerade Und hoch ist niedrig, rechts ist links. – Ich traf auf mancher Maskerade im Gretchenkleide eine Sphinx! Petty 2. 10. 35

Zwei Seiten weiter fragt ein anonymer Gast: O Lächlerin – worin liegt das Geheimnis Deiner Macht? DIE HAMBURGER MORITATEN Im zwanzigsten Jahrhundert setzten Kabarettisten wie Georg Kreisler und Dichter wie Max Frisch (in Graf Öderland) die Moritat, ihre einprägsame Schwarz-Weiß-Malerei und ihre ein-fachen einprägsamen Verse als Stilmittel ein. In der Bildenden Kunst trat die Gattung des Comics ihr Erbe an.31

1902 hatte Frank Wedekind (1864-1918) in seinen Moritaten Brigitte B., dem Bänkel-lied von der Verführung eines Dienstmädchens und Der Tantenmörder diese Kunst in literari-sierter Form wiederbelebt. 1928 setzten Wedekinds Schüler Bertold Brecht (1898-1956) und

31 Dies lässt sich deutlich ablesen an der Entwicklungslinie von Reinhold Eschers Moritatenbild „Der Bilder-raub“ über seine Meckigeschichten in der Hör Zu und die des Volker Reiche bis hin zu Reiches Strizz-Serie, die von 2002-2010 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen.

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dessen Komponist Kurt Weill (1900-1950) eine sechsstrophige Moritat gleich zu Beginn der Opernpersiflage Die Dreigroschenoper ein: Die Moritat von Mackie Messer.

Möglicherweise hatten nicht nur Claire Waldoff, zum Beispiel mit ihrer Moritat Fritze Bollmann32, sondern auch die nun in allen Großstädten verfügbare Filmversion der Dreigro-schenoper33 Einfluss auf Clara Benthien, ihre Maler, Dichter und Komponisten und ihren Mo-ritatengesang. Immerhin war Paul Kemp, einer der Darsteller in der Dreigroschenoper, ihr Gast - und ihre kleinen Glanzstücke entstanden etwa zeitgleich mit der Verfilmung. Diese setzt mit der Moritat von Mackie Messer ein und wird durchgehend von einem Bänkelsänger kommentiert. Mackies Moritat setzt sich dem klassischen Vorbild entsprechend aus den Ele-menten thematische Groteske, mehrteilige Bildtafel, Zeigestock, Sprechgesang mit musikali-scher Begleitung zusammen. Bei den Moritaten „Tante Claras“ kam ein von allen zu singen-der Refrain hinzu, dafür fehlte aber, wegen der niedrigen Kellerräume, die Bank zur Erhö-hung der Vortragenden. Aber dies vermochte ihre imposante Erscheinung auszugleichen. Bei Wikipedia heißt es heute, die Moritaten verschwanden in den Dreißiger Jahren des zwanzigs-ten Jahrhunderts34 - in Hamburg haben sie sich immerhin bis 1944 gehalten.

Claras elf Moritaten35, deren Bildtafeln, gemalt von Gustav Adolf Ast36, Will Tretow37 und Reinhold Escher38, sowie die dazu gehörigen Texte sind in einem um 1940 sorgfältig kalligrafisch gestalteten Buch überliefert, das Helmut Leiter, ein sowohl musikalisch, als auch grafisch begabter junger Mann gestaltete, der „Tante Clara“ hin und wieder auf dem Akkor-deon begleitete.

Helmut Leiter vor der Moritatentafel Die Kleiderkarte, 1940 (© Archiv Nele Lipp)

32 Ursprünglich ein Brandenburgisches Volkslied. 33 1931, Regisseur war der expressionistisch arbeitende Georg Wilhelm Pabst. 34 Allerdings haben Liedermacher wie Franz Josef Degenhardt immer wieder mit der Liedform kunstvoll expe-rimentiert, z. B. in Wölfe mitten im Mai, einem Lied, in dem er in den 1960er Jahren vor neuen Nazis warnte. 35 Ihre Titel lauten: Little Jim, Die Kleiderkarte, Maler Blitz, Der Bilderraub, Der schöne Georg, Herr von Meck-Meck-Meck, Die Verdunkelung, Das Autoduell, Die Waldeslust, Die Seemannsbraut, und Der Bart. 36 1905-1989, Ast war Pressezeichner und Karikaturist. Seine Ausbildung machte er an der Hamburger Landes-kunstschule. 1943 wurden mehrere hundert seiner Bilder bei einem Bombenangriff zerstört. 37 Leider liegen über diesen Künstler keine Informationen vor. 38 1905-1994, Escher interessierte sich früh für Comics (Disney erfand die Figur von Micky Maus 1928). Sein erster Comic wurde 1938/1939 im Hamburger Anzeiger publiziert und hieß „Peter mit dem Mikrophon“. Ange-stellt wurde er dann bei der Hamburger Illustrierten, für die er die Serie „Hein Ei“ entwickelte. Nach dem zwei-ten Weltkrieg zeichnete er für Schweizer Magazine und kehrte als Buchillustrator nach Hamburg zurück. Hier schuf er die Comicserie „Mecki“, die 1951-1972 wöchentlich auf der letzten Seite der Rundfunk-Zeitung Hör Zu publiziert wurde.

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Von den Autoren der Texte wissen wir zumindest, dass der Schriftsteller und Journalist des NWDR39 Konrad Tegtmeier (1905-1972) 1937 die Moritaten „Maler Blitz“ und „Der Bilder-raub“ verfasst hat. Der Schriftsteller und Kabarettist Fred Endrikat (1890-1942) könnte eben-falls Texte geschrieben haben. Am Verfassen der Texte war möglicherweise auch Helmut Leiter beteiligt. Er fiel 1940 im Krieg40.

Michael Komorowski: Tante Clara, Moritaten singend mit ihren Künstlern, o. J. (Holzrelief, teilweise erhalten, Archiv Nele Lipp) MORITATENBILDER UND -TEXTE: Little Jim [...]

Little Jim aus Usambara41 Der kam zu Tante Clara Wie ihr seht, kam er spät Und riss sich die Büx entzwei, Nachts um drei... Chor: Das war schlimm für little Jim aus Usambara Der da kam zu Tante Clara, Darum komm durch de Döör, Sonst gibt es ein Malheur. Trotz der zerrissnen Hosen Roch er die Spirituosen Und im Nu, langt er zu

39 Nordwestdeutscher Rundfunk 1945–1956. 40 Die letzten Dokumente und Postkarten von ihm datieren aus dem Jahr 1940. 41 Im Nordosten Tansanias liegt ein kleiner Ort mit dem Namen Usambara, er gab dem Gebirge, an dessen Fuß er liegt, den Namen Usambara-Berge. Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Usambara-Berge [Abruf 12.12.2012]

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Und kippt Cognac, Rum und Wein in sich rein... Chor: Das war schlimm... Doch das Schicksal (wie immer) naht dem Manne In der Petroleum-Kanne, Voller Gier naht er ihr, Was er trinkt ist ihm wurscht, er hat Durscht... Chor: Das war schlimm... Nicht genug den Brennstoff zu mißbrauchen, Beginnt er noch zu rauchen, Und er griept na sien Piep, Und er ahnt nicht im Gemüt was ihm blüht... Chor: Das war schlimm... Ihr seht ihn explodieren Und elendig krepieren, Erst ein Knall, (rumm) dann ein Fall (bumm), Ja so flog der schwarze Schuft durch die Luft... Chor: Das war schlimm... Die Moral von der Geschichte, Die ich Euch hier berichte: Publikum trinke Rum, aber nie Petroleum, denn... Chor: Das war schlimm... Dass der Schuft ausgerechnet ein Farbiger war, und dass er - in der nächsten Moritat wieder zusammengenäht - noch eine Missetat begangen, nämlich Tante Clara die Kleiderkarte ge-stohlen hat, möge man verzeihen, auch wenn dies ein Klischee bediente, dessen man sich da-mals noch nicht bewusst war. Doch es gab durchaus auch andere Schufte in den Moritaten. So den „Herrn wohl aus Amerika“, der „dem großen Rockefeller etwas ähnlich sah“ und ein ar-mes Mädchen um ihr Geld betrügen konnte, besungen in: Maler Blitz und Klementine

Moritatentafel von Reinhold Escher, 1930er Jahre (Foto, © Archiv Nele Lipp)

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Weiter ging es in der Moritat „Der Bilderraub“ mit zwei Räubern, die dem Maler Blitz ein Aktbild entwenden, das seine Geliebte in Öl darstellte. Nur unter Tränen konnten die Gauner jedoch das Bild anschauen und – so wurden sie auch schnell gefasst, da sie in ihrer Rührung unaufmerksam waren. Die Moral von der Geschichte: „Preist die Kunst in unserm Land, die so groß ist, dass sie selbst die Bösewichter bannt“.42

Auch Meckerfritzen und Hochnäsige wurden aufs Korn genommen (in der Moritat „Herr von Meck-Meck-Meck“).

1939 begann der Zweite Weltkrieg – und warf seinen Schatten auch auf die Moritaten. Offensichtlich von Gustav Adolf Ast in Negativtechnik gemalte Tafeln zeugen von Gescheh-nissen während der Verdunkelung. Der gepfiffene Refrain Nutz niemals die Verdunkelung zu einem kleinen Seitensprung. Kannst Du nichts sehn, kann’s doch geschehn, daß Lauscher hinter dem Baume steh’n, wurde zu einem unschuldig wirkenden Kennzeichen zur Verständi-gung derer, die sich vor „braunen Verfolgungen“ in Acht zu nehmen hatten. Wer zwischen den Zeilen zu lesen verstand, wusste auch, dass man sich nicht nur als betrogener Geliebter im Dunkeln zu „Tante Clara“ retten konnte.

Clara Benthien 1939 beim Vortrag der Moritat Das Autoduell (Foto: Hans Gerhard © Archiv Nele Lipp) DER KUNSTHANDEL Der Kunsthistoriker und Direktor der Hamburger Kunsthalle Alfred Lichtwark (1852-1914), der Kunsthistoriker und Direktor des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe Max Sauerlandt (1880-1934), Gustav Pauli (1866-1938) und der Landgerichtsdirektor und Grafik-sammler Gustav Schiefler (1857-1935) hatten Grundlagen dafür gelegt, dass Hamburg nach Berlin die größte und beste Sammlung Moderner Kunst in Deutschland besaß. Diese befand sich in der Hamburger Kunsthalle, einen Häuserblock von den Raboisen entfernt. Von dort kamen Künstler und Kunstinteressierte zu „Tante Clara“, denn Museen kannten damals noch

42 Nach 1933 war dies eine mutige – aber doppelbödige – Aussage.

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nicht die Einrichtung des Cafés oder Bistros im eigenen Hause: man musste sich selbst einen günstigen Treffpunkt im Umfeld suchen. Viele Namen derer, deren Werke bei „Tante Clara“ ausgestellt und verkauft wurden, sind in-zwischen verblasst. Außer den engagierten Kunsthistorikerinnen Maike Bruhns43 und Frie-derike Weimar44 interessierte sich bisher kaum jemand für die abgebrochenen Karrieren jener Jahre. Doch auch die, die den Krieg überlebten, litten künstlerisch an dem Bruch, den der Krieg ihrem Leben und Werk zugefügt hatte. Manche, wie Robert Schneller hatten immerhin das Glück, nicht nur von „Tante Clara“, sondern in den 1950er Jahren von dem Industriellen und Kunstförderer Kurt A. Körber in Hamburg-Bergedorf noch einmal entdeckt zu werden45.

Stilistisch waren die meisten Maler noch in den 1920er bis 1940er Jahren von der vor dem Ersten Weltkrieg durch Alfred Lichtwark46, von Hans Harbeck als „Energiequelle ersten Ranges“47 bezeichnet, geschaffenen Initiative geprägt, die die impressionistische Malerei und Auseinandersetzungen mit dem Motiv Hamburg gefördert hatte. Lichtwark hatte Max Lie-bermann, Lovis Corinth, Max Slevogt und Leopold von Kalkreuth nach Hamburg geholt und sie bewogen, Hafen, Elbe und Alster auf ihre Leinwände zu bringen. Damit weckte er auch die Vorliebe der Hamburger Maler für entsprechende Motive und für realistisch-impressionistische Darstellungsweisen im Stil dieser Vorbilder. So erfolgte die „Eroberung Hamburgs durch die Malerei“48. Sein Nachfolger, der Hanseat Gustav Pauli, führte das Haus in Lichtwarks Sinne bis zu seiner Entlassung 1933 weiter. 1922 richtete er zusätzlich zur Ge-mäldegalerie das Kupferstichkabinett, 1923 einen Vortragssaal mit großer Bühne ein. Er kauf-te Kunst verschiedener Epochen hinzu und legte den Schwerpunkt auf expressionistische Ma-lerei. Es verband ihn eine enge Freundschaft mit Aby Warburg (1866-1929)49.

Entsprechend dem von Lichtwark initiierten Sammlungsschwerpunkt finden sich im Nachlass Clara Benthiens Bilder mit Motiven aus dem Hamburger Hafen, Alster-Ansichten, Blicke vom Süllberg und ins Gängeviertel etc. - Was sich stilistisch und in der Motivwahl deutlich vom Gros dieser Arbeiten abhob, waren die Gemälde und Wandbilder des Robert Schneller.

Quittung Will Tretows für den Erhalt von Honorar für eine Moritatentafel, 01. 05. 1940 (© Archiv Nele Lipp 43 Maike Bruhns: Kunst in der Krise (zwei Bände), Hamburg / München 2001. 44 Friederike Weimar: Die Hamburgische Sezession 1919-1933, Fischerhude 2003 und Friederike Weimar / Dirk Hempel (Hg.): Himmel auf Zeit. Die Kultur der 1920er Jahre in Hamburg, Neumünster 2010. 45 Robert Schneller konnte nach dem Zweiten Weltkrieg verschiedene Arbeiten für Kurt A. Körbers Hauni-Werke erstellen, so 1955 das Haunikus-Fenster und das Tabakfenster, 1965 das über fünf Geschosse gehende Fenstergitter Werte und Symbole (es zeigt die technische Entwicklung vom Zahnrad zum Atomium. Es wurde von Körber konzipiert und von Schneller ausgeführt), das Gemälde Fünf Frauen im Tempel (o. J., Öl auf Holz) und das dreiteilige Steinrelief Kraft – Würde – Geist (o. J.). Es findet sich auch eine Löwenskulptur von ihm im Bergedorfer Park, die um 1961 zur Symbolfigur der „Bergedorfer Gespräche“ erklärt wurde, in denen Grundfra-gen der deutschen und europäischen Sicherheitspolitik erörtert werden. 46 1886-1914 Direktor der Hamburger Kunsthalle. Er publizierte unter dem Pseudonym „k“. 47 Hans Harbeck: Was nicht im Baedeker steht. Hamburg, München 1930, S. 48. 48 Ebd. 49 Aby Warburgs Sohn, der Künstler und Kunsthistoriker Max Adolph Warburg besuchte bis zu seiner Emigrati-on 1934 wiederholt das Künstlerlokal „Tante Clara“ (Pers. Mitteilung: Henriette Müller).

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Schneller, trotz einiger Kunst-am-Bau Projekte der Nachkriegszeit, zum Beispiel für die Markthalle am Klostertor (Puttfarken-Relief) und der Unterstützung Körbers, blieb jedoch kunsthistorisch bisher übersehen. RUNDFUNKSENDUNGEN UND ARMBANDMIKROPHON 1931 verfasste der Hamburger Lyriker, Dramatiker und Theaterautor Walter Gättke (1896-1967) ein Gedicht über den Künstlerkeller mit dem Titel Der selige Kerker, das er in das Gäs-tebuch eintrug und am Sonntag, den 15. November 1931, in der NORAG50 vortrug. Darin malte er ein anschauliches Bild der Stimmung, die ein neben dem Akkordeonspieler engagier-ter Lautenspieler zu erzeugen vermochte.

1937 wurde von Julius Jacobi, Rundfunkredakteur und -sprecher des NWDR, ein Ton-dokument mit Moritaten erstellt51, das dann auch gesendet wurde und von dem Decelit-Folienplatten-Aufnahmen erhalten sind. Es wurde mit dem gerade erfundenen „Armbandmik-rophon“ aufgenommen, das ganz unauffällig am Arm getragen wurde und nicht mit dem da-mals üblichen „Flaschenmikrophon“.

Gesendet wurden die Aufnahmen zweier Moritaten („Little Jim“ und „Maler Blitz“) am Sonnabend, den 13. Februar desselben Jahres, unter dem Titel: Hamburg schunkelt. Ein Streifzug mit Musik und Tanz durch Karnevalsbälle, Varietées und Kabaretts unter dem Mot-to: „Alles amüsiert sich“.

Amusement war in den wirtschaftlich und politisch unsicheren Zeiten für das seelische Gleichgewicht der Bürger politisch erwünscht, denn es sollte von den schlimmen Entwick-lungen ablenken. Dies bescherte der Künstlerkneipe „Tante Clara“ einen ambivalenten Erfolg inmitten wachsenden Elends.

Jacobi, dem seine steile Karriere beim Rundfunk während der Kriegszeit vorgeworfen wird52, schrieb Weihnachten 1939 „Heim!“ein Gedicht für „Tante Clara“, in dem er den Weg zu ihr als den Weg nach Hause mit den Worten beschreibt: Oh’ ich liefe Stunden; Rastete, verhielte nicht, bis ich heimgefunden.

Dieses „Heim“, in dem die „Schutzmutter der Künste“ residierte, war zugleich ein rät-selhafter Ort, denn hier wurde in den späteren, den verzweifelten Kriegsjahren zwar im Vor-dergrund weiter amüsiert, getröstet und von den „Tiefen schweren Wolken draußen und drin-nen“53 abgelenkt, doch die Ablenkung war nicht nur eine von dem Wahnsinn des Nationalso-zialismus und des Krieges allein, sondern auch von dem, was im allgemeinen Gelärme an kritischen Ehrlichkeiten geäußert werden konnte und - was sich in einem Hinterzimmer voll-zog. KRISENZEIT UND KRIEG Eine um 1940 entstandene und mit Bedacht anonyme kabarettistische Szenenfolge mit dem Titel „Der Spiegel“, zur Aufführung oder zum Vortrag bei Tante Clara verfasst54, kennzeich-nete mutig die Verfasstheit und die Unerschrockenheit der Menschen, die sich bei „Tante Cla-ra“ versammelten. Darin wurde sehr deutlich ausgesprochen, zu welchen Typen die Menschen zwischen Bombenangriffen und Deportationen geworden waren. Der Spiegel: [...] zeigt Dir völlig selbstvergessen, wie blöd du bist und wie vermessen. Er zeigt den Gerüchte-Koch, den

50 Nordische Rundfunk AG, 1924–1939. 51 Angekündigt in: FunkStunde. Die Illustrierte des Rundfunkhörers, Berlin, 7. Februar 1937. 52 Es besteht die Vermutung, dass er für Protektion der Künstlerkneipe gesorgt hat. 53 Jacobi in: „Heim!“ 54 Das Typoskript dazu fand sich in dem Gästebuch, das Besuche von 1933 bis 1938 dokumentiert.

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zum BDM-Mädchen gewordenen Vamp, den Hamsterer, den von oben Getretenen, der die Tritte nach unten weitergibt: Es sind die Krummen, die umherspazieren, die ewig kratzen und ewig schmieren. Die Szenenfolge endet mit dem Satz: Seid lustig und fröhlich und lacht mit mir, denn es fühlt sich wohl keiner getroffen hier. Und wo dieser Ort nicht erreichbar war, schaffte man sich zum Trost ein Double. So wurde von Helmut Leiter nahe der Front in der Not ein Bunker zur „Villa Tante Clara“ er-klärt.

"Villa Tante Clara“, 1940 (Fotografie von Helmut Leiter aus dem Feld geschickt, © Archiv Nele Lipp) IN DER HEIMAT ABER Erika. Die Frohe Zeitung für Front und Heimat brachte in ihrem 1. Jahrgang in Nr. 13, März 1940, einen Hinweis auf „Tante Clara“:

So wie München seinen „Simpl“ hat, so hat Hamburg unter anderem seine „Tante Clara“. Da werden vor allerhand kuriosen Bildern Geschichten erzählt und gesungen, und die Gäste fühlen sich trotz des Halbdunkels recht wohl.

Auch ein betuliches niederdeutsches Gedicht von Willi Böge aus der Hamburger Feldpost (um 1940) über „Tante Klara“ wurde als Trostpflaster gegen Kriegsstress publiziert:

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Hamburger Feldpost für Soldaten vom Reichsstatthalter, o. J., (Archiv Nele Lipp) Der Autor wusste nicht, oder wollte nicht wissen, dass es an diesem Ort auch etwas Anderes gab, nämlich das Hinterzimmer der Künstlerkneipe:

Hans (links) und Clara Benthien (Mitte) im abgetrennten Hinterzimmer (© Archiv Nele Lipp) Je länger der Krieg dauerte, und je konsequenter die Judenverfolgungen wurden, desto größer und gefährlicher wurde der Spagat zwischen Braunhemden und Freiheitssuchenden, was sich in der Architektur der Künstlerkneipe „Tante Clara“ zwischen Vorder- und Hinterzimmer spiegelte. Während im Kneipenbereich Moritaten erklangen und Otto Andreas Schreiber, Or-ganisator von Fabrikausstellungen für die Arbeiterschaft an der Arbeitsfront, ein Lob auf die „letzte Bänkelsängerin“ (26.7.1939) formulierte, trafen sich im Hinterzimmer Freimaurer und Juden mit den Benthiens. Hier stand kein Alkohol auf diesem Tisch, wie in den vorderen Räumen, sondern Kaffee. Und man half: So zum Beispiel dem Pädagogen Ernst Loewenberg bei der Emigration in die USA, der Modistin Clem Callmann und eventuell auch dem Künst-lerpaar Hilde und Hans Hamann sowie dem Schauspieler Conrad Veidt nach London.

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Ein Foto aus dem Nachlass dokumentiert ein solches Treffen, wobei geschickt diejeni-gen, denen geholfen werden soll, nicht erkennbar sind, falls die Aufnahme einmal in falsche Hände geraten sollte. Im Juni 1944 fiel der Künstlertreffpunkt eines Nachts den Bomben zum Opfer. Keiner wurde verletzt und niemand kam dort zu Tode.

Noch aus den rauchenden Trümmern gruben Clara und Hans Benthien eigenhändig aus, was noch zu retten war. Es war nicht wenig, denn der Keller war lediglich verschüttet, aber nicht ausgebrannt. Holzskulpturen von Michael Komorowski, Carl Schümann und René Sintenis konnten neben Kleinkunst aus Metall, zahlreichen Zeichnungen und Ölgemälden nebst sämtlichen selbst entworfenen Hockern und einer Kupferlampe gerettet werden. Auch vier aussagekräftige Gästebücher wurden noch aus den Trümmern gezogen. Leider aber wa-ren die Deckengemälde Schnellers, (die jedoch sämtlich in Fotodokumenten überliefert sind) und die Moritatentafeln Eschers, Asts und Tretows unwiederbringlich zerstört. In den 1950er Jahren trat der NWDR noch einmal an Clara Benthien heran, um ein Interview über die versunkene Welt des Künstlerkellers zu machen, doch ein öffentliches Echo darauf blieb aus.

Interview des NWDR mit Clara Benthien, 1950er Jahre (Foto: Hans-Günther Proft, Archiv Nele Lipp) 1958 erinnerte die WELT AM SONNTAG in dem Artikel Ärmer um Hamburgs Originale, ver-fasst von E.A. Walter mit einer Anekdote, die nicht ganz frei von Irrtümern war, an das Lo-kal:

Es war eine Kneipe, aber eine für die beste Gesellschaft. Tante Klara war berühmt als Frau Wirtin. Sie war es gewohnt, dass jeden Abend die feudalsten Autos vor ihrer Tür und weit hinauf und hinab die Straße standen, weil man sich bei ihr und ihrer fidelen Einfachheit wohlfühlte – auch wenn man einen schweren Wagen hatte. „Hut ab!“ scholl es einem aus vielen Kehlen entgegen, wenn man ein Neuling war. Damit war die Sache erledigt – [...] Die Zahl der Stammgäste war Legion.

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Dieser Artikel, wie auch die darin publizierte Zeichnung, zeigt, wie harmlos unwissend man aus der Perspektive der 1950er Jahre auf diese Zeit zurückblickte:

Zeichnung: Hagen 1958 1972 fand sich im Hamburger Abendblatt in der Wochenendausgabe vom 5. / 6. Februar unter der Rubrik „Wie wir hören“ ein Hinweis darauf, dass Peter Ahrweiler noch immer der „Kel-lerkneipe von Tante Klara nachtrauert“:

Dort, Brandsende, Ecke Raboisen hatte sich Anfang der dreißiger Jahre ein Schau-spieler-Literaten-Maler Freundeskreis zusammengefunden, zu dem Tetjus Tügel, Fred Endrikat, Ringelnatz, Otto Wild, Hannes Runge, Peter Ahrweiler und Michael Komorowski gehörten. Alle Wiederbelebungsversuche schlugen bisher fehl. Jetzt glaubt Peter Ahrweiler, das Richtige gefunden zu haben. In der Milchstraße 26 eröff-net er ein Lokal, das er schlicht „Pöseldorfer Kutscherkneipe“ nennt.

Es ist beeindruckend, dass fast siebzig Jahre nach dem gewaltsamen Ende von Benthiens Weinstuben „Tante Clara“ noch die Namen von 138 Gästen aus Kunst und Wissenschaft55 rekonstruierbar waren, und dass diese in den meisten Fällen noch heute mit unserem kulturel-len Gedächtnis verknüpft sind.

Clara Benthien verstarb am 16. November 1962 in Hamburg im Kreis ihrer Familie56, nachdem sie in der Warburgstr. 45 vergeblich versucht hatte, Ausschank und Kunsthandel nach dem Krieg noch einmal aufleben zu lassen. Im Jahr 2012 wird sie im Rahmen des „Gartens der Frauen“ mit der Aufstellung einer Gedenkstele an ihrem Grab auf dem Ohlsdorfer Friedhof57 geehrt. NELE LIPP

55 Es handelt sich um 4 Architekten, 53 Maler, 36 Schauspieler und Filmproduzenten, 5 Journalisten / Redakteu-re, 19 Literaten; 9 Musiker, 3 Kunsthandwerker, 3 Zauberer, 6 Wissenschaftler / Juristen / Pädagogen. 56 Henriette Müller (geb. Benthien), Dr. med. Alexander Müller, ihre Tochter Cornelia Müller (alias: Nele Lipp), Kristin Hilgendorf (geb. Tügel-Benthien) und Holger Hilgendorf. 57 Kennnummer N 26, 60-72.


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