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Trauma-Biomechanik ||

Date post: 20-Dec-2016
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Trauma-Biomechanik

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Kai-Uwe Schmitt · Peter F. Niederer ·Markus H. Muser · Felix Walz

Trauma-Biomechanik

Verletzungen in Straßenverkehr und Sport

123

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PD Dr. Kai-Uwe SchmittETH ZürichInst. Biomedizinische TechnikGloriastr. 358092 Zü[email protected]

Dr. Markus H. MuserAGU ZürichWinkelriedstr. 278006 ZürichSwitzerland

Prof. Dr. Peter F. NiedererETH ZürichInst. Biomedizinische TechnikGloriastr. 358092 ZürichSwitzerland

Prof. Dr. med. Felix WalzAGU ZürichWinkelriedstr. 278006 ZürichSwitzerland

ISBN 978-3-642-11595-0 e-ISBN 978-3-642-11596-7DOI 10.1007/978-3-642-11596-7Springer Heidelberg Dordrecht London New York

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

c© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Über-setzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, derFunksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherungin Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. EineVervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzender gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9.September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig.Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes.Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werkberechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne derWarenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermannbenutzt werden dürften.

Einbandentwurf: deblik, Berlin

Gedruckt auf säurefreiem Papier

Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)

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Vorwort

Auf dem Gebiet der Verkehrssicherheit wurden in den vergangenen Jahrengroße Fortschritte erzielt. Dazu haben zahlreiche Maßnahmen beigetragen.Verbesserte Straßen sind ebenso zu nennen, wie die Gurtanlegepflicht undein gesellschaftlicher Lernprozess bezüglich des individuellen Umgangsmit Risiken bei der Verkehrsteilnahme. Fahrwerksregelsysteme wie ABSund ESP gehören mittlerweile zur Serienausstattung und helfen vieleUnfälle zu vermeiden und anderen eine mildere Verlaufform zu geben.Wenn es dennoch zum Aufprall kommt, sorgen zunehmend verbesserteKarosseriestrukturen in den meisten Fällen für einen Überlebensraum ohnebedrohliche Intrusionen und bauen die kinetische Energie ab. Die Insassenwerden durch vielfältige, aufeinander abgestimmte Rückhaltesystemekontrolliert verzögert, so dass die biomechanischen Grenzen ihrerBelastbarkeit möglichst nicht erreicht werden. Schließlich könnenUnfallopfer auf eine rasche Alarmierung von Helfern, eine effizienteRettungskette und eine hoch entwickelte Notfallmedizin rechnen.Tatsächlich ist die Zahl der im Straßenverkehr Getöteten in Deutschland,Österreich und der Schweiz und auch in der EU insgesamt trotz steigendenVerkehrsaufkommens seit Jahren rückläufig. Dennoch müssen noch mehrFortschritte erreicht werden, wenn das Leitbild eines nahezu opferfreienStraßenverkehrs realisiert werden soll.

Es gibt zahlreiche weitere Ansätze zur Verbesserung der PassivenFahrzeugsicherheit. Bei gegebener, sehr guter Karosserie müssen dieRückhaltesysteme so ausgelegt werden, dass sie der Vielfalt der tatsächlichauftretenden Unfallsituationen und den interindividuellen Unterschiedender Fahrzeuginsassen gerecht werden können. Eine Voraussetzung dafür istes, dass die biomechanischen Bedingungen für das Auftreten vonVerletzungen bekannt sind.

Der Nachweis der Schutzwirkung bei einem Unfall erfolgt für ein Kfzheute an Hand von Versuchen mit Anthropomorphic Test Devices, also

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Dummys. Dazu wurden biomechanisch begründete Schutzkriteriendefiniert, die den Zusammenhang zwischen den Messwerten am Dummyund der Wirkung auf den Menschen erfassen. Ergänzend werdeninzwischen im Entwicklungsprozess in großem Umfang rechnerischeMethoden mit numerischen Modellen von Fahrzeug, Rückhaltesystemen,Dummys und gegnerischen Objekten eingesetzt.

In Zukunft werden nicht nur die standarisierten Tests mit durchschnittlichenPersonen zu bewerten sein, auch wenn diese für den Nachweis einesMindestniveaus an Passiver Sicherheit für die Fahrzeugtypprüfungentscheidend bleiben. Zusätzlich ist eine Vielzahl von Unfallsituationen mitunterschiedlich großen, schweren, alten und gesunden Fahrzeuginsassen zuoptimieren und zu überprüfen. Auf experimentellem Weg ist dasunmöglich. Die Rolle der numerischen Simulation wird daher weiterzunehmen. Dazu sind aussagefähige, numerische Modelle der Biomechanikunter Berücksichtigung der Verschiedenheit der Menschen erforderlich.Untersuchungen zur Verletzungsentstehung können helfen, sie durchkonstruktive Verbesserungen zu vermeiden oder in ihrer Schwere zuverringern. Von der Unfallbiomechanik sind also weiterhin wichtigeBeiträge zur Verbesserung der Fahrzeugsicherheit zu erbringen.

Prof. Dr. Volker SchindlerFachgebiet Kraftfahrzeuge

Technische Universität Berlin

VI Vorwort

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Geleitwort

Der Erfolg der bisherigen englischsprachigen Ausgaben dieses Buches hatuns ermutigt, nun auch eine deutsche Übersetzung vorzulegen. Obschonsich das Buch in erster Linie an Einsteiger in die Trauma- bzw.Verletzungsbiomechanik richtet, finden sich zu jedem Kapitel auchumfangreiche Referenzen, die eine entsprechende Vertiefung ermöglichen.Somit dient das Buch auch als Startpunkt für ein intensiveres Studiumspezifischer Aspekte der Trauma-Biomechanik.

Wir hoffen, dass das Buch dem Leser nicht nur einen strukturiertenEinstieg in die Materie ermöglicht, sondern auch zu weiterführenderBeschäftigung anregt. Die sozio-ökonomische Bedeutung vonVerletzungen rechtfertigt jedenfalls eine ausgiebige Beschäftigung mit denverschiedenen Aspekten; sei es mit Verletzungsmechanismen oder auch mitMöglichkeiten zur Verletzungsprävention. Die globale Dimension derThematik ergibt sich einerseits aus dem steigenden Verkehrsaufkommeninsbesondere in Schwellen- und Entwicklungsländern, andererseits aus derVielzahl von Verletzungen, welche im Sport, bei der Arbeit und imHaushalt auftreten. Daraus und aus den vielen, damit zusammenhängendenmenschlichen Tragödien ergibt sich die Motivation, zur Reduktion desVerletzungsrisikos beizutragen.

Kai-Uwe Schmitt, Peter Niederer, Markus Muser, Felix Walz

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Inhalt

1 Einleitung .................................................................................................11.1 Zum vorliegenden Buch ....................................................................31.2 Geschichte ........................................................................................101.3 Referenzen........................................................................................17

2 Methoden der Trauma-Biomechanik ......................................................192.1 Statistik, Feldstudien, Datenbanken ................................................192.2 Grundlagen der Biomechanik ..........................................................242.3 Verletzungskriterien, Verletzungsindizes und Verletzungsrisiko....292.4 Unfallrekonstruktion .......................................................................342.5 Experimentelle Untersuchungen .....................................................392.6 Standardisierte Testverfahren ..........................................................45

2.6.1 Crashtest-Dummys ....................................................................532.7 Numerische Simulationen ................................................................622.8 Zusammenfassung............................................................................672.9 Referenzen .......................................................................................68

3 Kopfverletzungen ...................................................................................713.1 Anatomie des Kopfes ......................................................................713.2 Verletzungen und Verletzungsmechanismen ..................................743.3 Mechanisches Verhalten des Kopfes ...............................................793.4 Verletzungskriterien für Kopfverletzungen ....................................84

3.4.1 Head Injury Criterion (HIC) ......................................................853.4.2 Head Protection Criterion (HPC) ..............................................873.4.3 3 ms Kriterium (a3ms) ...............................................................873.4.4 Generalized Acceleration Model for Brain Injury Threshold ...87

3.5 Kopfverletzungen im Sport ..............................................................893.6 Prävention von Kopfverletzungen....................................................95

3.6.1 Prävention von Kopfverletzungen bei Fussgängern ..................963.7 Zusammenfassung ...........................................................................993.8 Referenzen........................................................................................99

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X Inhalt

4 Verletzungen der Wirbelsäule ..............................................................1054.1 Anatomie der Wirbelsäule .............................................................1064.2 Verletzungsmechanismen ..............................................................1104.3 Biomechanisches Verhalten und Toleranzen .................................1194.4 Verletzungskriterien ......................................................................124

4.4.1 NIC ..........................................................................................1264.4.2 Nij ............................................................................................1274.4.3 Nkm ..........................................................................................1284.4.4 LNL .........................................................................................1324.4.5 Verletzungskriterien in ECE und FMVSS ..............................1334.4.6 Weitere Verletzungskriterien ...................................................1344.4.7 Korrelation zwischen Verletzungskriterien und -risiko ..........135

4.5 Wirbelsäulenverletzungen im Sport ...............................................1384.6 Prävention von HWS-Verletzungen...............................................141

4.6.1 Kopfstützen-Geometrie und -Material .....................................1424.6.2 Systeme zur Optimierung der Kopfstützen-Position ...............1444.6.3 Systeme mit kontrollierter Bewegung des Sitzes.....................146

4.7 Zusammenfassung .........................................................................1494.8 Referenzen......................................................................................149

5 Thoraxverletzungen...............................................................................1575.1 Anatomie des Thorax .....................................................................1575.2 Verletzungsmechanismen...............................................................160

5.2.1 Rippenfrakturen........................................................................1625.2.2 Lungenverletzungen.................................................................1635.2.3 Verletzungen anderer Organe des Thorax................................164

5.3 Biomechanisches Verhalten ...........................................................1665.3.1 Frontale Belastungen................................................................1675.3.2 Laterale Belastungen ................................................................173

5.4 Verletzungstoleranzen und - kriterien ............................................1755.4.1 Beschleunigung und Kraft........................................................1755.4.2 Thoracic Trauma Index (TTI) .................................................1755.4.3 Compression Criterion (C) ......................................................1765.4.4 Viscous Criterion (VC) ...........................................................1775.4.5 Combined Thoracic Index (CTI) .............................................1775.4.6 Weitere Kriterien......................................................................178

5.5 Thorax-Verletzungen im Sport.......................................................1795.6 Zusammenfassung..........................................................................1795.7 Referenzen .....................................................................................180

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Inhalt XI

6 Verletzungen des Abdomens.................................................................1836.1 Anatomie des Abdomens ...............................................................1836.2 Verletzungsmechanismen...............................................................1856.3 Bestimmung des biomechanischen Verhaltens ..............................1886.4 Verletzungstoleranzen....................................................................190

6.4.1 Verletzungskriterien .................................................................1916.5 Einfluss des Sicherheitsgurtes ........................................................1926.6 Verletzungen des Abdomens im Sport...........................................1936.7 Zusammenfassung..........................................................................1946.8 Referenzen .....................................................................................194

7 Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten.....................1977.1 Anatomie der unteren Extremitäten ...............................................1977.2 Verletzungsmechanismen...............................................................200

7.2.1 Verletzungen des Beckens und des proximalem Femurs.........2047.2.2 Bein-, Knie- und Fussverletzungen..........................................206

7.3 Belastungstoleranzen für Becken und untere Extremitäten ...........2097.4 Verletzungskriterien .......................................................................214

7.4.1 Kompressionskraft ...................................................................2147.4.2 Femur-Kraft-Kriterium (Femur Force Criterion, FFC) ...........2147.4.3 Tibia Index (TI) .......................................................................2147.4.4 Weitere Kriterien......................................................................215

7.5 Verletzungen von Becken und unteren Extremitäten im Sport......2167.6 Prävention.......................................................................................220

7.6.1 Massnahmen zum Fussgängerschutz ........ ..............................2217.7 Zusammenfassung .........................................................................2237.8 Referenzen......................................................................................223

8 Verletzungen der oberen Extremitäten..................................................2278.1 Anatomie ........................................................................................2278.2 Verletzungshäufigkeiten und - mechanismen ................................2298.3 Verletzungstoleranzen....................................................................2328.4 Verl.-kriterien und Bewertung des Verl.-risikos durch Airbags .. 2348.5 Verletzungen der oberen Extremiäten im Sport .............................2368.6 Zusammenfassung..........................................................................2418.7 Referenzen .....................................................................................242

9 Schädigungen und Verletzungen durch chronische Belastung .............2479.1 Arbeitsmedizin ...............................................................................2519.2 Sport ...............................................................................................254

9.2.1 Allgemeine Betrachtungen.......................................................254

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XII Inhalt

9.2.2 Kontakt-Sportarten ...................................................................2569.3 Hausarbeit.......................................................................................2569.4 Zusammenfassung..........................................................................2579.5 Referenzen......................................................................................257

10 Index....................................................................................................261

Aus Gründen der Lesbarkeit verzichten wir darauf, männliche undweibliche Formulierungen zu verwenden. Wir bitten die Leserschaft umVerständnis.

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1 Einleitung

Der menschliche Körper wird täglich mechanischen Belastungenausgesetzt. Einerseits wirken Kräfte, die allgegenwärtig sein können wiedie Schwerkraft oder die über grosse Distanzen übertragen werden könnenwie elektromagnetische Feldkräfte. Andererseits wirkt eine Vielzahl vonKräften, die durch direkte Berührung mit unserer Umwelt entstehen. Auchdurch physiologische Prozesse im Körper selbst werden Kräfte auf Organeund das Gewebe ausgeübt. Im Laufe der Evolution war die Entwicklungimmer von solchen mechanischen Wechselwirkungen geprägt, teilweisesind solche Kräfte sogar notwendig, damit der Körper einzelne Funktionen— wie beispielweise den Knochenumbau — überhaupt erst ausüben kann.

Die Biomechanik beschäftigt sich in erster Linie mit der Analyse, derMessung und der Modellierung von Auswirkungen verschiedenermechanischer Belastungen auf den menschlichen Körper, untersucht aberauch die Auswirkungen bei Tieren und Pflanzen. Ein quantitativer Ansatzsteht dabei im Vordergrund. Die zu untersuchenden mechanischenBelastungen umfassen innere wie äussere Kräfte. Beispiele sind innereKräfte im molekularen Bereich, durch kontraktile Fasern auf zelluläremNiveau ausgeübte Kräfte wie auch makroskopisch betrachtete Muskelkräfteoder Drücke und Schubspannungen, die durch Körperflüssigkeiten oderandere aktive biologische Transportprozesse einschliesslich der Osmoseentstehen. Äussere Kräfte beinhalten Kräfte, die in unserem Alltag auf unswirken. Dementsprechend umfassen die in der Biomechanik untersuchtenKräfte Grössenordnungen von pN bis MN (kleinere bzw. grössere Kräftewerden quasi nicht betrachtet, da diese entweder kaum einen Effekt aufden Körper haben oder zu dessen vollständiger Zerstörung führen), diewährend Zeitdauern von Picosekunden bis Jahren auf den Körpereinwirken.

Eine mögliche Folge von inneren wie äusseren auf den Körperwirkenden Kräfte ist das Entstehen von Verletzungen. Solche werdenüblicherweise mit dem Auftreten von übermässigen äusseren Kräften und/oder dem Auftreten von Kräften in ungünstigen Konstellationen,

K.-U. Schmitt et al., Trauma Biomechanik, DOI 10.1007/978-3-642-11596-7_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

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2 Einleitung

insbesondere im Rahmen von Unfällen, in Verbindung gebracht.Tatsächlich stellen Unfälle die häufigste Todesursache von jüngerenMenschen dar (Tab. 1.1). Bei inneren Kräfte hingegen geht man meistdavon aus, dass diese durch anatomische oder physiologischeGegebenheiten derart begrenzt werden, dass sie nicht zu Verletzungenführen. Dies muss jedoch nicht immer der Fall sein: Rippenbrüche alsFolge intensiver Hustenanfälle, Muskelfaserrisse durch Krämpfe oderendokardiale Blutungen im Falle eines hypovolämischen Schocks sindBeispiele für Verletzungen, die durch den Körper selbst verursacht wurden.

Der Teilbereich der Biomechanik, der sich mit dem Entstehen vonVerletzungen durch mechanische Einwirkungen beschäftigt, wird alsVerletzungsbiomechanik oder Trauma-Biomechanik bezeichnet. Dasvorliegende Buch konzentriert sich auf diesen Aspekt der Biomechanik.

Dabei gilt es viele verschiedene Arten von Verletzungen,unterschiedliche Verletzungsmechanismen und eine Vielzahl vonverletzungsinduzierenden Belastungen zu betrachten. Um dieses Spektrummit der nötigen Tiefe behandeln zu können, ist die Trauma-Biomechanikein stark interdisziplinär ausgerichtetes Fach. Es umspannt makroskopischeBewegungsanalysen im Sport genauso wie sub-mikroskopischeModellierungen von molekularen Transportvorgängen in Zellmembranen.Da hier lebendes Gewebe mit den ihm eigenen aktiven Prozessen wieMuskelkontraktionen oder elektrochemischen Prozessen im Mittelpunktsteht sind biologische Aspekte involviert. Das über Jahrzehnte gesammeltevielfältige Wissen aus der Mechanik und der Biologie trägt somit erheblichzum Verständnis der Trauma-Biomechanik, dem Verständnis von

Tabelle 1.1 Die 5 häufigsten Todesursachen derAltersgruppe der 15-24jährigen in den USA im Jahr1998 (National Vital Statistics Report, Vol. 50, No. 15,2002).

Ursache % Anzahl

Unfälle 51.8 12’752

Tötungsdelikte 21.2 5’233

Selbstmorde 16.3 4’003

Krebserkrankungen 6.8 1’670

Herzerkrankungen 3.9 961

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Zum vorliegenden Buch 3

Verletzungen auf makroskopischem wie subzellulärem Niveau, bei. Daher ist ein Grundwissen aus Mechanik, Anatomie und Physiologie

notwendig, um ein Grundverständnis der Trauma-Biomechanik entwickelnzu können.

1.1 Zum vorliegenden Buch

Im Folgenden werden einige Vorbemerkungen zum Inhalt, zur Intentionsowie zum Aufbau des Buches aufgeführt:1. Es ist zu unterscheiden zwischen Verletzungen, die durch

unvorhergesehene, plötzliche und einmalige Ereignisse - also durchUnfälle im engeren Sinne - entstehen und Verletzungen infolgechronischer Überbelastung, d.h. durch Belastungen über einen längerenZeitraum. Der Kopfanprall, den ein Fussgänger im Rahmen einerKollision durch Anprall an der Fahrzeugfront erfährt und die graduelleZerstörung von Haarzellen im Innenohr durch chronische Beschallungmit Lärm sind beides Beispiele für Verletzungen, wobei sich jedoch dieArt der Verletzung, der Verletzungsmechanismus, dieBelastungsgrenzen und Verletzungskriterien, die Methoden zurRekonstruktion und Analyse der Ereignisse wie auch dieSchutzmassnahmen grundsätzlich unterscheiden. Auch im Hinblick aufVersicherungs- und Haftungsfragen sind beide Fälle sehrunterschiedlich zu bewerten.

2. Der Zeitraum, der typischerweise im Rahmen einesStrassenverkehrsunfalls für das Entstehen von Verletzungen relevantist, beträgt zwischen 100 ms und 200 ms, wobei die frühe Phaseoftmals entscheidend ist. Häufig ist sich die involvierte Person derUnfallsituation nicht bewusst, so dass sie nicht im Vorfeld auf diedrohende Gefahr reagiert (bzw. reagieren kann). Demnach könnenMuskelreaktionen, die mit einer Zeitverzögerung von 60 ms bis 80 msauftreten, oftmals als zweitrangig betrachtet und vernachlässigtwerden. Dieser Aspekt ist bei chronischen Belastungen grundsätzlichverschieden, da hier physiologische wie auch psychische Reaktionenimmer im Vordergrund stehen.

3. Das Alter stellt einen weiteren wichtigen Aspekt dar. Die mechanischenEigenschaften menschlichen Gewebes, insbesondere dieVerletzungstoleranzen, verändern sich durch das Altern deutlich hin zugeringeren Toleranzen. Dies wird unter anderem durch einenreduzierten Wasseranteil im Körper mit stärkerer (weniger elastischer)

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4 Einleitung

Verknüpfung von Kollagenfasern sowie einer Demineralisierung vonKnochen begünstigt. Deutlich häufigere Verletzungen im Alter, vorallem Knochenbrüche, sind die Folge. In diesem Zusammenhang sindauch spontane Brüche bekannt, bei denen der Knochen bereits unternormalen physiologischen Belastungen bricht. In Anbetracht der in denIndustrienationen alternden Gesellschaft, verdienen solche Aspektebesondere Aufmerksamkeit.

4. Auch am anderen Ende der Altersspanne, den Heranwachsenden, sindbezüglich Trauma-Biomechanik erhebliche Veränderungen dermechanischen und biologischen Eigenschaften zu beachten.Hinsichtlich der Beschreibung dieser Eigenschaften bestehen jedochnoch grosse Wissenslücken, da Experimente mit Kindern oder garLeichenversuche kaum denkbar sind. Das Skalieren entsprechender anErwachsenen bestimmten Eigenschaften auf Kinder ist schwierig(“Kinder sind keine kleinen Erwachsenen”). Die Entwicklung vonKinder-Crashtest-Dummys (siehe Kap. 2.6.1) ist daher nicht einfach.Wegen des Mangels an experimentellen Daten basieren die meistenArbeiten zu Verletzungen bei Kindern auf statistischen Analysen. Einsignifikanter Beitrag zu diesem Themengebiet wurde beispielsweisedurch “The Center for Injury Research and Prevention at TheChildren's Hospital of Philadelphia” geleistet (http://stokes.chop.edu/programs/injury/).

5. Pathologische Veränderungen können die mechanischen Eigenschaftender Körpers erheblich verändern. Aus der Urologie sind beispielsweiseNierenverletzungen als Folge von Spannungskonzentrationen imBereich einer Zyste bekannt. Auch die Verstärkung von vorbestehendenNackenbeschwerden durch ein zusätzliches “Schleudertrauma” (sieheauch Kap. 4) wurde mehrfach beschrieben.

Abb. 1.1 Mikrokallus Bildung. DasBild zeigt eine 3D Aufnahme(Mikro-Computertomographie, μ-CT) einer Biopsie aus demmenschlichen Beckenkamm.Mikrofrakturen haben dieNeubildung von Knochen initiiert[Prof. R. Müller, ETH Zürich].

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Zum vorliegenden Buch 5

6. Unter ganz bestimmten Bedingungen könnten Mikro-Verletzungen aufzellulärem Niveau bis zu einem gewissen Grade auch vorteilhaft sein.Abbildung 1.1 zeigt die Mikro-Kallusbildung als Folge von Mikro-Verletzungen in spongiösem Knochen, die als Beispiel für eineVerletzungen, die Knochenbildung simuliert, betrachtet werden kann.Nach langen, anstrengenden Bergwanderungen sind solche Mikro-Verletzungen auch im gesunden Fuss nicht aussergewöhnlich.Chronische Überbelastung hingegen kann zu einer gegenteiligenEntwicklung führen. Abbildung 1.2 zeigt eine Marathonläuferin, derenSkelett durch exzessives Training stark demineralisiert wurde.

7. Verletzungen werden meistens im Zusammenhang mit Bewegung(Sport, Haushalt usw.) oder Mobilität (Verkehr) erlitten. Während inder Biologie Tierexperimente (unter entsprechenden Auflagen) üblichsind, finden diese in der Trauma-Biomechanik, mit Ausnahme wenigerallgemeingültiger physiologischer Aspekte, quasi keine Anwendungmehr. Wegen der den interessierenden Bewegungen undVerletzungsmechanismen zugrunde liegenden Nicht-Linearität kannnicht von Tierexperimenten (z.B. Versuchen mit Ratten) auf denMenschen geschlossen werden.

8. Betrachtet man das gesamte Spektrum rund um “Verletzungen”einschliesslich deren Ursachen, Häufigkeit, Prävention, Heilung,Rehabilitation, Langzeitfolgen und den sozioökonomischen Folgen, sosind auch klinische Aspekte der Behandlung von Verletzungen zuberücksichtigen. Häufig wird vergessen, dass die Reduktion der

Abb. 1.2 28jährige Frau (links) und μ-CT Aufnahme derenRadius (Elle) nahe dem Handgelenk (rechts). Die extremeDemineralisierung des Knochen ist auf exzessives Trainingals Marathonläuferin zurückzuführen [Prof. Dr. med. M.Dambacher, Universitätsklinik Balgrist, Zürich].

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6 Einleitung

spezifischen Mortalität (d.h. des Sterberisikos pro Fall) auch durchEntwicklungen der Notfall- und Intensivmedizin sowie derRettungsdienste positiv beeinflußt wird. Als ungünstig fällt hingegenauf, wenn Verletzungsmechanismen oder Unfälle durch Ärzteuntersucht und beurteilt werden, die hierfür nicht ausgebildet sind und/oder denen die entsprechende Kompetenz fehlt. Die objektiveBeurteilung von Unfällen - insbesondere im Zusammenhang mitUnfallschwere und Kausalität von Verletzungen - erfordert einenmultidisziplinären Ansatz. Zusätzlich zu medizinischen Informationen,die durch klinischen Ärzte erhoben werden, sind die technischen undbiomechanischen Umstände bei der Untersuchung und Rekonstruktionvon Unfällen zu berücksichtigen. Dies ist insbesondere im Bereich derGerichtsgutachten relevant. Eine spezialisierte Ausbildung sowieausreichende Erfahrung sind Voraussetzungen für eine entsprechendeGutachtertätigkeit.

9. Dieses Buch beschränkt sich auf die Mechanik von unbeabsichtigtentstandenen Verletzungen. Grundsätzlich können Verletzungen jedochauch bewußt verursacht bzw. in Kauf genommen werden —beispielsweise durch Verbrechen, terroristische Akte oder im Krieg.Wundballistik, Schutzausrüstung für Soldaten oder spezielle wenigverletzungsinduzierende Waffen für die Polizei wären in diesemZusammenhang zu nennen. An solchen Themenkomplexeninteressierte Leser werden auf entsprechende Veröffentlichungen desInternationalen Komitees des Roten Kreuzes (http://www.icrc.org)verwiesen. Die allgemeine Signifikanz von beabsichtigt zugeführtenVerletzungen sollte jedoch nicht unterschätzt werden. In den USAwurden 2001 beispielsweise rund 12’000 Personen durch Schusswaffengetötet (ohne Unfälle mit Schusswaffen). Zum Vergleich: imStrassenverkehr starben im gleichen Jahr rund 11’000Fahrzeugpassagiere (ohne Fahrer). Selbstmord ist eine weitere häufigeTodesursache (Tab. 1.1). In diesem Zusammenhang sind insbesonderenicht-technische (u.a. soziale, politische, psychologische, allgemeinegesellschaftsbezogene) Aspekte in Betracht zu ziehen. Studien zumEinfluss physischer Gewalt in der Kindheit beinhalten beispielsweisedie intensive Analyse sozio-psychologischer Faktoren [z.B. Paradis etal. 2009].

10. Am Besten ist es, wenn Verletzungen erst gar nicht auftreten.Dementsprechend genießt die Verletzungsprävention hohe Priorität. ImStrassenverkehr sind Maßnahmen zur Vermeidung von Unfällen bereitsseit langem implementiert und als staatliche Aufgabe anerkannt. ImGegensatz dazu wird die Prävention im Sportbereich primär als

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Zum vorliegenden Buch 7

Aufgabe nationaler und internationaler Sportverbände bzw. als Teil derSportmedizin betrachtet. Restriktive Regelwerke, Verbote besondersgefährlicher Formen des Sports, die Entwicklung von Schutzausrüstungwie auch Training und Ausbildung sind Elemente der Prävention.Versicherungsgesellschaften unterstützen Verletzungsprävention alsTeil ihrer Philosophie, wobei hier oftmals die Bereiche Arbeit undHaushalt im Mittelpunkt stehen. Während die Prävention auf möglichezu Verletzungen führende Situationen abzielt, steht nach erlittener undbehandelter Verletzung die Rehabilitation im Vordergrund. Auchdiesbezüglich werden von staatlichen Stellen, Sportverbänden,Arbeitnehmervereingungen, der klinischen Medizin wie auch vonVersicherungsunternehmen erhebliche Anstrengungen unternommen.Da sich dieses Buch auf die Trauma-Biomechanik beschränkt, werdenAspekte der Prävention und Rehabilitation nur am Rande bzw. nur imZusammenhang mit ausgewählten Verletzungen behandelt.

In der Trauma-Biomechanik wurden bisher vor allemStrassenverkehrsunfälle systematisch und quantitativ erforscht, obschonauch im Sport, am Arbeitsplatz oder im Haushalt viele Verletzungenauftreten. Hierfür können insbesondere zwei Aspekte verantwortlichgemacht werden:

Erstens geschehen im Strassenverkehr mehr schwere und tödlicheUnfälle als in den anderen Bereichen (Tab. 1.2), so dass die damitverbundenen gesellschaftlichen Kosten höher sind. Die Automobilindustriesteht daher auch unter dem Druck politischer Interventionen,Gesetzgebungsinitiativen und Haftungsfragen und wird dadurch zuForschungs- und Entwicklungsarbeiten angespornt.

Zweitens können Verkehrsunfälle, wenngleich sie natürlich wie andereUnfälle auch in einer Vielzahl von Variationen vorkommen, in einigetypische bzw. repräsentative Arten eingeteilt werden (z.B.Frontalkollisionen gegen ein Hindernis, 90° Seitenanprall), so dass esmöglich wird, für diese Typen standardisierte Testverfahren undPrüfprotokolle zu entwickeln. Im Gegensatz dazu ist es in den BereichenSport, Arbeitsplatz oder Haushalt ungleich schwerer, typische Situationenzu definieren, die häufig zu Verletzungen führen. Tabelle 1.3 zeigt, dass(tödliche) Unfälle am Arbeitsplatz in vielen unterschiedlichen Situationenentstehen können.

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8 Einleitung

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2411

-

Page 22: Trauma-Biomechanik ||

Zum vorliegenden Buch 9

Verglichen mit Publikationen zu Strassenverkehrsunfällen ist dieLiteratur zu Verletzungen im Sport usw. — obschon reichlich vorhanden —aus biomechanischer Sicht weniger stringent. Sie beschränkt sich häufigauf allgemeine Statistiken, qualitative Beschreibungen vonVerletzungsmechanismen, medizinische Therapieansätze oder praktischeEmpfehlungen für Trainer oder zur Arbeitsplatzsicherheit. QuantitativeUntersuchungen sind hingegen nur relativ wenige vorhanden. Stattdessenwerden quantitative Aussagen zu Verletzungsgrenzen oderVerletzungskriterien auch in diesen Bereichen meistens ausUntersuchungen zu Strassenverkehrsunfällen abgeleitet bzw. übernommen.Zudem fällt auf, dass Untersuchungen zu Sportunfällen vor allem indenjenigen Disziplinen durchgeführt wurden, in denen grosse Geldsummenumgesetzt werden wie beispielsweise Fussball, Americal Football oderSkifahren. Weniger prominente Sportarten wurden auch in der Forschungweniger oft behandelt.

Verglichen mit Unfällen sind bei Verletzungen durch chronischemechanische (Über-) Belastung die individuellen anatomischen undphysiologischen Gegebenheiten von grösserer Bedeutung. DieUnterscheidung zwischen einer Schädigung durch chronische Belastungund einer Invalidität durch eine Erkrankung, die nicht mit derentsprechenden Belastung in Verbindung steht, ist oftmals schwierig oderunmöglich. Psychische Einflüsse sind in diesem Zusammenhang sehrwichtig. Quantitative Informationen sind dünn gesät. Bestimmungen zuBelasungen durch Schwingungen von Baumaschinen oder hinsichtlich desLärmpegels in Fabriken basieren primär auf Langzeitstatistiken und nicht

Tabelle 1.3 Tödliche Arbeitsunfälle 1994 (USBureau of Labor Statistics).

Ursache %

Unfälle Verkehr/Transport 42

Gewalt 20

Arbeitsmaschinen, herabstürzende Objekte

15

Umweltkontamination 10

Stürze 10

Feuer/Explosion 3

Page 23: Trauma-Biomechanik ||

10 Einleitung

auf physiologischen Experimenten. Aus den oben dargelegten Gründen beschäftigt sich dieses Buch

hauptsächlich mit Trauma-Biomechanik im Bereich derStrassenverkehrsunfälle. Nach einem allgemeinen Kapitel zu Grundlagenwidmen sich die nachfolgenden Kapitel je einer Körperregion. DieseKapitel sind systematisch aufgebaut und beginnen mit einer kurzenZusammenfassung der im Zusammenhang mit Verletzungsmechanismenrelevanten anatomischen Strukturen. Zudem werden je Körperregionmögliche Verletzungen, die zugrunde liegenden Verletzungsmechanismensowie das biomechanische Verhalten unter Belastung beschrieben.Grenzwerte für verletzungsinduzierende Belastungen und davon abgeleiteteVerletzungskriterien, mit denen das Verletzungsrisiko beurteilt werdenkann, werden vorgestellt. Zu Sportverletzungen finden sich jeweils eigeneAbschnitte, in denen die relevanten Verletzungen,Verletzungsmechanismen und Verletzungstoleranzen für diesen Bereichdargestellt werden. Zu ausgewählten Teilbereichen werden zudemMöglichkeiten der Verletzungsprävention diskutiert. Des Weiteren findetsich ein kurzes Kapitel zu chronischen, mechanischen Belastungen, wobeiin diesem Zusammenhang auch viele Aspekte von Ergonomie, allgemeineArbeitsplatzsicherheit oder Arbeitsmedizin wichtig sind, die hier nichtbehandelt werden. Zusätzliche Informationen finden sich beispielsweiseauf der Internetseite der US Occupational Safety and Health Administration(http://www.osha.gov). Für vertiefendes bzw. weiterführendes Lesenschliesst jedes Kapitel mit einer Literaturliste ab.

1.2 Geschichte

Biomechanik als Wissenschaft ist genauso alt wie die Mechanik selbst.Während sich beispielsweise Giovanni Alfonso Borelli (1608 - 1679) mitdem Vogelflug und dem Schwimmen der Fische beschäftigte, schriebLeonhard Euler (1707 - 1783), der die Grundlagen derKontinuumsmechanik legte, eine ausführliche Abhandlung über denBlutfluss in Arterien ("Principia pro motu sanguinis per arteriasdeterminando", op. posth.). Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde dieMechanik von Verletzungen bzw. die Trauma-Biomechanik jedoch nichtsystematisch erforscht. Dies könnte daran gelegen haben, dass Gefahrenallgegenwärtig waren und Verletzungen einfach als zum Leben gehörendbetrachtet wurden. Man sollte nicht vergessen, dass es in Europa vor 1945für 2000 Jahre quasi keine Periode von mehr als 15 Jahren ohne Krieg

Page 24: Trauma-Biomechanik ||

Geschichte 11

gegeben hatte. Verletzungsprävention wurde direkt und pragmatischumgesetzt, z.B. in Form von Ritterrüstungen.

Der erste bekannte systematische und wissenschaftliche Ansatz inRichtung Trauma-Biomechanik stammt vom deutschen Anatomen OttoMesserer aus München, der im Jahr 1889 die Ergebnisse seiner Forschungunter dem Titel "Über Elastizität und Festigkeit der menschlichenKnochen" veröffentlichte. In der Forensik ist der sogenannte “Messerer-Keil” (die Beschreibung eines speziellen Frakturbildes) heute nochbekannt.

Wie bereits erwähnt, konzentriert sich die Trauma-Biomechanik heutehauptsächlich auf Verkehrsunfälle. Historisch liegen die Wurzeln jedoch inder Aviatik. Anlässlich der “1st National Conference on Street andHighway Safety” (USA 1924) standen vor allem einfache und praktischeAspekte der Verkehrssicherheit, wie beispielsweise die Farbe vonLichtsignalanlagen (Ampeln) oder die Fahrerausbildung im Vordergrund,während die Trauma-Biomechanik keine besondere Rolle spielte. ImGegensatz dazu war die Trauma-Biomechanik zu dieser Zeit bereits imBereich der militärischen Fliegerei, in der der menschliche Körperextremen mechanischen Belastungen ausgesetzt ist, ein wichtiges Thema.Insbesondere Hugh DeHaven, von manchen als der “Vater der Trauma-Biomechanik” bezeichnet, begann mit der Analyse von Flugzeugabstürzenund den involvierten Verletzungsmechanismen. 1942 publizierte er seineArbeit "Mechanical Analysis of Survival in Falls from Heights of 50 - 100Feet" (“Mechanische Untersuchung zum Überleben von Stürzen aus Höhenvon 15,2 - 30,5m”). Auch in den darauffolgenden Jahren blieb dieMilitäraviatik im Zentrum der Trauma-Biomechanik-Forschung. DieBelastungen bei Überschallflügen oder der Ausstieg mittels Schleudersitzwaren wichtige Forschungsthemen. Zudem wurden grundlegendeMethoden im Bereich der Trauma-Biomechanik eingeführt, z.B. dieDurchführung von Freiwilligenversuchen zur Untersuchung desbiomechanischen Verhaltens des Körpers unter subkritischen Belastungenoder die Entwicklung von anthropometrischen Testpuppen (Crashtest-Dummys).

Der wahrscheinlich berühmteste Pionier der Trauma-Biomechanik in derAviatik war Colonel John Paul Stapp. Er wurde insbesondere für seineexperimentellen Arbeiten berühmt. Zu diesen gehören auch verschiedeneSelbstversuche, in denen er sich unterschiedlichen Belastungen aussetze. Ineiner seiner spektakulären Testreihen Anfang der 1950er Jahre setzte sichStapp auf einen von einer Rakete angetriebenen Schlitten und liess sichausgehend von einer Geschwindigkeit von ca. 1000 km/h in 1.4s bis zumStillstand abbremsen. Er erfuhr dadurch eine Beschleunigung

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12 Einleitung

(Abbremsung) von etwa dem 40fachen der Erdbeschleunigung (Abb. 1.3).Schwere Verletzungen zog er sich bei diesem Experiment nicht zu. Stapp,von der Zeitschrift Time zu "the fastest man on earth and No. 1 hero of theAir Force" gekürt (Time, September 12/1955), gründete zudem die jährlichstattfindenden Stapp Car Crash Conference, einer Konferenz zu Trauma-Biomechanik-Themen. John P. Stapp starb 1999 im Alter von 89 Jahren.

Auch Entwicklungen aus dem Bereich der Astronautik — obschon dortUntersuchungen zum Einfluss der Schwerelosigkeit im Mittelpunkt standen— haben die Trauma-Biomechanik beeinflusst. Das erste Computermodellzur dreidimensionalen Simulation von Bewegungen des Menschen (R.D.Young, Texas A&M, 1970) wurde im Zusammenhang mit der Analyse vonBewegungsmustern unter Schwerelosigkeit (d.h. beim Wegfall äussererKräfte) entwickelt. McHenry (Calspan Corp., Buffalo) erstellte das ersteComputermodell zur Bewegungsanalyse im Falle einer Frontalkollision imStrassenverkehr. Da in diesem Fall der Einfluss äusserer Kräfte wichtig ist,beschäftigte sich ein grosser Teil der Modellbildung mit derWechselwirkung bzw. dem Kontakt zwischen dem menschlichen Körperund den ihn umgebenden (Fahrzeug-) Strukturen. Dadurch wurden die

Abb. 1.3 Colonel Stapp auf dem Raketen getriebenen Schlitten “Sonic Wind No.1” sitzend, mit dem er sich einer Beschleunigung von 40g aussetzte [http://www.stapp.org].

Page 26: Trauma-Biomechanik ||

Geschichte 13

Modelle für damalige Verhältnisse derart komplex, dass anfangs nurzweidimensionale Berechnungen möglich waren.

In den Anfängen des Strassenverkehrs wurde Sicherheit primär mit demFahrer bzw. dem Fahrstil in Verbindung gebracht. Die Sicherheit desFahrers und seiner Passagiere wie auch die der anderen Verkehrsteilnehmerwar quasi ausschliesslich eine Frage des Fahrstils des Fahrers.Rückhaltesysteme wurden angedacht (Abb. 1.4) waren aber vor dem 2.Weltkrieg nicht sehr verbreitet. Nichtsdestotrotz verbesserte sich dieKonstruktion der Fahrzeuge zwischen den 1920er und 1930er Jahren auchzum Vorteil der Sicherheit. Beispielsweise wurden zuverlässigeBremssysteme und laminierte Frontscheiben eingeführt. WeitereEntwicklungen betrafen die Beleuchtung sowie die Räder (z.B.schlauchlose Reifen). Fahrzeugstrukturen aus Stahl ersetzen Holzbauteileund erhöhten somit die Steifigkeit der Fahrzeuge.

Nach dem 2. Weltkrieg nahm die Mobilität schnell zu, womit auch einedramatische Zunahme der im Strassenverkehr erlittenen Verletzungeneinherging, so dass diese Gegenstand detaillierter Untersuchungen wurden.

Das “Automotive Crash Injury Research programme” (ACIR, CornellUniversity, 1951) war ein früher systematischer Ansatz zur Untersuchungvon Verletzungen im Strassenverkehr. Ein entscheidender Fortschritt wardie Umsetzung der Kombination aus steifer Fahrgastzelle und vorgelagerter

Abb. 1.4 Patent über Sicherheitsgurte von Gustave D. Lebau (1903). Statt zurSicherheit im Falle einer Kollision dienten die Gurte in erster Linie dazu, diePassagiere während der Fahrt (über unebene Strassen und ohne Stossdämpfer) inden Sitzen zu halten.

Page 27: Trauma-Biomechanik ||

14 Einleitung

Knautschzone. Auch das Lenkrad wurde als mögliche Quelle fürVerletzungen identifiziert und stand daher im Mittelpunkt verschiedenerForschungs- und Entwicklungsprojekte, die beispielsweise zur Einführungvon energieabsorbierenden Lenksystemen führten. Weitere Verbesserungenbetrafen das Crash-Verhalten des Armaturenbretts, die Entwicklung vonRückhaltesystemen wie dem 3-Punkt-Gurt und dem Airbag. Die Begriffe“passive” und “aktive” Sicherheit wurden eingeführt undFahrzeughersteller begannen mit der Durchführung von systematischenCrashtests und entsprechenden Computersimulationen. Eine umfangreicheZusammenfassung der Forschung zur Fahrzeugsicherheit bis 1970 findetsich im International Automobile Safety Conference Compendium (1970,SAE, New York).

Im Rahmen der passiven Fahrzeugsicherheit können Maßnahmen aufverschiedenen Ebenen ergriffen werden. Erstens können Verletzungenkonstruktiv durch verbesserte Crash-Eigenschaften des Fahrzeugs reduziertwerden. Dies beinhaltet insbesondere die Entwicklung von Energieabsorbierenden Strukturen. Zweitens kann die Insassenbewegung im Falleeiner Kollision kontrolliert werden. Rückhaltesysteme wie derSicherheitsgurt zielen darauf ab, die Insassen in der vorgesehenen Positionzu halten und koppeln die Bewegung der Insassen an das Fahrzeug.Drittens kann der eigentliche Anprall, d.h. der Kontakt zwischen demmenschlichen Körper und den ihn umgebenden Strukturen beeinflußtwerden. Hierbei spielen Energieabsorption und die Verteilung derAufprallkräfte auf der Kontaktfläche eine grosse Rolle.

Aktive Sicherheit wiederum beschreibt hier Systeme, die den Fahrerunterstützen, um einen Anprall zu verhindern bzw. Systeme, die vor demAnprall aktiv werden. Beispiele sind ABS-Bremssysteme, Abstandsradarund diverse Fahrassistenzsysteme.

In Ergänzung zu (fahrzeug-) technischen Möglichkeiten bemühen sichauch staatliche Stellen um eine Verbesserung der Sicherheit auf denStrassen. Nach dem 2. Weltkrieg richteten sich erste Programme dieAusbildung von Fahrern, Verkehrsregeln oder die Entwicklung derVerkehrswege um die Sicherheit zu erhöhen. Die Gestaltung sowie der Bauvon Strassen oder die Überwachung von Verkehrsvorschriften undGeschwindigkeitsbegrenzungen sind wichtige Beiträge des Staates zurVerbesserung der Verkehrssicherheit.

Die Reduktion der im Strassenverkehr verletzten und getöteten Personen,die die amtlichen Statistiken der letzten Jahre in vielen Staaten ausweisen(Abb. 1.5), kann teilweise mit den Anstrengungen im Bereich der Trauma-Biomechanik erklärt werden, die sich auf die lebensbedrohlichenVerletzungen konzentrierten. Wie bereits erwähnt, ist der Strassenverkehr

Page 28: Trauma-Biomechanik ||

Geschichte 15

jedoch nur ein Teilgebiet, in dem Verletzungen auftreten. Verletzungen, diebei Arbeitsunfällen, im Sport oder sonst im Alltag erlitten werden, sindebenfalls bedeutend. In Industriestaaten (z.B. USA, 2002) wird mitunter dieAnzahl der im Strassenverkehr Getöteten durch die Anzahl der in anderenUnfallereignissen Getöteten übertroffen (Tab. 1.2).

Der Vergleich der Sportunfälle in der Schweiz und den USA (Tab. 1.4)veranschaulicht einerseits die Unterschiede, die durch die verschiedeneGrösse der Länder auftreten, zeigt aber zugleich den Einfluss lokalerEigenheiten, die zu erheblichen Unterschieden der Statistik führen können.Die riesige Zahl der Sportunfälle verdeutlicht zudem, dass diese in derRegel nicht lebensbedrohlich sind. Globale Statistiken zeigen tatsächlich,dass vor allem Verkehrsunfälle tödlich verlaufen: während dieWeltgesundheitsorganisation (WHO) die Anzahl der im StrassenverkehrGetöteten im Jahr 2002 weltweit auf 1.2 Mio. Personen schätzt, ging dieInternational Labour Organisation (ILO) im Jahr 1998 von “nur” 335.000tödlichen Arbeitsunfällen aus. Die Expositionszeit, d.h. die Zeitdauer, inder man die verschiedenen Aktivitäten ausübt, kann ein entsprechenderIndikator für das mit der jeweiligen Tätigkeit verbundene Risiko sein.Tabelle 1.5 zeigt, dass die Teilnahme am Strassenverkehr — dank denunternommenen Anstrengungen zur Sicherheit — nicht per se übermässigrisikoreich ist, wenn man sie anderen Aktivitäten gegenüberstellt. Die hoheExpositionszeit im Strassenverkehr macht diesen Effekt jedoch zunichte.

Abb. 1.5 Entwicklung der Anzahl von im Strassenverkehr verletzten und getötetenPersonen in der Schweiz. Die Anzahl der leicht Verletzten stagniert auf hohemNiveau [bfu 2009].

Page 29: Trauma-Biomechanik ||

16 Einleitung

Tabelle 1.4 Anzahl Sportunfälle in den USA (aus: Charles W. Nuttall, 5th Int.High Energy Physics Laboratories Technical Safety Forum, SLAC, 2005) und inder Schweiz (gemäss: Beratungsstelle für Unfallverhütung (bfu), 2005). Inbeiden Ländern werden verschiedene Sportarten bevorzugt: während AmericanFootball und Baseball in der Schweiz kaum gespielt werden, sind Fussball undSkifahren sehr populär.

Sport USA, 1997 Schweiz, 2003

Basketball 644’921 5880

American Football 344’420 na

Baseball, Softball 326’569 na

Fussball 148’912 55’040

Trampolin 82’722 na

Skateboard 48’186 10’330

Golf 47’777 na

Skifahren na 49’660

Snowboarden na 28’890

Schlitten, Bob na 10’800

Tabelle 1.5 Geschätztes Risiko eines tödlichen Unfalls (Fatal Accident Rate,FAR) je nach Expositionszeit und individuellem Risiko pro Person und Jahr(gemäss: Practical Industrial Safety, Risk Assessment and Shutdown Systems,Dave McDonald, Elsevier 2004).

Tätigkeit FAR pro 108 h Exposition

individuelles Sterberisiko pro

Person und Jahr (x104)

Reisen im:

Flugzeug na 0.02

Zug 3-5 0.03

Page 30: Trauma-Biomechanik ||

Referenzen 17

1.3 Referenzen

bfu - Schweiz. Beratungsstelle für Unfallverhütung (2009): www.bfu.chEuler L: Principia pro motu sanguinis per arterias determinando; op. posth.Messerer O (1880): Über Elastizität und Festigkeit der menschlichen Knochen,

Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung, StuttgartParadis AD, Reinherz HZ, Giaconia RM, Beardslee WR, Ward K, Fitzmaurice GM

(2009): Long-term impact of family arguments and physical violence on adultfunctioning at age 30 years: Findings from the Simmons longitudinal study., JAm Acad Child and Adolescent Psychiatry, Vol. 48, pp. 290-298

SAE (1970): International Automobile Safety Conference Compendium, SAE,New York, www.sae.org

Tabelle 1.5 Fortsetzung

Tätigkeit FAR pro 108 h Exposition

individuelles Sterberisiko pro

Person und Jahr (x104)

Bus 4 2

Auto 50-60 2

Tätigkeit/Arbeit in der:

chemischen Industrie 4 0.5

Produktion 8 na

Schifffahrt 8 9

(Kohle-) Bergbau 10 2

Landwirtschaft 10 na

Boxen 20’000 na

Klettern 4’000 1.4

Page 31: Trauma-Biomechanik ||

2 Methoden der Trauma-Biomechanik

Die Arbeit in der Trauma-Biomechanik wird durch einigeRandbedingungen eingeschränkt, die in dieser Form in anderen Bereichender Ingenieurwissenschaften und der Life Sciences nicht oder nur zu einemgeringen Teil vorhanden sind. Experimente an Menschen, bei denenverletzungsinduzierende Belastungen auftreten können, sindausgeschlossen. Tierversuche sind nur sehr eingeschränkt anwendbar, da esschwierig bis unmöglich ist, Verletzungssituationen vom Tier auf denMenschen zu übertragen. Auch ist es fraglich, in welchem GradeTiermodelle die Biomechanik des Menschen repräsentieren. Kosten undinsbesondere ethische Überlegungen tragen weiter dazu bei, dass solcheExperimente heute nur noch selten und nur unter speziellen Bedingungendurchgeführt werden.

Dementsprechend sind die in der Trauma-Biomechanik zur Anwendungkommenden Methoden grösstenteils indirekt. Sie basieren hauptsächlichauf folgenden Komponenten:• Statistik, Feldstudien, Datenbanken (2.1)• mechanische Grundlagen der Biomechanik (2.2)• Verletzungskriterien, Verletzungsindizes und Verletzungsrisiko (2.3)• Unfallrekonstruktion (2.4)• Experimentelle Untersuchungen (2.5)• Standardisierte Testverfahren (2.6)• Numerische Simulationen (2.7)

2.1 Statistik, Feldstudien, Datenbanken

Die Epidemiologie ist in der Trauma-Biomechanik von grundlegenderBedeutung und stellt zudem den ältesten methodischen Ansatz dar. DieErmittlung von Verletzungsrisiken und dazugehörigen Einflussfaktorenstützt sich grösstenteils auf epidemiologische Erkenntnisse ab. Viele

K.-U. Schmitt et al., Trauma Biomechanik, DOI 10.1007/978-3-642-11596-7_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

-

Page 32: Trauma-Biomechanik ||

20 Methoden der Trauma-Biomechanik

Präventionsstrategien wie auch technische und gesetzgeberische Ansätzezur Reduktion von Verletzungen leiten sich aus Resultatenepidemiologischer Studien ab. In welchem Ausmass solche Anstrengungentatsächlich erfolgreich sind, kann nur auf Grundlage statistischerBeobachtungen, die sich oftmals über längere Zeiträume erstreckenmüssen, beurteilt werden. Daher sind die detaillierte Erfassung undAuswertung von Unfällen bzw. Unfalldaten, vor allem im Hinblick aufFragestellungen zur Minderung von Verletzungsfolgen und Prävention,unerlässliche Voraussetzungen für die Forschung.

Die Erfassung, Klassifizierung und Interpretation von Unfalldaten wirdin vielen Fällen durch die Stichprobengrösse eingeschränkt. Man sollte sichdaher bewusst sein, dass die grössten Einschränkungen hinsichtlichAnwendbarkeit der Ergebnisse aus statistischen Untersuchungen bereitsdurch Entscheidungen beim Aufbau und Sammeln einer Datenbank gelegtwerden. Im Unterschied zu einem kontrollierten Experiment im Labor, sindbei realen Unfallsituationen viele Parameter mit Unsicherheiten behaftet,die nicht kontrolliert werden können bzw. die grosse Abweichungenaufweisen. Zudem sind Aussagen von Betroffenen oder Zeugen oftmalsunpräzise oder werden durch (versicherungs-) rechtliche Überlegungenbeeinflusst. Des Weiteren können bei der statistischen Analyse vonAuswirkungen bzw. der Effektivität neuer Sicherheitsmassnahmen auchFaktoren wie beispielsweise die Zusammensetzung der Fahrzeugflotte,Treibstoffpreise, Gesetzesänderungen, Regeländerungen im Sport oderÄnderungen bei der Versicherung von Arbeitsunfällen eine erheblicheRolle spielen. Zudem kann eine fundierte statistische Evaluation aucheinfach daran scheitern, dass die Stichprobe zu klein ist, um repräsentativeAussagen machen zu können.

Methodisch können zwei verschiedene Ansätze von Unfall- bzw.Verletzungsdatenbanken unterschieden werden: breit aufgestellteDatensammlungen, die sich durch eine grosse Anzahl von Fällen —teilweise durch Einschluss aller Unfälle — auszeichnen, und detailreiche,aber auf eine kleinere Stichprobe begrenzte Datenbanken. Allgemeine,breite Erhebungen werden beispielsweise durch die Polizei, anderestaatliche Stellen oder Versicherungen durchgeführt. Diese enthalten in derRegel viele Fälle, zu denen jedoch jeweils nur eine begrenzte Anzahl anParametern erfasst wird. Im Unterschied dazu werden z.B. durchspezialisierte Unfallforschungsteams für eine begrenzte Anzahl von Fälleneine grosse Anzahl von Parametern erfasst. Zu diesem Parametern könnengenaue Informationen vom Unfallort (sei es auf der Strasse, amArbeitsplatz oder im Haushalt) ebenso gehören wie Angaben zuFahrzeugen, Sportgeräten, Polizeiberichten, Zeugenaussagen,

Page 33: Trauma-Biomechanik ||

Statistik, Feldstudien, Datenbanken 21

medizinischen Unterlagen, Wetterinformationen, etwaigenVideoaufnahmen oder Unfallrekonstruktionen. Ergänzend könnennumerische Simulationen durchgeführt werden, um mehr Aufschluss überdie Belastungen zu erhalten und um diese mit etwaigen Verletzungen zukorrelieren. Eine solche detaillierte Erfassung von Daten ist natürlichentsprechend kostspielig, so dass schon dadurch die Anzahl der zuuntersuchenden Fälle begrenzt wird. Daher ist die Repräsentativität derStichprobe vor allem in solchen Datenbank-Ansätzen entscheidend.

Versicherungsgesellschaften verfügen oftmals über grössereDatenbanken als staatliche Stellen, da Unfallschäden eher der Versicherungals der Polizei gemeldet werden. Dies gilt insbesondere für Selbstunfälleohne Beteiligung Dritter anderer. Für Aussenstehende sindVersicherungsdatenbanken allerdings meist nicht zugänglich und zudemweisen sie je nach Versicherten einen entsprechenden Bias auf oder sindnicht detailliert genug. Beispielsweise quantifizieren VersicherungenFahrzeugschäden oftmals im Sinne von Reparaturkosten und nicht imSinne biomechanisch relevanter Kriterien wie der Verformungsenergie.

Des Weiteren werden Daten für breite Datenbanken oftmals nicht vonentsprechend spezialisiertem Personal erfasst, so dass hierdurchgravierende Fehler bzw. Fehlinterpretationen in die Datenbank eingehenkönnen. Abweichungen können alleine schon dadurch entstehen, dass eineVielzahl von Personen die Daten nicht einheitlich erfasst.

Als Konsequenz der verschiedenen Arten von Datenbanken ergeben sichSchwierigkeiten, die Ergebnisse verschiedenen Auswertungen miteinanderzu vergleichen. Selbst innerhalb eines bestimmten Typus von Datenbank(z.B. den Unfallstatistiken der Polizei), können grundlegende Definitionen,die Stichprobengrössen oder verschiedene Datenschutz-Bedingungen zuProblemen der Vergleichbarkeit verschiedener Datenbanken führen. Obbeispielsweise ein älterer Patient, der zwei Wochen nach einem schwerenUnfall im Krankenhaus an einer Lungenentzündung stirbt, als Unfallopferbetrachtet wird oder nicht, kann mitunter einfach von der in diesemKrankenhaus üblichen Praxis der Datenerfassungen abhängen.

In den meisten Industriestaaten gehören Unfälle aus Strassenverkehr,Arbeitplatz, Haushalt oder Sport in den Kompetenzbereichunterschiedlicher staatlicher Stellen, Stiftungen, privater Institutionen,Sportverbände, Versicherungen usw., die gegenseitig wenigeBerührungspunkte haben. Die Praxis von Unfallmeldungen bzw.Untersuchungen von Unfällen sind entsprechend verschieden, wie sichauch die jeweiligen Ansätze zur Prävention unterscheiden. Dies ist auch beiVergleichen zwischen verletzungsinduzierenden Situationen aus denunterschiedlichen Bereichen zu berücksichtigen. Einheitliche Statistiken,

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22 Methoden der Trauma-Biomechanik

die auf einheitlichen Kriterien beruhen, sind daher nur in kleinen Staatenwie z.B. der Schweiz vorhanden, da hier beispielsweise die Beratungsstellefür Unfallverhütung (bfu) für Unfalldaten aus verschiedenen Bereichenverantwortlich ist.

Die grössten systematischen Datensammlungen und Statistiken zuStrassenverkehrsunfällen werden durch die US National Highway TrafficSafety Administration (NHTSA) zur Verfügung gestellt. Sie beinhaltenallgemeine Informationen zu Fahrzeugen, Crashverhalten, Trends (NationalAutomotive Sampling System, NASS) wie auch Daten zu Verkehrstoten(Fatal Accident Reporting System, FARS). Eine Übersicht dieserDatenbanken wird beispielsweise von Compton (2002) gegeben. Ähnliche,wenngleich mitunter weniger systematisch aufbereitete Daten werden vonfast allen Staaten bereitgestellt.

Daten zur Sicherheit am Arbeitsplatz finden sich in den Statistiken derUS Occupational Safety & Health Administration (OSHA). In den meistenIndustriestaaten werden Arbeitsunfälle durch öffentlich-rechtliche(Versicherungs-) Organisationen bearbeitet, die entsprechende Statistikenherausgeben.

Hinsichtlich Unfällen und Verletzungen im Sport stellt sich die Situationetwas anders (unübersichtlicher) dar. Sport wird — mit Ausnahme z.B.vom Schulsport — üblicherweise auf freiwilliger Basis in der Freizeitbetrieben. Daher kommen hier im Falle von Verletzungen meistverschiedene (Unfall-/Haftpflicht-/Kranken-) Versicherungen zum Tragenund auch die Aspekte der Produkthaftung (z.B. für Trampoline,Sprungbretter im Schwimmbad, Helme, Skibindungen) sindunterschiedlich geregelt. Allgemeine wie auch spezielle Statistiken, die dasUnfallgeschehen über mehrere Jahren verfolgen und z.B. auf Trendshinweisen können fehlen grösstenteils. Teilweise liegt dies wohl daran, dassSportverletzungen im Allgemeinen Bewusstsein erst in den letzten Jahreneinen grösseren Stellenwert eingenommen haben. Das olympische Komiteeverfügt seit 1990 über entsprechende Einrichtungen, die sich intensiver mitsolchen Themen beschäftigen. Die Fédération Internationale de FootballAssociation (FIFA) hingegen gibt keine systematischen Informationen zumUnfall-/Verletzungsgeschehen im Fussball heraus (es erscheinen jedochimmer wieder wissenschaftliche Publikationen, die einige Daten zuTeilgebieten erhalten), die Fédération Internationale de Ski (FIS) und dasOslo Sports Trauma Research Centre NSS gaben 2006 bekannt, dass sie fürFIS-Disziplinen wie Alpinskifahren, Skilanglauf, Skisprung, nordischeKombination, Freestyle-Skifahren und Snowboard ein System zurErfassung von Verletzungen (Injury Surveillance System) entwickelnwollen.

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Statistik, Feldstudien, Datenbanken 23

Detaillierte Datenerhebungen (“in-depth studies”) werden vonspezialisierten Teams durchführt und verfolgen in der Regel ein konkretesZiel und/oder sind auf ein konkretes Gebiet, in dem Unfalldaten erhobenwerden, beschränkt. Um eine gute Grundlage für (vergleichende)statistische Auswertungen darzustellen, sollten solche Erhebungen übereinen längeren Zeitraum und nach einheitlichen Kriterien erfolgen. Diemeisten in der Literatur beschriebenen Projekte dieser Art werden imZusammenhang mit Strassenverkehrsunfällen durchgeführt. Ein Team derMedizinischen Hochschule Hannover erhebt beispielsweise schon seitJahren im Rahmen des Projektes GIDAS (German In-Depth AccidentStudies, www.gidas.org) sehr detailliert Daten zu allen Unfällen, die in derRegion Hannover geschehen. Seit 1999 erfolgt zusätzliche eine Erhebungnach gleichem Muster im Gebiet Dresden. Da hier Daten systematisch,nach gleichem Protokoll und über eine lange Zeit erfasst werden, ist esbeispielsweise möglich mit Hilfe dieser Datenbank den Einfluss vonÄnderungen im Fahrzeugdesign zu untersuchen. Ein anderes Beispiel istdie Datenbank zu Halswirbelsäulen-Beschwerden nach Verkehrsunfällen(“Schleudertrauma”) der AGU Zürich (www.agu.ch). In dieser Datenbankwerden schweizweit Fälle mit Beschwerden und nachfolgenderArbeitsunfähigkeit erfasst. Dank der Grösse der Stichprobe können mitHilfe der Datenbank spezifische technische, medizinische undbiomechanische Fragestellungen untersucht werden. Weitere umfangreicheDatenerhebungen werden von Fahrzeugherstellern durchgeführt, wobeisich die jeweiligen Teams üblicherweise auf Fahrzeuge der eigenenProduktion beschränken, um den Nutzen der Sicherheitssysteme zuüberprüfen und um Verbesserungen bzw. neue Entwicklungen zu initiieren.Einiger dieser Datenbanken enthalten daher auch Fälle, in denen zwarFahrzeugschäden, aber keine Verletzungen aufgetreten sind.Umfangreichen Datenbanken wie die oben genannten Beispiele sindwichtige Werkzeuge der Trauma-Biomechanik. Im Rahmen vonstatistischen Auswertungen gestatten sie es, verschiedene (Kontroll-)Gruppen zu bilden, was in anderen Datensammlungen nicht unbedingtmöglich ist.

Die erhebliche Relevanz der Unfall- und Verletzungsdatenbanken inBezug auf die Auswahl, Umsetzung und Evaluation geeigneterMassnahmen zur Erhöhung der Sicherheit, lässt sich auch an verschiedenenProjekten zur internationalen Harmonisierung der Datenerhebung ablesen.Das europäische Projekt STAIRS (Standardisation of Accident and InjuryRegistration Systems, 1997-1999) zielte beispielsweise darauf ab, dieErfassung von Unfalldaten zu vereinheitlichen, so dass(länderübergreifende) vergleichende Studien ermöglicht werden. Auch im

Page 36: Trauma-Biomechanik ||

24 Methoden der Trauma-Biomechanik

EU-Projekt SafetyNet wurde die Verknüpfung verschiedener europäischerDatenbanken im Zusammenhang mit Sicherheit im Strassenverkehranvisiert (www.erso.eu). Im Gegensatz dazu werden in den BereichenArbeit, Haushalt und Sport wenig vergleichbare Anstrengungenunternommen.

2.2 Grundlagen der Biomechanik

Im Folgenden werden einige grundlegende Konzepte der Mechanik, dieauch in der Trauma-Biomechanik wichtig sind, zusammengefasst.Grundsätzlich unterscheidet die Mechanik zwischen Starrkörper- undKontinuumsmechanik. Beide Formulierungen sind bei Anwendungen,insbesondere auch in der Trauma-Biomechanik, mit entsprechendenAnnahmen und Approximationen verbunden, deren Anwendbarkeit,Validität und Limitierungen jeweils berücksichtigt werden müssen. DasZiel der mechanischen Formulierungen ist eine quantitative Beschreibungder Auswirkungen von Kräften auf die Bewegung und Verformung vonKörpern. In der Trauma-Biomechanik bezieht sich dies in erster Linie auflebende Organismen.

Masse [kg], Zeit [s] und Länge [m] sind die unabhängigenfundamentalen Grundgrössen als deren Funktion alle anderenmechanischen Grössen dargestellt werden.

Starrkörpermechanik: Grundgrössen sind die Masse m, die Zeit t, der Weg, zusätzliche Grössen sind das Trägheitsmoment I und

Rotationsgeschwindigkeit . Der Längenvektor beschreibt diePosition des Massemittelpunktes eines Starrkörpers als Funktion der Zeit.Weitere Grössen, die daraus abgeleitet werden, sind die Geschwindigkeitdes Schwerpunktes und die Beschleunigung .

Die Translationsbewegung eines Starrkörpers wird durch das zweiteNewtonsche Axiom beschrieben:

(2.1)

wobei die Summe aller auf den Körper wirkenden Kräfte darstellt. Dieräumliche Orientierung des Körpers ergibt sich aus dem Gleichgewicht derMomente,

(2.2)

r t( )ω t( ) r t( )

v t( )td

dr t( )= a t( )

t2

2

d

dr t( )=

m a t( ) Fi t( )i∑=⋅

Fi t( )

Itd

d ω t( )⋅ Mi t( )i∑=

Page 37: Trauma-Biomechanik ||

Grundlagen der Biomechanik 25

mit der Winkelbeschleunigung und der Summe aller auf den Körper

wirkenden Momente . Wegen des Erstarrungsprinzips (“Stevin’s

principle of solidification”) können diese Gleichungen auch aufverformbare Körper angewendet werden, wobei in einem solchen Fall derMassemittelpunkt jedoch nicht konstant ist, sondern sich bei Formänderungdes Körpers verschiebt. Variationsprinzipien, die aus der NewtonschenMechanik hergeleitet werden können, führen zu Lagrange- oderHamiltonschen Formulierungen, die je nach Problemstellung angewendetwerden können.

Kontinuumsmechanik: Grundgrössen sind Dichte , Zeit t,

Geschwindigkeitfeld . Die Dichte wie auch das

Geschwindigkeitsfeld beziehen sich auf einen definierten Punkt im

Raum (dieser Ansatz wird oftmals als Eulersche Beschreibung desKontiuums bezeichnet). Die Bewegungsgleichung lautet

(2.3)

wobei das Kraftfeld beschreibt (z.B. die Schwerkraft), stehtfür den Spannungstensor der inneren Kräfte des Kontinuums (d.h. dieKräfte pro Fläche wie Normal- und Scherspannungen) und beinhaltet auch

äussere Kontaktkräfte. ist der Nabla-Operator, in Klammer gesetztevektorielle Grössen, die durch ein Komma getrennt sind, beschreiben einSkalarprodukt. Das Momentengleichgewicht (Drehmoment) bedingt, dassder Spannungstensor symmetrisch ist. Unter Berücksichtigung desMassegleichgewichts ergibt sich folgende Kontinuitätsgleichung

(2.4)

Gleichung (2.3) ist nicht-linear. Das Geschwindigkeitsfeld ergibt sich ausder Lösung des Gleichungssystems, wobei die mechanischen Eigenschaftendes Kontinuums als Randbedingungen berücksichtigt werden müssen(siehe auch Bathe 2007).

Für Festkörper ergibt sich das Geschwindigkeitsfeld aus denzeitabhängigen Verschiebungen der einzelnen Teile des Kontinuums. In derLiteratur findet sich eine Vielzahl von Ansätzen wie diese Verschiebungen(bzw. die daraus resultierende Verformung des Kontinuums) mit denSpannungen verknüpft werden können. Für Flüssigkeiten kann der

tdd ω t( )

Mi t( )

ρ r t,( )

v r t,( ) ρ r t,( )

v r t,( )

r

t∂∂ ρv( ) v ∇, ρv( )⋅+ k ∇ σ̂,+=

k r t,( ) σ̂ r t,( )

σ̂

t∂∂ ρ ∇ ρv( ),+ 0=

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26 Methoden der Trauma-Biomechanik

Spannungstensor aus dem Geschwindigkeitsfeld und dessen Gradientenbestimmt werden.

Während Starrkörpermodelle durch eine endliche Anzahl vonFreiheitsgraden und den entsprechenden Differentialgleichungenbeschrieben werden, überwiegen in der Kontinuumsmechanik partielleDifferentialgleichungen und unendlich viele Freiheitsgrade. Zurnumerischen Lösung dieser partiellen Differentialgleichungen sindspezielle Formulierungen und Randbedingungen notwendig —beispielsweise eine räumliche Diskretisierung des Kontinuums in endlichviele Elemente wie bei der Finiten Elemente Methode (FE-Methode, FEM).Insbesondere die FEM wird in der Trauma-Biomechanik häufigangewendet (s. Kap. 2.7).

Grundlegende Eigenschaften biologischen Gewebes: Die Spannungs-Dehnungs-Eigenschaften fester Gewebe sind üblicherweise nicht-linear,anisotrop und visko-elastisch. Die Nicht-Linearität ist hauptsächlich durchdie in der Biomechanik beobachteten grossen Verformungen des Gewebesbegründet, die Anisotropie ist durch den Faseranteil des Gewebes bedingtund die Visko-Elastizität kann durch die innere Reibung des Aufbaus vonFasern und extrazellulärer Matrix erklärt werden. Des Weiterenbeeinflussen aktive Bestandteile (Muskelfasern) die mechanischenEigenschaften. Vor allem in ex vivo Experimenten ist die Muskelaktivität zubedenken (Muskelfasern können z.B. durch Barium-Verbindungenchemisch stimuliert werden). Genauso ist bei Experimenten miteinbalsamierten Leichen zu beachten, dass sich durch die Konservierungdie mechanischen Eigenschaften verändern. Bei biologischen Flüssigkeitenkann die Berücksichtigung eines nicht-Newtonschen Verhaltens wichtigsein (eine ausführliche Beschreibung der Eigenschaften biologischenGewebes findet sich u.a. in Holzapfel und Ogden 2006).

In der Biomechanik wird häufig zwischen “hartem” und “weichem”Gewebe unterschieden. Um diese Unterteilung etwas zu quantifizieren,müssen die Nicht-Linearität, Anisotropie und teilweise auch die aktiven(Muskel-) Eigenschaften mittels linearer Approximation vereinfachtwerden. Unter einachsiger Belastung eines langen und dünnenProbekörpers kann ein stückweise linearer Zusammenhang zwischenSpannung und Dehnung in Form des Hookeschen Gesetzes angenommenwerden, so dass ein lokaler Elastizitätsmodul E definiert werden kann. Für“weiche” Gewebe variiert E typischerweise zwischen einigen 10 und105 kPa, wohingegen die Werte für “harte” Gewebe in derGrössenordnunen einiger GPa liegen.

Während es unterschiedliche Arten von “weichem” Gewebe

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Grundlagen der Biomechanik 27

(Weichteilen) gibt, kommen “harte” Gewebe hauptsächlich in Formkalzifizierten Gewebes, vor allem Knochen, vor. Hydoxidapatit-Kristalle[Ca5 (PO4)3 OH], die in eine Kollagenmatrix einbettet sind, enthalten dasKalzium. Abgesehen von der Wichtigkeit für den Knochenaufbau und diemechanischen Eigenschaften von Knochen, ist ein physiologischerKalzium-Haushalt für die Homöostase des menschlichen Körpers vonerheblicher Bedeutung. In vielen physiologischen Prozessen wie derMuskelaktivität, der Übertragung von Signalen im Nervensystem oder beider Koagulation des Blutes spielt Kalzium eine entscheidende Rolle.

Kalzium ist mit Abstand das am häufigsten vorkommende Mineral imKnochen (“Kalzium-Reservoir”), andere wie beispielsweise Phosphorkommen in viel kleineren Konzentrationen vor. Daher werden die Begriffe“Kalzifizierung” und “Mineralisierung” oftmals als Synonyme verwendet.Dementsprechend konnte gezeigt werden, dass die Knochendichte (bonemineral density, BMD) im Zusammenhang mit Knochenfrakturen relevantist [Beason et al., 2003]. Ein geringer Kalziumgehalt im Knochen, wie imFalle von Osteoporose, erhöht das Frakturrisiko und reduziert somit dieVerletzungstoleranz.

Aus biomechanischer Perspektive gehören vor allem Elastin, Kollagenund glatte Muskelfasern zu den essentiellen Bestandteilen von weichemGewebe. Der Elastizitätsmodul (wiederum unter der vereinfachendenAnnahme eines stückweise linearen Modulus unter uniaxialer Belastung)von Elastin (einem globular, stark dehnbaren Polypeptid) liegt im Bereichvon 102 - 103 kPa. Kollagen (eine steife dreifache Helix-Struktur) weisteinen E-Modul von bis zu 105 kPa auf. Für glatte Muskelfasern wird, jenach Aktivierung, ein weiter Bereich von Festigkeitseigenschaftenangegeben, der zwischen denjenigen von Elastin und Kollagen liegt.

Die Anatomie derjenigen Organe, die aus “weichem” Gewebe bestehen,wird hauptsächlich durch deren physiologische Funktion bestimmt. Wegender Vielzahl dieser physiologischen Aufgaben, variieren dieZusammensetzung wie auch das mechanische Verhalten unter Belastungder Weichteile erheblich. Die Eigenschaften von Knochen variierenhingegen weniger stark, obwohl es verschiedene Formen von Knochen gibt.Kortikaler Knochen findet sich im Schaft (Metaphyse) von langen Knochenund in der äusseren Schicht anderer Knochen. Trabekulärer Knochen trittvor allem im Markkanal langer Knochen, insbesondere im Bereich nahevon Gelenken (Epiphyse), sowie in der Wirbelsäule und in Knochen, dienicht primär Belastungen übertragen (z.B. Schädel, Beckenkamm) auf.

Da Verletzungen im Grunde genommen immer mit einer Verformungüber die Belastungsgrenze hinaus verbunden sind, sind lineareApproximationen des mechanischen Verhaltens grundsätzlich fragwürdig

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28 Methoden der Trauma-Biomechanik

und sollten nur mit entsprechender Vorsicht verwendet werden. Tatsächlichkann nämlich vor einer irreversiblen, verletzungsinduzierendenGewebeschädigung, ein in den meisten Fällen zerstörungsfreies, nicht-lineares, visko-elastisches Verformungsverhalten beobachtet werden,welchem eine Phase der plastischen Verformung folgt. Diese Plastizitätkommt in Weichteilen durch eine im Allgemeinen reversible An- bzw.Umordnung der Gewebefasern zustande. Im Fall von “hartem” Gewebe ist(noch) nicht ganz klar, durch welche Prozesse eine plastische Verformungzustande kommt; sie kann jedoch experimentell beobachtet werden (Abb.2.1). Zudem wird vermutet, dass sich Spannungsspitzen im Knochen durch

Abb. 2.1 Bildgestütze Untersuchung zum Knochenversagen an Proben aus dermenschlichen Wirbelsäule (μ-CT Aufnahmen, Kantenlänge eines Querschnitts:4 mm) Die obere Reihe zeigt eine Probe unter Druck, Kompression (strain) inStufen von 4%. Die mittlere und untere Reihe zeigt typische Ausformungentrabekulären Knochens. Die Platten bzw. Balken können sich vor dem Versagendeutlich plastisch verformen. Da der kortikale Knochen grundsätzlich aus dergleichen Basis besteht (Hydroxyapatit-Kristalle in kollagener Matrix), ist auchdort bei Belastung von lokaler plastischer Verformung auszugehen [aus: R. Mülleret al., Functional Microimaging at the Interface of Bone Mechanics and Biology,in: Holzapfel and Ogden, op. cit.].

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Verletzungskriterien, Verletzungsindizes und Verletzungsrisiko 29

die Plastizität reduzieren lassen [Stitzel et al., 2003].Die Altersabhängigkeit der Gewebeeigenschaften ist erheblich.

“Weiches” Gewebe von Kindern ist sehr dehnbar, es wird erst mitzunehmendem Alter steifer. Dieser Effekt ist vor allem durch einenreduzierten Wasseranteil und eine zunehmende Anzahl von Verknüpfungender Kollagenfasern zu erklären. Während der Wasseranteil amKörpergewicht bei Jugendlichen bis zu 70 % ausmacht, kann er sich imAlter auf ca. 50 % reduzieren. Je jünger ein Kind, desto biegsamer sindauch seine Knochen, da die Mineralisierung mit der Entwicklungfortschreitet. Daher ist auch die Erscheinungsform von Knochenbrüchenunterschiedlich, bei Erwachsenen findet man oftmals Frakturen, die mehreinem Bruch von sprödem Material ähneln.

Allgemein werden in der Mechanik häufig zwei Versagenskriterienangewendet, wobei angenommen wird, dass Versagen auftritt, sobald einGrenzwert einer beiden folgenden Parameter überschritten ist:• absorbierte Energie (von Mises-Kriterium, wird in der Trauma-

Biomechanik verwendet, z.B. in Bezug auf Thorax-Verletzungen)• Schubspannung (Kriterium nach Tresca, in der Regel ohne Anwendung

in der Trauma-Biomechanik).Zusätzlich kommen in der Trauma-Biomechanik folgende Grössen im

Rahmen der Definition von Verletzungskriterien zur Anwendung: • Beschleunigung (Anwendung z.B. bei Kopfverletzungen).• Verformung (Anwendung z.B. bei Frakturen).

2.3 Verletzungskriterien, Verletzungsindizes und Verletzungsrisiko

Verletzungskriterien sind ein wichtiges Mass, um die Schwere vonBelastungen bzw. dem daraus resultierenden Verletzungsrisiko zubeurteilen. Definitionsgemäss verknüpft ein Verletzungskriteriummessbare, physikalische Parameter (z.B. Beschleunigung, Kraft) mit demerwarteten Risiko, dass eine bestimmte Körperregion eine bestimmteVerletzung erleidet (z.B. Fraktur, Kontusion). Verletzungskriterien werdenim Allgemeinen aus experimentellen Studien in Kombination mitempirischen Untersuchungen hergeleitet. Da am lebenden Menschen keineExperimente mit verletzungsinduzierenden Belastungen durchgeführtwerden können, ist eine Extrapolation der vorhandenen Daten notwendig,um ein Kriterium formulieren und validieren zu können.

In Ergänzung zum Ausdruck “Verletzungskriterium” sind auch die

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30 Methoden der Trauma-Biomechanik

Ausdrücke “Schadenskriterium” und “Schutzkriterium” zu erwähnen.Während ein Verletzungskriterium darauf abzielt, eine Grösse in Bezug zurVerletzungstoleranz von lebenden Organismen zu setzen, beschreibenSchutzkriterien normalerweise den Zusammenhang bezogen auf totesGewebe (auch “post mortem test object” PMTO genannt, z.B. eine Leiche)als Ersatz für lebendes. In beiden Fällen wird ein Grenzwert für eineBelastung (bestimmt aus physikalischen Parametern) definiert. Übersteigtdie Belastung diesen Grenzwert, so kann für das untersuchte Gewebe miteiner gewissen Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Verletzung erwartetwerden.

Beim Schutzkriterium wird der Grenzwert aufgrund von Messungen mitanthropomorphischen Prüfkörpern (z.B. Crashtest-Dummys, s. Kap. 2.6.1),die den Menschen darstellen sollen, definiert. In diesem Fall wird derZusammenhang zu Verletzungstoleranzen des Menschen meist überempirische Studien hergestellt. Dabei wird angenommen, dass ein gesunderErwachsener mittleren Alters im Mittel keine der Verletzungen, auf die sichdas Schutzkriterium bezieht, erleiden wird, sofern die Person einerBelastungssituation ausgesetzt ist, die derjenigen zur Definition desSchutzkriteriums vergleichbar ist. Das eigentliche Verletzungsrisiko kanndann mit Hilfe einer Risikofunktion ermittelt werden, die dieWahrscheinlichkeit, eine Verletzung zu erleiden, mit diesem Kriterium (d.h.den jeweiligen gemessenen mechanischen Grössen) verknüpft.

Es ist jedoch anzumerken, dass die Unterscheidung zwischenVerletzungs-, Schaden- und Schutzkriterium nicht immer konsequenteingehalten wird. Hauptsächlich wird der Begriff Verletzungskriteriumverwendet, mit dem dann verallgemeinernd ein Index bezeichnet wird, dereine Belastungsschwere quantitativ beschreibt. Schutzkriterien werden vorallem in internationalen standardisierten Testverfahren, meist in derAutomobilindustrie (Crashtests), verwendet. Kapitel 2.6 beschäftigt sichausführlich mit diesen Testverfahren. Verletzungskriterien für einzelneKörperregionen werden in den jeweiligen Abschnitten in Kapiteln 3 bis 8diskutiert.

Verletzungsindizes (bzw. Verletzungsskalen), wie sie beispielsweise fürVerletzungen im Strassenverkehr entwickelt wurden, klassifizierenverschiedene Verletzungstypen basierend auf medizinschen Diagnosen. Deram häufigsten verwendete Index ist die “Abbreviated Injury Scale (AIS)”,die 1971 von der Association for the Advancement of AutomotiveMedicine (AAAM) als System zur Klassifizierung der Verletzungsschwereentwickelt wurde. Die AIS (Tab. 2.1) bezieht sich auf Verletzungen ausVerkehrsunfällen. Dabei steht die Lebensbedrohlichkeit bzw. dieÜberlebenswahrscheinlichkeit im Mittelpunkt, d.h. jede Verletzung wird

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Verletzungskriterien, Verletzungsindizes und Verletzungsrisiko 31

nach ihrer Lebensbedrohlichkeit klassifiziert. Die AIS ist anatomischaufgebaut und ordnet pro Körperregion jeder möglichen Verletzung einenCode zwischen AIS0 und AIS6 zu. Je höher der Code destolebensbedrohlicher die Verletzung; AIS0 steht für “unverletzt” und AIS6für “maximal verletzt, derzeit nicht behandelbar”.

Der AIS-Code stellt also einen einzelnen, zeitunabhängigen Code fürjede Verletzung jeder Körperregion dar. Die Schwere der Verletzung wirddabei immer in Bezug auf den ganzen Körper bewertet, d.h. man gehtdavon aus, dass ein sonst gesunder Erwachsener nur diese Verletzungaufweist. Es wird hierbei jedoch nur die Lebensbedrohlichkeit derjeweiligen Verletzung bewertet, die Folgen, die diese Verletzung habenkann (z.B. schwierige Behandlung, Arbeitsunfähigkeit, langeRehabilitation, hohe Gesundheitskosten) werden nicht berücksichtigt.Schwere bleibende Einschränkungen wie der Verlust des Augenlichtes odermögliche lebensbedrohliche Komplikationen wie Infektionen werden imCode nicht berücksichtigt, wenn die zugrundeliegende Verletzung nichtlebensbedrohlich ist. Des Weiteren ist der AIS-Code nicht linear, d.h. derUnterschied zwischen AIS1 und AIS2 ist nicht vergleichbar mitdemjenigen zwischen AIS5 und AIS6. Die Berechnung vondurchschnittlichen AIS-Werten ist daher nicht sinnvoll (AIS 3.7 wäre z.B.vollkommen sinnlos). Um die Verletzungsschwere einer Person mitmehreren Verletzungen zu beschreiben, wird der MAIS (maximaler AIS-Code) benutzt. Der MAIS gibt den höchsten AIS-Code, den eine Personaufweist, an. Dies gilt auch, wenn die Person an verschiedenen

Tabelle 2.1 Die AIS Klassifikation.

AIS Code Verletzung

0 unverletzt

1 gering

2 mässig

3 ernst

4 schwer

5 kritisch

6 maximal/ nicht behandelbar

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32 Methoden der Trauma-Biomechanik

Körperregionen Verletzungen des gleichen AIS Codes erlitten hat. Weistbeispielsweise ein Fahrzeuginsasse nach einer Kollision AIS2 Verletzungenam Kopf wie auch an den Beinen auf, so bleibt der MAIS nichtsdestotrotzMAIS2.

Zur besseren Berücksichtigung multipler Verletzungen wurde der InjurySeverity Score (ISS) eingeführt, der — wie auch die AIS-Definitionen —regelmässig aktualisiert wird [aktuelle Version siehe AAAM, 2005]. DerISS-Code unterscheidet 6 Körperregionen: Kopf/Hals, Gesicht, Brust,Abdomen, Extremitäten einschliesslich Becken, Haut (d.h. Verbrennungn,Schnitte, Schürfungen, Prellungen auf der Körperoberfläche). Für jededieser Regionen wird der höchste AIS-Code bestimmt, Der ISS-Codeberechnet sich dann aus der Summe der Quadrate der AIS-Codes der dreiam schwersten verletzten Körperregionen. Der kleinste ISS-Code beträgt 0und der grösstmögliche 75 (zusammengesetzt aus drei AIS5 Verletzungen).Wird eine AIS6 Verletzung festgestellt, wird der ISS-Code automatisch auf75 gesetzt. ISS-Werte grösser als 15 werden als schweres Traumabetrachtet. In der Literatur wird eine gute Korrelation des ISS-Codes mitParametern wie der Sterblichkeit [z.B. Baker and O'Neill 1976] oderLangzeit-Einschränkungen [z.B. Campbell et al. 1994] beschrieben.

Des Weiteren kommen Indizes zur Anwendung, die sich auf spezifischeVerletzungen einzelner Körperregionen beschränken. Die Quebec TaskForce [Spitzer et al. 1995] hat beispielsweise ein Schema zurKlassifizierung von Weichteilverletzungen der Halswirbelsäulen entwickelt(s. Kap. 4). Ein Schema zur Klassifizierung von Kopfverletzungen, dasinsbesondere in der Notfallmedizin verwendet wird, ist die Glasgow ComaScale (GCS) [Teasdale und Jennett, 1974]. GCS kategorisiert denBewusstseinsstatus eines Patienten einschliesslich einiger neurologischerAspekte (z.B. Reflexe) und kann somit zum Einschluss/Ausschlussmöglicher Verletzungsmechanismen beitragen. Die Einteilung reicht vonGCS 3 (tiefes Koma) bis GCS15 (bei vollem Bewusstsein).

Andere Klassifizierungen adressieren bleibende Beeinträchtigungen,Behinderungen und/oder soziale Folgen durch eine Bewertung derLangzeitfolgen einer Verletzung mittels Zuordnung eines ökonomischenWertes. Ein Beispiel ist die Injury Cost Scale (ICS) [Zeidler et al. 1989].Diese berücksichtigt die durchschnittlichen Kosten einer Verletzungeinschliesslich der Kosten der medizinischen Behandlung und derRehabilitation, einer etwaigen Behinderung sowie des Arbeitsausfalls.

Weitere Klassifizierungen nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten sinddas Injury Priority Rating (IPR) [Carsten und Day 1988] und das HARMKonzept [Malliaris et al. 1985], das von der US Regierung verwendet wird.

Eine der grössten Herausforderungen der Trauma-Biomechanik ist das

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Verletzungskriterien, Verletzungsindizes und Verletzungsrisiko 33

Herstellen einer Verbindung zwischen der Verletzungsschwere und denmechanischen Belastungen, die zu dieser Verletzung geführt haben. Es giltalso eine Beziehung zu finden, die es ermöglicht einer bestimmtenmechanischen Belastung (z.B. charakterisiert durch einVerletzungskriterium) eine Wahrscheinlichkeit zuzuordnen, mit der dieBelastung zu einer Verletzung führt. Solche Zusammenhänge sindelementar, da sonst Ergebnisse von Tests, wie Crashtests, nicht sinnvollinterpretiert werden können. Daher ist es notwendig, das biomechanischeVerhalten durch gut instrumentierte Laborversuche mit verschiedenen, denMenschen approximierenden Modellen zu untersuchen und soVerletzungstoleranzen zu bestimmen, mit denen schliesslich entsprechendeRisikofunktionen aufgestellt werden können.

Risikofunktionen werden unter Verwendung grundlegender statistischerMethoden, wie der “maximum likelihood method”, Analysen derkumulativen Häufigkeitsverteilungen oder Weibull Verteilungen erstellt. InKapitel 3 findet sich ein Beispiel einer Risikofunktion bezogen aufKopfverletzungen. Auf ausführliche Erläuterungen der statistischenMethoden zur oftmals schwierigen Analyse von Unfall- bzw.Verletzungsdaten wird hier jedoch verzichtet, interessierte Leser seien aufspezialisierte Statistik-Fachbücher verwiesen. Es sei jedoch angemerkt,dass solche Ansätze, mittels statistischer Methoden aus experimentellenDaten allgemeingültige, die Wirklichkeit beschreibende Risikofunktionenherzuleiten, einigen Einschränkungen unterliegen können. Folgende Punktesind zu beachten: • oftmals ist nur eine kleine Anzahl an Experimenten durchgeführt

worden,• das biomechanische Verhalten zwischen den in Experimenten

verwendeten Modellen (z.B. Leichen) und dem lebenden Menschenunterscheidet sich,

• zwischen Testpersonen und der realen Population könnenanthropomorphische Unterschiede auftreten (z.B. wenn Versuche nuran jungen, sportlichen Testpersonen durchgeführt werden),

• Daten können sehr grosse Streuungen aufweisen (z.B. wenn (leicht)unterschiedliche Versuchsbedingungen geherrscht haben oder dieExperimente von verschiedenen Forschungsgruppen/Laborendurchgeführt wurden),

• es gibt in manchen Bereichen eine grosse Anzahl möglicherVerletzungsmechanismen, so dass die Zuordnung zu einzelnen davonsehr schwierig ist.

Werden Unfallstatistiken statt experimenteller Daten verwendet, umRisikofunktionen zu erstellen, gelten grundsätzlich die gleichen

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34 Methoden der Trauma-Biomechanik

Einschränkungen. Nichtsdestotrotz konnten in einigen JahrzehntenTrauma-Biomechanik-Forschung einige gut fundierte Korrelationenzwischen mechanischer Belastung und Verletzungswahrscheinlichkeiterarbeitet werden - zumindest für bestimmte Verletzungen bzw.Verletzungsmechanismen. Die Arbeit in diesem Bereich ist jedoch beiweitem noch nicht abgeschlossen und auch Anpassungen bereitsverwendeter Kriterien sind bei Bekanntwerden neuer Erkenntnisse nichtunüblich.

2.4 Unfallrekonstruktion

Die Rekonstruktion von Unfällen ist für die Trauma-Biomechanikunverzichtbar, da sich die Zusammenhänge zwischen mechanischerBelastung und Verletzung unter physiologischen Bedingungen nur imwirklichen Unfallgeschehen manifestieren. Ebenso werdenUnfallrekonstruktionen häufig für forensische Zwecke, wie auch imRahmen von Strafverfahren oder zivilrechtlichen Auseinandersetzungendurchgeführt.

Die Rekonstruktion eines Unfall besteht aus einer mathematischenAnalyse des betroffenen Ereignisses auf Grundlage der in Kapitel 2.2beschriebenen klassischen Grundsätze der Mechanik. Im Gegensatz zuLabor-Versuchen geschehen Unfälle üblicherweise unter nicht-kontrollierten, nicht-überwachten Bedingungen. In Abhängigkeit vonUmfang, Qualität und Genauigkeit der vorhandenen Unterlagen hat derUnfallrekonstrukteur verschiedene Annahmen und Approximationen zutreffen.

Ein Ski-Unfall während eines Skirennens wird möglicherweise durchVideo-/Fernsehaufzeichnungen festgehalten, Unfallspuren einesVerkehrsunfalls werden durch die Polizei aufgenommen, doch ein Sturzvon einer Leiter im Haushalt wird kaum dokumentiert sein. ZurRekonstruktion sind alle verfügbaren Informationen wichtig. Wie in einemPuzzle müssen verschiedene Informationen kombiniert werden, um zueiner zuverlässigen und schlüssigen Abhandlung des Ereignisses zugelangen; je nach Fall können hierzu ganz unterschiedliche Angabennotwendig sein, sei es die Sequenz einer Ampelschaltung in einerFahrzeug-Fussgänger-Kollision oder die Materialeigenschaften eines Ballsbei einem Sportunfall. Die Augenscheinnahme der Unfallstelle ist indiesem Zusammenhang unerlässlich. Erfahrungen aus zuvordurchgeführten Versuchen unter Laborbedingungen oder Ergebnisse gut

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Unfallrekonstruktion 35

dokumentierter “vergleichbarer” Unfälle können zudem sehr hilfreich sein.Von höchster Wichtigkeit ist in der Regel die Zusammenarbeit mit demmedizinisch-forensischen Experten (z.B. einem Rechtsmediziner), da auchVerletzungsmuster oder andere medizinische Befunde Hinweise für dieUnfallrekonstruktion geben können.

Fehlende Dokumentation oder fehlende sichtbare Spuren können zuProblemen bei der Unfallrekonstruktion führen. Im Falle vonFahrzeugkollisionen können Unsicherheiten z.B. durch Anti-Blockier-Systeme auftreten, durch die keine Reifenabriebspuren auf der Strasseentstehen. Zudem wird die Rekonstruktion erschwert, wenn keine oder nurmarginale Fahrzeugdeformationen entstanden sind. Um dieReparaturkosten zu reduzieren, sind viele neuere Fahrzeuge derartkonstruiert, dass bei Kollisionen geringer Intensität praktisch keineBeschädigungen entstehen (oder zumindest von aussen nicht sichtbar sindund daher von Laien nicht erkannt werden). Ein fehlender Fahrzeugschadenist kein eindeutiges Indiz dafür, dass gar keine Kollision stattgefunden hatbzw. dass die Energie, die übertragen wurde, grundsätzlich zu klein war, umirgendwelche Verletzungen zu verursachen. Der Fall ist dann genauerabzuklären.

Im Zusammenhang mit der Approximation der Auswirkung einerBelastung durch Starrkörper (Gleichungen 2.1, 2.2), konnten empirischeUntersuchungen und Laborexperimente zeigen, dass die Beschleunigung,die unter Belastung im Schwerpunkt eines Körperteils wirkt, ein wichtigerParameter zur Beurteilung der Schwere dieser Belastung ist. In der Praxiswird das Beschleunigungsfeld oft im Vergleich zur Beschleunigungdurch die Gravität g (1g = 9.81 m/s2) betrachtet. Da man im Alltag immerder Gravität ausgesetzt ist, lässt sich aus dieser Alltagserfahrung leichterein Bezug zur Beschleunigung herstellen. Die Beschleunigung jedoch, dieein Körper während eines Unfalls erfährt, ist zeitabhängig, so dass Grössenwie “maximale Beschleunigung” und “mittlere Beschleunigung”zusammen mit der jeweiligen Einwirkdauer (Zeitintervall, in dem dieBeschleunigung auf den Körper wirkt) klar von einander getrennt werdensollten, um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen.

Techniken der Rekonstruktion wurden vor allem fürStrassenverkehrsunfälle entwickelt. Einige fahrzeugspezifische Parameterhaben sich hinsichtlich der Beurteilung der Belastungssituation derFahrzeuginsassen als nützlich erwiesen.• Die Kollisionsgeschwindigkeit eines Fahrzeugs ist wahrscheinlich der

am häufigsten in der Öffentlichkeit genannte Parameter. Bei derUnfallrekonstruktion ist die (Einlauf-) Geschwindigkeit kurz bevorbeispielsweise ein Bremsvorgang begonnen wurde gelegentlich von

a t( )

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36 Methoden der Trauma-Biomechanik

Bedeutung. Dies gilt in erster Linie für Vermeidbarkeitsbetrachtungen,bei denen untersucht wird, unter welchen Voraussetzungen (z.B.Geschwindigkeiten) das Ereignis hätte verhindert werden können oderwenn untersucht wird, ob eine Geschwindigkeitsbegrenzungeingehalten wurde.

• Die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung (delta-v) desbetrachteten Fahrzeugs ist in den meisten Fällen, in denen dieAuswirkungen auf die Insassen im Vordergrund stehen, geeignet, umdie Kollisionsschwere zu beschreiben. Der delta-v Wert entspricht —bei Kollisionen mit einem Anprall und ohne signifikante Rotation —ungefähr dem Integral der translatorischen Fahrzeugbeschleunigungüber die Kollisionsdauer. Bei komplexen Kollisionen (Überschlag,Abkommen von der Strasse usw.) kann die Charakterisierung mittelsdes delta-v Werts ungenau bzw. ungenügend sein.

• Der Parameter “energy equivalent speed (EES)” ist ein Mass für dieEnergie, die notwendig ist um ein Fahrzeug zu deformieren. Der EES-Wert ist im Wesentlichen eine theoretische Vergleichsgrösse. Erentspricht der Anprallgeschwindigkeit an eine starre Barriere, die nötiggewesen wäre, um die gleiche bleibende Verformung wie im realenUnfall zu erzeugen. Der EES-Wert wird in [km/h] angegeben und kannfür viele Fahrzeugtypen sogenannten EES-Katalogen entnommenwerden. Diese Kataloge werden auf Basis von Crashtests (gemäss einerdefinierten Testvorschrift) erstellt. Für einen konkreten Unfall schätztman den EES-Wert dann durch Vergleich mit den Katalog-Daten ab.

• Ein weiterer Parameter zur Beschreibung der Anprallkonfiguration istdie Überdeckung. Sie gibt den Anteil an, um den sich das Fahrzeug undder Kollisionspartner (z.B. ein anderes Fahrzeug oder eine Barriere ineinem Crashtest) überdecken. Die Überdeckung wird üblicherweise inProzent der gesamten Fahrzeugbreite des interessierenden Fahrzeugsangegeben. Bei einer Frontalkollision mit 50 % Überdeckunglinksseitig berührt somit die linke Hälfte der Fahrzeugfront denKollisionspartner.

• Das aus der Mechanik bekannte Prinzip von elastischer und plastischerVerformung sowie die diese Anteile beschreibende Stosszahl k werdenverwendet, um die elastische und plastische (d.h. permanente)Deformation von Fahrzeugstrukturen zu charakterisieren. Abbildung2.2 zeigt ein Beispiel für die Abhängigkeit der Stosszahl von derAnprallgeschwindigkeit. Die Stosszahl hängt stark von derKonstruktion der Fahrzeugfront ab. Insbesondere das Design derStossfänger und der darunter liegenden Pralldämpfer haben einenEinfluss. Die Vorgabe, dass bei Kollisionen im Bereich niedriger

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Unfallrekonstruktion 37

Geschwindigkeiten kein oder nur sehr geringer Fahrzeugschadenentstehen darf, hat dazu geführt, dass die Stossfängerstrukturen steiferund elastischer wurden. Für neue Fahrzeuge müssen in diesemNiedriggeschwindigkeitsbereich höhere Stosszahlen angenommenwerden. Es gibt zudem auch Konstruktionen, die ein Energieabsorbierendes Design bzw. Material einsetzen, das sich nachVerformung langsam wieder erholt. Da diese Restitution nicht währendder eigentlichen Kollision erfolgt, verformt sich das Fahrzeugeigentlich voll-plastisch, obwohl nach der Kollision möglicherweisekeine Verformungen festzustellen sind.

Heute werden die meisten Unfallrekonstruktion unter Verwendungspezialisierter Computerprogramme, die für diese Anwendungen validiertwurden, durchgeführt. Beispiele solcher Software, die hauptsächlich aufImplementation der Starrkörpermechanik (Gleichungen 2.1, 2.2) beruhen,sind Carat [IBB 2002], PC-Crash [DSD 2000] oder EDCRASH [EDC2006]. Grundsätzlich können bei solchen Computerprogrammen zweiMethoden unterschieden werden: “Vorwärts-” und“Rückwärtsrechnungen”. Im ersten Fall wird die Kinematik vor derKollision angenommen, d.h. die initialen Bewegungsrichtungen,Geschwindigkeiten usw. werden den Kollisionspartnern zugeordnet.

Abb. 2.2 Schematische Darstellung des Zusammenhangs zwischen Stosszahlund relativer Geschwindigkeit bei einem frontalen Anprall eines Pkw an einestarre Barriere [nach Appel et al. 2002]. Neuere Fahrzeuge zeigen im Bereichniedriger Geschwindigkeiten im Allgemeinen eine höhere Stosszahl als hierdargestellt.

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38 Methoden der Trauma-Biomechanik

Anschliessend werden die Kollision und die Endlagen der Kollisionspartnermittels Integration der Starrkörpergleichungen unter Berücksichtigung vonReifen- und Kollisionskräften berechnet. Abschliessend werden dietatsächlichen, am Unfallort vermessenen Fahrzeugpositionen und Spurenmit den Ergebnissen der Berechnung verglichen. In einem iterativenProzess werden nun die Eingabeparameter so lange variiert bis inzufriedenstellendem Mass eine Übereinstimmung der Rechenergebnissemit den Unfalldaten entsteht. Beim “Rückwärtsrechnen” startet man mit derUntersuchung der Endlagen der Kollisionspartner. Dann werden die(Auslauf-) Bewegungen nach der Kollision mit den vorhandenen Spuren(z.B. Abriebspuren der Reifen) abgeglichen, so dass man die Konstellationzum Zeitpunkt der Kollision bestimmen kann. Auch hierzu wird wiedereine Approximation durch Starrkörpergleichungen verwendet. Schliesslichwerden die Eingangsparameter, die zur Konstellation der Kollision geführthaben, erhalten. Die Rekonstruktion des Unfalls kann anschliessend durchentsprechende Grafiken visualisiert werden.

Wegen der grossen Massedifferenz zwischen Insasse und Fahrzeug, kannder Einfluss des Insassen sowie anderer nicht fest mit dem Fahrzeugverbundener Gegenstände durch Abschätzung berücksichtigt werden. Diesgilt nicht für Unfälle mit Motorrädern oder Fahrrädern. In solchen Fällenkönnen die oben erwähnten Programme nur eingeschränkt verwendetwerden und die Ergebnisse sind mit entsprechender Vorsicht zuinterpretieren.

Die Phasen einer Kollision sind — nicht nur beiStrassenverkehrsunfällen — in der Regel mit einem Verformungsprozessverbunden, für den Approximationen auf Grundlage derKontinuumsmechanik (Gleichungen 2.3, 2.4 sowie entsprechendeZusatzbedingungen) notwendig sind. Aus verschiedenen Gründen, die nichtzuletzt im Zusammenhang mit der Produkthaftung stehen, sindAutomobilhersteller mit der Veröffentlichung bzw. Offenlegung der vonihnen zur Untersuchung des Crash-Verhaltens ihrer Fahrzeuge verwendeten(Finite Elemente-) Modelle sehr zurückhaltend. Daher werden in denallgemeinen Rekonstruktionsprogrammen einige Vereinfachungenangenommen. Verbreitet ist Annahme einer segmentiertenSteifigkeitsverteilung an der Fahrzeugfront und der Integration derBewegungsgleichungen der involvierten Fahrzeuge über dieKollisionsdauer. Eine andere Möglichkeit, die häufig bei europäischenRekonstruktionsprogrammen anzutreffen ist, ist die Annahme, dass dieKollisionsdauer unendlich kurz sei (verglichen mit den Bewegungen derFahrzeuge vor und nach dem Crash), so dass nur die Übertragung der(translatorischen und rotatorischen) Impulse von einem zum anderen

Page 51: Trauma-Biomechanik ||

Experimentelle Untersuchungen 39

Fahrzeug berechnet wird. Die bereits beschriebenen EES-Werte können inbeiden Ansätzen als Kontrollwerte verwendet werden, um nicht nur dasMomentengleichgewicht, sondern auch die Energieerhaltung zuberücksichtigen.

Wurde die Fahrzeugbewegung rekonstruiert, kann die während derKollision erfolgte Bewegung der Insassen oder etwaiger externerKollisionspartner (Fussgänger, Zweiradfahrer) wiederum durchStarrkörpermodelle eingegrenzt werden. Zudem können Anhaltspunkte zurBelastung der Insassen bestimmt werden. Weitere Extrapolationen,insbesondere betreffend Verletzungen, erfordern jedoch einenSachverstand, der über die klassische (mechanische) Unfallrekonstruktionhinaus geht. Dasselbe gilt für Arbeits-, Haushalts- oder Sportunfälle. Unterbestimmten Umständen und mit entsprechender Anpassung an den zuuntersuchenden Sachverhalt können Modelle und Programme aus derRekonstruktion von Verkehrsunfällen auch für andere Unfälle verwendetwerden. Zum Zweck der Verletzungsanalyse kann die anschliessendeAnwendung eines Finite Elemente Modells des Menschen hilfreich sein.

Auch werden Unfälle manchmal durch ein genaues Nachstellen amtatsächlichen Unfallort oder im Labor und unter Verwendung gleicherFahrzeuge, gleicher Sportausrüstung usw. rekonstruiert (beiStrassenverkehrsunfällen auch Nachfahrversuche genannt). Ein solchesVorgehen ist vor allem bei Nicht-Verkehrsunfällen wichtig und wird zudemim Rahmen von juristischen Auseinandersetzungen, in denen grosseSchadenersatzforderungen die nicht unerheblichen Kosten solcher Testsrechtfertigen, durchgeführt.

2.5 Experimentelle Untersuchungen

Jede mechanische Eigenschaft, die sich auf das zeitabhängige Verhalten desmenschlichen Körpers, eines Körperteils, eines Organs oder Gewebes unterdynamischer mechanischer Belastung bezieht, wird unter dem Begriffbiomechanische Systemantwort bzw. biomechanisches Verhaltenzusammengefasst. Die Kinematik des Kopf-Hals-Bereiches bei einemKopfanprall im Fussball oder die Kraft-Verformungs-Charakteristik derBrust bei einer Frontalkollision im Strassenverkehr sind Beispiele für dasbiomechanische Verhalten des menschlichen Körpers.

Abgesehen von mechanischen Veränderungen kann das biomechanischeVerhalten ebenso zu physiologischen Veränderungen wieNackenschmerzen, Lungenödemen oder Abweichungen im EKG führen.

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40 Methoden der Trauma-Biomechanik

Die fundierte Kenntnis des biomechanischen Verhaltens ist für dieEntwicklung von Massnahmen zur Verletzungsprävention bzw. zurVerletzungsminimierung unerlässlich. Da Unfallsituationen per se hoch-dynamische Vorgänge sind, sind Experimente zur Untersuchung desbiomechanischen Verhaltens im Allgemeinen ebenfalls untervergleichbaren Belastungsbedingungen durchzuführen. Nichtsdestotrotzwerden auch quasi-statische Versuche durchgeführt, da diese von derDurchführung und Instrumentierung her einfacher zu gestalten sind. EineExtrapolation der Ergebnisse hin zu dynamischen Bedingungen mussjedoch möglich sein, um die Ergebnisse sinnvoll interpretieren zu können.

Untersuchungen des biomechanischen Verhaltens des menschlichenKörpers sind nicht nur für ein Verständnis von Verletzungsmechanismenentscheidend, sondern werden auch für die Definition und Verifikation vonVerletzungsgrenzwerten benötigt. Dabei spielt die biologische Variabilitäteine wichtige Rolle. Insbesondere altersabhängige Veränderungen sindmarkant. Für eine zuverlässige Bestimmung einer Funktion desVerletzungsrisikos ist eine grosse Menge experimenteller Daten notwendig.Da biologisches Material für die Durchführung von Experimenten nureingeschränkt zur Verfügung steht, sind insbesondere statistischeAuswertungen wichtig. Zudem kann es auch sein, dass die Durchführungvon Versuchen durch praktische Einschränkungen z.B. hinsichtlich derMöglichkeiten der Instrumentierung beschränkt wird. Insbesondere diePionierarbeiten der Trauma-Biomechanik, die bis auf die 1940er Jahrezurückgehen, weisen — aus heutiger Sicht — einige Mängel hinsichtlichder Instrumentierung auf, die teilweise auf mangelndes Wissen und/odereingeschränkte technische Möglichkeiten zurückzuführen sind. In denentsprechenden Kapiteln zum biomechanischen Verhalten der einzelnenKörperregionen werden die spezifischen Probleme näher erläutert. Zudemwidmet sich Kapitel 2.6.1 der Verwendung von mechanischenMenschmodellen (Dummys) im Rahmen von Crashtests, bei denen die mitden Dummys gewonnenen Messdaten im Hinblick auf biologischePlausibilität interpretiert werden müssen.

Im Folgenden werden experimentelle Modelle zur Bestimmung desbiomechanischen Verhaltens zusammengefasst. Dabei können fünfverschiedene Typen unterschieden werden: Freiwilligenversuche,Leichenversuche, Tierversuche, mechanische Menschmodelle,mathematische Modelle.

Freiwilligenversuche sind verständlicherweise auf leichte Belastungenbeschränkt, d.h. auf Bereiche, in denen man gewährleisten kann, dass keineVerletzungen auftreten. Die Schmerzgrenze wird oftmals als obere Grenzeverwendet, bis zu der die Freiwilligen Belastungen ausgesetzt werden. Der

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Experimentelle Untersuchungen 41

entscheidende Vorteil von Freiwilligenversuchen ist das Vorhandensein“realer” anatomischer und physiologischer Verhältnisse. Zudem kann derEinfluss des Muskeltonus untersucht werden, so dass beispielsweise einAnspannen der Muskulatur vor einer Kollision berücksichtigt werden kann.Allerdings stellen die Freiwilligen in der Regel keine repräsentativeKohorte da, d.h. die Auswahl der Freiwilligen entspricht nicht derPopulation, die dem entsprechenden Verletzungsrisiko ausgesetzt ist.Insbesondere Frauen, Kinder und Ältere sind in den vorhandenen Daten ausFreiwilligenversuchen unterrepräsentiert. Schwierigkeiten bestehen zudemhinsichtlich der Instrumentierung, da Sensoren oftmals nicht an derinteressierenden Stelle angebracht werden können (z.B. imKopfschwerpunkt oder am ersten Brustwirbel). Selbst eine starre externePositionierung der Sensoren am Körper ist wegen der Haut schwierig.Fortschritte in der Videotechnologie (z.B. High-speed Video) undentsprechende Software zur Auswertung haben jedoch erheblich zu einerVerbesserung der Ergebnisse von Freiwilligenversuchen beitragen. Auchkonnte durch den Einsatz von Cineradiographie (Röntgen-Bildgebung) dieBewegung des Skeletts während einer Belastung dargestellt werden (z.B.zur Untersuchung der Bewegung der Halswirbelsäule, Ono und Kaneoka(1997)). Da die Anzahl der mit dieser Methode durchgeführten Versuchejedoch sehr klein ist, ist eine Übertragung der Ergebnisse auf andere als diegetestete Personengruppe und auf höhere Belastungsschwere besondersschwierig.

Leichen (oftmals auch als “post mortem human subjects” (PMHS) oder“post mortem test objects” (PMTO) bezeichnet) sind die zweite Art vonModellen, die verwendet werden, um das biomechanische Verhalten desMenschen unter Belastung zu untersuchen. Obwohl grosse anatomischeÜbereinstimmungen mit dem lebenden Menschen bestehen, sind einigeFaktoren, die entsprechende Messergebnisse beeinflussen, zu beachten.Erstens ist das Alter der PMHS oftmals hoch. Altersentsprechendedegenerative Veränderungen wohnen den für Versuche verfügbarenLeichen inne. Liegt beispielsweise Osteoporose vor, so werden Frakturenhäufiger beobachtet. Zweitens wird das biomechanische Verhalten durchfehlenden Druck in Lunge und Blutgefässen, dem Fehlen einesMuskeltonus sowie Veränderungen durch die Präperationstechnik (d.h.Unterschiede zwischen konservierten oder frischen Leichen) erheblichbeeinflusst. Frische Leichen haben sich als gute Modelle für das Entstehenvon Frakturen, Gefässrupturen und Lazerationen erwiesen. PhysiologischesVerhalten (z.B. Nackenschmerz oder EKG-Abweichungen) könnenhingegen nicht untersucht werden. Zur Untersuchung des Verhaltenseinzelner Körperteile, z.B. des Beins (s. Kap. 7), werden entsprechend

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42 Methoden der Trauma-Biomechanik

einzelne Teile einer Leiche verwendet, wobei dann jedoch durch denVersuchsaufbau die Anbindung an den restlichen Körper in geeigneterWeise nachgebildet werden muss.

Tiermodelle sind für die Trauma-Biomechanik des Menschen nurbeschränkt anwendbar. Trotzdem stellen Versuche an anästhesierten Tierendie einzige Möglichkeit dar, physiologische Reaktionen auf schweremechanische Belastungen zu untersuchen. Im Tierversuch können zudemdie unterschiedlichen Reaktionen von lebendem und totem Gewebeverglichen werden und somit wichtige Erkenntnisse für die Interpretationvon Leichenversuchen gewonnen werden. Wegen der Unterschiede inAnatomie und Physiologie sind die Möglichkeiten, die Resultate auf denlebenden Menschen und insbesondere auf Grenzwerte für Verletzungen zuübertragen, limitiert.

Weitere in der Trauma-Biomechanik verwendete Modelle sindmechanische Menschmodelle, d.h. Crashtest-Dummys (auch“anthropomorphic test devices” (ATDs) genannt) sowie mathematische(Computer-) Modelle. Aufgrund ihrer Rolle in standardisierten(gesetzlichen) Prüfvorschriften zur Fahrzeugsicherheit kommt denDummys eine besondere Bedeutung zu; die Dummys werden dahergesonderten in Kapitel 2.6.1 besprochen.

Die Ziele von Crashtests bestehen in der realistischen Simulation desUnfalls sowie in der Bestimmung der mechanischen Belastungen die einMensch möglicherweise in einem solchen Unfall erleiden kann. VieleCrashtest-Anlagen konzentrieren sich auf die Durchführung der Vielzahlgesetzlich vorgeschriebener Tests. In der Automobilindustrie werdenzudem Versuche zur Bewertung und Auslegung von Rückhaltesystemensowie zur Entwicklung neuer Massnahmen zur Reduktion der Anzahl undSchwere von Verletzungen durchgeführt. Kontrollierte Laborversuchewerden ebenfalls zur Zertifizierung von Sporthelmen oder der Entwicklungvon Skibindungen durchgeführt.

Reale Unfallereignisse sind vielfältig. Daher werden nur ausgewählteSzenarien in Crashtests nachgestellt. Berücksichtigt man, dass dieErgebnisse solcher Crashtests wiederholbar und vergleichbar sein sollen,gleichzeitig aber die Kosten und der Zeitaufwand solcher Tests erheblichsind, wird verständlich, dass man sich meist auf einige standardisierte Testsmit exakt definierten Testprotokollen, vorgegebenen Auswerteprozedurenund Schutzkriterien beschränkt. In Kapitel 2.6 werden solchestandardisierten Testverfahren ausführlich beschrieben.

Im Automobil-Bereich werden drei verschiedene Kategorien vonCrashtests unterschieden: Crashtests mit kompletten Fahrzeugen (Full-scaleTests genannt), Schlittenversuche und Komponententests (Abb. 2.3). Die

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Experimentelle Untersuchungen 43

Grundprinzipien bezüglich Prüfpraxis, Evaluation der Ergebnisse undDokumentation werden ebenso im Test- und Zertifizierungswesen wie inanderen Fachbereichen angewendet, z.B. zur Bestimmung der Kraft sich

Abb. 2.3 Verschiedene Methoden von Crashtests. Von oben nach unten: Tests mitganzen Fahrzeugen (auch Full-scale Tests genannt, z.B. Überschlag, Frontal-,Seitenanprall), Schlittenversuche, und Impaktor-Tests (verschiedeneAnprallkörper wie sie z.B. bei der Prüfung der Fahrzeugfront zumFussgängerschutz verwendet werden).

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44 Methoden der Trauma-Biomechanik

schliessender Aufzugtüren oder der Prüfung der Reissfestigkeit vonFeuerwehr-Netzen.

In Full-scale Tests prallt ein Fahrzeug gegen ein Hindernis oder einanderes Fahrzeug oder es wird mittels beweglichem Stosskörper (z.B. demin Seitenaufpralltests verwendeten Stosswagen) beaufschlagt. Crashtest-Dummys verkörpern Fahrzeuginsassen im zu untersuchenden Fahrzeug. Eswerden die Kinematik sowie die mechanische Belastung der Dummyswährend dem Anprall gemessen. Solche Versuche haben den Vorteil, dassdurch die Verwendung eines realen Fahrzeugs dessen Eigenschaften (z.B.die Verformungscharakteristik) korrekt berücksichtigt werden. Diesefahrzeugspezifischen Eigenschaften beeinflussen dieFahrzeugbeschleunigung und damit auch die Belastung der Insassen.Zusätzlich zu Aspekten der Fahrzeugsicherheit geben Full-scale Testsbeispielsweise auch Auskunft über die nach einer Kollision zu erwartendenReparaturkosten. Daher werden solche Tests auch von Versicherungendurchgeführt und die Ergebnisse bei der Festlegung derVersicherungsprämien berücksichtigt. Des Weiteren dienen Full-scale Testsauch nicht-biomechanischen Zielsetzungen, wie zum Beispiel der Prüfungder Integrität des Tanksystems.

Während in Full-scale Tests das Zusammenwirken vonRückhaltesystemen und Deformationseigenschaften untersucht wird,werden Schlittenversuche primär zur isolierten Prüfung vonRückhaltesystemen oder Fahrzeugkomponenten (z.B. Sitzen) durchgeführt.Zu diesem Zweck werden Teile des Fahrzeugs bzw. die entsprechendenKomponenten auf einem Schlitten montiert. Der Schlitten wirdanschliessend ohne wesentliche Beschädigung des Versuchsaufbauskontrolliert beschleunigt bzw. abgebremst. Somit können der Schlitten undder Aufbau mehrfach verwendet werden, wodurch die Kosten für denVersuch deutlich reduziert werden. Nachteile des Testsverfahrens sind u.a.die Beschränkung auf eine unidirektionale Belastung des Schlittens sowiedie Tatsache, dass der Beschleunigungspuls des Schlittens bzw. des durchden Schlitten dargestellten Fahrzeugs vorher angenommen oder bestimmtwerden muss (z.B. in einem Full-scale Test oder durchComputersimulation).

Komponententests stellen die dritte Kategorie von Testverfahren dar.Durch sie können einzelne Fahrzeugteile quasi-statisch wie auchdynamisch untersucht werden. In quasi-statischen Versuchen wirdbeispielsweise die Festigkeit der Angriffspunkte der Sicherheitsgurte an derKarosserie geprüft. Des Weiteren können durch die Verwendung vonPrüfkörpern wie der “free motion head form” (FMH), die Nachgiebigkeit

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Standardisierte Testverfahren 45

und die Energie absorbierenden Eigenschaften vonFahrzeuginnenraumstrukturen beurteilt werden. Die FMH ist ein Körper,dessen Grösse und Masse einem Kopf ähnlich sind und der mittelsgeeigneter Vorrichtung unter verschiedenen Winkeln auf die zuuntersuchende Komponente geschossen wird. Fussgängersicherheit kanndurch das Beaufschlagen einer Fahrzeugfront mit anderen Dummyteilen(z.B. Modellen des oberen/unteren Beins, Erwachsenen/Kinder-Kopfform)beurteilt werden. Dazu werden die Verformungseigenschaften derFahrzeugfront ausgewertet. Komponententests bieten grundsätzlich denVorteil, dass der Anprallpunkt, z.B. der Auftreffpunkt einer Kopfform aufder Motorhaube, millimetergenau festgelegt werden kann. Zudem sind dieTests kostengünstig.

2.6 Standardisierte Testverfahren

Neue Fahrzeugmodelle müssen zahlreiche Anforderungen zumInsassenschutz erfüllen, um die Zulassung zum Markt zu erhalten. DieseAnforderungen und Prüfungen können sich regional erheblichunterscheiden. Die wichtigsten regionalen Prüfstandards sind dabeidiejenigen der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union.

In Europa werden die entsprechenden Vorschriften durch die UNEconomic Commission for Europe (ECE) festgelegt. ECE R94 beschreibtbeispielsweise die Testvorschrift zur Sicherheit bei Frontalkollisionen,während in ECE R95 Seitenkollisionstests definiert sind. DieseBestimmungen sind in EC Direktiven verankert. Direktive 96/27/ECbezieht sich beispielsweise auf ECE R95 und 96/79/EC beinhaltet ECER94. Der Einfachheit halber verwenden wir in den folgenden Kapiteln dieveralteten, aber immer noch am häufigsten gebräuchlichen BezeichnungenECE Rxx. In den USA ist der “Federal Motor Vehicle Safety Standards”(FMVSS) Teil des Federal Register 49 CFR part 571. Da die meistenAutomobilhersteller ihre Fahrzeuge weltweit verkaufen wollen, stellen dieunterschiedlichen Anforderungen in den verschiedenen Regionen einbeträchtliches Problem dar. Die internationale Harmonisierung vonTestvorschriften sowie die internationale Anerkennung vonVersuchsergebnissen aus zertifizierten Testzentren bzw. Laboren sind daherwichtige Aspekte des Welthandels. Dementsprechend wurden zahlreichebilaterale Handelsabkommen zwischen verschiedenen Ländern,Freihandelsinitiativen, sowie UN, US und EU Aktivitäten (“Cassis deDijon”-Prinzip) unternommen bzw. initiiert. Eine eigene Arbeitsgruppe der

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46 Methoden der Trauma-Biomechanik

UN/ECE (die Arbeitsgruppe UN/ECE/WP.29) wurde beauftragtharmonisierte Vorschriften, sogenannte GTR (Global TechnicalRegulations), zu entwickeln.

Hinsichtlich dem Crashverhalten von Flugzeugen wurden durch die U.S.Federal Aviation Administration einige Crashtest-Vorschriften als Teil derFAR (Federal Aviation Regulations) verankert. Diese sind grösstenteils mitden entsprechenden Teilen der europäischen JAR (Joint AviationAuthorities of Europe) identisch. Zusätzlich sind technische Geräte,Apparaturen, Sportgeräte usw. einer Unzahl von Vorschriften, Richtlinienund Empfehlungen unterworfen, die durch Regierungsstellen, Hersteller,Versicherungen, Sportverbände und Verbraucherorganisationen aufgestelltwurden. Je nach Land finden sich sehr unterschiedliche Richtlinien undAnwendungen, so dass eine allgemeine Übersicht kaum erstellt werdenkann. In Europa werden die meisten Sicherheitsanforderungen jedoch inVerbindung mit Produkthaftung geprüft und sind Bestandteil derProduktzertifizierung (CE Symbol).

Wie aus Tabellen 2.2 und 2.3 ersichtlich, sind sich die ECE und dieFMVSS Vorschriften sehr ähnlich und enthalten auch viele vergleichbareAnforderungen. Unterschiede bestehen hingegen in den vorgeschriebenenDummy-Typen, den Testbedingungen und den Auswertungen der Tests(Abb. 2.4). Zudem werden in manchen Fällen verschiedene Grenzwerte fürdie Insassenbelastung angewendet. Die Erfüllung der ECE- und FMVSS-Richtlinien wird häufig auch von anderen Ländern vorgeschrieben, so dassdiese Richtlinien als die weltweit bedeutendsten Sicherheitsvorschriftenangesehen werden können. Für eine vollständige und aktuelleBeschreibung der Richtlinien wird empfohlen, die jeweiligen Internetseitenzu konsultieren, da sich die Richtlinien nach dem Druck dieses Buchesgeändert haben könnten.

Tabellen 2.4 und 2.5 fassen die Vorschriften zum Insassenschutz gemässECE R94 und FMVSS 208 für Frontalkollisionen und gemäss ECE R95und FMVSS 214 für seitliche Anpralle zusammen. AusführlichereInformationen zu den in den Tabellen erwähnten Schutzkriterien findensich für jede Körperregion in Kapiteln 3 bis 8. Es ist anzumerken, dass esweder ECE- noch die FMVSS-Vorschriften gibt, die sich aufHeckkollisionen bei niedrigen Geschwindigkeiten bzw. bei geringem delta-v Wert beziehen, obwohl diese Kollisionen häufig vorkommen, häufig zuBeschwerden führen und daher eine erhebliche sozio-ökonomischeBedeutung haben. Um diese Lücke zu schliessen wurde durch die AGUZürich in Zusammenarbeit mit der Autoliv GmbH Deutschland, demGesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) und derUniversität Graz eine neue Testvorschrift entwickelt [Muser et al. 1999].

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Standardisierte Testverfahren 47

Tabelle 2.2 ECE Richtlinien (mehr Details unter http://www.unece.org). KRS: Kinderrückhaltesystem.

Richt-linie

Kollisions-typ

Anprall- geschwin-digkeit

Test-konditionen

Kommentare

R94 frontal 56 km/h 40% Überdeckung, verformbare Barriere

2 Hybrid III Dummys

R12 frontal 48..53 km/h starre Wand betrifft Verformung von Lenkrad/Lenk-säule

R33 frontal 48..53 km/h starre Wand betrifft Stabilität der Fahrgastzelle

R12 frontal 24 km/h Impaktortest Bestimmung der Kraft auf einen “body block”-Impaktor

R95 seitlich 50 km/h bewegliche Barriere, 90° Winkel

1 EuroSID als Fahrer

R32..34 heckwärts 35..38 km/h bewegliche, starre Barriere (1100 kg Masse)

Integrität des Tanksystems

R42 geringe Kollision

2.5, 4 km/h Pendel nur Funktionsprüfung

R44 KRS 50 km/h Schlittentest Verwendung verschiedener Dummys je nach KRS

R16 Sitze - statisch Lehnenmoment, Deformation

R17 Sitze - Schlittentest, 20 g

Sitzverankerung am Fahrzeugboden, Kopfstützen-geometrie

R14 Sicherheitsgurte

- statisch z.B. Verformung

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48 Methoden der Trauma-Biomechanik

Tabelle 2.3 FMVSS Richtlinien (mehr Details unter http://www.nhtsa.dot.gov). K.-typ: Kollisionstyp, KRS: Kinderrückhaltesystem.

Richtlinie K.-typ Anprall-geschwindigkeit

Testkonditionen Kommentare

571.208(letzte Version Phase 2)

frontal 25 mph 100% Überdeckung, 0 -30° starre Barriere

2 nicht angegurtete Hybrid III Dummys (50% Mann)

35 mph 100% Überdeckung, 0° starre Barriere

2 angegurtete Hybrid III Dummys (50% Mann)

25 mph 100% Überdeckung, 0° starre Barriere (max. 5° schräg)

2 nicht angegurtete Hybrid III Dummys (5% Frau)

35 mph 100% Überdeckung, 0° starre Barriere (max. 5° schräg)

2 angegurtete Hybrid III Dummys (5% Frau)

25 mph 40% Überdeckung, 0° deformierbare Barriere

2 angegurtete Hybrid III Dummys (5% Frau)

- verschiedene Konfigurationen, Auslösen von Airbags

verschiedene Dummys in OOP Situationen (“out of position”)

571.204 frontal 30 mph 100% Überdeckung, starre Barriere

Lenksäule, rückwärts Verschiebung

571.212 frontal 30 mph 100% Überdeckung, starre Barriere

betrifft die Befestigung der Frontscheibe

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Standardisierte Testverfahren 49

Tabelle 2.3 Fortsetzung FMVSS Richtlinien.

Richtlinie K.-typ Anprall-geschwindigkeit

Testkonditionen Kommentare

571.203 frontal 15 mph Impaktortest Bestimmung der Kraft auf einen “body block”-Impaktor

571.214 seitlich 33.5 mph bewegliche, deformierbare Barriere, schräger Anprall

2 SID Dummys

571.301+303

Heck-kollision, frontal, seitlich

30 mph bewegliche, starre Barriere (Masse:1800 kg)

Integrität des Tanksystems

581 geringe Kollision

2.5 mph (rear), 5 mph (front)

Pendel/Barriere nur Funktions-prüfung

571.213 KRS 30 mph Schlitten Verwendung verschiedener Dummys je nach KRS

571.210 Sitze - statische Tests z.B. Verformung

571.209 Sicher-heitsgurte

- statische Tests z.B. Verformung

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50 Methoden der Trauma-Biomechanik

Tabelle 2.4 Grenzwerte für Frontalkollisionen.

FMVSS 208 ECE R94

Dummys Hybrid III 50% Mann, 5% Frau 2 Hybrid III 50% Mann

Kopf HIC 15 < 700 HPC < 1000

a3ms< 80 g

HWS (Hals)

Nij <= 1.0, {-4.17kN < Fz < 4.0kN} (Hybrid III 50% Mann) {-2.62 kN < Fz < 2.52 kN} (Hybrid III 5% Frau)

Mext<57 Nm

Thorax a3ms <= 60 g, Verformung < = 63 mm (Hybrid III 50% Mann)/Verformung <= 52 mm (Hybrid III 5% Frau)

Verformung < 50 mm

VC < 1.0

Femur Axialkraft < 10 kN darf einen vorgegebenen Korridor nicht überschreiten

Knie Verformung < 15 mm

Tibia Axialkraft < 8 kN

TI < =1.3

Abb. 2.4 ECE (links) und FMVSS (rechts) schreiben bei Seitenkollisionenverschiedene Testbedingungen vor.

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Standardisierte Testverfahren 51

Eine modifizierte Version dieser Vorschrift wurde im ISO Standard ISO/TC22/SC10 verankert.

Ergänzend zu den Crashtests, die durch Gesetzgeber vorgeschriebenwerden, werden auch durch Verbraucherorganisationen Tests durchgeführt.Da die gesetzlich vorgeschriebenen Tests nur Mindestanforderungen an dieSicherheit von neuen Fahrzeugen stellen und da die Ergebnisse diesergesetzlichen Tests nicht zwangsläufig veröffentlicht werden, möchtenVerbraucherorganisationen durch eigene Tests die Fahrzeughersteller dazuanhalten, höhere Standards als nur die Mindestanforderungen zu erfüllenund die Testergebnisse der Öffentlichkeit zugänglich machen. Dadurchsollen die Verbraucher zuverlässige und vergleichbare Informationen zumCrashverhalten einzelner Fahrzeugmodelle erhalten.

In Europa wurde die Insassenbelastung in solchen Konsumententestsschon mittels Dummys bestimmt, lange vor diese auch Einzug in diegesetzlichen Richtlinien hielten. So wurde der Öffentlichkeit dieWichtigkeit der passiven Sicherheit veranschaulicht. Darüber hinauszeichnen sich Verbrauchertests durch ein Bewertungssystem aus, durchwelches die Verbraucher die Möglichkeit erhalten sollen, das Insassen-Schutzpotential verschiedener Fahrzeugtypen zu vergleichen. SolcheBewertungssysteme beinhalten oftmals Dummy-Symbole mit farblichgekennzeichneten Körperregionen von grün (d.h. geringe Belastung) bis rotund Stern-Symbole, wobei die Anzahl der erreichten Sterne mit der Anzahlder im Test erhaltenen Bewertungspunkte korreliert. Dabei könnenBewertungspunkte jedoch nicht nur durch Crashtests, sondern auch durchzusätzliche Sicherheitselemente zur Prävention oder Fahrassistenzsysteme

Tabelle 2.5 Grenzwerte für Seitenkollisionen.

FMVSS 214 ECE R95

Dummys ES-2, SIDIIs 1 EuroSID

Kopf HIC 36 < 1000 (beide Dummy-Typen)

HPC < 1000

Thorax A max < 82 g (beide Dummy-Typen) d max < 42 mm (ES-2)

VC < 1.0

Abdomen F < 2.5 kN (ES-2) Innere Kraft < 2.5 kN

Becken F < 5.1 kN (SIDIIs) / F < 6 kN (ES-2)

Kraft Schambeinfuge < 6 kN

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Tabelle 2.6 Testbedingungen, die beim EuroNCAP [http://www.euroncap.com] angewendet werden. Anmerkung: der Anprall erfolgt immer auf der Fahrerseite, d.h. die nachfolgenden Abbildungen zeigen ein rechtsgelenktes Fahrzeug.

Anprall Testbedingung

Frontal-kollision

64 km/h, deformierbare Barriere, 40% Überdeckung zudemSchlittentests zwecks Analyse Knie-Anprall, falls notwendig

2 Hybrid III auf Fahrer- und Beifahrersitz, TNO P1/2 und P3 Dummy in KRS auf Rücksitzen

Seiten-kollision

50 km/h, Stosswagen mit deformierbarer Front

ES-2 auf Fahrersitz, TNO P1/2 and P3 Dummys in KRS auf Rücksitzen

Pfahlan-prall (Kopf-schutz)

29 km/h, Fahrzeug wird seitlich auf Pfahl geschoben

ES-2 auf Fahrersitz

Heckkol-lision (HWS-Schutz

3 Schlittentests mit Fahrersitz, leichter, mittlerer und starker Crashpuls

BioRID auf Fahrersitz

Fuss-gänger-anprall

40 km/h oder variable Impaktor-Geschwindigkeit, verschiedene Anpralle auf FrontstrukturImpaktoren für oberes Bein, Bein, Kopf eines Erwachsenen und eines Kindes

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Standardisierte Testverfahren 53

erhalten werden (ein akustisches Warnsignal bei nicht-angegurtetenInsassen oder ein elektronisches Stabilitätsprogramm (ESP) könnenbeispielsweise die abschliessende Bewertung im EuroNCAP-Testprogramm positiv beeinflussen).

Die wichtigsten Konsumententests sind heute die sogenannten “New CarAssessment Programmes” (NCAP). NCAP-Test werden in Europa(EuroNCAP), Australien, Japan und den USA durchgeführt. DieVersuchsbedingungen und die Auswertung bzw. die Rangsystemeunterscheiden sich jedoch zwischen verschiedenen NCAP-Tests. Tabelle2.6 listet die Tests des EuroNCAP auf. Es sei darauf hingewiesen, dass inden USA und Australien, NCAP-Tests durch staatliche Stellen bereitsdurchgeführt wurden, lange bevor Organisationen wie der EuroNCAP mitdem Testen begonnen haben. Es sei zudem darauf hingewiesen, dass dieBewertungen und die Ranglisten der Verbrauchertests nicht zwangsläufigdas biomechanisch relevante Crashverhalten eines Fahrzeugs in seinerAbsolutheit widerspiegeln, sondern mehr im Sinne eines Vergleichsverschiedener Fahrzeuge, die unter gleichen Bedingungen getestet wurden,zu verstehen sind.

Grenzwerte oder Rangsysteme werden üblicherweise derart gewählt,dass beispielsweise ein gewisser Prozentsatz der Fahrzeuge einer Testreiheals “gut” und ein anderer Teil als “schlecht” bewertet wird, selbst wenn —rein hypothetisch — alle Fahrzeuge dieser Testreihe aus biomechanischerSicht alle unterkritische Ergebnisse aufwiesen.

2.6.1 Crashtest-Dummys

Standardisierte Testverfahren verlangen die Verwendung klar vorgegebenerund validierter Prüfkörper. Ein Crashtest-Dummy (auchanthropomorphische Testpuppe oder “anthropomorphic test device” (ATD)genannt) ist ein mechanisches Modell des menschlichen Körpers, das inCrashtests verwendet wird. Mit Hilfe solcher Dummys können auchmechanische Belastungen gemessen werden, die beim lebenden Menschenzu Verletzungen führen würden. Daher besteht der Dummy aus Stahl oderAluminium (z.B. Skelett), Polymerwerkstoffen (Gelenkflächen, Haut) undSchaumstoffen (Fleisch) und ist mit verschiedenen Sensoren ausgestattet,mit denen Beschleunigungen, Kräfte und Verformungen gemessen werdenkönnen. Derzeit sind verschiedene Typen von Crashtest-Dummysverfügbar, die jeweils für bestimmte Belastungsszenarien bzw.Kollisionstypen entwickelt wurden.

Im Automobilbau werden Dummys in Tests zur Homologation

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(Zulassungsprüfung) neuer Fahrzeuge sowie in Tests zur Insassensicherheiteingesetzt. Auch in der Luftfahrt werden Dummys — wenngleich ingeringerem Ausmass — zu ähnlichen Zwecken verwendet. Historischgesehen wurden die ersten Dummys für die Aviatik entwickelt, umFallschirme und Schleudersitze zu testen.

Von Prüfkörpern im Allgemeinen und insbesondere von solchen, die inoffiziellen Richtlinien verankert sind, wird erwartet, dass sie einigeVoraussetzungen erfüllen: • Anthropometrie und Biofidelität. Ein Dummy soll einerseits den

Menschen bezüglich Körpergrösse, Masse, Masseverteilung,Trägheitsmomenten und (sitzender) Körperhaltung abbilden undandererseits unter Belastung ein dem Menschen ähnlichesbiomechanisches Verhalten aufweisen. Der 50-perzentile erwachseneMann, dessen anthropomorphische Daten in den 1960er Jahren aus derUS Population gewonnen wurden (Körpergrösse (stehend): 1.75 m,Gewicht: 78.2 kg), ist der in der Autoindustrie am häufigstenverwendete Dummy. Andere verfügbare Dummy-Typen sind die 5-perzentile Frau (1.51 m, 49.1 kg) und der 95-perzentile Mann (1.87 m,101.2 kg). Zudem sind Dummys vorhanden, die ein 3, 6 bzw. 10 Jahrealtes Kind darstellen. Die Biofidelität wird auf Basis von Leichen- undFreiwilligenstudien beurteilt.

• Instrumentierung. Der Crashtest-Dummy muss die notwendigeSensitivität und Möglichkeiten aufweisen, um Parameter, die in Bezugauf Verletzungen oder Verletzungsmechanismen relevant sind, messenzu können.

• Wiederholbarkeit und Beständigkeit. Es ist zu berücksichtigen, dass einDummy auch in der Lage sein muss Belastungen zu ertragen bzw.Daten aufzunehmen, die oberhalb der bekanntenVerletzungsgrenzwerten liegen, d.h. der Dummy soll durch denVersuch nicht (oder zumindest nur selten) beschädigt werden.

Wiederholbarkeit (d.h. die Wiederholung eines Tests mit dem gleichenDummy) und Reproduzierbarkeit (d.h. ein Vergleich von Messergebnissen,die unter den selben Testbedingungen, aber mit verschiedenen Dummys(vom gleichen Typ), gewonnen wurden) erfordern eine regelmässigeKalibrierung des Dummys. Zudem spielen praktische Aspekte einewichtige Rolle bei der Entwicklung eines Dummys. Einerseits sollen sierobust genug sein, um auch hohen Belastungen zu widerstehen, andererseitssollen sie leicht zu handhaben sein (bei einer Masse von bis zu 101kg!) unddie Körper- bzw. Sitzposition soll leicht einzustellen sein. Derzeit sind über 20 verschiedene Dummytypen verfügbar, von denenjedoch nicht alle in gesetzlichen Richtlinien verankert sind.Tabelle 2.7 gibt

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Standardisierte Testverfahren 55

einen Überblick über die vorhandenenATDs.

Die Familie der Hybrid III Dummysbesteht aus einem 3-, 6- und 10-Jährigen,einer kleinen Frau (5-perzentil), einemmittelgrossen Mann (50-perzentil) undeinem grossen Mann (95-perzentil). DieseDummys wurden alle für Tests vonFrontalkollisionen entwickelt.

Der Hybrid III Dummy des 50-perzentilen Mannes (Abb. 2.5) wird amhäufigsten für die Evaluation vonFahrzeug-Rückhaltesystemen beiFrontalkollisionen verwendet. DerDummy ist im US Federal Motor VehicleSafety Standards (FMVSS) sowie in deneuropäischen Direktiven verankert. DerSchädel und die Schädelkappe des HybridIII 50-perzentil Dummys besteht ausAluminiumgussteilen, die mit einerabnehmbaren Vinyl-Haut überzogen sind.Der Hals wird durch eine segmentierteGummi- und Aluminium-Konstruktion mit

Tabelle 2.7 Verschiedene Dummys und ihre Anwendungsbereiche.

Anwendung Dummy (ATD)

Frontalanprall Hybrid III Familie, THOR

Seitenanprall EuroSID, EuroSID2, SID, SID-HIII, SID IIs, BioSID, WorldSID

Heckanprall BioRID, RID2

Fussgänger POLAR

Kinder P0, P3/4, P3, P6, P10, Q-dummies, CRABI

Sicherheitsgurt TNO-10

Impaktor Kopfform, Hüft-/Bein-Impaktoren für Fussgänger-Anprall

Abb. 2.5 50%ile Hybrid IIIDummy [Denton ATD Inc.].

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56 Methoden der Trauma-Biomechanik

zentral geführtem Kabel dargestellt. Er kann so die Rotation bzw. dasdynamische Flexions-/Extensionsmoment des menschlichen Halses untergrossser Belastung akurat abbilden.

Der Brustkorb wird durch sechs hochfeste Stahlrippen geformt. Diesesind mit Dämpfungselementen aus Polymerwerkstoffen ausgestattet, umdie Kraft-Verformungs-Eigenschaft der menschlichen Brustkorbs zusimulieren. Jede Rippen-Einheit stellt dabei in einem Bauteil mehrereanatomisch rechtsseitig und linksseitig liegende Rippen dar. Die Rippen-Einheiten sind im Bereich des Brustbeins geöffnet, im hinteren Teil sind siemit der Brustwirbelsäule verbunden. Ein Brustbein, das Platz für einPotentiometer zur Messung der Brusteindrückung bietet, wird mit derVorderseite der Rippen verbunden. Der Winkel zwischen Hals und oberemTorso ergibt sich aus der Konstruktion des entsprechenden Lagers, in dasein sechs-achsiger Transducer (die sogenannte “lower neck loadcell”)integriert werden kann. Ein zweiteiliges Schlüsselbein aus Aluminiumweist ein integriertes Guss-Schulterblatt auf, welches hinsichtlich derFührung und Interaktion mit dem Schulterteil des Sicherheitsgurtes wichtigist. Ein gebogener Gummi-Zylinder repräsentiert die gekrümmteLendenwirbelsäule eines Sitzenden und stellt die Verbindung zum Beckendar. Hier kann eine axiale Kraftmessdose eingebaut werden. Das Beckenbesteht aus einem Aluminiumguss, der mit einem Schaumstoff und einerHaut aus Vinyl überzogen wurde. Der Oberschenkel schliesst über einKugelgelenk an das Becken an. Mittels entsprechender Anschläge wird dieCharakteristik des Moments/der Drehung des Oberschenkels relativ zurHüfte nachgebildet. Oberschenkel,Schienbein und Knöchel könnengeeignet instrumentiert werden, umdas Risiko von Knochenbrüchen zubeurteilen. Das Knie hingegen wurdegestaltet, um Verletzungen der Bänder(Ligamente) zwischen Oberschenkelund Schienbein untersuchen zukönnen. Fuss und Knöchel desDummys können Druck auf die Ferseübertragen und denBewegungsumfang des Knöchelsdarstellen.

Vor einigen Jahren wurde einweiterer Dummy fürFrontalkollisionen entwickelt. Er wirdTHOR (Test device for Human

Abb. 2.6 THOR Dummy[Gesac Inc.].

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Standardisierte Testverfahren 57

Occupant Restraint) (Abb. 2.6) genannt und basiert ebenfalls auf derAnthropometrie des 50-perzentilen Mannes. Im Vergleich zum Design desHybrid III wurden alle Bauteile mit Ausnahme der Arme überarbeitet bzw.verbessert; die Arme sind mit denjenigen des Hybrid III identisch. DasGesicht des THOR ist beispielsweise mit einachsigen Kraftsensorenausgestattet, um die Wahrscheinlichkeit von Frakturen desGesichtsschädels beurteilen zu können. Des Weiteren wurden dieBiofidelität und die Geometrie des Brustkorbs durch Verwendung vonelliptischen Rippen verbessert. Zudem wurde die Instrumentierungdahingehend verbessert, dass nun an vier Messpunkten die drei-dimensionale dynamische Kompression des Brustkorbs bestimmt werdenkann. Ein neues Abdomen wurde entwickelt, um die Eindringung desBeckengurtes sowie eine etwaige Kompression des oberen Abdomensdurch einen Airbag messen zu können. Durch Veränderungen der Hüfte undder Beine wurden weitere Möglichkeiten zum Einbau von Mess-Sensorengeschaffen. Zusätzlich wurde das Sprunggelenk in einer dem Menschenähnlicheren Weise gestaltet.

Der erste Dummy für Seitenkollisionen (side impact dummy, SID) wurdein den späten 1970er Jahren an der University of Michigan entwickelt. DerSID basiert auf dem Vorgänger des Hybrid III (dem Hybrid II). Der Thoraxwurde überarbeitet, auf Arme und Schultern wurde beim SID verzichtet.Der SID entspricht ebenfalls dem 50-perzentilen Mann und wird in dengesetzlich vorgeschriebenen Seitenaufpralltests (FMVSS 214) in den USAeingesetzt. Die Bestimmungen des Verletzungsrisikos von Kopf, Brust undHüften stehen beim SID im Vordergrund. Um die Biofidelität des Hals-Kopf-Übergangs zu verbessern, steht ein SID, der mit dem Kopf und demHals des Hybrid III ausgerüstet ist, zur Verfügung (SID-HIII genannt).Dieser kommt in Versuchen zur Überprüfung von Seitenanprall-Kopfairbags zum Einsatz. Seit dem Jahr 2000 ist ferner ein SID II, d.h. einSeitenkollisions-Dummy, der eine 5-perzentile Frau repräsentiert,erhältlich.

Die europäische Seitenaufprall-Richtlinie (ECE R95) schreibt dieVerwendung des Euro-SID1 Dummys, des europäischen Seitenaufprall-Dummys, vor. Auch in australischen und japanischen Vorschriften ist derEuro-SID1verankert. Eine aktualisierte Version des Dummys, ES-2genannt, wird heute auch im Rahmen von Tests zur Homologation vonFahrzeugen akzeptiert. Der ursprüngliche, 1989 fertiggestellte Euro-SIDstellt einen 50-perzentilen erwachsenen Mann dar. Im Prinzip besteht derEuro-SID aus einem Skelett aus Metall und Kunststoff, das mit einem dasFleisch simulierenden Material, überzogen wird. Die Sitzhöhe des Dummysbeträgt 0,904 m, die Masse 72 kg. Abbildung 2.7 zeigt den Dummy, der

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keine Unterarme aufweist. Kopf und Beine stammen vom Hybrid III, derThorax wurde eigens entwickelt, um seitliche Anpralle untersuchen zukönnen. Drei getrennte, identische, mit Schaumstoff überzogene Rippensind über ein System aus Kolben/Zylinder, Feder und einem Dämpfer (Abb.2.7) mit dem starren, aus Stahl gefertigten Wirbelsäulen-Segmentverbunden. Eine spezielle Schulterkonstruktion ermöglicht es, die Arme inrealistischer Weise zu bewegen, so dass die Rippen einem direkten Anprallausgesetzt sein können. Das Becken wurde so konstruiert, dass die auf dieSchambeinfuge wirkende Kraft gemäss ECE R95 gemessen werden kann.Der Dummy kann sowohl für seitliche Anpralle von links, wie auch vonrechts verwendet werden.

Eine weitere Entwicklung im Bereich der Seitenaufprall Dummys ist derBiofidelic Side Impact Test Dummy (BioSID), der die derzeitigen im US-Standard verwendeten SIDs verbessern soll. Obwohl der BioSID bereitsseit 1990 verfügbar ist, wurde er bisher noch nicht in die FMVSS 214integriert. Der BioSID ist mit mehr Sensoren ausgestattet als der SID/Hybrid III und weist eine grössere Biofidelität auf, die es erlaubt dasVerletzungspotential von Thorax, Abdomen und Becken sowie dieEindrückung der Rippen und weitere die Kompression berücksichtigendeVerletzungskriterien zu messen. Durch Drehung des Oberkörpers um 180°kann der Dummy für Anpralle von rechts bzw. links konfiguriert werden.

Um der Globalisierung der Automobilindustrie Rechnung zu tragenwurde unter dem Dach der International Standardisation Organisation(ISO) durch ein internationales Konsortium ein harmonisierter

Abb. 2.7 Euro-SID und eines seiner Feder-Dämpfer-Elemente, die als Rippen/Brustkorb verwendet werden [Denton ATD Inc.].

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Standardisierte Testverfahren 59

Seitenaufprall-Dummy, World-SID genannt, entwickelt (Abb. 2.8). Eswurde ein mittelgrosser (50-perzentiler) männlicher Dummy vorgestellt,der die Bewertung des Verletzungsrisikos eines Fahrzeugsinsassen im Falleeiner Seitenkollision verbessert. Nebst einer verbesserten Biofidelität [z.B.Damm et al. 2006], soll der World-SID grundsätzlich zu einer weltweitenHarmonisierung der entsprechenden Vorschriften zur Fahrzeugsicherheitführen und wird daher wahrscheinlich zukünftig in eine Global TechnicalRegulation (GTR) integriert werden. Erste World-SIDs bzw. entsprechendePrototypen wurden weltweit in verschiedenen Testzentren evaluiert; imMärz 2004 wurde die Produktion des World-SID lanciert.

Da sich die derzeitigen Sicherheitsvorschriften ausschliesslich aufFrontal- und Seitenkollisionen beschränken, standen bisher entsprechendeDummys im Vordergrund. Die Entwicklung anderer Dummys odervergleichbarer Prüfkörper war sekundär, da Crashtests zu anderenUnfallszenarien — allen voran Heckkollisionen — nicht vorgeschriebensind. Da sich nun jedoch auch Beschwerden bzw. Verletzungen ausHeckkollisionen, insbesondere solche, die die Halswirbelsäule betreffen (s.Kap. 4), als erhebliche Problematik herausgestellt haben, wurde dieEntwicklung weiterer Dummys, die sich für solche Lastfälle eigenen,notwendig.

Derzeit sind zwei verschiedene Dummys für Heckanpralle erhältlich, derBioRID und der RID2. Beide Dummys, die ebenfalls je einen 50-perzilenMann repräsentieren, wurden in Europa entwickelt und zielen insbesondereauf die Bewertung des Verletzungsrisikos von Halswirbelsäulen-beschwerden (auch “Schleudertrauma” genannt) nach Heckkollisionen mitniedriger kollisionsbedingter Geschwindigkeitsänderung (delta-v) ab. DasKernstück des “biofidelic rear-end dummy” (BioRID) ist seine aus 24Segmenten bestehende Wirbelsäule, durch die alle Drehpunkte der

Abb. 2.8 World-SID [ISO World SID Task Group].

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menschlichen Wirbelsäule nachgebildet werden. Dank einer solchenUmsetzung kann quasi eine natürliche Bewegung der Wirbelsäulebeobachtet werden (Abb. 2.9). Der “rear impact dummy” (RID2) wiederumbasiert auf dem THOR Dummy für Frontalkollisionen, wobei jedochverschiedene Modifikationen erfolgt sind. Hinsichtlich der Analyse vonHalswirbelsäulenverletzungen ist dabei insbesondere das geänderte Designder Wirbelsäule relevant. Der Hals besteht aus sieben Aluminium-Scheiben, die durch Anschläge aus Gummi von einander getrennt sind .Auch die Brust- und Lebenwirbelabschnitte wurden flexibel gestaltet. DerRID2 wurde, wie auch der BioRID, ausschliesslich für Heckkollisionen miteiner Bewegung der Wirbelsäule in sagittaler Ebene (d.h. reine Rückwärts-Vorwärts-Bewegung) entwickelt. Mittlerweile wurde ein verbesserter Halsfür den RID2 vorgestellt, der es ebenfalls erlaubt schräge Heckkollisionenund sogar leichte Frontalkollisionen zu analysieren (der modifizierteDummy heisst dann RID3D). Wenngleich die Dummys die Möglichkeitbieten, die Kopf-Hals-Kinematik besser zu untersuchen, bringt die erhöhteFlexibilität der Wirbelsäule jedoch auch Schwierigkeiten in derHandhabung mit sich. Die Positionierung des Dummys auf einemFahrzeugsitz gestaltet sich beispielsweise viel schwieriger als bei einemHybrid III.

Ergänzend zu den oben beschriebenen Dummys existieren verschiedenespezielle Prüfkörper, die im Allgemeinen nur für jeweils einen speziellenZweck verwendet werden: • Der TNO-10 Dummy eignet sich, um Fahrzeugsicherheitsgurte in

einem einer Frontalkollision entsprechenden Lastfall zu prüfen. Der

Abb. 2.9 Der BioRID weist eine segmentierte Wirbelsäule auf [Denton ATDInc].

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Standardisierte Testverfahren 61

Dummy repräsentiert hinsichtlich Grösse und Masse (-verteilung)einen 50-perzentilen männlichen Erwachsenen. Auf Unterarme wurdejedoch verzichtet und statt zweier Beine wurden diese zu einer Bein-Struktur kombiniert.

• Der “Child Restraint Air Bag Interaction” Dummy (CRABI) wirdverwendet, um die Auswirkung der Auslösung eines Airbags auf ein ineinem auf den Frontsitz montierten Kinderrückhaltesystem sitzendenKind zu untersuchen. Es gibt drei verschiedene Grössen des CRABI,diese repräsentieren ein 6 Monate, ein 12 Monate und ein 18 Monatealtes Kind. Ferner gibt es Kinderdummys aus der Hybrid III Familie,die Q-Dummys sowie Dummys P0 (Neugeborenes) und P3/4 (9Monate altes Kind).

• Der POLAR Dummy (aktuelle Version: POLAR II) wurde entwickelt,um die Bewegung eines Fussgängers im Falle einer Fahrzeug-Fussgänger-Kollision besser abbilden zu können. Mit Hilfe desPOLARs (175cm gross, 74kg schwer) sollen mögliche Verletzungeneines Fussgängers genauer untersucht werden.

• Es werden Prüfkörper verwendet, die nur aus Teilen eines Dummysbestehen. Die Kopfform “free motion head form” (FMH) stellt einenmenschlichen Kopf dar. Wird die Form auf eine entsprechendeBeschleunigungsanlage montiert, können z.B. Innenraumstruktureneines Fahrzeugs mit der Kopfform beschossen werden. So wird einKopfanprall an diesen Strukturen simuliert. In manchenSicherheitsvorschriften (z.B. FMVSS 201) werden solche Versuchevorgeschrieben. Um das Verhalten der Fahrzeugfront im Falle einesFussgängeranpralls zu prüfen, werden andere Impaktoren verwendet.Diese Impaktoren stellen den Kopf eines Erwachsenen, den Kopf einesKindes, einen Oberschenkel und einen Unterschenkel dar und kommenbeispielsweise in EC Direktiven und dem EuroNCAP Testverfahren(New Car Assessment Programme) zur Anwendung.

• Zur Prüfung der Verformungseigenschaften der Lenksäule (z.B. gemässECE R12) wird ein Dummy bestehend aus einem einen 50-perzentilenOberkörper repräsentierenden Block (“50th percentile torso-shapedbody block”) verwendet. Teile der ECE R12 wurden durch andereVerordnungen wie der ECE R94 überflüssig und sind daher in Europanicht mehr vorgeschrieben.

Hinsichtlich der Interpretation der aus Dummy-Versuchen gewonnenenMessresultate besteht die Schwierigkeit, dass diese wegen der Vielzahl anDummy-Konstruktionen, die teilweise für gleiche Testszenarien entwickeltwurden, nur bedingt vergleichbar sind. Um Vergleiche der Ergebnisse zuermöglichen, müsste man diese auf geeignete Weise skalieren können. In

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diesem Zusammenhang wurden die Injury Assessment Reference Values(IRAV) erarbeitet [Mertz et al. 2003]. Die IRAV sind dummy-spezifischund können daher skaliert und mit Werten anderer Dummys verglichenwerden.

2.7 Numerische Simulationen

Dank kontinuierlicher Weiterentwicklungen der Computertechnologiesowie numerischer Methoden, wurden mathematische Modelle immerdetaillierter und wirkungsvoller. Heute sind Computersimulationen einwichtiges Werkzeug der Trauma-Biomechanik und werden in quasi allenBereichen, von der Auslegung des Crashverhaltens eines Fahrzeugs überUnfallrekonstruktionen bis zu Menschmodellen, zur Untersuchung desbiomechanischen Verhaltens und möglicher Verletzungsmechanismeneingesetzt.

Mehrkörpermodelle (“multi body systems”, MBS), die auf derStarrkörperdynamik aufbauen (Gleichungen 2.1, 2.2), und Finite Elemente(FE) Modelle, die auf speziellen Formulierungen der Kontinuumsmechanikbasieren (Gleichungen 2.3, 2.4), sind die beiden am häufigsten verwendetenMethoden. Mehrkörpermodelle approximieren komplexe Strukturen, wiebeispielsweise ein menschliches Organ oder ein Fahrzeug durch einzelnestarre Körper, die durch masselose Elemente wie Federn oder Dämpfermiteinander verbunden sind (siehe z.B. Lobdell Thoraxmodell, Kap. 5).Ausserdem sind Grundprinzipen der Mechanik wie das Erstarrungsprinzipund das Kontinuitätsprinzip von St. Venant zu beachten.Mehrkörpermodelle bzw. Teile solcher Modelle können auch durch FE-Modelle erstellt werden. Zudem können Mehrkörpermodelle auch flexibleStrukturen enthalten.

In Mehrkörpermodellen werden die verschiedenen Elemente durchkinematische Gelenke verbunden. Durch diese Gelenke werdenRelativbewegungen zweier benachbarter Körper eingeschränkt und dieFreiheitsgrade des Systems entsprechend reduziert. Es stehen verschiedeneArten von Gelenken zur Modellbildung zur Verfügung, z.B. translatorischeGelenke, Dreh- und Kugelgelenke, von denen jedes durch eine bestimmteAnzahl an Freiheitsgraden charakterisiert ist. Zusätzlich könnenkinematische Randbedingungen integriert werden (z.B. Feder-/Dämpferelemente). Die Starrkörper selbst werden nur durch ihreTrägheitseigenschaften sowie die Angriffpunkte etwaiger Gelenkedefiniert. Zur Modellierung von Kontakten (z.B. Kontakt zwischen Kopf

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Numerische Simulationen 63

und Frontscheibe) sowie zur Visualisierung können den Starrkörperngeometrische Formen zugeordnet werden. Zur Modellierung des Menschenoder von Dummys werden diesbezüglich oftmals Ellipsoide verwendet,aber auch andere Formen wie Ebenen und Zylinder können verwendetwerden.

Das MBS System wird durch externe Belastungen wie einemBeschleunigungsfeld oder einer Kraft beaufschlagt, so dass das Verhaltendes Systems als Antwort auf diese Belastung analysiert werden kann. DieStärke dieser MBS Modelle liegt insbesondere in der Modellierung vonGanzkörperbewegungen. Mittels Approximation des menschlichen Körpersdurch gelenkig miteinander verknüpfte Starrkörper und der Zuordnungentsprechender Trägheit und Masse je Starrkörper, kann die Bewegung desganzen Menschen während einer Belastung simuliert werden. Erste solcheModelle wurden bereits in den 1970er Jahren vorgestellt. Heute ist eineVielzahl gut validierter Modelle verfügbar. Insbesondere Dummys eignensich gut, um als MBS modelliert zu werden, da die geometrischen undmechanischen Eigenschaften (Trägheit, Masse, Gelenkcharakteristiken) dereinzelnen Dummy-Komponenten eindeutig definiert sind. Abbildung 2.10zeigt ein Modell des BioRID als MBS. Dieses Beispiel wurde mit derSoftware MADYMO [TNO 2001] erstellt, welche im Bereich derFahrzeugsicherheit wahrscheinlich die am häufigsten verwendete Softwarefür MBS Modelle ist.

Die Finite Element (FE) Methode, die ursprünglich auf Galerkin'sTheorem zurückgeht, reduziert ein Kontiuum auf ein diskretes numerischesModell aus einzelnen Elementen (z.B. Dreiecke, Vierecke, Hexaedern,

Abb. 2.10 Mehrkörpermodell des sitzenden BioRIDs [nach Schmitt et al. 2004].

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64 Methoden der Trauma-Biomechanik

Balken). Jedes Element wird durch eine bestimmte Anzahl an Knotendefiniert, wobei nebeneinander liegende Elemente gemeinsame Knotenhaben können. Es entsteht ein FE-Netz, in dem die Elemente miteinanderverknüpft sind. Die Freiheitsgrade des gesamten FE Modells werden durchdie Anzahl der Knoten begrenzt. Abhängig von den gewähltenRandbedingungen und der Geometrie des FE-Netzes ergibt sich derFreiheitsgrad des Gesamtmodells. Eine ausführliche Beschreibung der FE-Methode findet sich beispielsweise in Bathe (2007) oder Zienkiewicz(1994). Es ist jedoch zu beachten, dass die Art der in der Trauma-Biomechanik zu lösenden Aufgabenstellungen (z.B. nicht-linearesMaterialverhalten, grosse Verformungen in kurzen Zeitintervallen)spezielle Ansätze zur Lösung der FE-Modelle benötigt. FE-Programme, diein der Trauma-Biomechanik verwendet werden (z.B. PAM-CRASH [ESI2001], LS-DYNA [Livermore 1999], or Radioss [Mecalog 2000]) basierenauf expliziten Formulierungen zur Integration der Zeitschritte. DieseFormulierungen gehen auf differentielle Bewegungsgleichungen derKnoten zurück und nicht auf Formulierungen des Gleichgewichts derTrägheits-, Feld- und Kontaktkräfte (implizite Formulierung). Ein solcherexpliziter Ansatz erfordert weniger Rechenkapazität und lässt sich zurBerechnung einfacher vektorisieren bzw. parallelisieren. Dafür muss derKontrolle der numerischen Stabilität mehr Aufmerksamkeit beschenktwerden, als dies bei impliziten Formulierungen notwendig ist.

Die FE Methode ermöglicht eine detaillierte Analyse der Auswirkungeneines Anpralls sowohl in Bezug auf ein Fahrzeug wie auch auf denMenschen (Abb. 2.11). Beispielsweise ist es durch FE Modelle möglich,die während einer Kollision auftretende Spannungsverteilung im Gehirn zuuntersuchen. Solche Forschungsergebnisse tragen erheblich zumVerständnis diffuser Hirnverletzungen bei (s. Kap. 3), insbesondere da sichsolche Untersuchungen experimentell quasi nicht bewerkstelligen lassen.Ferner können z.B. in einem Crashtest an einem Dummy-Kopf gemesseneBelastungen als Randbedingung für eine Simulation mit einem Modell desKopfes verwendet werden und dadurch Erkenntnisse über die komplexenMechanismen zur Entstehung von Hirnverletzungen gewonnen werden.Auch hinsichtlich anderer komplexer biomechanischer Phänomene wiedem Einfluss der Muskelaktivität oder der Interaktion zwischen sichverformendem Gewebe und den im Gewebe befindlichen Flüssigkeitenkönnen mittels FE-Modellen analysiert werden [z.B. Schmitt et al. 2002].

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass im Bereich der Trauma-Biomechanik je nach Fragestellung MBS- sowie FE-Modelle zurAnwendung kommen, wobei die jeweiligen Vor- und Nachteile dereinzelnen Methoden zu berücksichtigen sind. FE-Modelle eignen sich für

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Numerische Simulationen 65

Untersuchungen komplexer Geometrien und können dieWechselwirkungen verschiedener Körper (über entsprechendeKontaktdefinitionen) detailliert berücksichtigen. Ferner können lokaleVerformungen und Spannungsverteilungen analysiert werden, wasinsbesondere bei Crash-Simulationen wichtig ist. Zudem kann die FE-Methode durch detaillierte Modellierung einzelner Körperregionen zurAnalyse von Verletzungsmechanismen verwendet werden. Allerdings ist zuberücksichtigen, dass eine detailgetreue Modellierung einer komplexenGeometrie zu einer enormen Anzahl von Elementen führt und die zulösenden Gleichungssysteme somit eine grosse Anzahl an Variablenaufweisen. Nicht-lineare Eigenschaften der im Modell verwendetenMaterialien oder grosse Deformationen können erheblicheComputerresourcen zum Lösen der Modelle erfordern und stellen damiteine Einschränkung der Methode dar. Parallel arbeitende Computer(Vektorrechner) können diesen Engpass mindern. Heutzutage sind grosseComputersysteme in der Lage, FE Modelle mit Millionen vonFreiheitsgraden zu berechnen, wobei die Rechenzeiten bis zu einigen Tagenbetragen können.

Im Gegensatz dazu zeichnet sich der MBS Ansatz durch die Möglichkeitaus, komplexe kinematische Modelle effizient zu lösen. Die benötigtenRechenzeiten sind in der Regel wesentlich kleiner als bei FE-Berechnungen, da nur eine vergleichsweise geringe Anzahl angewöhnlichen Differentialgleichungen bearbeitet werden muss. Daher

Abb. 2.11 FE Modelle des Menschen: detailliertes Kopf-Hals-Modell (links) [nachSchmitt et al. 2002] und das Menschmodell THUMS (rechts) [nach Iwamoto et al.2002].

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66 Methoden der Trauma-Biomechanik

werden Mehrkörpermodelle häufig in der Entwicklung eingesetzt, da siesich für Optimierungsaufgaben mit vielen Design-Parametern gut eignen.

Bezüglich der Modellierung des Menschen besteht für beide Methodenein grundlegendes Problem. Die Wahl geeigneter Parameter zurBeschreibung des Materialverhaltens lebenden Gewebes ist nur möglich,wenn entsprechende experimentelle Daten zum (zeitabhängigen)Verformungsverhalten vorhanden sind. Solche Daten sind jedoch nureingeschränkt verfügbar. Zudem sind verfügbare Daten oftmals mit grossenUnsicherheiten behaftet, sei es wegen der generellen biologischenVariabilität oder wegen Einschränkungen, die im zugrunde liegendenExperiment gemacht wurden (bzw. gemacht werden mussten). Zudem istdie Validierung von Menschmodellen, vor allem wenn sie unterverschiedenen Belastungssituationen verwendet werden sollen, einentscheidender, aber schwierig durchzuführender Schritt.

In nahezu allen Entwicklungsbereichen zur Fahrzeugsicherheit bzw. zurUntersuchung von Verletzungen und der Entwicklung geeigneterSchutzmassnahmen werden heute numerische Modelle — sowohl FE- wieauch MBS-Modelle — eingesetzt. Je nach Fragestellung ist die am bestengeeignete Methode auszuwählen oder es ist eine Kombination beiderMethoden in Betracht zu ziehen. Solche integralen Ansätze (auch Hybrid-Modelle genannt) werden beispielsweise bei der Simulation derWechselwirkung zwischen Fahrzeuginsassen und sich aufblasendemAirbag verwendet. Während der Airbag als FE-Modell gestaltet wird, wird

Abb. 2.12 Beispiel eines Hybrid-Modells. In ein MBS eines Skifahrers wurde dasFE-Modell eines Knies integriert, so dass eine detaillierte Analyse der Belastungender Kreuzbänder möglich wurde [PD Dr. K.-U. Schmitt].

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Zusammenfassung 67

der Mensch durch ein Mehrkörpermodell approximiert. Es finden sich vieleBeispiele, in denen MBS-Ansätze verwendet werden, um die grobeBewegung zu modellieren, während FE-Modelle zur Darstellung einzelnerTeilaspekte integriert werden (Abb. 2.12).

Trotz der weiten Verbreitung und der stetig steigenden Anwendung vonSimulationen sowie dem Potential solcher Simulationen, die Anzahl (unddamit die Kosten) für Crashtests zu reduzieren, sind sie derzeit nicht inallgemeine Standards der Fahrzeugsicherheit integriert worden. Teilsweisekann dies mit dem Fehlen allgemeiner Richtlinien für die Durchführungvon Simulationen und insbesondere zur Qualitätskontrolle vonSimulationen erklärt werden. Solche (Qualitäts-) Standards werden zwarvon verschiedenen Organisationen und Forschungsgruppen entwickelt, eineentsprechende Festlegung wäre jedoch notwendig, um Simulationen alsTeil von (gesetzlichen) Vorschriften zu verankern. Die Komplexität derModelle (sowie diverse Aspekte der Geheimhaltung der insbesondere vonFahrzeugherstellern in den Modellen verwendeten Daten) machen es fürexterne Prüfer äusserst schwierig, die Ergebnisse solcher Simulationennachzuvollziehen bzw. zu validieren. Ergebnisse aus Crashtests sind in denmeisten Fällen hingegen offensichtlich.

2.8 Zusammenfassung

Statistiken und Datenbanken sind Werkzeuge um das realeUnfallgeschehen und dabei auftretende Verletzungen zu beobachten. Sieerlauben es zudem gewisse Trends zu erkennen, beispielsweise imZusammenhang mit neuen Fahrzeugen oder der Verwendung vonSchutzausrüstung im Sport. Bezüglich Strassenverkehrsunfällen sindSTAIRS und GIDAS wichtige europäische Datenbanken, in den USA sindinsbesondere NASS und FARS relevant. Das in der Trauma-Biomechanikbedeutendste System zur Klassifizierung von Verletzungen ist dieAbbreviated Injury Scale (AIS). Risikofunktionen stellen einenZusammenhang zwischen bestimmten Parametern (z.B. zur Unfallschwereoder einer mechanischen Belastung) und dem Risiko, eine Verletzung zuerleiden, her. Unfallrekonstruktionen dienen der Ermittlung des Ablaufseines Unfalls und der entsprechenden, technischen Parameter, die dasEreignis beschreiben wie beispielsweise die kollisionsbedingteGeschwindigkeitsänderung (delta-v). Die Bestimmung der darausresultierenden biomechanischen Belastung einer involvierten Person istjedoch erheblich komplexer.

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Um dieses biomechanische Verhalten zu eruieren werdenLeichenversuche, Tiermodelle oder — sofern verantwortbar —Freiwilligen-Versuche durchgeführt. Die so erhaltenen Daten erlauben es,das Verletzungsrisiko zu untersuchen und sind zudem wichtiger Input fürdie Entwicklung und Validierung von Crashtest-Dummys undComputermodellen. Relativ einfache Mehrkörpermodelle, komplexe FiniteElemente Modelle oder Kombinationen dieser Methoden werdenbeispielsweise bei der Entwicklung von Sicherheitsmassnahmen oderFahrzeugstrukturen immer wichtiger.

Full-scale Crashtests, Schlittentests und Impaktor-Tests sind in derTrauma-Biomechanik verbreitete experimentelle Methoden. Full-scaleTests sind zwar teuer, erfordern dafür weniger Vereinfachungen bzw.Annahmen zur Testdurchführung. Schlitten- und Impaktortests hingegeneignen sich wegen geringerer Kosten gut für Studien mitParametervariationen. Es stehen verschiedene Dummys zur Verfügung,wobei ein Dummy üblicherweise für einen speziellen Belastungsfallentwickelt wurde. Die Durchführung und Auswertung standardisierterTests ist in Vorschriften wie ECE und FMVSS oder in vonVerbraucherorganisationen initiierten Richtlinien (z.B. EuroNCAP)verankert.

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3 Kopfverletzungen

Erhebliche Fortschritte in der Erforschung der zu Kopfverletzungenführenden Verletzungsmechanismen sowie die Einführung verschiedenerMassnahmen zur Prävention von Kopfverletzungen haben zu einerReduktion der Häufigkeit und der Verletzungsschwere geführt.Nichtsdestotrotz führen in Unfällen erlittene Kopfverletzungen weiterhinoft zu bleibenden körperlichen Schäden oder gar zum Tod.

Einer kurzen Zusammenfassung der hier relevanten anatomischenStrukturen des Kopfes folgt eine Beschreibung und Klassifikationmöglicher Kopfverletzungen und der entsprechendenVerletzungsmechanismen. Anschliessend werden das biomechanischeVerhalten des Kopfes, das in verschiedenen Experimenten untersuchtwurde, sowie daraus abgeleitete Verletzungskriterien, mit deren Hilfe dieBelastungen des Kopfes in Crashtests quantifiziert werden, diskutiert.

Spezielle Aspekte von Kopfverletzungen im Sport werden in einemeigenen Kapitel besprochen. Abschliessend werden grundlegendePrinzipien zur Prävention von Kopfverletzungen vorgestellt.Sicherheitsgurte und Airbags können Kopfverletzungen durch dasVermeiden eines Kopfanpralls verhindern. Helme oder deformierbareStrukturen im Fahrzeuginnenraum bzw. an äusseren Fahrzeugstrukturenkönnen die Folgen eines Kopfanpralls durch Verteilung der Anprallkraft aufeine grössere Fläche und durch Energieabsorption mildern.

3.1 Anatomie des Kopfes

Der menschliche Kopf kann durch einen mehrschichtigen Aufbaubeschrieben werden: die äussere Kopfschwarte, der Schädel, die Hirnhäuteund schliesslich das Gehirn im Inneren.

K.-U. Schmitt et al., Trauma Biomechanik, DOI 10.1007/978-3-642-11596-7_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

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72 Kopfverletzungen

Abb. 3.1 Anatomie des Kopfes: knöcherne Strukturen des Schädels (oben), dieHirnhäute (Mitte) und das Gehirn (unten) [nach Sobotta 1997].

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Anatomie des Kopfes 73

Die Kopfschwarte ist zwischen 5 mm und 7 mm dick; sie besteht aus derwiederum mehrschichtig aufgebauten Haut, dem subkutanen Gewebeunterhalb der Haut sowie Muskeln und Faszien. Die Kopfschwarte kann ingewissem Umfang als Ganzes relativ zum Schädel bewegt werden.Unterhalb der Schwarte befinden sich eine Schicht aus lockeremBindegewebe sowie das Periost (eine fibröse Membran; auch Knochenhautgenannt), das den knöchernen Schädel umgibt.

Der Schädel eines Erwachsenen besteht aus mehreren Knochen, die miteinander verwachsen sind. Es sind die entsprechenden “Nähte”, an denendie Knochen zusammengewachsen sind, sichtbar (Abb. 3.1). DerUnterkiefer ist als einziger Gesichtsknochen durch je ein Gelenk auf beidenKopfseiten mit dem Schädel verbunden. Die Dicke und Ausformung derSchädelknochen kann bei verschiedenen Personen deutlich variieren.

Die innere Oberfläche des Schädeldaches ist konkav, wobei eineirregulär geformte Knochenplatte die Basis bildet. Diese Schädelbasisenthält mehrere Öffnungen unterschiedlicher Grösse, durch die Arterien,Venen und Nerven verlaufen. Zudem weist sie eine grössere Öffnung(foramen magnum, Hinterhauptsloch) auf, durch welches das Rückenmarkverläuft.

Drei sogenannte Hirnhäute umgeben das Rückenmark und das Gehirnund grenzen diese Strukturen vom umgebenen Knochen ab (Abb. 3.1): dieharte Hirnhaut (dura mater), die Spinnwebshaut (arachnoidea) und dieweiche Hirnhaut (pia mater). Während die harte Hirnhaut eine feste, fibröseMembran darstellt, ist die Spinnwebshaut entsprechend ihrem Namennetzartig aufgebaut. Beide Hirnhäute werden durch einen kleinen Bereich,den sogenannten subduralen Raum von einander getrennt. In analogerWeise trennt der subarachnoidale Raum die Spinnwebs- von der weichenHirnhaut. Die weiche Hirnhaut bedeckt die unregelmässige, gewundeneOberfläche des Gehirns.

Cerebrospinale Flüssigkeit (auch Liquor genannt) findet sich imArachnoidalraum sowie in den Hohlräume des Gehirns (Hirnventrikel).Somit kann diese Flüssigkeit das Gehirn (sowie das Rückenmark, das sieebenfalls umgibt) vor den mechanischen Erschütterungen schützen. Da diecerebrospinale Flüssigkeit einer kontinuierlichen Fliessbewegung unterliegtund das Gehirn von allen Seiten umspült, wirkt sie als Puffer bzw. Dämpfer.

Das Gehirn sowie der Schädel werden durch verschiedene Blutgefässeversorgt. Teilweise durchdringen diese Blutgefässe die Hirnhäute. Diesogenannten Brückenvenen gehen beispielsweise über den Subduralraumhinweg, sie können daher im Falle einer Relativbewegung zwischen Gehirnund Schädel verletzt werden (s. Kap. 3.2.).

Im Schädelinneren befindet sich das Gehirn, das gemeinsam mit dem

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74 Kopfverletzungen

Rückenmark als zentrale Nervensystem (ZNS) bezeichnet wird. Sowohlhinsichtlich Struktur wie auch in Bezug auf die Funktionen können fünfBereiche unterschieden werden: Grosshirn (cerebrum), Kleinhirn(cerebellum), Mittelhirn (mesencephalon), Varols-Brücke (pons) und dasverlängerte Rückenmark (medulla oblongata) (Abb. 3.1).

3.2 Verletzungen und Verletzungsmechanismen

Die schwerwiegendsten Kopfverletzungen sind solche, die den Schädel unddas Gehirn einschliesslich der Hirnhäute betreffen. Abbildung 3.2 gibteinen schematischen Überblick über mögliche Kopfverletzungen.Prinzipiell werden Schädel-Hirn-Traumen als “offen” oder “geschlossen”charakterisiert, wobei die Unterscheidung davon abhängt, ob die harteHirnhaut verletzt wurde (“offen”) oder nicht (“geschlossen”).Weichteilverletzungen des Schädels oder des Gesichts sind häufig.Meistens handelt es sich dabei um Kontusionen (Prellungen/Quetschungen)oder Lazerationen (Risse), die als leichte Verletzungen klassifiziert werdenund eher im Hintergrund stehen. Ebenso werden Verletzungen des Gesichts,beispielsweise von Auge oder Ohr, als leichte Verletzungen betrachtet unddaher mehrheitlich als AIS1 oder AIS2 Verletzungen klassifiziert. Auf eineDiskussion dieser leichten Verletzungen wird verzichtet.

Schwerwiegende Kopfverletzungen können durch Frakturen entstehen.Frakturen des Gesichtsschädels schliessen Frakturen des Nasenbeins, demam häufigsten gebrochenen Schädelknochen, und des Oberkiefers ein.Letztere werden als schwere Verletzungen mit einer Codierung bis AIS3

Abb. 3.2 Mögliche Kopfverletzungen.

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Verletzungen und Verletzungsmechanismen 75

betrachtet. Abbildung 3.3 zeigt die gebräuchliche Einteilung vonOberkieferfrakturen nach LeFort. Beispiele für Kopfverletzungenverschiedener AIS-Grade sind in Tabelle 3.1 zusammengestellt.

Tabelle 3.1 AIS Klassifikation von Kopfverletzungen [AAAM 2005].

AIS Code Beschreibung/Beispiele

1 Haut/Schädel: Schürfung, oberflächlicher Riss/SchnittGesicht: Nasenbeinfraktur

2 Haut: grosser AusrissFraktur Schädeldach: einfach Unterkieferfraktur: offen, verschobenOberkieferfraktur: LeFort I und II

3 SchädelbasisfrakturOberkieferfraktur: LeFort IIIvollständiger Verlust der Kopfhauteinmalige Kleinhirn-Prellung

4 Fraktur Schädeldach: komplex, offen, mit Exposition oder Verlust von Hirngewebekleines epidurales oder subdurales Hämatom

5 grosse eindringende Verletzung (>2cm)Hirnstammkompressiongrosses epidurales oder subdurales Hämatomdiffuse axonale Verletzung (DAI)

6 massive Destruktion von Hirnschädel und Gehirn

Abb. 3.3 Einteilung von Frakturen des Gesichtsschädels nach LeFort [nach Vetter2000].

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76 Kopfverletzungen

Frakturen des Schädels werden in Schädelbasis-Frakturen undSchädeldach-Frakturen unterteilt, wobei man unter Frakturen desSchädeldachs alle nicht an der Schädelbasis erfolgten Brüchezusammenfasst. Es sei angemerkt, dass Schädelbasisfrakturen inkonventionellen Röntgenaufnahmen schlecht zu erkennen sein können, sodass die eindeutige Diagnose schwierig sein kann.

Verletzungen des Gehirns können klinisch in zwei grosse Gruppenunterteilt werden: diffuse und fokale Verletzungen. DiffuseHirnverletzungen schliessen ein breites Spektrum von milden Kontusionenbis diffusen Verletzungen der weissen Hirnsubstanz ein. Die häufigsteForm einer solchen Hirnverletzung ist die Gehirnerschütterung (vollständig

Abb. 3.4 Die Blutung in den Epiduralraum wirdepidurales Hämatom genannt und kannKontusionen des Gehirns zur Folge haben [nachVetter 2000].

Abb. 3.5 Mögliche Verletzungsmechanismen.

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Verletzungen und Verletzungsmechanismen 77

reversibel, kurzzeitige Bewusstseinsstörung). Vor allem im Sport wird eine milde traumatische Gehirnverletzung

(“mild traumatic brain injury”, MTBI) häufig diagnostiziert (s. Kap. 3.5).Eine schwerere Form der Gehirnerschütterung geht mit sofortigemBewusstseinsverlust einher. Die Folgen einer solchen Gehirnerschütterunghängen stark davon ab, ob zusätzliche Verletzungen des Gehirnsaufgetreten sind oder nicht [Melvin und Lighthall 2002]. Diffuse axonaleVerletzung (“diffuse axonal injury”, DAI) beschreibt eine Unterbrechungder Fortsätze (Axone) von Nervenzellen der Hirnhemisphäre und dersubkortikalen weissen Hirnsubstanz. Schwellungen können eine diffuseGehirnverletzung überlagern und dadurch die Auswirkung der primärenVerletzung durch einen ansteigenden Hirndruck verstärken.

Fokale Gehirnverletzungen beschreiben Läsionen mit räumlichbegrenzten Schädigungen. Beispiele sind Hämatome und Kontusionen,wobei Kontusionen die häufigsten Verletzungen nach einem Kopfanprallsind. Im Allgemeinen werden Kontusionen auf der Seite des Anpralls(Coup-Kontusion) und auf der der Anprallstelle gegenüberliegenden Seite(Contre-coup Kontusion) beobachtet. Dabei werden die Contre-coupKontusionen als bedeutsamer als die Coup-Kontusionen angesehen [Melvinund Lighthall 2002]. Hinsichtlich Hämatomen werden in Abhängigkeit derStelle der Einblutung drei verschiedene Typen unterschieden: epidurale,subdurale und intrazerebrale Hämatome. Epidurale Hämatome (Abb. 3.4)beschreiben eine Blutung zwischen Schädel und der harten Hirnhaut undkönnen nach einer Verletzung des Schädels und/oder der darunterverlaufenden Blutgefässe auftreten. Sie entstehen daher nicht infolge einerGehirnverletzung. Entsteht das Hämatom zwischen der harten und weichenHirnhaut, wird es subdurales Hämatom genannt. Ursachen subduralerHämatome können a) Lazerationen der kortikalen Venen und Arteriendurch penetrierende Verletzungen, b) durch grossflächige Kontusionenbedingte Blutungen in den Subduralraum oder c) Rupturen der (zwischender Gehirnoberfläche und dem duralen Sinus verlaufenden) Brückenvenensein. Die mit einem solchen Hämatom verbundene Sterberate liegt in denmeisten Studien über 30 % [Melvin und Lighthall 2002]. IntrazerebraleHämatome sind abgegrenzte Blutansammlungen innerhalb des Gehirns; siekönnen z.B. mittels computertomographischen Aufnahmen vonKontusionen unterschieden werden.

Die zu Kopfverletzungen führenden Mechanismen sind vielfältig.Grundsätzlich können Verletzungen durch statische oder dynamischeBelastungen entstehen (Abb. 3.5). Im hier diskutierten Zusammenhangwerden statische Belastungen üblicherweise als Belastungen definiert, dielänger als 200 ms auf den Körper einwirkten. Unter solch einer statischen

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78 Kopfverletzungen

Belastung verformt sich der Kopf, bis die maximale Deformation erreichtist. Dann treten Schädelfrakturen auf, oftmals mehrere. Bei Unfällen sindsolche statischen Belastungen jedoch selten, dynamische Belastungenmachen hier den überwiegenden Lastfall aus.

Es werden zwei Typen von dynamischen Belastungen unterschieden:solche mit und solche ohne Kopfanprall. Die Auswirkungen der beidenTypen sind unterschiedlich. Ein direkter Anprall des Kopfes an einenGegenstand (oder der Anprall eines Gegenstands an den Kopf) führt zueiner Verformung des Kopfes. Nachfolgend können eine direkte Fraktur (inder Regel bedingt durch Biegung und oftmals nahe der Anprallstelle) odereine indirekte Fraktur (Berstungsfraktur in Richtung des Vektors dereinwirkenden Kraft) auftreten.

Zudem können nach einer Verformung des Kopfes, selbst ohne Fraktur,lokale Gehirnverletzungen, wie epidurale Hämatome oder Kontusionensowie Verletzungen der Kopfhaut, beobachtet werden. Des Weiterenentstehen durch den Anprall Stosswellen, die sich in Schädel oder Gehirnausbreiten (Abb. 3.6). Die Wellenausbreitung im Gehirn kann zu einemDruckgradienten mit positivem Druck auf der Seite des Anpralls (coup)und negativem Druck auf der gegenüberliegenden Seite (contre-coup)führen. Ein solcher Mechanismus wird als Ursache für intrakranialeKompression vermutet, die zu fokalen Hirnverletzungen führen kann. Es istjedoch noch nicht völlig geklärt, ob die Verletzung durch den negativenDruck (Zugbelastung des Hirns, die z.B. zu Blutungen oder Rissen führt)oder durch Kavitationsphänomene entsteht [Viano 2001]. Ausserdem kannein Druckgradient eine Scherbeanspruchung der tiefen Gehirnstrukturenbegünstigen.

Ein Kopfanprall kann zudem zu einer Relativbewegung zwischen derGehirnoberfläche und der inneren Kontur der Schädeldecke führen.Oberflächliche Kontusionen des Gehirns und Rupturen der Brückenvenen,

Abb. 3.6 Verschiedene Verletzungsmechanismen nach Kopfanprall; Frakturenmüssen nicht zwangsläufig entstehen [nach Vetter 2000].

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Mechanisches Verhalten des Kopfes 79

die subdurale Hämatome verursachen, können die Folge sein. In Situationen ohne Kopfanprall wird der Kopf ausschliesslich durch

Trägheitskräfte beaufschlagt. Die Beschleunigung (oder Abbremsung) desKopfes resultiert in entsprechenden Trägheitskräften. Es kann sich dabeium translatorische und/oder rotatorische Beschleunigung handeln. Einetranslatorische Beschleunigung führt im Allgemeinen zu fokalenGehirnverletzungen, während eine Rotationsbeschleunigung auch diffuseGehirnverletzungen hervorrufen kann. Subdurale Hämatome als fokaleSchädelverletzung bilden eine Ausnahme, da durch eine Beschleunigungebenfalls eine Relativbewegung zwischen Gehirn und Schädel mitnachfolgender Ruptur von Brückenvenen induziert werden kann. Danatürlich auch bei einem Kopfanprall Beschleunigungen auftreten, sind dieoben beschriebenen Mechanismen in solchen Fällen ebenso relevant.

Kopfschmerzen können ferner durch Verletzungen der oberenHalswirbelsäule entstehen, d.h. Kopfschmerzen müssen nicht zwangsläufigauf eine “Kopfverletzung” (sei es mit oder ohne Kopfanprall) hindeuten.Daher ist eine umfassende Untersuchung des zugrunde liegendenSachverhalts, insbesondere hinsichtlich einer dynamischen Belastung derbetreffenden Person, notwendig, um eine voreilige Diagnose einerzerebralen Kontusion oder der milden traumatischen Gehirnverletzung(MTBI) zu verhindern.

3.3 Mechanisches Verhalten des Kopfes

Um die mechanischen Eigenschaften des Kopfes unter stossartigerBelastung zu untersuchen wurden Experimente mit Leichen durchgeführt.Das Verhalten des Kopfes bei einem Anprall wurde durch dieBeschleunigung und die Kraft beschrieben und hängt daher von denTrägheitseigenschaften des Kopfes und der Anprallfläche ab. Für einen 50-perzentilen Mann beträgt die durchschnittliche Masse des Kopfes 4.54 kg.Die durchschnittlichen Trägheitsmomente sind Ixx = 22.0x10-3 kgm2,Iyy = 24.2x10-3 kgm2, and Izz = 15.9x10-3 kgm2 [z.B. Beier et al. 1980].Hinsichtlich dem Kopf von Kindern sind nur sehr wenige Daten vorhanden[siehe z.B. Prange et al. 2004].

Die meisten der durchgeführten Leichen-Versuche sind Fall-Versuche, indenen die Leiche bzw. der Kopf auf eine starre, flache Oberfläche prallt.Tabelle 3.2 fasst die in verschiedenen Studien bestimmten, zu einer Frakturführenden Maximal-Kräfte zusammen. Des Weiteren wurden die bei einemKopfanprall auftretenden Beschleunigungen untersucht. Grundsätzlich

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80 Kopfverletzungen

treten bei der Messung der Beschleunigung am Kopf zwei Schwierigkeitenauf: erstens können die Beschleunigungssensoren nicht im Schwerpunktdes Kopfes angebracht werden und zweitens ist der Kopf kein Starrkörper.Daher wurden verschiedene Methoden, die Beschleunigung zu messen,vorgeschlagen [z.B. Padgaonka et al. 1975]. Zudem wird ebenfallsempfohlen, die Rotationsbeschleunigung des Kopfes zu messen, so dassdaraus dann die Beschleunigung im Schwerpunkt berechnet werden kann.Trotzdem bleiben einige Unsicherheiten bestehen, da die genaueSteifigkeitsverteilung des Kopfes im Allgemeinen nicht bekannt ist.

Ein Ergebnis der ausführlichen Leichenversuche zur Bestimmung derKopfbeschleunigung ist die Wayne State University Cerebral ConcussionTolerance Curve, kurz auch Wayne State Tolerance Curve (WSTC) genannt[Gurdjian et al. 1953, Lissner et al. 1960, Gurdjian et al. 1966].

Die WSTC beschreibt den Zusammenhang zwischen der Wirkungsdauerund einer durchschnittlichen, antero-posterior wirkenden translatorischenKopfbeschleunigung, die bei einem Kopfanprall zu einer Kopfverletzunggleicher Verletzungsschwere führt (Abb. 3.7). Durch klinischdokumentierte Fälle von Schädelfrakturen mit begleitenderGehirnerschütterung wurden Korrelationen zwischen denLeichenversuchen und Gehirnverletzungen gebildet. Tatsächlich hatten80 % dieser Fälle mit Gehirnerschütterung auch lineare Schädelfrakturen[Melvin und Lighthall 2002]. Gurdjian und Kollegen nahmen daher an,dass man durch Bestimmung der Toleranzwerte bezüglich Frakturen auchauf die Toleranzwerte für Gehirnverletzungen schliessen könne.

Bei Kombinationen aus Beschleunigungen und einer Wirkungsdauer desBeschleunigungspulses, die oberhalb der Kurve liegen, geht man davonaus, dass die Verletzungstoleranz überschritten wird, d.h. dass solche

Tabelle 3.2 Kräfte, die zu Schädelfrakturen führen können.

Anprallbereich Kraft [kN] Referenz

frontal 4.25.54.06.24.7

Nahum et al. 1968Hodgson et al. 1971Schneider und Nahum 1972Advani et al. 1975Allsop et al. 1988

lateral 3.62.05.2

Nahum et al. 1968Schneider und Nahum 1972Allsop et al. 1991

okzipital 12.5 Advani et al. 1982

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Mechanisches Verhalten des Kopfes 81

Belastungen schwere, irreversible Gehirnverletzungen verursachen können.Kombinationen, die unterhalb der Kurve liegen, überschreiten dieseGrenzwerte nicht, können aber zu reversiblen Verletzungen führen. Da dieursprüngliche WSTC nur ein Zeitfenster von 6 ms abdeckt, wurde dieKurve für Wirkdauern von mehr als 6 ms mit Daten aus Tierversuchen undExperimenten mit Freiwilligen ergänzt. Die Testbedingungen, die dermodifizierten Kurve zugrunde liegen, werden in Tabelle 3.3zusammengefasst. Wie aus der Kurve ersichtlich ist, kann der Kopf beikleinerer Wirkdauer grössere Beschleunigungen ertragen.

Tabelle 3.3 Grundlagen der WSTC.

Puls-dauer

Testobjekt Versuchs- art

Messungen Verletzungs-kriterium

2 - 6 ms Leichen Fall-versuche

Beschleunigung am Hinterkopf

Schädelfraktur

6-20 ms Leichen und Tiere

Anprall Beschleunigung des Schädels, Hirndruck

pathologische Veränderungen

> 20 ms Freiwillige Schlitten-versuche

Beschleunigung des ganzen Körpers ohne Kopfanprall

Gehirner-schütterung, Bewusstseins-status

Abb. 3.7 Die Wayne State Tolerance Curve (Beschleunigung vs. Wirkdauer desBeschleunigungspulses) [nach Krabbel 1997].

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82 Kopfverletzungen

Die WSTC wird durch Experimente aus Japan gestützt, diese führten zurDefinition der Japan Head Tolerance Curve (JHTC) [Ono et al. 1980]. DieJHTC gründet sich hauptsächlich auf Experimente mit Primaten und einerÜbertragung (Skalierung) der Ergebnisse auf den Menschen. DieUnterschiede zwischen WSTC und JHTC können für Zeitintervalle bis10 ms vernachlässigt werden und für grössere Einwirkdauern sind nurgeringe Abweichungen auszumachen.

Logarithmiert man die WSTC ergibt sich eine Gerade mit Steigung -2.5.Darauf aufbauend schlugen Gadd et al. (1961) das ersteVerletzungskriterium für den Kopf, den “Severity Index” (SI) vor. Inmodifizierter Form wird dieses Kriterium auch heute noch verwendet (s.Kap. 3.4.1).

Verwendet man die WSTC oder Kriterien, die davon abgeleitet wurden,so sind gewisse Einschränkungen, die sich aus den Testbedingungen der zurErstellung der Kurve durchgeführten Experimente ergeben, zuberücksichtigen. Die geringe Anzahl an Datenpunkten, die Position derBeschleunigungssensoren (am Hinterkopf), das Nicht-Messen derRotationsbeschleunigung und die Techniken, mit denen die Daten ausTierversuchen auf den Menschen übertragen wurden, sind Beispiele fürnicht unerhebliche Limitationen. Aus biomechanischer Sicht liegt dergrösste Kritikpunkt an der WSTC jedoch in der Annahme desZusammenhangs zwischen Schädelfrakturen und Gehirnverletzungen.Diese Hypothese bleibt zu bestätigen. Es fehlt der experimentelleNachweis, für einen Zusammenhang zwischen einer funktionellenGehirnschädigung und biomechanischen Parametern, die einenVersagensmechanismus des Gewebes beschreiben [Melvin und Lighthall2002].

Beachtet man, dass die WSTC auf direkten frontalen Kopfanprall-Testsberuht, können die Ergebnisse genau genommen nicht auf Situationen ohneKopfanprall bzw. Kopfanpralle aus anderen Richtungen angewendetwerden. Nichtsdestotrotz ist die WSTC nach wie vor die wichtigsteDatenquelle bezüglich dem Verhalten des Kopfes unter linearerBeschleunigung.

Andere experimentelle Studien haben den Einfluss derRotationsbeschleunigung, die zu diffusen Gehirnverletzungen undsubduralen Hämatomen führen kann, untersucht. Zusätzlich zu Versuchenan Freiwilligen und Leichen, wurden an Primaten Kopfdrehungenausgeführt und dabei die Rotationsbeschleunigung gemessen sowie dieresultierenden Verletzungen beurteilt [z.B. Ommaya et al. 1967, Hirsch etal. 1968, Gennarelli et al. 1972]. Es hat sich gezeigt, dass dieWinkelbeschleunigung und die damit verbundenen Verletzungstoleranzen

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Mechanisches Verhalten des Kopfes 83

von der Masse des Gehirns abhängen. Daher wurde die Belastungsgrenzefür den Menschen durch Extrapolation der Ergebnisse aus den Versuchenmit Primaten bestimmt (Abb. 3.8). Tabelle 3.4 gibt einen Überblick überhäufig verwendete Toleranzwerte. Zusätzliche Arbeiten mit Freiwilligendeuten jedoch darauf hin, dass bei kurzen Wirkungsdauern auch deutlichhöhere Toleranzwerte bis zu 25000 rad/s2 möglich sind [Tarriere 1987].

In diesem Abschnitt wurden verschiedene experimentelle Studienvorgestellt, die zum Ziel hatten, das Risiko von Kopfverletzungen auseinem speziellen Parameter, der translatorischen bzw. rotatorischenBeschleunigung, abzuleiten. Eine umfassende Beschreibung dieserVersuche findet sich beispielsweise in Goldsmith (2005). In derüberwältigenden Mehrheit von Kopfbelastungen ist zu erwarten, dasssowohl translatorische und rotatorische Beschleunigungen auftreten unddaher in ihrer Kombination zu Gehirnverletzungen führen.Dementsprechend muss eine umfassende Voraussage des Risikos vonKopfverletzungen die Reaktion des Gehirns unter allen möglichenKombinationen von mechanischen Belastungen berücksichtigen. DieEntwicklung komplexer mathematischer Modelle des Kopfes (z.B. mittelsder FE-Methode) zielt in diese Richtung. In Verbindung mitUntersuchungen zum biomechanischen Verhalten des lebenden Menschen,scheint es möglich, dass solche Modelle substantielle Beiträge zumheutigen Verständnis der Entstehung von Kopfverletzungen und denentsprechenden Verletzungstoleranzen leisten können.

Abb. 3.8 Aus Experimenten bestimmte Toleranzwerte bezüglichRotationsbeschleunigung, die dann auf den Menschen skaliert wurden [nachKrabbel 1997].

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84 Kopfverletzungen

3.4 Verletzungskriterien für Kopfverletzungen

Obwohl in der passiven Fahrzeugsicherheit auch in den letzten Jahren,beispielsweise im Bereich der Rückhaltesysteme, grosse Fortschritte erzieltwurden, um die Häufigkeit und Schwere von Kopfverletzungen zureduzieren, ist nach wie vor nur ein einziges Kopfverletzungskriterium weitverbreitet: das Head Injury Criterion (HIC), das vor über 30 Jahrenentwickelt wurde. Neben dem HIC und seinem europäischen Äquivalent,dem Head Protection Criterion (HPC), werden das sogenannte 3 ms-Kriterium und das “Generalised Acceleration Model for Brain InjuryThreshold” (GAMBIT) vorgestellt. All diese Kriterien basierenausschliesslich auf der Kopf-Beschleunigung. Verletzungen, die mehrdurch eine Anprallkraft als durch Beschleunigung entstehen, werden dahernicht durch diese Kriterien abgedeckt. In anderen Worten: diese Kriteriensind nicht geeignet, das Verletzungsrisiko in Bezug auf Frakturen der

Tabelle 3.4 Grenzwerte für Winkelbeschleunigungen und -geschwindigkeiten des Gehirns.

Grenzwert Art der Gehirnverletzung

Referenz

50% Wahrscheinlichkeit:

= 1800 rad/s2 für

= 30 rad/s für

Gehirnerschütterung Ommaya et al. (1967)

= 4500 rad/s2 und/oder

= 70 rad/s

Ruptur von Brückenvenen

Löwenhielm (1975)

2000 rad/s2 < < 3000 rad/s2 Scherung an der Gehirnoberfläche

Advani et al. (1982)

< 30 rad/s:

AIS 5: = 4500 rad/s2

> 30 rad/s:

AIS 2: = 1700 rad/s2

AIS 3: = 3000 rad/s2

AIS 4: = 3900 rad/s2

AIS 5: = 4500 rad/s2

(allgemein) Ommaya (1984)

α·· t 20ms>

α· t 20ms≤

α··

α·

α··

α·

α··

α·

α··

α··

α··

α··

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Verletzungskriterien für Kopfverletzungen 85

knöchernen Strukturen des Kopfes zu beurteilen. Der derzeit einzigeDummy, der in der Lage ist auf das Gesicht einwirkende Kräfte zu messen,ist der THOR Dummy (s. Kap. 2.6.1). In aktuellen Crashtest-Standards istdieser Dummy jedoch nicht vorgeschrieben.

Ansätze zur Definition verbesserter Kopfverletzungskriterienberücksichtigen die Änderung der kinetischen Energie, die der Kopf durchden Anprall erfährt (HIP, Newman et al. 2000), oder verwendenmathematische Modelle (z.B. FE-Modelle), um die erwartete Scherung desGehirns zu bestimmen und umgehen damit die Diskussion, ob nun dietranslatorische oder rotatorische Beschleunigung wichtiger sei [Willingerund Baumgartner 2001, Takhounts et al. 2003, 2008]. Allerdings erfordernsolche Kriterien umfangreiche Modellierungen und Berechnungen nachz.B. einem Crashtest.

3.4.1 Head Injury Criterion (HIC)

Das Kopfverletzungskriterium HIC basiert historisch gesehen auf derArbeit von Gadd (1961), der die Wayne State Tolerance Curve (WSTC) (s.Kap. 3.3) verwendet hat, um den sogenannten “Severity Index” (SI) zudefinieren. Versace (1971) schlug dann 1971 eine Version des HIC als Massfür eine durchschnittliche, mit der WSTC korrelierte Beschleunigung vor.Die aktuelle Version des HIC wurde schliesslich durch die US NationalHighway Traffic Safety Administration (NHTSA) vorgeschlagen und ist inFMVSS 208 verankert. Das HIC wird gemäss der folgenden Formelberechnet:

(3.1)

wobei t2 und t1 zwei beliebige Zeitpunkte während der Dauer derBeschleunigung sind. Die Beschleunigung wird als Vielfaches derErdbeschleunigung [g] und die Zeit in Sekunden gemessen. In obigerFormel wird die resultierende Beschleunigung eingesetzt. Gemäss FMVSS208 dürfen t2 und t1 nicht weiter als 36 ms auseinander liegen (daher HIC36genannt). Das Maximum des HIC36 darf für den 50-perzentilen Mann einenWert von 1000 nicht überschreiten. 1998 wurde durch die NHTSA zudemdas HIC15 eingeführt, d.h. das HIC wird für ein Zeitintervall von 15 msausgewertet [Kleinberger et al. 1998]. Als zugehöriger Grenzwert wurde

HIC max 1t2 t1–--------------- a t( ) td

t1

t2

∫2,5

t2 t1–( )=

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86 Kopfverletzungen

für den 50-perzentilen Mann ein Maximum von 700 vorgeschlagen. Um den Zusammenhang zwischen dem HIC und Verletzungen des

Schädels und des Gehirns zu bestimmen, wurden vorhandene Messdatenmittels statistischen Methoden ausgewertet (z.B. durch Kurvenanpassungen(Daten-Fit), Weibull Verteilungen, Maximum Likelihood Methode) [Hertz1993]. Am besten liessen sich die Daten mittels logarithmischerNormalverteilung anpassen (Abb. 3.9).

Die Wahrscheinlichkeit einer Schädelfraktur (AIS ≥ 2) wird durchfolgende Gleichung beschrieben:

(3.2)

wobei N( ) eine kumulative Normalverteilung mit, μ = 6.96352 and σ =0.84664, darstellt.

Da die Daten, die zur Bestimmung der Risikoanalyse verwendet wurden,aus Versuchen mit sehr kurzen Belastungen von typischerweise weniger als12 ms stammen, ist die HIC-Kurve sowohl für das HIC15, wie auch dasHIC36 anwendbar. Die Wahrscheinlichkeit einer Schädelfraktur (AIS ≥ 2),die mit einem HIC15 Grenzwert von 700 für einen 50-perzentilen Mannverbunden ist, beträgt 31 %. Für einen Grenzwert von 1000 für das HIC36(50-perzentiler Mann) liegt sie bei etwa 48 %.

Grundsätzlich gelten gegenüber dem HIC auch die Vorbehalte, diegegenüber der WSTC geäussert wurden (s. Kap. 3.3). Das Nicht-Berücksichtigen der Rotationsbeschleunigung wird vielfach kritisiert. Ein

p fracture( ) NHIC( ) μ–ln

σ----------------------------------⎝ ⎠⎛ ⎞=

Abb. 3.9 Zusammenhang zwischen HIC und der Wahrscheinlichkeit einerSchädelfraktur (AIS ≥ 2) (Risikofunktion) [nach Hertz (1993)].

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Verletzungskriterien für Kopfverletzungen 87

weiterer Nachteil ist das Fehlen einer Funktion, durch die derZusammenhang zwischen einer Verletzung des menschlichen Kopfes undder in einem Crashtest-Dummy gemessenen Beschleunigung beschriebenwird. Trotzallem ist das HIC das im Automobil-Bereich am häufigstenverwendete Kopfverletzungskriterium.

3.4.2 Head Protection Criterion (HPC)

Die Bestimmung des HPC Kriteriums wird durch die Regelungen ECE R94und R95 vorgeschrieben. Daher wird das HPC sowohl in frontalen wie inseitlichen Kollisionen zur Quantifizierung einer Kopfbelastung verwendet.Die Definition und die Berechnung des HPC sind identisch mit denjenigendes HIC36. Das dazugehörige maximale Zeitintervall beträgt entsprechend36 ms. Der Grenzwert für frontale und seitliche Beaufschlagung beträgt1000. In Fällen, in denen kein Kopfanprall auftritt, gilt das HPCunabhängig von den tatsächlich gemessenen Beschleunigungen als erfüllt.Sofern der Zeitpunkt des Kopfkontaktes zuverlässig bestimmt werdenkann, werden für t1 und t2 (s. Gleichung 3.1) diejenigen Zeitpunktegewählt, die das Intervall zwischen dem Beginn und Ende desKopfkontaktes definieren.

3.4.3 3 ms Kriterium (a3ms)

Das 3 ms Kriterium basiert ebenfalls auf der WSTC. Es ist alsBeschleunigung definiert, die für eine Dauer von 3 ms auf den Kopf wirktund sollte 80 g nicht überschreiten [Got et al. 1978]. Dieses Kriterium istauch in ECE R21 und R25, den Richtlinien, die sich auf den Anprall einesInsassen an Strukturen des Fahrzeuginnenraums bzw. den Anprall anRückhaltesysteme beziehen, verankert. Auch die entsprechende USVorschrift (FMVSS 201) wie auch die Richtlinie für FrontalanpralleFMVSS 208 erfordern die Einhaltung dieses Kriteriums.

Des Weiteren wird eine modifizierte Version des a3ms Kriteriums beiHelm-Tests verwendet. Hier wird ein Zeitintervall von 5 ms vorgegeben,während dem die Beschleunigung 150 g nicht überschreiten darf. Detailszum sogenannten a5ms Kriterium finden sich in ECE R22.

3.4.4 Generalized Acceleration Model for Brain Injury Threshold (GAMBIT)

Als ein die Translations- und Rotationsbeschleunigung verbindender

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88 Kopfverletzungen

Ansatz wurde das “Generalized Acceleration Model for Brain InjuryThreshold” (GAMBIT) vorgeschlagen [Newman, 1986]. Unter derAnnahme, dass eine kombinierte Belastung aus translatorischer undrotatorischer Beschleunigung Kopfverletzungen verursachen kann, wurdefolgende Beziehung vorgeschlagen:

(3.3)

a(t) und bezeichnen hierbei die translatorische bzw. rotatorischeBeschleunigung. ac und sind kritische Toleranzwerte für dieseBeschleunigungen und n, m und k sind Konstanten. Die Bestimmung derKonstanten erfolgt durch Anpassung an verfügbare experimentelle Datenmittels statistischen Methoden und Computersimulationen. Eine möglicheLösung nach Kramer (1998/2006) lautet

(3.4)

wobei a(t) und in [g] bzw. [krad/s2] eingesetzt werden. Abbildung3.10 zeigt Kurven von konstanten GAMBIT-Werten, die sich beiVerwendung von Gleichung 3.4 ergeben. Für die Kurve des GAMIT mit 1.0wurde die dazugehörige Wahrscheinlichkeit, eine irreversibleKopfverletzung zu erleiden, mit 50 % angegeben. Kopfbelastungen ohneKopfanprall resultierten in GAMBIT-Werten unter 0.62.

GAMBITa t( )ac

---------⎝ ⎠⎛ ⎞n ϕ·· t( )

ϕ·· c----------⎝ ⎠⎜ ⎟⎛ ⎞m

+

1k---

=

ϕ·· t( )ϕ·· c

GAMBITa t( )250---------⎝ ⎠⎛ ⎞

2,5 ϕ·· t( )25

----------⎝ ⎠⎛ ⎞

2,5+

12,5-------

=

ϕ·· t( )

Abb. 3.10 GAMBIT Kurven für verschiedene konstante GAMBIT-Werte [nachKramer 1998/2006].

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Kopfverletzungen im Sport 89

Nimmt man an, dass die translatorischen und rotatorischen Anteile derBeschleunigung in gleichem Masse zur Verletzungswahrscheinlichkeitbeitragen und nimmt man ferner an, dass die Toleranzwerte, die ausExperimenten mit reiner translatorischen Beschleunigung oder reinerWinkelbeschleunigung stammen, auch im Falle einer Kombination beiderAnteile gelten, dann kann Gleichung 3.3. folgendermassen vereinfachtwerden:

(3.5)

am [g] und [krad/s2] beschreiben dabei die mittlere Translations-bzw. die mittlere Rotationsbeschleunigung. Zudem werden 250 g alsmaximal ertragbare translatorische Beschleunigung und 10 krad/s2 alsGrenzwert für die Winkelbeschleunigung angenommen [Newman 1986].Ein GAMBIT-Wert von 1.0 entspricht dann der allgemeinenToleranzgrenze.

Die Validierung des GAMBIT ist auch heute noch ausstehend, so dassdieses Kriterium kaum verwendet wird und bisher auch in keine Richtlinieintegriert wurde.

3.5 Kopfverletzungen im Sport

Die Häufigkeit von Kopfverletzungen hängt stark von der Sportart ab. EineAuswertung unter den Mannschaftssportarten der Olympischen Spiele 2004zeigte, dass 24 % aller gemeldeten Verletzungen Kopfverletzungen waren[Junge et al. 2006]. Leichte Gehirnerschütterungen wurden am häufigstenerlitten (11 %) gefolgt von Lazerationen (4 %), Frakturen (2 %) undKontusionen (Prellungen) (2 %). Im Handball wurden 42 % derKopfverletzungen registriert, im Fussball 20 %, in Basketball und Hockeyje 13 %. Für andere Sportarten wurden Verletzungshäufigkeiten inähnlicher Grössenordnung berichtet: Skifahren/Snowboarden 3-15 % [z.B.Hunter 1999, Levy et al. 2002], Eishockey 4-18 % [McIntosh et al. 2005],Baseball 11 % für reine Kopfverletzungen (28 % für Gesichtsverletzungen)[Yen et al. 2000], Reitsport 19 %, Boxen 16 % für Gehirnerschütterungen[Zarzyn et al. 2003]. Die häufigste Ursache für Kopfverletzungen im Sportist ein direkter Kopfanprall (bzw. ein Anprall an den Helm), z.B. im Zugeeiner Kollision, dem Kontakt mit einem Gegenspieler oder einem Sturz.

Wenngleich Gehirnerschütterungen im Sport oftmals als leicht oder mildklassifiziert werden, sind sie jedoch vor allem im Profi-Sport einernsthaftes Problem. Wiederholt erlittene Gehirnerschütterungen können

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90 Kopfverletzungen

zur Degeneration von Hirngewebe führen. Daher ist sicherzustellen, dassSpieler, die nach erlittener (milder) Gehirnerschütterung wieder in denSport zurückkehren, vollständig genesen sind (s. auch Kap. 9).

Die milde traumatische Gehirnverletzung (“mild traumatic brain injury”MTBI) beschreibt einen komplexen patho-physiologischen Prozess nacheiner mechanischen Belastung des Gehirns. Die typische MTBI ist durchverschiedene klinische Symptome gekennzeichnet, wie diese üblicherweiseauch bei milden diffusen Gehirnverletzungen (Kap. 3.2) auftreten können.Diese Symptome, die auch kurzzeitige neurologische Beeinträchtigungenbeinhalten können, bilden sich in der Regel nach einigen Tagen zurück.Trotzdem ist die MTBI als eine Verletzung des Gehirns zu betrachten, dieeine entsprechende Behandlung und Überwachung benötigt. Dies gilt vorallem, da angenommen wird, dass wiederholte MTBIs zu chronischen,degenerativen Schädigungen des Gehirns führen können [z.B. Bailes undCantu 2001, Biasca et al. 2006a, b, Delaney et al. 2006]. Es wird daherempfohlen jede MTBI entsprechend zu dokumentieren.

In der Literatur finden sich verschiedene Studien, die Kopfbelastungenund mögliche Verletzungskriterien und -grenzwerte bezüglichGehirnerschütterungen bzw. MTBI untersucht haben. Die verwendetenMethoden zur Bestimmung der Kopfbelastung reichen von Videoanalysenüber die Verwendung von Crashtest-Dummys zu Messungen der Belastungmit Hilfe von instrumentierten Helmen und Computersimulationen. Tabelle3.5 fasst einige dieser Studien zusammen.

Wie man sieht variieren die Ergebnisse signifikant, was dieSchwierigkeit geeignete Verletzungsgrenzwerte zu definieren, verdeutlicht.Eine Toleranzgrenze von 200 g für translatorische Beschleunigung und4500 rad/s2 für Rotationsbeschleunigung wurde von Ommaya (1984, sieheauch Kap. 3.3) vorgeschlagen. Pellman et al. (2003) analysiertenKopfanpralle in der US National Football League NFL und schlugen alsGrenzwert für Gehirnerschütterungen einen HIC-Wert von 250 vor. King etal. (2003) assoziierten ein HIC von 235, eine lineare Beschleunigung von79 g und eine Winkelbeschleunigung 5757 rad/s2 mit einem 50 %igenRisiko eine MTBI zu erleiden. Ein HIC von 333, eine lineareBeschleunigung von 98 g und eine rotatorische Beschleunigung von7130 rad/s2 korrespondierten mit einem 75 %igen MTBI-Risiko. UnterVerwendung eines FE-Modells des Kopfes untersuchten Zhang et al. (2004)Verletzungstoleranzen des Gehirns. Die Interpretation der Ergebnisse lässtden Schluss zu, dass Scherbeanspruchungen im Bereich des Hirnstammsals Indikator für das Verletzungsrisiko bezüglich Gehirnerschütterungengeeignet sind. Eine Scherspannung von 7.8 kPa wurde als Toleranzwert fürein 50 %iges Risiko eine MTBI zu erleiden, bestimmt. Zudem zeigte das

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Kopfverletzungen im Sport 91

Modell, dass der intrakranielle Druck als allgemeiner Indikator fürKopfverletzungen dienen könnte. Dabei wurde der intrakranielle Druckstärker durch eine translatorische Beschleunigung beeinflusst, währendeine Scherbeanspruchung im Zentrum des Gehirns stärker mit einer

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92 Kopfverletzungen

Rotationsbeschleunigung zusammenhing. Zusammenfassend ist jedoch festzuhalten, dass die verschiedenen

Anstrengungen zur Definition eines Verletzungskriteriums fürGehirnerschütterungen derzeit noch nicht ganz schlüssig sind. Da

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Kopfverletzungen im Sport 93

Kopfanpralle unterschiedlicher Intensität und an unterschiedlichen Stellenzu Gehirnerschütterungen führen können und auch zusätzliche Faktoren,wie die Anzahl unterkritischer Belastungen oder die Anzahl frühererlittener Gehirnerschütterungen eine Rolle spielen können, erscheint esgrundsätzlich schwierig, allgemein gültige Verletzungsgrenzwerte zudefinieren. Zudem ist eine Kopplung von Kopf- undHalswirbelsäulenverletzungen zu berücksichtigen. Einerseits kann einKopfanprall auch ein gewisses Risiko für eine Halswirbelsäulenverletzungin sich bergen, andererseits können Eigenschaften der Halswirbelsäule(z.B. deren muskuläre Ausbildung) Messungen, beispielsweise des HIC,beeinflussen. Eine solche Kopplung könnte teilweise erklären, warum fürprofessionelle Athleten, jugendliche Sportler, Frauen oder Kinderunterschiedliche Verletzungsrisiken bezüglich Gehirnerschütterungenbeobachtet werden [Viano et al. 2007].

Bezüglich dem Boxen (bei dem Verletzungen des Gesichts undinsbesondere der Augen die häufigsten Verletzungen sind) wurden einigeStudien durchgeführt, in denen die durch einen Schlag auf den Kopfübertragenen Belastungen bestimmt wurden. Es wurden maximaleSchlagkräfte von 1666 N bis 6860 N angegeben, wobei die Zahlen starkvom Körpergewicht des Boxers abhängen [Walilko 2005]. Für einen Boxerder Schwergewichtsklasse haben Atha et al. (1985) Experimente mit einemballistischen Pendel durchgeführt. Der Boxer musste Schläge auf einen7 kg schweren Metallzylinder ausführen. Dabei erzielte dessen FaustGeschwindigkeiten bis zu 8.9 m/s bei einer maximalen resultierendenSchlagkraft von 4096 N. Die maximale Beschleunigung des Pendels betrugdurch den Schlag 53 g. Smith et al. (2000) beschreiben maximale Kräftevon 4800 N für leistungsstarke Boxer, 3722 N für Boxer mittleren Niveausund 2381 N für Anfänger. Mittels eines instrumentierten Kopfes wurden jenach Art des Schlages translatorische Beschleunigungen bis 43.6 g undRotationsbeschleunigungen bis 675.9 rad/s2 gemessen [Smith et al., 1988].Da diese Werte unterhalb den von Ommaya vorgeschlagenen Grenzwertenliegen (200 g, 4500 rad/s2), wurde geschlossen, dass wiederholte,unterkritische Schläge zu einer MTBI führen.

Walilko et al. (2005) führten Versuche durch, bei denen für dieOlympiade qualifizierte Boxer Schläge auf einen instrumentierten HybridIII Dummy ausführten. Die durchschnittliche Schlagkraft betrug 3427 ±811 N, die Geschwindigkeit der Hand erreichte 9.14 ± 2.06 m/s, dieeffektive (Schlag-) Masse lag bei 2.9 ± 2 kg und die am Hals gemesseneScherkraft betrug 994 ± 318 N. Für Boxer der Schwergewichtsklasse wardie effektive Masse des Schlags, und damit auch die resultierende Kraft,grösser. Aus den Ergebnissen wurde geschlossen, dass das Risiko einer

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94 Kopfverletzungen

Gehirnverletzung bei geraden Schlägen, bei denen “nur” einetranslatorische Beschleunigung auftritt, gering ist (kleiner 2 %). Die hohengemessenen Winkelbeschleunigungen (über 4500 rad/s2) deuten jedoch aufein Verletzungsrisiko durch Kopfrotation hin.

Für schwere Gehirnverletzungen, wie die diffuse Verletzung derNervenzellfortsätzen (Axone) in der weissen Hirnsubstanz (DAI, s. Kap.3.2), bestimmten Margulies und Thibault (1992) einen Grenzwert derKopfrotation von 9000 rad/s2. Dieser Wert liegt etwas tiefer als die vonOmmaya et al. (2002) vorgeschlagenen Werte von 12500 rad/s2 für einemilde DAI, 15500 rad/s2 für eine moderate DAI und 18000 rad/s2 für eineschwere DAI. Nach Vergleichen zwischen Belastungen, die Freiwillige ineinem Boxkampf erlitten haben, und den genannten Grenzwerten kamenSmith und Meany (2002) zum Schluss, dass es unwahrscheinlich ist, durchBoxen eine DAI zu erleiden.

Allgemein ist festzuhalten, dass im Sport der Rotationsbeschleunigungim Zusammenhang mit Verletzungsmechanismen diffuserGehirnverletzungen eine wichtige Rolle zugeschrieben wird. Sie erfährtdaher erhebliche Beachtung. Auch Kopfbälle (z.B. im Fussball) werden indieser Hinsicht immer wieder kontrovers diskutiert [z.B. Kirkendall et al.2001]. Es wird argumentiert, dass die translatorische Komponente derBeschleunigung bei Kopfbällen weniger verletzungsinduzierend ist und ihrdaher leichter widerstanden werden kann (beispielsweise durch eineentsprechend starke Nackenmuskulatur). Im Gegensatz dazu wird dierotatorische Beschleunigung mit einem höheren Verletzungsrisiko inVerbindung gebracht und sollte daher vermieden werden, z.B. durch guteTechnik. Um das Risiko einer Gehirnerschütterung beim Kopfball zureduzieren werden von verschiedenen Sportverbänden unterschiedlicheMassnahmen propagiert. Diese reichen von Vorschlägen für ein geeignetesTraining, durch das man eine Kopfrotation verhindern soll, über dieVerwendung kleinerer und leichterer Bälle für Jugendliche bis zu einemVerbot von Kopfbällen für junge Spieler.

Vom biomechanischen Standpunkt aus gesehen, erscheint es jedoch alsunwahrscheinlich, dass im Sport entweder isoliert lineare oder isoliertrotatorische Beschleunigungen auftreten. Yang (2007) analysierte zumBeispiel Daten aus Spielen der NFL und fand einen fast linearenZusammenhang zwischen Translations- und Rotationsbeschleunigung.Daher sind bei Untersuchungen zum Verletzungsmechanismus vonKopfverletzungen im Sport immer beide Komponenten zu berücksichtigen.

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Prävention von Kopfverletzungen 95

3.6 Prävention von Kopfverletzungen

Um den Kopf vor Verletzungen zu schützen wurden verschiedenen Ansätzevorgeschlagen, die im Grunde genommen jedoch alle auf Polsterung(Padding), Kraftverteilung oder dem Verhindern eines Kopfanprallshinauslaufen [z.B. Newman 2002].

Wie oben beschrieben sind die auf den Kopf übertragene Kraft undBeschleunigung (sowohl translatorisch wie rotatorisch) die relevantenphysikalischen Parameter, die die Belastung des Kopfes bestimmen. Diemeisten Schutzvorrichtungen zielen primär auf eine Reduktion derTranslationsbeschleunigung durch Reduktion der beim Anprall auf denKopf wirkenden Kräfte ab. Oftmals führt dies auch zu einer Reduktion derRotationsbeschleunigung, da diese durch exzentrische, nicht imKopfschwerpunkt angreifende Kräfte generiert werden.

Die Verwendung von deformierbarem Material als Polsterung stellt eineMöglichkeit dar, Kräfte zu dämpfen, die den Kopf verletzen könnten. DieSteifigkeit des gewählten Materials sowie der vorhandeneDeformationsweg definieren die maximale Kraft (und damit auch dieBeschleunigung), die am Kopf zu erwarten ist. Die Energie absorbierendenEigenschaften des Materials sind hingegen der entscheidende Faktorbezüglich der Einwirkdauer des Beschleunigungspulses. Energieabsorptionkann durch Verformung oder Zerstörung des Materials (wie z.B. bei derPolsterung von Helmen) erreicht werden. Falls ein Kopf auf ein Objektprallt, das sich verformt und dadurch ein Abbremsen des Kopfes über einegrössere Distanz erlaubt, werden die wirkenden Kräfte kleiner.Dementsprechend werden die Beschleunigungen kleiner und auch darausabgeleitete Verletzungskriterien wie das HIC werden günstigere Werteliefern. Das Ausmass der Energieabsorption hängt stark von denMaterialeigenschaften, der Materialdicke und der Form des Paddings ab (s.auch Kap. 3.6.1). Um den Kopf mittels einer Polsterung effektiv schützenzu können, muss daher ein Kompromiss zwischen den folgendenAnforderungen gefunden werden: maximal mögliche (bzw. zweckmässige)Dicke der Polsterung, maximale Fläche des Paddings, einheitlicheDruckfestigkeit des Paddingmaterials und Gewicht.

Die ersten beiden Anforderungen betreffen die Energie absorbierendenEigenschaften, während die beim Anprall auftretende Kraft durch die dritteAnforderung kontrolliert wird. Die Dauer des Beschleunigungspulsesschliesslich wird durch die Elastizität des Materials bestimmt. Auspraktischen Überlegungen sind die Möglichkeiten dieser Parameter jedocheingeschränkt.

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96 Kopfverletzungen

Grundsätzlich gelten für das Padding in einem Fahrzeuginnenraum odereinem Helm die gleichen Prinzipien, es sind zusätzlich aber Anforderungenz.B. bezüglich Komfort oder Belüftung zu berücksichtigen. Des Weiterenist das Gewicht des Helms durch eine geeignete Auswahl desPaddingmaterials zu optimieren. Entsprechende Richtlinien undVorschriften definieren je nach Art des Helms — sei es ein Motorradhelmoder ein Sporthelm — die verschiedenen Anforderungen.

In Ergänzung zu den erwähnten Energie absorbierenden Elementen sindalle modernen Fahrzeuge mit Rückhaltesystemen, wie Sicherheitsgurtenund Airbagsystemen ausgestattet, die ebenfalls der Prävention vonKopfverletzungen dienen.

Der Sicherheitsgurt (eher ein 3-Punkt-Gurt als ein Beckengurt) solldurch ein Zurückhalten des Insassen einen Kopfanprall verhindern. BeiFrontalkollisionen reduziert der Sicherheitsgurt das Risiko einesKopfanpralls an Strukturen des Fahrzeuginnenraums, wie beispielsweiseder Lenksäule, der A-Säule oder des Armaturenbretts, sehr effektiv. Zudemtragen Airbags zu einer weiteren Reduktion von Kopfverletzungen,insbesondere schweren Gehirnverletzungen bei [Melvin und Mertz 2002].Durch eine Verteilung der auf den Insassen wirkenden Kräfte auf einegrössere Fläche am Körper (einschliesslich Kopf) können hohe,konzentrierte Krafteinleitungen reduziert werden. Zudem erlaubt derAirbag ein kontrolliertes Abbremsen des Insassen innerhalb derFahrgastzelle und reduziert gleichzeitig Relativbewegungen zwischeneinzelnen Körperregionen. In speziellen Situationen können Airbags jedochauch zu einer zusätzlichen Belastung des Insassen führen (s. Kap. 5).

3.6.1 Prävention von Kopfverletzungen bei Fussgängern

Kopfverletzungen sind die häufigste Todesursache bei Fussgängern, dievon einem Fahrzeug angefahren werden. Um diese Verletzungen infolgeKopfanprall an die Fahrzeugfront zu verhindern bzw. um dieVerletzungsfolgen zu reduzieren, müssen die Verformungseigenschaftender Motorhaube und der Kotflügel angepasst werden. Mit der Einführungvon europäischen Testvorschriften zur Homologation neuer Fahrzeuge,wurde die Implementierung nachgiebiger Motorhauben und Kotflügel einwichtiger Aspekt in der Fahrzeugentwicklung.

Kritische Punkte sind der steife Rahmen der Motorhaube sowie dieStrukturen zur Versteifung derselben. Vor allem die auf der Unterseite derMotorhaube liegenden Verstärkungen sind hinsichtlich Kopfanprall einesFussgängers relevant. Falls der Kopf eines Fussgängers auf eine dieser

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Prävention von Kopfverletzungen 97

steifen Strukturen prallt, ist mit einerhohen Kopfbeschleunigung zurechnen. Weniger starkeVersteifungen sind diesbezüglichvorteilhaft [Kessler et al. 1988]. Einvom konventionellen Rahmen-und-Streben-Design abweichenderAnsatz wurde von Mazda (2003)vorgestellt. Diese Motorhaubeverwendet eine Konstruktion auskegelförmigen Strukturen, die denAnprall eines Fussgängers dämpfen(Abb. 3.11).

Die Eigenschaften des Materialsder Motorhaube beeinflussen deren

Deformationsverhalten natürlich ebenfalls beträchtlich. Im Allgemeinen istder Abstand unterhalb der Motorhaube das Mass, das die maximaleVerformung vorgibt. Abgesehen von einer geänderten Bauweise derMotorhaube selbst, wurden Systeme entwickelt, die die Motorhaube leichtanheben können (auch "pop-up" Motorhauben genannt, Abb. 3.12). DurchAnheben des hinteren Teils der Motorhaube wird zusätzlicher Raumunterhalb der Motorhaube gewonnen, der dann zur Deformation und

Abb. 3.12 Bereits 1983 wurde durchdie AGU Zürich eine sich öffnendeMotorhaube entwickelt und derenWirksamkeit gezeigt (obere Reihe).Das Bild unten rechts zeigt eineVariante, wie sie in heutigenFahrzeugen eingebaut wird [Autoliv2003].

Abb. 3.11 Design einer Energieabsorbierenden Motorhaube [Mazda2003].

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98 Kopfverletzungen

Energieabsorption zur Verfügung steht. Je nach Sensor und Auslöseeinheitkönnen solche Systeme aktiviert werden, wenn ein Fussgängeranprallwahrscheinlich ist oder wenn er tatsächlich erfolgt.

Airbags im Bereich des vorderen Stossfängers bzw. derMotorhaubenkante oder unterhalb der Frontscheibe stellen eine weitereMöglichkeit der Verletzungsprävention dar und können ergänzend zuraufstellbaren Motorhaube verwendet werden. Die Airbags im vorderenBereich können durch einen Sensor, der z.B. im Kühlergrill integriert seinkann und der eine unausweichliche Fussgänger-Fahrzeug-Kollisiondetektiert, gezündet werden. Die Airbags unterhalb der Frontscheibekönnen durch einen Sensor an der Fahrzeugfront ausgelöst werden (Abb.3.13).

Grundsätzlich ist es wichtig, die Kinematik des Fussgängers nach demprimären Anprall am Fahrzeug im Hinblick auf einen Sekundäranprall aufder Strasse zu betrachten (Abb. 3.14). Andernfalls ist es durchausvorstellbar, dass ein optimiertes Fahrzeugdesign zum Schutz vorVerletzungen durch den Primäranprall, das Verletzungsrisiko beimSekundäranprall erhöht, was natürlich ausserordentlich kontraproduktivwäre.

Abb. 3.13 Airbags zur Prävention vonVerletzungen bei Fussgängerkollisionen.Die obere Reihe zeigt Motorhauben-Airbags ohne (links) und mit anhebenderMotorhaube (rechts). Das Bild untenrechts zeigt eine Version mit zusätzlichemAirbag zur Abdeckung der vorderenMotorhaubenkante [Ford 2003, Autoliv2003, Mazda 2003].

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Zusammenfassung 99

3.7 Zusammenfassung

Gehirnerschütterungen und MTBI sind im Sportbereich von grosserRelevanz. Obschon das Verletzungsrisiko in verschiedenen Studienuntersucht wurde, ist die Definition eines allgemeinenVerletzungsgrenzwertes schwierig, da verschiedene Parameter das Risikobeeinflussen können (z.B. mehrere unterkritische Belastungen). ImAutomobil-Bereich werden hingegen verschiedene Verletzungskriterienangewendet. Die Wayne State Tolerance Curve ist in diesemZusammenhang eine wichtige Bezugsgrösse und stellt die Basis fürverschiedene Kopfverletzungskriterien dar. Das HIC ist das derzeit amweitesten verbreitete Kriterium, obwohl kritisiert wird, dass esausschliesslich auf der translatorischen Beschleunigung beruht.

3.8 Referenzen

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Abb. 3.14 Mehrkörper-Computersimulation einer Fussgängerkollision. DieKinematik (Flugbahn) des Fussgängers ändert sich erheblich bei höhererKollisionsgeschwindigkeit (oben: 30 km/h, unten: 40 km/h). Dies verdeutlicht,dass auch der Sekundäranprall auf der Strasse berücksichtigt werden muss [AGU2003].

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4 Verletzungen der Wirbelsäule

Verletzungen der Wirbelsäule und insbesondere des Rückenmarks könnenzu lang andauernden Beeinträchtigungen bis hin zu Querschnittslähmungenoder Tetraplegien führen. Die Halswirbelsäule ist das Segment derWirbelsäule, das am häufigsten verletzt wird. Da Hals und Kopf einefunktionelle Einheit bilden, schliessen Belastungen des Kopfes oftmalsauch eine Belastung des Halses ein.

Im Strassenverkehr werden schwere Halswirbelsäulenverletzungenbeispielsweise bei Unfällen mit nicht angegurteten Fahrzeuginsassen(Kopfanprall) oder bei Motorradunfällen (mit und ohne Helm) beobachtet.Die überwiegende Mehrheit der Halswirbelsäulenverletzungen gehörtjedoch zur Gruppe der leichten Weichteilverletzungen, die üblicherweiseals AIS1 klassifiziert werden und die oftmals kein morphologischesKorrelat aufweisen, d.h. morphologische Veränderungen sind mitderzeitigen Diagnosemöglichkeiten nicht festzustellen.

Wenngleich diese Verletzungen nicht mit einer offensichtlichstrukturellen Verletzung der Halswirbelsäule oder des zentralenNervensystems verbunden sind, treten sie doch häufig auf und können denEinzelnen stark beeinträchtigen. Tatsächlich sind diese Verletzungen die amhäufigsten im Strassenverkehr erlittenen Verletzungen und daher vonbesonderer Bedeutung. Die mit diesen Verletzungen assoziiertengesellschaftlichen Kosten werden in Europa auf 5 bis 10 Milliarden Europro Jahr geschätzt. Obwohl die meisten Betroffenen in kurzer Zeitvollständig genesen, können sich in einzelnen Fällen langwierigemedizinische Probleme entwickeln, so dass diese Weichteilverletzungen zuden häufigsten Ursachen für medizinisch bedingte Behinderungen vonFahrzeuginsassen zu zählen sind [Bylund et al. 1998]. Hieraus können sichlange Arbeitsausfälle und entsprechende Rentenansprüche ergeben. Diesozioökonomische Bedeutung dieser Verletzungen ist daher gewaltig. Einbesseres Verständnis der in diesem Zusammenhang relevanten Parameterbezüglich Fahrzeug, Kollision und Insassen ist erforderlich, um geeigneteMassnahmen zur Prävention zu entwickeln.

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106 Verletzungen der Wirbelsäule

Der Verletzungsmechanismus der zu leichten Verletzungen derHalswirbelsäulen-Weichteile führt, ist heute noch nicht vollständigbekannt. Auch medizinische Aspekte zu Diagnose und Therapie werdennach wie vor diskutiert und können noch nicht als abgeschlossen betrachtetwerden [z.B. Murer et al. 2002].

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass man in derLiteratur verschiedene Begriffe findet, um diese Halswirbelsäulen-Beschwerden zu beschreiben. “Schleudertrauma” ist wahrscheinlich der amhäufigsten verwendete Begriff; in den Anfängen der Beschreibung undErforschung dieser Beschwerden war auch der Begriff“Peitschenschlagverletzung” gebräuchlich. Beide Begriffe sindmissverständlich und falsch, da sie bereits einen Verletzungsmechanismusimplizieren (nämlich eine nach vorne und hinten gerichtete Bewegung wiesie bei einem Peitschenknall beobachtet wird bzw. ein wie auch immergerichtetes “Schleudern”), obwohl der zugrunde liegende Mechanismusbisher noch nicht vollständig geklärt werden konnte (s. Kap. 4.2). Auch imEnglischen werden verschiedene Begriffe verwendet: “soft tissue neckinjuries”, “cervical spine disorders (CSD)”, “whiplash injuries” oder“whiplash associated disorders (WAD)”. Grundsätzlich ist zu diskutieren,ob der Begriff einer Verletzung hier überhaupt haltbar ist, da eineVerletzung automatisch das Vorhandensein morphologischerVeränderungen impliziert. Man müsste hier zwischen “Verletzungen” und“Nackenschmerzen”, “Beschwerden” oder “Symptomen” differenzieren; inder Praxis werden diese Begriffe jedoch fälschlicherweise oftmals alsSynonyme verwendet.

Eine zunehmende öffentliche Wahrnehmung solcher Halswirbelsäulen-Beschwerden sowie eine erhebliche Aufmerksamkeit durch die Medienhaben zu verstärkten Anstrengungen bei der Entwicklung vonPräventionsmöglichkeiten beigetragen. In Kapitel 4.6 werden verschiedeneSchutzsysteme vorgestellt. Andere Aspekte von Weichteilverletzungen derHalswirbelsäule wie Epidemiologie, medizinische Diagnose und Therapieoder die ökonomische Bewertung werden hier nicht detailliert behandelt.Hierzu wird auf die Literatur verwiesen [z.B. Ferrari 1999, Yoganandanund Pintar 2000, McElhaney et al. 2002].

4.1 Anatomie der Wirbelsäule

Die menschliche Wirbelsäule ist die lasttragende Struktur für Kopf undTorso (Abb. 4.1). Sie setzt sich aus 7 Hals-, 12 Brust- und 5 Lendenwirbeln

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Anatomie der Wirbelsäule 107

zusammen. Die Wirbel der Halswirbelsäule (HWS) werden von C1 bis C7numeriert, wobei C1 der oberste, über die okzipitalen Kondylen an denKopf gekoppelte Wirbel ist. T1 bis T12 beschreiben die Brustwirbel und L1bis L5 die Lendenwirbel. Die Wirbelsäule schliesst mit dem Kreuzbein(Sakrum) und dem Steissbein (Coccyx) ab, die anatomisch bereits als Teiledes Beckens betrachtet werden. Die Grösse der einzelnen Wirbelkörper

Abb. 4.1 Die menschliche Wirbelsäule[nach Sobotta 1997].

Abb. 4.2 Die verschiedenen Teile einesWirbelkörpers [nach Sobotta 1997].

Abb. 4.3 Wichtige Ligamente und ihre Angriffspunkte amWirbelkörper [nach Sobotta 1997].

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108 Verletzungen der Wirbelsäule

nimmt vom Kopf bis zum Steiss, d.h. von kranial nach kaudal, zu.Nebeneinander liegende Wirbelkörper werden durchZwischenwirbelscheiben (auch Bandscheiben genannt) von einandergetrennt. Eine seitliche Ansicht der gesamten Wirbelsäule zeigt derentypische, gekrümmte Form: Lordose im Hals- und Lendenbereich, Kyphoseim Brustbereich (Abb. 4.1). Von vorne betrachtet ist die Wirbelsäulegerade.

Im Allgemeinen besteht jeder Wirbel aus einem zylinderförmigenWirbelkörper, einem Wirbelbogen, dem Dornfortsatz (Processus spinosus)und den beiden Querfortsätzen (Processus transversi) (Abb. 4.2). Dieseitlichen und hinteren Fortsätze dienen als Angriffspunkte für Muskelnund Ligamente, die für Stabilität sorgen und die Bewegungen des Halsesund des Kopfes ermöglichen. Drei Ligamente verlaufen über die gesamteLänge der Wirbelsäule: das vordere und das hintere Längsband (Lig.longitudinale anterior bzw. posterior), welche die vorderen bzw. hinterenTeile der Wirbelkörper verbinden, und das Supraspinalband (Lig.supraspinale), welches entlang der Spitzen der Dornfortsätze verläuft (Abb.

Abb. 4.4 Der Spinalkanal mit Weichteilen [nach Sobotta 1997].

Abb. 4.5 Halswirbelkörper C1 (Altas, links) und C2 (Dens axis, rechts) [nachSobotta 1997].

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Anatomie der Wirbelsäule 109

4.3). In neutraler Position stehen die Ligamente der Wirbelsäule imAllgemeinen unter leichter Zugspannung. Bezüglich der Muskulaturunterscheidet man oberflächliche, mittlere und tiefe Muskeln. Die Muskelnsind bezüglich der Sagittalebene symmetrisch aufgebaut, d.h. alle Muskelnkommen in Paaren vor. Die tiefe Muskulatur besteht verstärkt aus kurzenMuskeln, die mit den Wirbelkörpern verbunden sind. Die mittlerenMuskeln hingegen verlaufen über längere Distanzen und verbindenbeispielsweise den Hals mit dem Thorax und dem Kopf. Dieoberflächlichen Muskeln sind nicht direkt mit der Wirbelsäule verbunden.

Die Wirbellöcher (Foramina vertebralia) aller Wirbel bilden denWirbelkanal, in dem das Rückenmark verläuft (Abb. 4.4). Der Kanal ist,wie das Gehirn, mit Hirnhäuten ausgekleidet und wird von cerebrospinalerFlüssigkeit (CSF) umspült. Des Weiteren befinden sich auch Blutgefässe,insbesondere Venen, im Spinalkanal.

Die beiden oberen Halswirbel C1 und C2 unterscheiden sich in ihrerForm von den übrigen Wirbeln. C1, auch Atlas genannt, besteht nur auseinem knöchernen Ring mit grossen knorpeligen Gelenkflächen.Gemeinsam mit dem zweiten Halswirbel, der auf seiner oberen Seite einenZapfen (Dens axis) aufweist, bilden sie das atlanto-axiale Gelenk.Zwischen diesen beiden Wirbeln gibt es keine Zwischenwirbelscheibe(Abb. 4.5).

Man unterscheidet vier grundlegende, physiologische Bewegungen desHalses: Flexion (Vorwärtsneigung), Extension (Rückwärtsneigung),laterale Biegung (Seitneigung) und (axiale) Rotation (Abb. 4.6). Fernerkönnen verschiedene Kombinationen dieser Grundbewegungen ausgeführtwerden. Zur Ausführung dieser Bewegungen sind verschiedene Gelenkenotwendig. Neben dem atlanto-axialen Gelenk, das die Drehung des Kopfesermöglicht, können intervertebrale Gelenke (Kompressions- und Scher-)Kräfte und Momente übertragen. Dazu tragen sowohl die Bandscheiben mit

Abb. 4.6 Die vier Grundbewegungen von Kopf und Hals [nach Sances et al. 1984].

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110 Verletzungen der Wirbelsäule

ihrem Aufbau aus einem faser-verstärkten äusseren Ring und demgallertartigen, viskosen Kern wie auch die Facetten-Gelenke(Zygapophysen-Gelenke) der Wirbelkörper bei.

4.2 Verletzungsmechanismen

Die “Abbreviated Injury Scale” (AIS) bewertet verschiedene Verletzungender Wirbelsäule hinsichtlich deren Lebensbedrohlichkeit (Tab. 4.1). ImAllgemeinen werden Verletzungen der Halswirbelsäule dabei alsschwerwiegender und lebensbedrohlicher eingeschätzt als solche, die tieferliegende Bereiche der Wirbelsäule betreffen [Viano 2001a]. Grundsätzlichkönnen Halswirbelsäulenverletzungen anhand der möglichenBewegungsrichtungen und möglicher mechanischer Belastungen unterteiltwerden (Abb. 4.6 und 4.7). Scherbeanspruchung in antero-posteriorerRichtung (d.h. von vorne nach hinten) und axiale Torsion können zu einerDislokation des atlanto-okzipitalen Gelenks führen. GrosseKompressionsbelastungen können in einer Fraktur des Atlas (C1)resultieren, wobei der Wirbel in zwei bis vier Teile bricht (Jefferson’s

Tabelle 4.1 Beispiele für Wirbelsäulen-Verletzungen gemäss AIS [AAAM 2005].

AIS Code Beschreibung

1 Haut, Muskeln: Schürfungen, Kontusionen (Hämatome), kleine Lazeration

2 vertebrale Arterien: kleine LazerationHals-/Brustwirbelsäule: Dislokation ohne FrakturBrust-/Lendenwirbelsäule: Diskushernie

3 vertebrale Arterien: erhebliche LazerationHals-/Brustwirbelsäule: multiple Lazerationen der Nervenwurzel

4 Hals-/Brustwirbelsäule: unvollständige Kontusion des Rückenmarks

5 Hals-/Brustwirbelsäule: Lazeration des Rückenmarks ohne Fraktur

6 EnthauptungHalswirbelsäule: Lazeration des Rückenmarks in Höhe C3 oder höher mit Fraktur

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Verletzungsmechanismen 111

Fraktur, Abb 4.8). Ist die axiale Kompression mit einer Extension derHalswirbelsäule kombiniert, können C2-Frakturen entstehen (auch“hangman’s fractures” genannt). Bei Autounfällen treten solche Frakturenbeispielsweise auf, wenn ein nicht-angegurteter Insasse mit Stirn oderGesicht an die Frontscheibe prallt [Viano 2001a].

Grundsätzlich wird der Hals bei Strassenverkehrsunfällen meist durchKräfte, die von einem Kopfanprall ausgehen, oder durch eine Kombinationaus Biegung mit Axial- oder Scherkräften belastet.

Bedingt durch die anatomische Krümmung der Halswirbelsäule ist quasiimmer eine Biegung in irgendeine Richtung involviert. Während reineKompression zu den oben beschriebenen Frakturen führen kann, wirdangenommen, dass eine Beschleunigung des Kopfes ohne Kopfanprall undBelastungen durch Auslösung eines Airbags eine reine Zugbelastung mitVerletzungen der oberen Halswirbelsäule verursachen können [McElhaneyet al. 2002]. Die Dislokation der okzipitalen Kondylen, Verletzungen vonLigamenten und Frakturen, wie beispielsweise eine Fraktur des Dens axis(Abb. 4.8), können durch Zugbelastungen induziert werden [Nightingale et

Abb. 4.8 Frakturen des Dens Axis (“Hangman’s fracture”, links) und des Atlas(“Jefferson’s fracture”, rechts) [nach Vetter 2000].

Abb. 4.7 Mögliche Belastungen der Halswirbelsäule: Biegemomente (hierabgebildet: Flexion, nicht gezeigt: Extension), Kompression (Druck), Zug, axialeTorsion, Scherung [nach McElhaney et al. 2002].

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112 Verletzungen der Wirbelsäule

al. 1998].Da ein Kopfanprall jedoch häufig beobachtet wird, treten vorwiegend die

folgenden Belastungskonfigurationen auf: Kompression-Flexion,Kompression-Extension, Zug-Flexion, Zug-Extension und seitlicheBiegung.

Keil-Frakturen (“wedge fractures”) des vorderen Teils der Wirbelkörperentstehen durch eine Kombination aus einem Biegemoment inFlexionsrichtung und einer axialen Kompressionskraft. Oftmals wird diesesBelastungsszenario noch durch eine Kopfrotation überlagert, diese istjedoch nicht entscheidend [McElhaney et al. 2002]. Bei steigenderBelastungen sind Berstungsfrakturen und Dislokationen (mit Fraktur) derFacetten zu erwarten (Abb 4.9). Diese Frakturen sind instabil und könnendaher zu einer Verletzung des Rückenmarks führen, wobei das Ausmass derVerletzung davon abhängt, wie stark der Wirbelkörper bzw. seineFragmente in den Spinalkanal eindringen [Viano 2001a].

Kompression-Extension führt zu Frakturen der hinteren, knöchernenStrukturen der oberen und unteren Halswirbelsäule [z.B. Pintar et al. 1995,Nightingale et al. 1997]. Wie in Abbildung 4.10 dargestellt, kannbeispielsweise ein frontaler Kopfanprall mit einer Extension des Halses zueiner Belastungskombination aus Kompression und Extension führen.

Eine Frontalkollision mit zurückgehaltenem Oberkörper (z.B. durch denSicherheitsgurt) ohne Kopfanprall kann hingegen zur Flexion derHalswirbelsäule bei gleichzeitiger Zugbeanspruchung führen. Durch solcheBelastungen induzierte bilaterale Dislokationen der Facettengelenkewurden durch McElhaney et al. (2002) beschrieben. Es sollte jedochberücksichtigt werden, dass solche Verletzungen auch durch eineKombination aus Kompression und Flexion entstehen können, so dass indiesem Zusammenhang eher die Grösse des Biegemomentes als die axiale

Abb. 4.9 Gleichzeitige Kompression und Flexion der Halswirbelsäule kann zuKeilfrakturen (A), Berstungsfrakturen (B) oder bilateraler Dislokation derFacettengelenke (C) führen. Obwohl die Abbildung auch eine Rotation des Kopfesals Teil des Verletzungsmechanismus andeutet, konnte gezeigt werden, dass einesolche Rotation nicht zwingend erfolgen muss [nach McElhaney et al. 2002].

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Verletzungsmechanismen 113

Belastung die entscheidende Rolle spielt. Wie in Abbildung 4.11 dargestellt wird, können verschiedene

Verletzungen durch eine Zug-Extensionsbelastung entstehen. Solch einLastfall tritt üblicherweise auf, wenn ein nicht-angegurteterFahrzeuginsasse gegen die Frontscheibe oder das Kinn an dasArmaturenbrett prallt. In beiden Fällen wird der Kopf nach hinten gedrehtund der Hals so einer Zugbelastung sowie einem Extensionsmomentausgesetzt. Beim Kopfanprall kann zudem wie oben erwähnt eine Frakturdes C2-Wirbels auftreten. Zudem wurde die Hypothese aufgestellt, dass

Abb. 4.11 Zugbelastung bei gleichzeitiger Extension kann durchVorwärtsbewegung des Oberkörpers bei fixiertem Kopf (A), durch Trägheitbedingter Belastung der HWS bei abrupter Vorwärtsbeschleunigung des Torsos (B)oder durch Belastung des Kinns nach hinten und oben (C) auftreten [nachMcElhaney et al. 2002].

Abb. 4.10 Kompression und Extension. Die Kompression der HWS kann dadurchverstärkt werden, dass sich der Oberkörper aufgrund seiner Trägheit in RichtungKopf bewegt (auch als “Nachstossen” des Oberkörpers bezeichnet) [nachGoldsmith und Ommaya 1984].

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114 Verletzungen der Wirbelsäule

Belastungen unter Zug und Extension auch zu Weichteilverletzungen derHalswirbelsäule führen können (“Schleudertrauma”). Ein ausführlicheDiskussion dieser Verletzungen bzw. Beschwerden findet sich im Verlaufdieses Kapitels.

Verletzungen durch seitliche Biegung der Wirbelsäule werdenbeispielsweise bei Fahrzeugkollisionen mit seitlichem Anprall beobachtet.Zusätzlich zur seitlichen Biegung treten oftmals auch axiale Belastungen(z.B. Kompression) oder Scherkräfte auf (Abb. 4.12). Dadurch könnenseitliche Keilfrakturen der Wirbelkörper sowie (in der Regel einseitige)Frakturen der seitlichen oder hinteren knöchernen Strukturen auftreten. DesWeiteren kann eine seitliche Biegung auch in Kombination mit Torsionvorkommen. Solche Fälle führen möglicherweise zu einseitigenDislokationen oder einseitigen Blockaden der Facettengelenke [Moffat etal. 1978]. Eine reine Torsion des Halses wird bei Fahrzeugunfällen jedochnur selten beobachtet [Viano 2001a].

Weichteilverletzungen der Halswirbelsäule (unspezifisch auch als“Schleudertrauma” bezeichnet) sind mit Abstand die häufigsten imStrassenverkehr erlittenen Wirbelsäulenverletzungen. EpidemiologischeStudien haben gezeigt, dass Frauen einem höheren Risiko ausgesetzt sind,eine solche Verletzung zu erleiden als Männer [z.B. Linder et al. 2008].Weichteilverletzungen werden als Folge von leichten Heckkollisionen (d.h.Heckkollisionen mit geringem delta-v Wert) wie auch nach frontalen oderschräg-frontalen Kollisionen von angegurteten Fahrzeuginsassen mit oderohne Kopfanprall beklagt. Die Symptome sind vielseitig und können vonNackenschmerzen, Kopfschmerzen, Benommenheit und Schwindel bis zuSehstörungen und neurologischen Ausfällen reichen [z.B. Ferrari 1999]. Invielen Fällen sind selbst mit neuesten diagnostischen Möglichkeiten keineLäsionen nachweisbar. Daher werden solche Verletzungen meistens als

Abb. 4.12 Laterale (seitliche) Biegung mit Kompression kann zu Frakturen auf derDruckseite führen [nach Vetter 2000].

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Verletzungsmechanismen 115

leichte (AIS1) Verletzungen klassifiziert, wobei die AIS Skaladiesbezüglich sehr grob ist. Um eine genauere Beurteilung dieserWeichteilverletzungen zu ermöglichen, wurde von der Quebec Task Force(QTF) [Spitzer et al. 1995] ein eigenes System zur Klassifizierungerarbeitet, welches die Symptome und Beschwerden nach klinischenGesichtspunkten in vier Gruppen einteilt (Tab. 4.2).

Hinsichtlich des zugrunde liegenden Verletzungsmechanismus, müssensich entsprechende Hypothesen auf Experimente (s. Kap. 4.3) odersymptomatische klinische Beschreibungen abstützen. Wegen derkomplexen Anatomie der Halswirbelsäule finden sich auf engem Raumverschiedene verletzliche Strukturen. Dementsprechend wurdenunterschiedliche Gewebe als Verletzungsursache in Betracht gezogen. Invielen Studien wurde angenommen, dass Ligamente und Muskeln verletztwerden. Auch eine Schädigung der Zygapophysealgelenke wird oftvermutet. Zudem wurden Verletzungen des Nervengewebes, vor allem inder Nähe der Ganglien (Nervenknoten), beschrieben. Weitere Hypothesen,die Strukturen wie z.B. die Vertebralarterien oder dieZwischenwirbelscheiben als verletzungsursächlich betrachten, werdenhingegen sehr kontrovers diskutiert [z.B. Ferrari 1999].

Die Analyse der Bewegung des Halses während einer Heck- oderFrontalkollision offenbart eine komplexe Abfolge verschiedener Phasenunterschiedlicher mechanischer Belastung. Die Insassenbewegung bei einerHeckkollision (d.h. ein Fahrzeug wird von hinten angestossen und dadurchnach vorne beschleunigt) kann beispielsweise in drei Phasen unterteilt

Tabelle 4.2 Klassifikation von HWS-Beschwerden gemäss Quebec Task Force [nach Spitzer et al. 1995].

Grad Klinische Symptome

0 keine HWS-Beschwerdenkeine physischen Anzeichen

1 Nackenschmerzen, nur Steifigkeit oder Überempfindlichkeitkeine objektivierbaren Ausfälle

2 wie Grad 1 zusätzlich muskuloskeletale Befunde (z.B. Bewegungseinschränkung)

3 wie Grad 1 zusätzlich neurologische Befunde

4 wie Grad 1 zudem HWS-Fraktur oder Dislokation

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116 Verletzungen der Wirbelsäule

werden (Abb. 4.13). In der ersten Phase (Retraktion) wird ein Insasse, deraufrecht in einem der Vordersitze sitzt, durch die Sitzlehne nach vornebewegt. Die Berührung und Kraftübertragung erfolgt dabei hauptsächlichim Schulterbereich. Bedingt durch seine Trägheit hat der Kopf, der quasifrei im Raum steht (d.h. er hat keinen Kontakt zu einer Fahrzeugstruktur),die Tendenz so zu verharren. Bezogen auf den Insassen hinkt der Kopf derBewegung des Oberkörpers somit nach. Der Kopf bewegt sich relativ zumOberkörper gerade, d.h. ohne Rotation, nach hinten (daher Retraktion).Folglich erfährt der obere Teil der Halswirbelsäule in eine Flexion,während der untere Teil in eine Extension gezwungen wird. DieseVerformung des Halses — auch S-Verformung genannt — wird bezüglichdes Verletzungsmechanimus als kritisch betrachtet. Das Auftreten dieserVerformung des Halses wurde in unterschiedlichen Experimenten mitFreiwilligen, Leichen und Dummys, die mit einem speziellen Halsausgestattet waren, nachgewiesen [siehe z.B. Ono et al. 1997, 1998,Eichberger et al. 1998, Grauer et al. 1997, Svensson et al. 1993, Wheeler etal. 1998, Yoganandan and Pintar 2000]. Im Anschluss an die S-Verformungbeginnt sich der Kopf nach hinten zu drehen, wodurch die gesamteHalswirbelsäule eine Extension erfährt. Die maximale Extension schliesstdie Retraktionsphase ab. Der Umfang der Extension wird durch dieUnfallschwere, das Vorhandensein einer Kopfstütze sowie demphysiologischen Bewegungsumfang des Insassen begrenzt.

Die zweite Phase beschreibt eine Vorwärtsbewegung in Richtung derFahrzeugbewegung, d.h. Kopf, Hals und Torso bewegen sich nach vorne.Diese Phase wird stark durch die Eigenschaften des Fahrzeugsitzes,insbesondere durch dessen Elastizität und dem damit verbundenenRebound-Effekt [Muser et al. 2000], beeinflusst. Durchläuft der Insassewieder diejenige Sitzposition (in Sagittalebene), die er zu Beginn desAnstosses inne hatte, so endet diese Phase und es schliesst sich die drittePhase an.

In der dritten Phase wird der Insasse durch den Sicherheitsgurt

Abb. 4.13 Die verschiedenen Phasen einer Heckkollision: Retraktion,Vorwärtsbewegung, Rückhaltung durch Sicherheitsgurt [nach Muser et al. 2000].Das Auftreten der (inversen) S-Verformung ist durch * gekennzeichnet.

* *

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Verletzungsmechanismen 117

zurückgehalten. Die Bewegung der Brustwirbelsäule wird durch den Gurtgestoppt, der Kopf bewegt sich jedoch weiter nach vorne. Folglich kannwieder eine Relativbewegung zwischen Kopf und Thorax, eine inverse S-Verformung, beobachtet werden. Wegen der Dämpfung der Rückhaltekräftedurch den Brustkorb ist der Effekt jedoch weniger stark ausgebildet als dieS-Verformung in der ersten Phase. Zudem sind an der zweiten S-Verformung mehr Wirbelkörper beteiligt, da der Oberkörper durch dieGurtführung an einem tieferen Punkt gehalten wird. Durch die Beteiligungeines grösseren Teils der Wirbelsäule reduziert sich die Belastung deseinzelnen Wirbelkörpers [Muser et al. 2000]. Eine Flexion der gesamtenHalswirbelsäule schliesst die kinematischen Phasen der Insassenbewegungbei einer Heckkollision ab.

Bei Frontalkollisionen (ohne Kopfanprall) können ähnlicheBewegungsmuster, einschliesslich der inversen S-Verformung, beobachtetwerden.

Betrachtet man die komplexe Insassenkinematik, überrascht es nicht,dass hinsichtlich Weichteilverletzungen der Halswirbelsäule verschiedeneVerletzungsmechanismen diskutiert werden [z.B. Walz and Muser 1995].Eine Scherung der Wirbelkörper wurde beispielsweise mit Verletzungender Facetten der Intervertebralgelenke in Verbindung gebracht [Yang et al.1997]. Eine Hyperextension des Halses, also eine Extension über dasphysiologische Maximum hinaus, wird ebenfalls als möglicherVerletzungsmechanismus angesehen [Mertz und Patrick 1971].Fälschlicherweise wird dieser Mechanimus noch in vielen Arztberichtengenannt, obwohl er in Fahrzeugen mit Kopfstützen sehr selten gewordenist. Eine weitere Hypothese, die von Aldman (1986) aufgestellt wurde, gehtdavon aus, dass durch die Bewegung des Halses ein Druckgradient in denflüssigkeitsgefüllten Räumen, insbesondere in den Venen und dercerebrospinalen Flüssigkeit im Wirbelkanal, entstehen kann, wodurchNervenzellen geschädigt werden können [Svensson et al. 1993, Schmitt etal. 2001].

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass verschiedene Hypothesen zurUrsache von Weichteilverletzungen der Halswirbelsäule aufgestelltwurden, der zugrunde liegende Mechanismus ist jedoch nur schwer zuverstehen und daher noch nicht vollständig geklärt oder garwissenschaftlich bewiesen. In der Praxis wird angenommen, dass die S-förmige Deformation beim Verletzungsmechanismus eine entscheidendeRolle spielt. Daher wurden Verletzungskriterien definiert, die auf dieser S-Form basieren (s. Kap. 4.4) und es wurden neue Dummys entwickelt, die inder Lage sind, die relative Bewegung zwischen Kopf und Torso zureproduzieren (s. Kap. 2.6.1). Untersucht oder beurteilt man die Kausalität

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118 Verletzungen der Wirbelsäule

zwischen “einem Unfall” und die von einem Patienten angegebenenHalswirbelsäulen-Beschwerden, so sind die tatsächlichen technischen undbiomechanischen Umstände des Ereignisses zu berücksichtigen.Andernfalls kann es, insbesondere bei einer Kausalitätsbeurteilung durchnicht speziell ausgebildete Ärzte, zu Missverständnissen und fehlerhaftentechnischen und biomechanischen Annahmen und Interpretationenkommen. Da Halswirbelsäulen-Beschwerden häufig Gegenstand von(versicherungs-) rechtlichen Auseinandersetzungen sind, ist es wichtig,dass Gutachten auf interdisziplinärer Basis erarbeitet werden.

Verletzungen im thorako-lumbalen Teil der Wirbelsäule als Folge vonAutounfällen sind selten und spielen verglichen mit Halswirbelsäulen-Verletzungen nur eine untergeordnete Rolle. Hingegen werdenRückenschmerzen nach Kollisionen häufig beklagt und natürlich könnenauch schwere Verletzungen des Rückenmarks auftreten. King (2002)unterscheidet sieben verschiedene Typen von thorako-lumbalenWirbelsäulenverletzungen: Keilfrakturen im vorderen Teil desWirbelkörpers, Berstungsfrakturen des Wirbelkörpers, Dislokationen undFrakturen mit Dislokationen, Rotationsverletzungen, Chance-Frakturen,Hyperextensionsverletzungen und Weichteilverletzungen. In Autounfällenkönnen vordere Keilfrakturen aus einer Kombination von Flexion undaxialer Kompression entstehen. Ein typisches Beispiel sind schwereFrontalkollisionen, bei denen der obere, über die Schulter geführte Teil desSicherheitsgurtes grosse Kräfte auf den Torso überträgt, wodurch diegekrümmte Brustwirbelsäule gestreckt und so eine axiale Kompression beigleichzeitiger Flexion erzeugt wird. Experimente mit Leichen undFreiwilligen, die von einem 3-Punkt-Gurt gehalten wurden, zeigten, dass inder Brust-/Lendenwirbelsäule Kompressionskräfte auftreten, durch dieKeilfrakturen hervorgerufen werden können [Begeman et al. 1973].Grundsätzlich können solche Verletzung in jeder Höhe der thorako-lumbalen Wirbelsäule entstehen, im Bereich von T10 bis L2 sind sie jedocham wahrscheinlichsten [King 2002]. Vordere Keilfrakturen werden zudembei Flugzeugunfällen beobachtet, insbesondere wenn ein Pilot das Flugzeugmittels Schleudersitz verlässt. Historisch gesehen war diese Schleudersitz-Problematik der Anstoss, Verletzungen der thorako-lumbalen Wirbelsäulegenauer zu untersuchen.

Chance Frakturen (benannt nach G. O. Chance, der diesen Typ vonFrakturen 1948 erstmals beschrieb) werden bei Frontalkollisionen durchunsachgemässes Tragen eines Beckengurts verursacht. Wenn der Winkeldes Beckengurtes relativ zu Horizontalen zu klein ist, kann der Gurt überden Beckenkamm nach oben rutschen und dabei die Organe im Bauchraumkomprimieren (s. Kap. 6.2). Zudem kann dies eine Flexion der

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Biomechanisches Verhalten und Toleranzen 119

Lendenwirbelsäule zur Folge haben, wodurch die posterior gelegenen Teileder Wirbelsäule gespreizt werden und beispielsweise Rupturen der überbzw. zwischen den Dornfortsätzen verlaufenden Längsbänder auftretenkönnen. Ferner wird das Rückenmark gestreckt und kann verletzt werden.

Verletzungen der Weichteile der thorako-lumbalen Wirbelsäule werdenebenfalls oft nach Autounfällen beschrieben. Davon betroffen sind dieZwischenwirbelscheiben, die verschiedenen Ligamente, dieFacettengelenke, die Muskeln und mit der Wirbelsäule verbundene Sehnen.Schmerzen im unteren Rücken sind ein typisches Beschwerdebild, dasdurch ganz unterschiedliche Ereignisse — von leichten Heckkollisionen biszu schweren Frontalkollisionen — hervorgerufen werden kann. In manchenFällen sind solche Rückenbeschwerden auch mit Rissen oderAuswölbungen der Bandscheiben in Verbindung zu bringen. Ein kausalerZusammenhang zwischen einer stossartigen Belastung und einemBandscheibenvorfall (bzw. einer Hernie) besteht üblicherweise nicht [King2002]. Bandscheibenvorfälle sind im Allgemeinen das Ergebnis langsamer,degenerativer Veränderungen.

4.3 Biomechanisches Verhalten und Toleranzen

Die mechanischen Eigenschaften der menschlichen Wirbelsäule warenGegenstand zahlreicher Versuche mit Freiwilligen, Leichen, Tieren oderDummys. Es wurden statische wie dynamische Experimente (mit und auchohne Kopfanprall) in unterschiedlichen Testanordnungen durchgeführt.Zudem ist es üblich sogenannte funktionelle Einheiten der Wirbelsäule zutesten. Eine funktionelle Einheit meint dabei üblicherweise einBewegungssegement bestehend aus zwei oder drei Wirbeln. Strukturen, diefür die Untersuchung nicht von Interesse sind (z.B. Muskelgewebe),werden entfernt. Zur Analyse der Kopf-Hals-Kinematik verwenden mancheStudien auch grössere Einheiten, die aus Kopf und Hals einer Leichebestehen. Der Hals wird zu Versuchszwecken an seinem unteren Endefixiert (z.B. in Kunststoff gegossen) und auf einen (Mini-) Schlittenmontiert. Dieser kann dann beschleunigt werden. Es ist bei solchenexperimentellen Arbeiten jedoch zu beachten, dass die Verwendung vonfunktionellen Einheiten die Kinematik signifikant beeinflussen kann. Diesejeweiligen Einschränkungen der Versuchsdurchführung sind bei derInterpretation der Ergebnisse zu berücksichtigen.

Die Muskelaktivität kann in experimentellen Arbeiten oftmals nichtsimuliert werden, da die Muskeln entweder entfernt wurden (funktionelle

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120 Verletzungen der Wirbelsäule

Einheiten) oder ohne Tonus sind (Leichenversuche). AusschliesslichExperimente mit Freiwilligen erlauben es, die Muskelaktivität bis zu einemgewissen Grade zu messen. Die Verletzungstoleranz gegenüber anderenVerletzungen im Wirbelsäulenbereich, wie beispielsweise Verletzungen derArterien sind schwierig zu untersuchen, da die physiologischenBelastungsgrenzen nicht hinreichend genau definiert werden können.

Viele Studien zum biomechanischen Verhalten der Halswirbelsäuleverweisen bzw. stützen sich nach wie vor auf Toleranzwerte, die in denspäten 1960er und frühen 1970er Jahren beispielsweise von Mertz undPatrick (1967, 1971) durch Versuche mit Freiwilligen und Leichenbestimmt wurden. Abbildung 4.14 zeigt einen Versuchaufbau zurUntersuchung der statischen Eigenschaften des Halses.

Des Weiteren wurden Schlittenversuche durchgeführt, um diedynamischen Effekte bei einer Belastung des Halses zu berücksichtigen[Goldsmith und Ommaya, 1984]. Durch Freiwilligenversuche wurdenDaten bis zur Schmerzgrenze gewonnen, mittels Leichenversuchen konntendie Grenzwerte bis hin zu schweren Verletzungen erweitert werden (Abb.4.15).

Neuere Studien untersuchten die Relativbewegung der einzelnenWirbelkörper zu einander, indem Schlittenversuche mit Freiwilligendurchgeführt wurden und dabei bildgebende (Röntgen-) Verfahren wie dieCineradiographie zum Einsatz kamen [z.B. Ono und Kaneoka 1997, 2001,Ono et al. 2006]. Dadurch konnten die Bewegungsmuster jedes einzelnenWirbels beurteilt werden.

Abb. 4.14 Experimenteller Aufbau von Mertz und Patrick (1967) zurDurchführung statischer Versuche mit Freiwilligen.

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Biomechanisches Verhalten und Toleranzen 121

Abb. 4.15 Von Goldsmith und Ommaya (1984) bestimmte Korridore für dasbelastungsabhängige Verhalten von Kopf bzw. Halswirbelsäule bei Extension(oben) und Flexion (unten).

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122 Verletzungen der Wirbelsäule

Für die Lendenwirbelsäule wurden durch verschiedene Experimente mitfunktionellen Einheiten Grenzwerte für Frakturen ermittelt.Kompressionsfrakturen wurden bei Belastungen im Bereich von ca. 2 kNbis 6 kN beobachtet [z.B. Hutton und Adams 1982, Myklebust et al. 1983,Yoganandan et al. 1988, Myers et al. 1994, Belwadi und Yang 2008]. Fürvorwärts, rückwärts und nach unten gerichtete Beschleunigungen wurdevorgeschlagen, dass für eine Wirkdauer von weniger als 100 ms einGrenzwert von 40 g für gut gesicherte, sitzende Fahrzeuginsassen nichtüberschritten werden sollte [Viano 2001a].

Tabelle 4.3 fasst in der Literatur vorgestellte Toleranzwerte für dieHalswirbelsäule zusammen. Die Toleranzwerte wurden mittelsverschiedener Experimente gewonnen. Da dabei unterschiedlicheTechniken und Testbedingungen zum Einsatz kamen, zeigen die Daten eineerhebliche Streuung. Zudem ist immer zu beachten, dass Toleranzen nichtnur eine Funktion des jeweiligen Lastfalls sind, sondern auch von einerVielzahl anderer Faktoren, wie beispielsweise der Variabilität deranatomischen Strukturen (z.B. bezüglich Geometrie oder Eigenschaftenwie der Knochendichte) und möglichen degenerativen Veränderungenabhängen.

Daher ist es nicht überraschend, dass auch für Männer und Frauenunterschiedliche Grenzwerte bestimmt wurden. Nightingale et al. (1997)beschreiben signifikante Unterschiede für das Versagen nach Kompression.Für Kompressionsfrakturen der Halswirbelsäule bestimmten McElhaney etal. (2002) Kräfte bis 1.68 kN für Frauen und 3.03 kN für Männer sowie3.64 kN bis 3.94 kN für männliche Jugendliche. Ebenso sind Unterschiedezwischen Wirbelsäulen von Erwachsenen und Kindern bekannt [z.B.Yoganandan und Pintar 2000, Yoganandan et al. 2002]. Auch könntengeometrische Faktoren, wie beispielsweise der kleinere Halsumfang vonFrauen, einen Einfluss auf die Kinematik der Halswirbelsäule beiHeckkollisionen haben und zu höheren Winkelbeschleunigungen führen[Dehner et al. 2007]. Eine Beschreibung weiterer Unterschiede zwischendem in Versuchen zu Heckkollisionen bestimmten dynamischen Verhaltenweiblicher und männlicher Freiwilliger (z.B. bezüglich derKopfbeschleunigung) findet sich in Linder et al. (2008).

Hinsichtlich einer Beeinflussung des biomechanischen Verhaltens durchdegenerative Veränderungen wie Osteochondrose, Spondylose,Spondylarthrose oder einer Reduktion der Bandscheiben-Höhe (ohneBeteiligung des Rückenmarks) erlaubt die Literatur derzeit keinabschliessendes Urteil. Bezogen auf Nackenschmerzen wird beispielsweisein der Literatur kein eindeutiger Zusammenhang zwischen Degenerationund dem Ausmass der klinischen Beschwerden beschrieben [z.B. Meenen

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Biomechanisches Verhalten und Toleranzen 123

Tabelle 4.3 Belastungstoleranzen der Halswirbelsäule (Abkürzungen: F= Freiwillige, L= Leichen, FE= funktionelle Einheit).

BelastungTest-objekte

Kriterium Grenzwert Referenzen

Extension F keine Verletzung (statisch)

23.7 Nm Goldsmith & Ommaya 1984

Schmerz 47.3 Nm Mertz & Patrick 1971

keine Verletzung 47.5 Nm Goldsmith & Ommaya 1984

L AIS2 Verletzung der Ligamente

56.7 Nm Goldsmith & Ommaya 1984

Flexion F Schmerz 59.4 Nm59.7 Nm

Mertz & Patrick 1971Goldsmith & Ommaya 1984

maximal, freiwillig ertragene Belastung

87.8 Nm88.1 Nm

Mertz & Patrick 1971Goldsmith & Ommaya 1984

L AIS2 (keine Frakturen)

189 Nm190 Nm

Mertz & Patrick 1971Goldsmith & Ommaya 1984

Druck L bilaterale Dislokation der Facettengelenke

1.72 kN Myers et al. 1991

Kompressionsver-letzugen

4.8 kN bis 5.9 kN

Maiman et al. 1983

Zug F keine Verletzung (statisch)

1.1 kN Mertz & Patrick 1971

L Versagen 3.1 kN Shea et al. 1991

Scherung(a-p)

F keine Verletzung 845 N Mertz & Patrick 1971

L irreversibler Schaden 2 kN Goldsmith & Ommaya 1984

FE (odontoide) Frakturen 1.5 kN Doherty et al. 1993

FE Rupturen der Ligamente

824 N Fielding et al. 1974

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124 Verletzungen der Wirbelsäule

et al. 1994, Marchiori und Henderson 1996, Nykänen et al. 2007, Carroll etal. 2008].

4.4 Verletzungskriterien

In Ergänzung zu den in Kapitel 4.3 vorgestellten Toleranzwerten fürBelastungen der Wirbelsäule wurden verschiedene Halswirbelsäulen-Verletzungskriterien definiert. Neben den in aktuellen Vorschriftenenthaltenen einfachen Vorgaben bezüglich zulässiger Kräfte, wurdenmehrere komplexere Verletzungskriterien entwickelt — insbesondere imHinblick auf “Schleudertraumata”. Selbst Kriterien, die gleicheKollisionstypen beurteilen, basieren auf unterschiedlichen Konzepten, sodass die Beurteilung einer Belastung aufgrund eines Kriteriums zwarhilfreich, aber möglicherweise nicht ausreichend ist. UnterschiedlicheKriterien konzentrieren sich je nach ihrer Definition auf unterschiedlichePhasen der Insassenbewegung. Folglich können unterschiedlicheInformationen zum Verletzungsrisiko gewonnen werden. Zudem lassensolche Auswertungen mitunter auch Rückschlüsse auf Einflussfaktoren,wie beispielsweise die Konstruktion eines Sitzes oder denVerletzungsmechanismus, zu.

Grundsätzlich sind Verletzungskriterien auf die ihrer Definitionzugrunde liegenden Randbedingungen beschränkt. Bei der Anwendung aufandere Fälle, z.B. auf einen anderen Kollisionstyp, ist entsprechendeVorsicht walten zu lassen. Anpassungen der Versuchsdurchführung und/oder der Auswertung und Interpretation der erhaltenen Ergebnisse könntennotwendig werden. Dies gilt selbstverständlich auch für die Auswahl einesCrashtest-Dummys. Wie in Kapitel 2.6.1. dargestellt, unterscheidet sich derAufbau verschiedener Dummys, insbesondere bezogen auf den Hals,erheblich. Daher wird die Beurteilung von Halswirbelsäulenverletzungendurch die Bestimmung von Hals-Belastungen und Verletzungskriterienimmer durch die Auswahl des Dummys beeinflusst [z.B. Muser et al. 2000,2002, Bortenschlager et al. 2007].

In Bezug auf Verletzungen der Halswirbelsäule werden folgendeVerletzungskriterien häufig verwendet: NIC [Boström et al. 1996], Nij[Klinich et al. 1996, Kleinberger et al. 1998] und Nkm [Schmitt et al. 2001,2002a]. Während das Nij entwickelt wurde, um das Risiko schwerer HWS-Verletzungen bei Frontalkollisionen zu bewerten, beziehen sich die beidenanderen Kriterien auf Weichteilverletzungen der Halswirbelsäule nachHeckkollisionen. Studien von Kullgren et al. (2003) und Muser et al. (2003)

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Verletzungskriterien 125

konnten zeigen, dass sowohl das NIC wie auch das Nkm gut mit demRisiko, bei einer Heckkollision eine AIS1 Halswirbelsäulenverletzungen zuerleiden, korrelieren.

Daher wurden diese Kriterien in dem kürzlich durch EuroNCAP (s. Kap.2.6) neu eingeführten Sitztest zur Bestimmung des Risikos vonHalswirbelsäulenverletzungen integriert. Wenngleich die biomechanischenGrundlagen dieser EuroNCAP Bewertung in mehrerer HinsichtSchwachpunkte aufweisen [z.B. Bortenschlager et al. 2007, Farmer et al.2008, Schmitt und Muser 2009], so ist eine Korrelation zwischen diesenTestergebnissen und realen Beobachtungen nicht zwangsläufigausgeschlossen. Kullgren et al. (2007) konnten beispielsweise zeigen, dassFahrzeuge, die mit Systemen zur Prävention vor HWS-Verletzungenausgestattet waren, in dynamischen Tests besser abschnitten und auch beiAuswertungen realer Unfälle mit einem geringeren Verletzungsrisikoeinhergingen. Vergleichbare Ergebnisse wurden ebenfalls von Farmer et al.(2008) berichtet.

Eine grundsätzliche Einschränkung von Verletzungskriterien stellt dieTatsache dar, dass sie nur unter kontrollierten Bedingungen (d.h. inExperimenten) bestimmt werden können. Reale Verkehrsunfälle könnenretrospektiv nicht unter Zuhilfenahme solcher Kriterien beurteilt werden,da die Belastungen des Halses nicht gemessen werden können. HinsichtlichWeichteilverletzungen der Halswirbelsäule stellt dies ein nichtunerhebliches Problem dar, da solche Verletzungen (bzw. Beschwerden)häufig zu juristischen Auseinandersetzungen führen und als Teil dieserjuristischen Aufarbeitung oftmals ein Gutachten zur Beurteilung, obbeklagte Beschwerden von einem bestimmten Unfallereignis verursachtwurden (d.h. zur Kausalität von Beschwerden und Unfall), erforderlich ist.Daher wurden spezielle Ansätze entwickelt, um die biomechanischeKausalität in geeigneter Weise zu beurteilen [Walz und Muser 2000,Schmitt et al. 2002b, 2003a].

Die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung (delta-v, s. Kap. 2.4)des Fahrzeugs des Verletzen, die mittels Unfallrekonstruktion bestimmtwerden kann, wurde mit dem Verletzungsrisiko in Bezug gesetzt. Fürfrontale und seitliche Kollisionen finden sich in der LiteraturVerletzungsgrenzwerte zwischen einem minimalem delta-v Wert von16 km/h bis 20 km/h [z.B. Ferrari 1999, Kornhauser et al. 1996, Watts et al.1996, Kullgren et al. 2000]. Für Heckkollisionen werden delta-v Werte von8 km/h bis 15 km/h beschrieben [z.B. Ferrari 1999, Schuller 2001]. Wiejedoch durch verschiedene Wissenschaftler immer wieder betont wird, istes nicht ausreichend, bei der Begutachtung von solchen HWS-Beschwerden ausschliesslich auf den delta-v Wert abzustellen. Auch sind

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126 Verletzungen der Wirbelsäule

zusätzliche fahrzeugspezifische Parameter (z.B. Fahrzeugsteifigkeit) unddie individuelle Konstitution des zu begutachtenden Fahrzeuginsassen zuberücksichtigen.

4.4.1 NIC

Ausgehend von der Annahme, dass sich durch plötzliche Verformung derHalswirbelsäule auch die Strömungsverhältnisse in denflüssigkeitsgefüllten Räumen der Halswirbelsäule ändern und dadurch einDruckgradient entsteht, wurde das NIC (“neck injury criterion”) vonBoström et al. (1996) entwickelt. Die Definition des NIC als Funktion derZeit wurde durch Tierversuche validiert. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieDruckgradienten zu einer Verletzung führen, konnte durch den inGleichung 4.1 dargestellten Zusammenhang zwischen der antero-posteriorauf den Kopf-Schwerpunkt wirkenden Beschleunigung (d.h. in x-Richtunggemäss Definition SAE J211/2) relativ zur Beschleunigung des erstenBrustwirbels (T1) und der daraus abgeleiteten Geschwindigkeitbeschrieben werden.

(4.1)

Der Grenzwert, ab dem ein deutliches Risiko einer leichtenHalswirbelsäulen-Verletzung (AIS1) anzunehmen ist, wurde auf 15 m2/s2

festgesetzt. Dieser Wert hat sich in verschiedenen Studien bewährt und wirdauch heute noch verwendet. Es hat sich jedoch gezeigt, dass nur für dieRetraktionsphase einer Heckkollision sinnvolle Werte erhalten werden, d.h.sinnvolle Werte können nur berechnet werden, solange die gemessenenBeschleunigungen von Kopf und T1 rückwärts gerichtet sind (unterVerwendung eines fahrzeugfixierten Koordinatensystems). Zudem hat sichgezeigt, dass die NIC(t)-Kurve mit einem deutlichen Fehler behaftet ist,sobald sich der Kopf nicht mehr parallel zu T1 bewegt, d.h. sobald der Kopfeinen Extensionswinkel von ungefähr 20° bis 30° aufweist. Daher wurdedas NICmax eingeführt. Dieser beschreibt das Maximum der NIC(t)-Kurvezwischen dem Beginn der Kollision und dem Zeitpunkt, an dem der Kopfseine Bewegungsrichtung, relativ zum Hals, umkehrt (vgl. Abb. 4.13).

Eine auf leichte Frontalkollisionen angepasste Version des NIC —NICprotraction genannt — wurde von Boström et al. (2000) vorgeschlagenund mit lang anhaltenden AIS1 Halswirbelsäulenverletzungen (d.h. AIS1Verletzungen, bei denen für mehr als 6 Monate Symptome auftreten)korreliert. Als Grenzwert für ein Verletzungsrisiko von 50 % wurde 25 m2/

NIC t( ) 0,2arel t( ) vrel t( )2+=

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Verletzungskriterien 127

s2 vorgeschlagen. Bohmann et al. (2000) weiteten die Korrelation aufkurzzeitige und langwierige Beschwerden aus und reduzierten diesen Wertauf 15 m2/s2. Die folgenden Gleichungen werden zur Bestimmung desNICprotraction verwendet:

(4.2)

(4.3)

4.4.2 Nij

Dieses Kriterium wurde von der US National Highway Traffic SafetyAdministration (NHTSA) [Klinch et al. 1996, Kleinberger et al. 1998] zurBeurteilung des Risikos, in einer Frontalkollision eine schwereHalswirbelsäulenverletzungen zu erleiden, eingeführt. Hierbei werden auchKollisionen, bei denen der Airbag ausgelöst wird, berücksichtigt. Eshandelt sich somit um Ereignisse mit grösserer Unfallschwere mit höheremdelta-v Wert. Das Nij Kriterium wurde in FMVSS 208 aufgenommen.

Das dem Nij zugrunde liegende Konzept wurde von Prasad und Daniel(1984) entwickelt. Diese führten Crashtests mit Tieren (Ferkel als Modellfür ein Kind) durch und schlugen als Indikator für HWS-Verletzungen eineKombination aus axialen Kräften und Momenten vor. Das Nij Kriteriumbeschreibt daher eine Linearkombination aus der axialen Kraft und demsagittalen Biegemoment (Flexion/Extension), wobei beide mittelskritischen Referenzwerten normalisiert werden:

(4.4)

Fz und My beschreiben die axiale Kraft bzw. das sagittale Biegemoment.Fint und Mint sind die kritischen Referenzwerte, die für einen ein 3jährigesKind repräsentierenden Dummy ermittelt und validiert wurden. DurchSkalierung wurden auch für andere Dummy-Grössen entsprechendeReferenzwerte bestimmt, so dass das Nij auch für diese Grössenangewendet werden kann. Die derzeitigen Referenzwerte, wie sie von derNTHSA vorgeschlagen werden, sind in Tabelle 4.4. zusammengefasst.Wertet man das Kriterium für alle möglichen Lastfälle aus, so erhält manvier Werte: Nte für Zug und Extension (t: tension, e: extension), Ntf für Zugund Flexion (t: tension, f: flexion) sowie Nce und Ncf für die analogenWerte zur Kompression. Für jeden Lastfall gilt ein Verletzungsgrenzwertvon 1.0.

Um den Effekt von auslösenden Seitenairbags analysieren zu können,

NICgeneric t( ) 0,2arel t( ) vrel t( ) vrel t( )+=

NICprotraction t( ) Min NICgeneric t( )( )=

Nij

FzFint----------

MyMint------------+=

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128 Verletzungen der Wirbelsäule

modifizierten Duma et al. (1999) das Nij derart, dass das sagittaleBiegemoment durch das gesamthafte Biegemoment ersetzt wurde.

Um das Risiko einer AIS1 Halswirbelsäulenverletzung beurteilen zukönnen, wurden reduzierte Grenzwerte von 0.2 und 0.16 für längere bzw.kurze Beschwerdedauern vorgeschlagen [Boström et al. 2000, Bohmann etal. 2000].

Wendet man das Nij jedoch in seiner ursprünglichen Form fürHeckkollisionen (für die es nicht entwickelt wurde) an, ergeben sichSchwierigkeiten bei der Interpretation der Ergebnisse [Linder et al. 2000].Daher wurde eine angepasste Form des Nij — Nkm genannt — entwickelt,welches insbesondere für die Bewertung von Heckkollisionen beiniedrigem delta-v Wert geeignet ist.

4.4.3 Nkm

Das Halswirbelsäulen-Schutzkriterium Nkm wurde von Schmitt et al.(2001, 2002a) vorgestellt. Ihm liegt die Hypothese zugrunde, dass einVerletzungskriterium aus einer Linearkombination aus Kräften undMomenten bestehen sollte. Ein ähnlicher Ansatz führte zur Definition desNij Kriteriums für frontalen Anprall [Kleinberger et al. 1998], so dass dasNkm als Modifikation desselben betrachtet werden kann.

In Bezug auf mögliche Verletzungsmechanismen in Heckkollisionenerscheinen jedoch sagittale Scherkräfte relevanter zu sein als axiale Kräfte.Eine Kombination aus Scherung und sagittalem Biegemoment lässt sich inder Halswirbelsäule häufig beobachten, auch während der S-Verformung

Tabelle 4.4 Referenzwerte zur Berechnung des Nij gemäss FMVSS 208.

Dummy My (Flexion/Extension) [Nm]

Fz (Druck/Zug) [N]

HIII 50% 310/ 135 6160/ 6806

HIII 5% 155/ 67 3880/ 4287

HIII 5%(“out of position”)

155/ 61 3880/ 3880

HIII 6 Jahre 93/ 37 2800/ 2800

HIII 3 Jahre 68/ 27 2120/ 2120

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Verletzungskriterien 129

[z.B. Deng et al. 2000]. Heutzutage wird die S-Verformung hauptsächlichmit der ersten Phase (Retraktion) in Verbindung gebracht, aber auch eineinverse S-Verformung (d.h. der Kopf eilt dem Torso in seiner räumlichenBewegung voraus) kann zu einer ähnlichen Konfiguration und damit auchzu einem entsprechenden Verletzungsrisiko führen [Boström et al. 2000].Eine inverse S-Verformung, die beispielsweise während der Rebound-Phase (dritte Phase, vgl. Abb. 4.13) auftritt, kann wegen der obenbeschriebenen Einschränkungen nicht mit Hilfe des maximalen NICbeurteilt werden.

Des Weiteren wird angenommen, dass Scherkräfte, insbesondere imoberen Teil der Halswirbelsäule, zu Verletzungen der Facettengelenkeführen können [Yang et al. 1997, Deng et al. 2000, Winkelstein et al. 2000].Obwohl der tatsächliche Verletzungsmechanismus (noch) unbekannt ist,scheint eine Kombination aus Scherbeanspruchung und Flexions-/Extensions-Moment für Verletzungen der Halswirbelsäule relevant zu sein.Daher fokussiert das Nkm nicht auf einen einzigenVerletzungsmechanismus, sondern berücksichtigt das potentielleVerletzungsrisiko, das durch eine Kombination aus Kräften und Momentenbeschrieben wird. Da für die Berechnung einer resultierenden, auf eineHalsstruktur wirkenden Belastung eine lineare Kombination aus denwirkenden Kräften und Momenten dem gängigen mechanischenVerständnis entspricht, wurde auch hier eine Linearkombination ausScherkraft und Moment gewählt. Zudem wird die Interpretation desErgebnisses des Nkm leichter nachvollziehbar, wenn eineLinearkombination verwendet wird — ein praktischer Gesichtspunkt, derfür die Verwendung des Kriteriums wichtig ist.

Von auf den Menschen wirkenden axialen Kompressions- bzw.Zugkräften wird angenommen, dass diese auch Einfluss auf die Grösse derauftretenden Scherbelastung haben [Yang et al. 1997]. Somit gehen dieseindirekt ebenfalls ins Nkm ein. Zudem ist zu beachten, dass sich dieMessung einer Axialkraft durchaus etwas schwierig gestaltet. Führt manCrashtests mit einem Dummy mit Standard-Instrumentierung durch, wirdein zusätzlicher Kraftsensor zur Messung der Axialkraft benötigt, der ander Messposition am oberen Hals montiert werden muss, um dieauftretende Axialkraft zu messen. Dabei können verschiedeneMessungenauigkeiten auftreten:• die Zentripetalkraft, die durch Rotation des Dummys um seine Hüfte

entsteht, wird als Axialkraft gemessen• da die meisten der heutigen Dummys (mit Ausnahme des BioRID) die

kyphotische Krümmung der Brustwirbelsäule nicht nachbilden, werdendementsprechend auch die Kompressionskräfte, die durch ein

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130 Verletzungen der Wirbelsäule

Aufrichten (Strecken) der Brustwirbelsäule entstehen, nichtberücksichtigt.

• derzeitige Dummy-Konstruktionen erlauben keine physiologischeRückwärtsbewegung des Kopfes während der ersten Phase einerHeckkollision (Retraktion), in der der Torso durch die Rückenlehne desSitzes nach vorne geschoben wird, der Kopf sich wegen seiner Trägheitjedoch relativ zum Torso nach hinten bewegen sollte. Da der Hals desDummys jedoch gelenkig mit dem Kopf und dem Torso verbunden ist,wird stattdessen eine Rotation des Kopfes hervorgerufen, durch dieaxiale Kräfte erzeugt werden (obwohl sich der Kopf eigentlich ohneRotation relativ zum Torso bewegen sollte).

• in Fällen, in denen der Kopf in Extension über die Kopfstütze hinausragt und diese dadurch in eine niedrigere Position der Höheneinstellungdrückt (“hammer effect”), werden axiale Kräfte gemessen.

Wegen dieser Ungenauigkeiten in Verbindung mit der Messung derAxialkraft ist diese nicht explizit in die Definition des Nkm eingegangen.Das Nkm Kriterium wurde daher folgendermassen definiert:

(4.5)

Hierbei sind Fx(t) und My(t) die Scherkraft bzw. das Biegemoment inFlexion/Extension. Beide Werte sollten mit dem Sensor an der oberenPosition am Hals des Dummys gemessen werden. Fint und Mintrepräsentieren Referenzwerte, auf die die Kraft bzw. das Moment normiertwerden.

Unterscheidet man eine positive Scherkraft, eine negative Scherkraft,Flexion und Extension, so beschreibe das Nkm Kriterium vier verschiedeneBelastungssituationen: Nfa, Nea, Nfp und Nep. Der erste Index beschreibtdas Moment (f: Flexion, e: Extension) und der zweite verweist auf dieRichtung der Scherkraft (a: anterior, d.h. in positiver x-Richtung, p:posterior, d.h. in negativer x-Richtung). Es wird die Vorzeichenkonventiongemäss SAE J211/2 angewendet. Folglich beschreibt eine positiveScherkraft, die mittels des oberen Kraftsensors am Hals des Dummysgemessen wurde, eine relativ zum obersten Halswirbel rückwärts gerichteteKopfbewegung.

Die Referenzwerte, die zur Berechnung des Kriteriums notwendig sind(Tab. 4.5), beschreiben Toleranzwerte für das Auftreten von AIS1Halswirbelsäulenverletzungen [Goldsmith und Ommaya, 1984]. Die Wertebasieren auf Versuchen mit Freiwilligen [Mertz und Patrick, 1993] undgeben Toleranzen an, bis zu denen keine Verletzung zu erwarten ist. DieExperimente zeigen keinen Richtungsunterschied für die maximal

Nkm t( )Fx t( )

Fint-------------

My t( )

Mint--------------+=

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Verletzungskriterien 131

ertragbaren Scherkräfte. Die Validierung des Kriteriums erfolgte durchAuswertung von Schlittenversuchen und Computersimulationen [Schmitt etal. 2002a].

Zur Berechnung der Nkm Werte werden die Messkurven der Kräfte bzw.Momente durch die jeweiligen Referenzwerte geteilt und dann die vierverschiedenen Lastfälle identifiziert. Schliesslich werden dieentsprechenden Scherkräfte und Momente bei unveränderter Zeitachseaddiert und das jeweilige Maximum der resultierenden Kurve bestimmt.Folglich beschreibt Nep beispielsweise das während der Messzeitbeobachtete Maximum von gleichzeitig auftretender Extension undnegativer Scherkraft. Tritt im untersuchten Zeitfenster eine Kombinationder Lastfälle nicht auf, so fehlt diese Komponente des Nkm.

Als kritischer Nkm Wert gilt 1.0, durch den berücksichtigt wird, dasssowohl ein den entsprechenden Referenzwert übersteigendes Moment, wieauch eine übersteigende Kraft ein Risiko bezüglichHalswirbelsäulenverletzung darstellen.

Die Zweckmässigkeit des Nkm und seine Anwendbarkeit bei leichtenHeckkollisionen wurde durch verschiedene Studien gezeigt [z.B. Muser etal. 2002, Szabo et al. 2002, Kullgren et al. 2003]. Inbesondere konnte auchgezeigt werden, dass mittels Nkm die Phase der Insassen-Vorwärtsbewegung beurteilt werden kann. Somit liefert das Nkmergänzende Informationen, die beispielsweise mit dem NICmax nichtgewonnen werden können, da sich dieses nur auf die Phase der Retraktionbezieht. Hinsichtlich der Korrelation zwischen Nkm und demVerletzungsrisiko für HWS-Verletzungen fanden Muser et al. (2003), dassder Lastfall des Nea den stärksten Zusammenhang aufweist. Zudemberichten Kullgren et al. (2003) über eine gute Korrelation zwischen Nkmund AIS1 Verletzungen der Halswirbelsäule und empfehlen daher das Nkm(und das NIC) zur Verwendung. In der Praxis wird mitunter auch nur ein

Tabelle 4.5 Referenzwerte zur Berechnung des Nkm.

Lastfall Wert Referenz

Extension 47.5 Nm Goldsmith und Ommaya, 1984 Mertz und Patrick, 1993

Flexion 88.1 Nm

negative und positive Scherkraft

845 N

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132 Verletzungen der Wirbelsäule

maximaler Nkm-Wert angegeben, womit der grösste Wert unabhängig vonder Lastfallkombination gemeint ist.

Des Weiteren wurde gezeigt, dass die Nkm Werte geeignet sind,verschiedene Eigenschaften eines Fahrzeugsitzes zu quantifizieren [Museret al. 2002]. In Bezug auf immer wieder geführten Diskussionen überDesign-Prinzipien für verbesserte Fahrzeugsitze, vor allem hinsichtlich derFrage, wie viel Deformation (Plastizität) man zulassen sollte oder obElastizität im Vordergrund stehen soll [z.B. Parkin et al. 1995], konntegezeigt werden, dass das Nkm als hilfreiches Mass im Optimierungsprozessverwendet werden kann, um zu einem ausgewogenen Sitzdesign zugelangen. Daher wurde vorgeschlagen, das Kriterium zudem in einen ISOStandard für Sitztests aufzunehmen.

4.4.4 LNL

Ein weiteres Verletzungskriterium um das Risiko vonWeichteilverletzungen der Halswirbelsäule zu bewerten, nennt sich “LowerNeck Load Index” (LNL) und wurde von Heitplatz et al. (2003)vorgeschlagen. Das LNL Kriterium berücksichtigt drei Kraftkomponentenund zwei Momente, die alle am unteren Ende des Halses gemessen werden(Gleichung 4.6). Folglich wird zur Auswertung dieses Kriteriums einDummy benötigt, der am unteren Hals mit einem entsprechenden Sensorausgerüstet ist.

(4.6)

Fi(t) und Mi(t) beschreiben die Komponenten der Kräfte bzw. derMomente. Im Nenner stehen Referenzwerte, für die bei Verwendung einesRID Dummys folgende Werte vorgeschlagen wurden: Cmoment = 15,Cshear = 250 und Ctension = 900 [Heitplatz et al. 2003]. Für andereDummy-Typen wurden bisher noch keine Referenzwerte vorgestellt.

Bei der Anwendung auf Heckkollisionen wird die Definition des LNLderjenigen des Nkm sehr ähnlich, mit Ausnahme des zusätzlichen Terms derZugkraft sowie der Tatsache, dass die Daten am unteren Ende des Halsesgemessen werden. Erfahrungen mit dem LNL sind derzeit nur sehr begrenztvorhanden. Zudem bestehen weitere Einschränkungen, beispielsweise

LNL t( ) Mylower t( )( )2 Mxlower t( )( )2+

Cmoment------------------------------------------------------------------------------ +=

Fylower t( )( )2 Fxlower t( )( )2+

Cshear---------------------------------------------------------------------------

Fzlower t( )Ctension

------------------------+ +

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Verletzungskriterien 133

dadurch, dass noch kein biomechanischer Zusammenhang zu einemVerletzungsmechanismus und noch keine Korrelation zum realenVerletzungsgeschehen erarbeitet wurden [Bortenschlager et al. 2003].

4.4.5 Verletzungskriterien in ECE und FMVSS

Derzeitige Richtlinien spezifizieren maximale Belastungen, die im Falleeiner Frontalkollision auf die Wirbelsäule wirken dürfen (ECE R94,FMVSS 208). Für leichte Heckkollisionen sind keine Tests zurHomologation neuer Fahrzeuge vorgeschrieben.

ECE R94 schreibt vor, dass das Extensions-Moment 57 Nm nichtüberschreiten darf. Zudem müssen die Scherkräfte und die axialen Zugkraftunterhalb der in Abbildung 4.16. dargestellten Werte liegen.

FMVSS 208 enthält verschiedene Grenzwerte für Kompression, Zug,

Abb. 4.16 Maximal zulässige Kräfte der Halswirbelsäule in Abhängigkeit derEinwirkdauer (gemäss ECE R94). Oben: Zugkraft, unten: Scherkraft.

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134 Verletzungen der Wirbelsäule

Scherung, Flexion und Extension (Tab. 4.6). Diese Werte basieren aufVersuchen mit Freiwilligen, Leichen und Dummys und gelten für den 50-perzentilen Mann.

4.4.6 Weitere Verletzungskriterien

Das “intervertebral neck injury criterion” (IV-NIC) geht auf die Annahmezurück, dass Halswirbelsäulen-Beschwerden nach Heckkollisionen durchintervertebrale Rotation (d.h. einer Bewegung benachbarter Wirbelkörper)entstehen, wobei die physiologische Grenze für eine solche Bewegungüberschritten wird [Panjabi et al. 1999]. IV-NIC definiert sich als Verhältnisder intervertebralen Bewegung unter traumatischer Belastung θtrauma unddem physiologischen Bewegungsumfang θphysio (Gleichung 4.7). DasKriterium wird für jedes Intervertebral-Gelenk i definiert und für Flexionund Extension getrennt berechnet.

(4.7)

Folglich bestimmt der maximale IV-NIC Wert die Zeit, den Ort und dieBelastungssituation (Flexion/Extension) der maximalen intervertebralenBewegung. Für Werte grösser als 1.0 wird der physiologischeBewegungsumfang überschritten.

Noch ist das IV-NIC Kriterium nicht validiert. Da zudem in derzeitigenDummy-Typen einzelne Wirbelkörper (sofern vorhanden) durchGelenkbolzen bzw. Scharniergelenke miteinander verbunden sind, kanneine intervertebrale Bewegung nicht nachgebildet werden. Die Evaluationdes IV-NIC Kriteriums in Experimenten mit Dummys ist daher nichtmöglich. Schwierigkeiten bestehen zudem in der Festlegung des

IV NICi–Θtrauma i,Θphysio i,----------------------------=

Tabelle 4.6 Grenzwerte für Belastungen des Halses gemäss FMVSS 208.

Lastfall Grenzwert

Flexion 190 Nm

Extension 57 Nm

axialer Zug 3300 N

axiale Kompression 4000 N

Scherung (anterior und posterior) 3100 N

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Verletzungskriterien 135

physiologischen Bewegungsumfangs, der in der Studie von Panjabi et al.(1999) ausschliesslich auf Basis einer einzelnen Probe (Leiche) bestimmtwurde.

Das “neck displacement criterion” (NDC) wurde entwickelt, um dasRisiko von Weichteilverletzungen der Halswirbelsäule bewerten zu können[Viano 2001b]. Es bewertet die S-Verformung des Halses durchBerücksichtigung des Extensionsmoments, der Verschiebung in z-Richtung(axial) und der Verschiebung in x-Richtung (sagittal). Durch Aufzeichnender Kopfrotation gegenüber der Verschiebung in x-Richtung und derVerschiebung in z-Richtung gegenüber derjenigen in x-Richtung erhält manzwei NDC Diagramme. Zur Bewertung der Diagramme wurden mit Hilfevon Schlittenversuchen (mit Freiwilligen, BioRID und Hybrid IIIDummys) Korridore für Toleranzbereiche entwickelt. Diese Korridorekönnen jedoch noch nicht als abschliessend betrachtet werden. Eine Studievon Kullgren et al. (2003) kam zu dem Schluss, dass das NDC nicht gut mitdem realen Risiko, eine HWS-Verletzung zu erleiden, korreliert. Sonstwurden bis heute keine zusätzlichen umfangreichen Arbeiten zum NDCveröffentlicht und es wird entsprechend selten verwendet.

Von Kuppa et al. (2005) wurde vorgeschlagen, die Rotation des Kopfesrelativ zum Torso als Verletzungskriterium fürHalswirbelsäulenverletzungen einzuführen. Das Kriterium wurde unterVerwendung von magnetohydrodynamischen Winkelsensoren, die in einenHybrid III Dummy eingebaut wurden, entwickelt.

Das “whiplash injury criterion” (WIC) betrachtet das obere und untereMoment um die y-Achse (Flexion/Extension) am Hals [Munoz et al. 2005].Nach Experimenten mit einem BioRID wurde das WIC Kriterium als dieDifferenz zwischen dem Moment um die okzipitalen Kondylen unddemjenigen um den Sensor auf Höhe von T1 definiert. Das Kriterium sollin Bezug zur S-Verformung stehen, hat bisher jedoch nicht vielAufmerksamkeit erfahren.

4.4.7 Korrelation zwischen Verletzungskriterien und -risiko

Da bis heute kein Verletzungsmechanismus für AIS1Halswirbelsäulenverletzungen eindeutig identifiziert werden konnte,gestaltet sich die Valdierung der entsprechenden Verletzungskriterienschwierig. Es sind daher Methoden anzuwenden, die zwar keinen Bezug zueinem Verletzungsmechnismus haben, aber trotzdem geeignet sind, um dieStärke, mit der ein Kriterium mit dem tatsächlichen Verletzungsrisikokorreliert, zu untersuchen. Die Ergebnisse solcher Korrelationsanalysen

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136 Verletzungen der Wirbelsäule

können dann auch verwendet werden, um Crashtests zur Bewertung desVerletzungsrisikos zu entwickeln.

Es wurden zwei Studien veröffentlicht, in denen die Qualität, mit derVerletzungskriterien AIS1 Halswirbelsäulenverletzungen voraussagen,untersucht wurde. Die Studien verwendeten verschiedene Methoden undeignen sich daher gut, um vergleichend aufzuzeigen, wie die Korrelationzwischen Verletzungskriterien und dem realen Verletzungsrisiko analysiertwerden kann.

Kullgren et al. (2003) rekonstruierten reale Verkehrsunfälle zurValidierung verschiedener Verletzungskriterien. Die benötigten Daten zurRekonstruktion stammen dabei von Fahrzeugen, die mit einemUnfalldatenschreiber ausgerüstet waren und so die technischen Parametereiner Kollision aufzeichneten. Des Weiteren standen medizinischeInformationen über die von den Fahrzeuginsassen erlittenen Verletzungenzur Verfügung.

Eine Fahrzeugflotte von über 40’000 mit Unfalldatenspeichernausgestatteten Fahrzeugen wird seit 1996 in Schweden zuForschungszwecken beobachtet. Alle Unfälle dieser Fahrzeuge werden —unabhängig von den Reparaturkosten oder etwaigen Verletzungen —aufgenommen. Zur Auswertung in dieser Studie wurden die folgendenEinschlusskriterien definiert: das Fahrzeug musste eines der drei in derFahrzeugflotte am häufigsten vorkommenden Typen sein, der Unfallmusste ein einmaliger Heckanstoss sein, bei dem ein Crashpulsaufgezeichnet wurde und schliesslich durften die Insassen auf denVordersitzen keine früheren länger anhaltenden AIS1 Halswirbelsäulen-Beschwerden gehabt haben. 79 Unfälle mit 110 Insassen wurdenausgewertet. In numerischen Simulationen wurden Modelle der Vordersitzeder drei gewählten Fahrzeugtypen mit den gemessenen Crashpulsenbeaufschlagt. Die Insassen wurden dabei durch das Modell eines BioRIDdargestellt. Die berechneten Belastungen des Dummys wurdenanschliessend mit den realen Verletzungsdaten korreliert. Es zeigte sich,dass das NICmax, das Nkm, das NDC und das Moment, gemessen amunteren Sensor des Halses (Höhe T1), geeignet waren, AIS1 Verletzungenvorauszusagen.

Hinsichtlich der Fahrzeugbeschleunigung als Verletzungsindikator,fanden Kullgren et al., dass das Risiko länger andauernder HWS-Beschwerden (d.h. die Beschwerden halten länger als einen Monat an)unterhalb von 5 g mittlere Beschleunigung sehr gering war. Bei einermittleren Beschleunigung über 7 g scheint das Risiko jedoch gegen 100 %zu gehen. Keiner der Insassen beklagte hingegen Beschwerden für mehr alseinen Monat, solange die mittlere Beschleunigung unterhalb von 3 g lag.

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Verletzungskriterien 137

Des Weiteren zeigte sich, dass das NICmax und das Nkm unterVerwendung eines BioRID als Mensch-Modell angewendet werden kann,um das Risiko einer AIS1 Halswirbelsäulenverletzung zu beurteilen.Zusammen mit der statistischen Auswertung ergaben sich für den NICmaxund das Nkm eine relative hohe positive und eine sehr hohe negativeVorhersagenswahrscheinlichkeit. Dies legt nahe, dass beideVerletzungskriterien eine hohe Trennschärfe aufweisen und daher beide zurRisikoabschätzung hinsichtlich AIS1 Halswirbelsäulenverletzungenverwendet werden sollten. Es wurde daher vorgeschlagen, dass sowohl dasNICmax wie auch das Nkm bei der Auswertung von Crashtests vonHeckkollisionen angewendet werden sollte.

(4.8)

In einem ersten Ansatz wurde als Kombination der beiden Kriterien dasMIX Kriterium entwickelt (Gleichung 4.8). Der Index “av” steht für dasdurchschnittliche NICmax bzw. Nkm der jeweiligen Messung. Es konnte imRahmen der Studie zwar gezeigt werden, dass das MIX geeignet ist, dasRisiko für Halswirbelsäulenverletzungen zu bewerten, weitere Studien zurAnwendung des Kriteriums sind jedoch noch erforderlich.

Hinsichtlich des NDC wurde keine Korrelation zum realenVerletzungsvorkommen gefunden. Teilweise wurde dies damit erklärt, dassdas NDC entwickelt wurde, um mit Hilfe eines Hybrid III Dummys AIS1Halswirbelsäulenverletzungen zu untersuchen, während in dieser Studie einBioRID verwendet wurde. Das unten am Hals gemessene Moment zeigteebenfalls nur eine geringe Anwendbarkeit.

Die zweite Studie wurde von Muser et al. (2003) publiziert. Hier wurdedie Korrelation zwischen Verletzungskriterien und realemVerletzungsrisiko aufgrund von Ergebnissen von Schlittenversuchen sowieder Auswertung einer Unfalldatenbank untersucht. Mit verschiedenenSitzen aktueller Fahrzeugmodelle wurden Schlittentests durchgeführt.Dabei wurden zwei verschiedene Dummy-Typen verwendet: der BioRIDund der RID2. Nach Auswertung der Schlittenversuche wurden dieErgebnisse mit dem Verletzungsrisiko gemäss einer Unfalldatenbankkorreliert. Die Korrelation wurde graphisch beurteilt, in dem für jedenDummy-Typ und jeden ausgewerteten Parameter lineare Trendlinienbestimmt wurden.

Die in dieser Studie verwendete Datenbank wurde vom GDV(Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft) aufgebaut unddiente als Basis für die Ermittlung des realen Verletzungsrisikos. Die

MIXNICmaxNICav

---------------------⎝ ⎠⎜ ⎟⎛ ⎞2 Nkm

Nav-----------⎝ ⎠⎜ ⎟⎛ ⎞2

+=

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138 Verletzungen der Wirbelsäule

Datenbank erfasst Kollisionen, die einer grossen deutschenVersicherungsgesellschaft gemeldet werden und wurde hinsichtlichHeckkollisionen in den Jahren 2000 und 2001 ausgewertet (N= ca.300’000). Zur Auswertung in dieser Studie mussten folgendeEinschlusskriterien erfüllt sein: • Kollisionstyp: Heckkollision • entsprechende Daten aus Schlittenversuchen müssen vorhanden sein• es müssen mindestens 100 Fälle pro Fahrzeugmodell vorliegen

Es wurden fünf verschiedene Fahrzeugmodelle gefunden, die alleKriterien erfüllten. Für jedes Modell wurde die Verletzungshäufigkeit ausder Datenbank extrahiert. Die Verletzungskriterien, die mittels derSchlittenversuche bestimmt wurden, wurden dann durch das Aufzeichnenlinearer Trendlinien (je Dummy-Typ und je gemessenem Parameter) mitder Verletzungshäufigkeit korreliert. Mit dieser Methode war es möglich,das Schutzpotential eines Sitzsystems zu quantifizieren. Es konnte gezeigtwerden, dass der Lastfall Nea des Nkm bei Verwendung eines BioRID diestärkste Korrelation zum Verletzungsrisiko aufweist. Auch das NICmaxzeigte jeweils eine positive Korrelation zwischen Verletzungsrisiko und denin den Schlittenversuchen gemessenen Parametern. Wegen derbeschränkten Anzahl an derzeit in der Datenbank registierten Fällen (nurfünf Fahrzeugmodelle erfüllten die Einschlusskriterien) wurde daraufhingewiesen, dass weitere Abklärungen notwendig sind, um die Ergebnissebesser abzustützen.

4.5 Wirbelsäulenverletzungen im Sport

Für Sportunfälle, die zu Wirbelsäulenverletzungen führen, gelten ebenfallsdie oben beschriebenen Grundsätze. Zusätzlich können direkte Anpralle andie Wirbelsäule beobachtet werden.

Zerrungen von Muskeln oder ligamentären Strukturen sindwahrscheinlich die häufigsten (leichten) Halswirbelsäulenverletzungen imSport. Auch treten oft Kompressionsfrakturen auf. Frakturen durchrepetitive Belastung, wie beispielsweise sakrale Ermüdungsfrakturen, diequasi ausschliesslich im Laufsport auf Leistungssport-Niveau berichtetwerden, sind hingegen eher selten (s. Kap. 9).

Am verletzlichsten ist die Halswirbelsäule; der häufigsteVerletzungsmechanismus ist eine Kompression-Flexion (Abb. 4.9). Inneutraler Position weist die Halswirbelsäule wegen der normalen Lordoseeine Extension auf. Wird der Hals etwas nach vorne gebeugt (Flexion um

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Wirbelsäulenverletzungen im Sport 139

ca. 30°) wird die Halswirbelsäule gestreckt, sie wird gerade ausgerichtet.Wird nun eine Kraft auf den Scheitelpunkt des Kopfes aufgebracht, so wirddie Belastung ohne grössere Absorption der Energie durch dieparavertebrale Muskulatur entlang der Längsachse der Halswirbelsäuleübertragen. Folglich wird die Halswirbelsäule zwischen Kopf und Torsokomprimiert. Frakturen, Luxationen oder Dislokationen können die Folgesein. Ein solcher Mechanismus kann bei Bewegungen, die Kopf voranausgeführt werden, beispielsweise im American Football, inKontaktsportarten wie auch beim Kunstspringen (Kopfsprung), auftreten.

Nach Kopfsprüngen in seichtes Wasser werden, insbesondere in Fällenmit Kopfanprall, oftmals Verletzungen durch axiale Kompressionbeobachtet. Für Verletzungen durch axiale Kompression weisen die Wirbelim Bereich zwischen C5 und C7 ein besonderes Risiko auf [Aito et al.2005, Boden und Jarvis 2008, Wennberg et al. 2008].

Schwere Verletzungen des zervikalen Rückenmarks kommen beiSportunfällen glücklicherweise nur selten vor. Solche Verletzungen werdeneher im Brust- oder Lendenwirbelbereich beobachtet. Insbesondereinstabile Frakturen und Dislokationen können schwereRückenmarksverletzungen verursachen, die zu dauerhaften neurologischenSchäden führen können. Meistens treten diese Verletzungen in der unterenHalswirbelsäule auf [z.B. McIntosh und McCrory 2005, Boden und Jarvis2008].

Im Gegensatz dazu können vorübergehende Lähmungen (Quadriplegien,Paresen) im klinischen Erscheinungsbild grosse Unterschiede bezüglichSchwere und entsprechenden Ausfällen aufweisen [z.B. Vaccaro et al.2002]. Vom zervikalen Rückenmark können Episoden vorübergehenderQuadriplegie ausgehen. Der Episode folgt in der Regel nach 10-15 min.,manchmal jedoch auch erst nach zwei Tagen, eine vollständige Erholung[Torg et al. 2002]. Eine solche Neuropraxia wird entsprechend der Art derneurologischen Defizite klassifiziert. Der Ausdruck Plegie wird fürEpisoden mit vollständiger Lähmung verwendet, Parese für Episoden mitmotorischer Schwäche und Parästhesie für Episoden, die sich durchSensibilitätsstörungen ohne motorische Beeinträchtigung auszeichnen.

Bei Athleten mit verengtem anterposteriorem Durchmesser desSpinalkanals kann das Rückenmark bei forcierter Hyperextension oderHyperflexion komprimiert werden und so zu vorübergehenden moto-sensorischen Beeinträchtigungen führen. Penning (1962) beschrieb dieseKompression des zervikalen Rückenmarks als “Zangen-Mechanismus”.Pavlov et al. (1987) schlugen daher vor, das Grössenverhältnis zwischenSpinalkanal und Wirbelkörper zu bestimmen, um zu überprüfen, ob einSportler einen engen Spinalkanal aufweist und damit einem höheren Risiko

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140 Verletzungen der Wirbelsäule

einer Rückenmarkskompression ausgesetzt ist. Das Verhältnis zwischenSpinalkanal und Wirbelkörper berechnet sich dabei aus dem Abstandzwischen dem Mittelpunkt des hinteren Teils des Wirbelkörpers und demnächsten Punkt auf der entsprechenden spinolaminären Linie geteilt durchdie anteroposteriore Weite des Wirbelkörpers. Normalerweise liegt dasSpinalkanal-Wirbelkörper-Verhältnis unabhängig von Geschlecht oderAlter nahe beim Wert 1. Patienten mit zervikaler Neuropraxia weisen aufeinem oder mehreren Niveaus ein Verhältnis von 0.8 oder weniger auf.

In den thorakalen und lumbalen Segmenten der Wirbelsäule werdenähnliche Verletzungsmuster wie in der Halswirbelsäule beobachtet.Kompressionsfrakturen lumbaler Wirbelkörper werden beispielsweise auchim Schneesport erlitten [Yamakawa et al. 2000, Franz et al. 2008]. DesWeiteren werden häufig lumbale Rückenschmerzen beklagt. Ganzallgemein wird geschätzt, dass 85-90 % der erwachsenen Bevölkerungwährend ihres Lebens irgendwann einmal unter lumbalen Rückschmerzenleiden [Trainor und Wiesel 2002]. Folglich leiden auch Sportler untersolchen Rückenschmerzen, wobei jedoch nicht klar abzugrenzen ist, ob siemit einem höheren Risiko behaftet sind [Bono 2004]. Manche Studiendeuten an, dass für gewisse Athleten (z.B. Ringer, Turner) ein höheresRisiko für Rückenschmerzen vorliegt; die Ergebnisse sind jedoch nochnicht abschliessend. Verschiedene Risikofaktoren wie die Flexibilität derlumbalen Wirbelsäule, die Funktion der unteren Extremitäten oder derEinfluss von (Sport-) Schuhen wurden in diesem Zusammenhanguntersucht. Als grösser Prädiktor hinsichtlich Rückenschmerzen beiSportlern konnte bisher eine Krankengeschichte mit früher bereitserlittenen Rückenschmerzen identifiziert werden, d.h. wer bereits einmalentsprechende Schmerzen hatte, weist eine grössere Wahrscheinlichkeitauf, nochmals welche zu erleiden [Bono 2004].

Sportliche Aktivität scheint ein Risikofaktor für eine Degeneration derBandscheiben zu sein, wobei das Ausmass der Degeneration von derSportart und der Intensität, mit der diese betrieben wird, abhängt [Sward etal. 1991]. Die Häufigkeit einer Spondylolyse ist bei Sportlern nicht grösserals bei der allgemeinen Bevölkerung. Manche Arbeiten deuten jedochdarauf hin, dass für spezielle Sportarten wie Gewichtheben, Kunstspringenoder Ringen von einer erhöhten Häufigkeit auszugehen ist [Bono 2004].

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Prävention von HWS-Verletzungen 141

4.6 Prävention von HWS-Verletzungen

Die Ursachen für Halswirbelsäulenverletzungen im Sport sind zahlreichund hängen beispielsweise von der Sportart, der Konstitution des Athletenund der konkreten Belastungssituation ab. Daher ist es kaum möglich eineallgemeingültige Präventionsstrategie aufzustellen und anzuwenden. Füreinige Sportarten wie American Football wurden spezielle Halskragenentwickelt, die die HWS-Belastungen reduzieren sollen [Rowson et al.2008]. Die Anwendbarkeit solcher Ausrüstungen ist jedoch auf gewisseSportarten beschränkt, da sie mit einer Reduktion der Beweglichkeit vonKopf und Hals einhergeht.

Im Strassenverkehr sind Weichteilverletzungen der Halswirbelsäule vongrosser Bedeutung. Daher zielt die Entwicklung von Fahrzeugsitzen daraufab, Sitze zu konstruieren, die auch hierfür einen guten Schutz bieten. Diesist jedoch ein schwieriges Unterfangen, da der Verletzungsmechanismusnicht vollständig bekannt ist. Im Sinne eines holistischen Ansatzes wurdenGrundsätze zur Entwicklung von Sitzen mit guter Schutzwirkungformuliert [Walz und Muser 1995, Lundell et al. 1998]. Diese Grundsätzestellen die Minimierung der Relativbewegung zwischen Kopf und Thoraxin den Vordergrund, wodurch nach quasi allen gängigen Hypothesen zumVerletzungsmechanismus die biomechanische Belastung des Halsesreduziert würde. Ein solcher Ansatz birgt jedoch das Risiko, dass einerheblicher Aufwand betrieben wird, um gewisse Belastungen der HWS zureduzieren, die letztlich jedoch nicht für die entsprechenden Beschwerdenverantwortlich sind, oder um Belastungen zu reduzieren, die bereits vorBeginn der Sitzoptimierung unkritisch waren. Die stetig steigende Anzahlan Patienten mit HWS-Beschwerden und die damit verbundenengesellschaftlichen Kosten verlangen jedoch, dass dieses Risikoeingegangen wird und Massnahmen ergriffen werden, selbst wenn es nochlängere Zeit dauert, ehe die zugrunde liegende Biomechanik restlos geklärtist.

Es wird angenommen, dass ohne relative Beschleunigung zwischenKopf und Torso keine HWS-Beschwerden entstehen. Ein Reduktion dieserrelativen Beschleunigung führt insbesondere auch zu guten Werten desVerletzungskriteriums NIC, das oft verwendet wird, um das Risiko vonHalwirbelsäulenverletzungen zu bewerten. Berücksichtigt manHypothesen, die eine Relativbewegung zwischen benachbarten Wirbeln alsverletzungsinduzierend betrachten, so muss diese Bewegung verhindertwerden. Daher sollte die natürliche Krümmung der Wirbelsäule währendeiner Kollision unverändert beibehalten werden. Zudem ist die Phase der

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142 Verletzungen der Wirbelsäule

Vorwärtsbewegung (“rebound phase”), in der ebenfalls eine S-Verformungder HWS auftreten kann, zu berücksichtigen. Um die Wechselwirkung mitdem Sicherheitsgurt zu minimieren, ist die Rückfederung des Sitzes zureduzieren.

Das Potential eines Sitzes, HWS-Beschwerden zu verhindern, wirdmittels Versuchen, in denen Beschleunigungen, Kräfte, Momente unddaraus abgeleitete Verletzungskriterien bestimmt werden, beurteilt. Umeine breite Basis zur Analyse und Beurteilung zu gewährleisten, sollte mandabei nicht ausschliesslich auf einen Belastungswert bzw. einVerletzungskriterium abstellen. Alle Werte bzw. Kriterien sind zureduzieren. Wegen der mit dem Verletzungsmechanismus verbundenenUnsicherheit, ist der Anstieg eines Wertes — selbst bei gleichzeitigerReduktion eines anderen — zu vermeiden.

Heute sind verschiedene Sitzsysteme zur Prävention von HWS-Beschwerden erhältlich und erste Studien zeigen bereits, dass solcheSysteme die Fähigkeit besitzen, das Verletzungsrisiko signifikant zureduzieren [Boström und Kullgren 2007, Kullgren et al. 2007, Farmer et al.2008]. Im Prinzip können alle Hauptkomponenten eines Fahrzeugsitzes, seies die Kopfstütze, die Sitzlehne (einschliesslich Lehnengelenk), dieSitzfläche oder die Sitzschiene als Basis für die Entwicklung einesSchutzsystems dienen. Im Folgenden werden verschiedene aktuelleSysteme zusammengefasst.

4.6.1 Kopfstützen-Geometrie und -Material

Kopfstützen, die ursprünglich eingeführt wurden, um schwere, durchHyperextension verursachte Halswirbelsäulenverletzungen zu verhindern,können auch eine plötzliche Relativbewegung zwischen Kopf und Torso(S-Verformung) verhindern. Dieses Schutzpotential kann jedoch nurgenutzt werden, wenn die Kopfstütze korrekt eingestellt werden kann.

Der Einfluss der Kopfstützen-Geometrie auf das Schutzpotential derKopfstütze wurde in verschiedenen Studien untersucht. Eine Reduktion vonFällen mit HWS-Beschwerden konnte bei Zunahme der (einstellbaren)Kopfstützenhöhe festgestellt werden [Eichberger et al. 1996, Hell et al.1998, Ferrari 1999]. In ähnlicher Weise zeigte sich der Einfluss desAbstands zwischen Kopf und Kopfstütze [Ferrari 1999, Hofinger et a.1999, Wiklund und Larsson 1998]. Je kleiner dieser Abstand ist, destoeffektiver wird die S-Verformung verhindert.

Obwohl sich die Konstruktion von Kopfstützen gemäss InsuranceInstitute for Highway Safety (IIHS) über die letzten Jahre verbessert hat,

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Prävention von HWS-Verletzungen 143

kann die Höhe einiger Kopfstützen für einen mittelgrossen Mann nichtausreichend hoch eingestellt werden [Chapline et al. 2000]. Einerseits kanndies an einer schlechten Kopfstützen-Geometrie liegen, die sichkonstruktionsbedingt nicht richtig einstellen lässt, andererseits kommt esoft vor, dass Fahrzeuginsassen die Kopfstütze nicht korrekt einstellen.Hinsichtlich der Kopfstützen-Höhe wird eine minimale Höhe empfohlen,bei der die Oberkante der Kopfstütze auf gleicher Höhe wie derScheitelpunkt des Kopfes ist. So soll gewährleistet sein, dass derSchwerpunkt des Kopfes auch in Fällen abgestützt wird, in denen er sichdurch ein Aufrichten der Brustwirbelsäule (wie dies bei Heckkollsionenbeobachtet wird, wenn die Kyphose durch die Sitzlehne gestreckt wird)leicht nach oben bewegt. Zudem sollte die Kopfstütze so nahe am Kopfanliegen wie möglich. Einige Hersteller bieten daher aktive bzw. re-aktiveKopfstützen-Systeme an, die den Abstand zwischen Kopf und Kopfstützereduzieren (s. Kap. 4.5.2). Des Weiteren sind Zusatzkopfstützen zurMinimierung des Abstands zwischen Kopf und Kopfstütze erhältlich.

Es kann jedoch nicht nur die Geometrie einer Kopfstütze optimiertwerden. Auch die innere Struktur, inbesondere das verwendete Material(Padding) kann modifiziert werden, um HWS-Beschwerden zu verhindern.Schmitt et al. (2003a) untersuchten den möglichen Vorteil der Verwendungvon Energie absorbierenden Schäumen als Kopfstützen-Material.Zusammenfassend zeigte die Studie, dass die Verwendung visko-elastischerSchäume die maximale Beschleunigung des Kopfes deutlich reduziert (Abb4.17). Eine Reduktion des NICmax wurde hingegen erst beiHeckkollisionen mit höherer Geschwindigkeitsänderung (delta-v)beobachtet. Für solche Heckkollisionen deuten numerische Simulationenauch darauf hin, dass dickere Kopfstützen die Belastung auf Kopf und Halsreduzieren. Verwendet man statt dem im Fahrzeuginnenraumgebräuchlichen Polyurethan-Schaum einen visko-elastischen Schaum, soreduzierten sich die Belastungen weiter. Der grosse Einfluss des initialenAbstandes zwischen Kopf und Kopfstütze wurde somit bestätigt. DieseErgebnisse bestätigen zudem eine Studie von Szabo et al. (2002), in derverschiedene Sitze und Sitzlehnen-Schäume analysiert wurden. Selbstwenn visko-elastische Schäume verwendet wurden, hatte die Sitz-Geometrie einen dominierenden Einfluss auf die Inassenkinematik und dasRisiko HWS-Beschwerden zu erleiden. Andererseits könnte die Kontrolleder Insassenkinematik durch eine optimierte Sitzlehnengeometriegemeinsam mit einer angepassten Verteilung der Steifigkeit des Schaumesin Sitzlehne und Kopfstütze ein praktikabler Ansatz sein, um ohnegrösseren technischen Konstruktionsaufwand eine Schutzwirkung zuerzielen. Ein entsprechender Ansatz wurde im System WIL (Whiplash

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144 Verletzungen der Wirbelsäule

Injury Lessening) umgesetzt [Sekizuka 1998, Sawada und Hasegawa2005].

4.6.2 Systeme zur Optimierung der Kopfstützen-Position

Gemäss dem oben beschriebenen Paradigma keine Relativbewegungzuzulassen, könnten HWS-Beschwerden theoretisch vermieden werden,indem der Kopf im Fall einer Kollision direkt an der Kopfstütze anliegt.Verschiedene Ideen wurden publiziert, wie dies erreicht werden könnte.Muser et al. (1994) entwickelten eine Kopfstütze, die mit kapazitivenSensoren und elektrischer Aktorik ausgestattet war, so dass immer einvoreingestellter Abstand zum Kopf eingehalten wurde, d.h. die Kopfstützefolgte etwaigen Kopfbewegungen des Insassen automatisch nach. Vorallem aus Kostengründen kam das System damals nicht auf den Markt,heute ist es jedoch in einigen Luxusfahrzeugen verfügbar. Auf Basis eines

Abb. 4.17 Einfluss verschiedener Kopfstützen-Schäume auf dieKopfbeschleunigung (hier gemäss numerischer Simulation bei einem delta-v Wertvon 30 km/h). Die maximale Beschleunigung reduziert sich bei Verwendung einerdickeren Kopfstütze signifikant, wobei die Reduktion für einen visko-elastischen(VE) Schaum grösser ausfällt als für einen Polyurethan- (PU) Schaum [Schmitt etal. 2003b].

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Prävention von HWS-Verletzungen 145

ähnlichen Kopfstützen-Designs schlugen Matsubayashi et al. (2007) vorzusätzlich ein Radarsystem zu installieren, welches unvermeidbareHeckkollisionen erkennt. Besteht ein hohes Risiko eines Anpralls, warntdas System die Fahrzeuginsassen und führt die Kopfstütze näher an denKopf der Insassen heran.

Das System SAHR [Wiklund und Larsson 1998] ist ein re-aktivesKopfstützensystem: es bewegt die Kopfstütze im Fall eines Anpralls nachoben sowie näher in Richtung Kopf des Insassen. Somit wird der Abstandzwischen Kopf und Kopfstütze nur dann verringert, wenn es notwendig ist.Abbildung 4.18 illustriert das Prinzip dieser selbstausrichtendenKopfstütze. Der sich in Richtung Sitzlehne bewegende Torso drückt aufeine Platte, die mittels Hebelarm mit der Kopfstütze verbunden ist. DieserWippen-Mechanismus bewegt die Kopfstütze relativ zum Insassen nachoben und nach vorne, was zu einem früheren Kopfkontakt führt.Verschiedene Studien konnten den Präventionseffekt bezüglichWeichteilverletzungen der Halswirbelsäule nachweisen [z.B. Viano undOlsen 2001, Muser et al. 2002]. Das SAHR System ging als eines der erstenSchutzsysteme 1997 in die Serienproduktion ein. Seither ist dasKonstruktionsprinzip weit verbreitet und es wurden diverse ähnlicheSysteme vorgestellt.

Abb. 4.18 Prinzip des SAHR-Systems [nach Viano und Olsen 2001].

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146 Verletzungen der Wirbelsäule

Des Weiteren wurden Systeme vorgestellt, die die Kopfstütze im Falleiner Kollision nach vorne bewegen ohne dabei auf eine Kraftkopplungzum Insassen angewiesen zu sein. Manche Systeme verwenden mehr oderweniger klassische, in die Kopfstütze integrierte Airbags, die jedochlangsamer, mit Druckluft, aufgeblasen werden. Ein anderes, inSerienproduktion eingebautes System (Abb. 4.19) verwendet vorgespannteFedern als Energiequelle. Als Argument für solche aktiven Systeme wirdoftmals angeführt, dass ein Insasse, der leichter ist als z.B. ein 50-perzentiler Mann, wegen seinem geringeren Körpergewicht nicht genugKraft aufbringt, um Systeme vom SAHR Typ weit genug nach vorne zubewegen.

Verschiedene Zusatz-Kopfstützen zum Nachrüsten, die im Wesentlichenaus einem zwischen Kopfstütze und Kopf plazierten Kissen bestehen,können ebenfalls den Abstand zwischen Kopf und Kopfstütze reduzieren.Solche Systeme können einen signifikanten Beitrag zur ReduktionVerletzungsrisiko beitragen. Allerdings wird oftmals eingewendet, dass einzu kleiner Kopf-Kopfstützen-Abstand nicht komfortabel sei, so dass solcheNachrüstsysteme auf eine Verwendung bei alten Fahrzeugsitzen mit einemAbstand von 10 cm oder mehr beschränkt seien.

4.6.3 Systeme mit kontrollierter Bewegung des Sitzes

Ein weiterer Ansatz postuliert, dass nicht die Relativbewegung an sich zueinem erhöhten Risiko für Halswirbelsäulenverletzungen führt, sondernvielmehr deren “Heftigkeit” im Sinne von relativer Geschwindigkeit undBeschleunigung. Es sollte demnach möglich sein, das Verletzungsrisiko zureduzieren, in dem z.B. durch ein dämpfendes System in der Sitzlehne dieBeschleunigung des oberen Torsos verringert und folglich auch die relative

Abb. 4.19 Crash-aktive Kopfstütze (CAK)[Keiper 2006].

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Prävention von HWS-Verletzungen 147

Geschwindigkeit zwischen Kopf und Torso reduziert wird. Der WHIPS Sitz [Lundell et al. 1998] zeichnet sich durch ein

Lehnengelenk aus, das eine kontrollierte Rückwärtsbewegung der Lehnewährend einer Heckkollison erlaubt. Wird eine kritische Belastungüberschritten, wird die Bewegung in zwei Schritten ausgeführt: einertranslatorischen Rückwärtsbewegung der Sitzlehne folgt eineDrehbewegung, durch die sich die Lehne neigt (Abb. 4.20). Versuche unterBedingungen einer leichten Heckkollision zeigten, dass durch einenWHIPS Sitz vorteilhafte HWS-Verletzungskriterien erreicht werden [z.B.Hell et al. 1999, Muser et al. 2000, Langwieder et al. 2000]. Das WHIPSSystem ist ebenfalls eines der ersten Systeme, das auf den Markt gebrachtwurde, so dass es mittlerweile entsprechend verbreitet ist, um statistischeAnalysen zu seinem Schutzpotential machen zu können [Jakobsson 2005,Jakobsson et al. 2008].

Ähnliche Effekte können auch mit Systemen, die an anderenSitzkomponenten angreifen, erreicht werden. Die Sitzschiene, die eineLängsverstellung des Sitzes ermöglicht, diente beispielsweise alsAngriffspunkt für ein solches System [Schmitt und Muser 2002, Schmitt etal. 2003c, 2003d]. Unter der Annahme, dass die relative Beschleunigungzwischen Kopf und T1 und folglich auch das NICmax, reduziert werdenmüssen, um HWS-Beschwerden zu verhindern, wurde eine Möglichkeitgeschaffen, die eine translatorische, gedämpfte Bewegung des Sitzes relativzum Fahrzeug erlaubt. Daraus resultiert eine zeitliche, später auftretendeBeschleunigung des Torsos, wodurch die Belastung von Kopf und oberemTorso synchronisiert wird.

Abb. 4.20 Der WHIPS Sitz ermöglicht eine rückwärts gerichteteTranslatsionsbewegung, der sich eine Rotation der Sitzlehne anschliesst [nachLundell et al. 1998].

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148 Verletzungen der Wirbelsäule

Schlittenversuche und numerische Simulationen konnten zeigten, dassbereits ein relativ kleiner Deformationsweg der Sitzschiene (ca. 40 mm)ausreicht, um eine signifikante Reduktion der Verletzungskriterien wieNICmax und Nkm zu erreichen. Da die Sitzschiene relativ leichtauszutauschen ist, sind Änderungen an der Sitzschiene wesentlich leichtervorzunehmen als beispielsweise Änderungen des Lehnengelenks.

Daher wird auch das System WipGARD [Zellmer et al. 2001], ein füreinige Volkswagen Modelle geeignetes System zum Nachrüsten, zwischenSitzschiene und Fahrzeugbogen montiert. Wie WHIPS erlaubt auchWipGARD eine Translation und Rotation der Sitzlehne. Beim WipGARDführt jedoch der gesamte Sitz diese Bewegung aus (Abb. 4.21). ZumAuslösen des WipGARD muss eine kritische Kraft überschritten werden.

Mit fortschreitender Durchsetzung des Marktes mit den beschriebenenSystemen, deuten erste Studien darauf hin, dass einige Systeme tatsächlicheinen signifikanten positiven Effekt im Sinne einer Reduktion desVerletzungsrisikos aufweisen [Jakobsson und Norin 2004, Krafft et al.2004].

Abb. 4.21 Auch das WipGARD System erlaubt Rotation sowie eineTranslationsbewegung (oben). Um die Sitzfläche anzuheben muss eine Nieteabgerissen werden (unten) [nach Zellmer et al. 2001].

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Zusammenfassung 149

4.7 Zusammenfassung

Die Halswirbelsäule ist derjenige Bereich der Wirbelsäule, der sowohl imSport wie auch bei Strassenverkehrsunfällen am häufigsten verletzt wird.Im Strassenverkehr sind dabei insbesondere AIS1 Verletzungen der HWSvon Bedeutung. Obwohl der Verletzungsmechanismus noch nichtvollständig geklärt ist, wurden Ansätze verfolgt, um das Verletzungsrisikodurch verbesserte Fahrzeugsitze zu reduzieren. Die Einführung vonstandardisierten Sitztests und entsprechenden Bewertungen der Sitze (z.B.im Rahmen des EuroNCAP) sollen solche Anstrengungen forcieren. DieKorrelation zwischen dynamischen Tests und dem realen Verletzungsrisikoist daher entscheidend. Derzeit wurden verschiedene Verletzungskriterienvorgeschlagen, wobei NIC und Nkm am weitesten verbreitet sind.Nichtsdestotrotz sind weitere Forschungsanstrengungen notwendig, um diebiomechanischen Grundlagen zu verbessern — beispielsweise im Hinblickauf das höhere Verletzungsrisiko von Frauen.

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5 Thoraxverletzungen

Verletzungen des Thorax werden im Allgemeinen in Frontal- undSeitenkollisionen sowie in Kollisionen, deren Anprallwinkel zwischendiesen beiden Extremen liegt, erlitten. Häufig entstehenThoraxverletzungen durch direkten Anprall, beispielsweise an Strukturendes Fahrzeuginnenraums wie dem Lenkrad, dem Sicherheitsgurt, der Türeoder dem Armaturenbrett. Im Sport kann ein Anprall durch Kontakt miteinem Mitspieler (Fussball, Eishockey) oder durch Schläge (Boxen,Taekwondo) erfolgen.

Die meisten Thoraxverletzungen entstehen als Folge eines stumpfenAnpralls. Verletzungen durch Kontakt mit spitzen, scharfkantigen Objektensind im Rahmen von Strassenverkehrsunfällen selten. Sie können allenfallsdurch Gegenstände im Fahrzeuginnenraum verursacht werden oderkommen vor, wenn ein Fahrzeuginsasse aus dem Fahrzeugherausgeschleudert wird. Dieses Kapitel konzentriert sich daher auf Fällemit stumpfem Anprall.

5.1 Anatomie des Thorax

Der Thorax besteht aus dem Brustkorb und den darunter liegendenOrganen. Er erstreckt sich von der unteren Halswirbelsäule bis zumZwerchfell, welches den Thorax nach unten hin abschliesst und ihn vomAbdomen trennt (Abb. 5.1).

Der Brustkorb wird von 12 Rippen-Paaren geformt. Diese sind posteriormit der Brustwirbelsäule (T1-T12) verbunden. Auf der vorderen Seite desThorax sind die sieben oberen Rippen mit dem Brustbein knorpeligverwachsen, während die unteren Rippen indirekt mit dem Brustbeingekoppelt oder mit Muskeln und der Bauchdecke verbunden sind.Untereinander sind die Rippen durch innere und äussere Muskeln(interkostale Muskulatur) verbunden.

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158 Thoraxverletzungen

Abb. 5.1 Anatomie des Thorax [nach Sobotta 1997, Netter 2003].

Ansicht von links.

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Anatomie des Thorax 159

Da die Verbindungen mit den Wirbelkörpern, der interkostalenMuskulatur und dem Brustbein nicht steif sind, sondern eine gewisseFlexibilität aufweisen, bildet der Brustkorb eine zwar stabile, aber dochdeformierbare Schutzhülle für die inneren Organe und unterstützt zudemdie Atmung.

Während der Brustkorb eines Neugeborenen sehr nachgiebig ist, nimmtdessen Steifigkeit mit dem Alter zu, wobei jedoch eine gewisseBeweglichkeit erhalten bleibt. Bei älteren Personen werden insbesonderedie Gelenke zwischen den Rippen und dem Brustbein bzw. denWirbelkörpern steifer. Zusätzlich verändern sich auch die mechanischenEigenschaften der knöchernen Rippen, die spröder werden. Dadurch steigtdas Risiko von Rippenfrakturen; die Schutzfunktion des Brustkorbs wirdreduziert.

Das vom Brustkorb umfasste Volumen kann in drei Bereiche unterteiltwerden. Der rechte und linke äussere Bereich enthält die Lungenflügel. Immittleren Teil (Mediastinum genannt) liegen u.a. das Herz, die Luftröhresowie grosse Blutgefässe.

Der linke Lungenflügel besteht aus zwei Lungenlappen, der rechteLungenflügel besitzt drei Lappen. Zwei Membrane umhüllen die Lunge:die Pleura visceralis umschliesst das Lungengewebe und die Pleuraparietalis kleidet die Innenseite des Brustkorbs (einschliesslich derkranialen Seite des Zwerchfells und der Wirbelkörper) aus. Die Pleuravisceralis und die Pleura parietalis sind nicht miteinander verbunden,sondern lassen einen kleinen Spalt. Dieser Pleura-Spalt ist einabgeschlossener Raum. Um die Lunge entfaltet bzw. luftgefüllt zu halten,herrscht im Pleura-Spalt ein Unterdruck. Kann dieser Unterdruck nichtaufrecht erhalten werden (z.B. durch eine Perforation der Brust), füllt sichder Pleura-Spalt mit Luft und die Lunge fällt in sich zusammen. DiesesPhänomen wird Pneumothorax genannt (s. auch Kap. 5.2.2).

Zur Atmung arbeiten das Zwerchfell, die Rippen und die interkostaleMuskulatur wie eine Pumpe, um Luft in die Lunge zu saugen (Inspiration)bzw. um Luft aus der Lunge herauszupressen (Exspiration). Zur Inspirationhebt sich der Brustkorb während sich das Zwerchfell senkt, so dass dasVolumen des Thorax vergrössert wird. Folglich wird die Lungeauseinandergezogen und Luft eingesogen. Zur Exspiration entspannen sichdie Thoraxstrukturen und das Zwerchfell wieder.

Das Mediastinum liegt zwischen den beiden Lungenflügeln, denBrustwirbeln und dem Brustbein und enthält neben dem Herz auch grosseBlutgefässe wie die Aorta, die Hohlvene (Vena cava), sowie dieLungenarterien und -venen (Abb. 5.1). Wegen der räumlichen Enge imMediastinum können diese Strukturen durch Druck auf den vorderen

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160 Thoraxverletzungen

Brustkorb leicht verletzt werden.

5.2 Verletzungsmechanismen

Die hier beschriebenen Thoraxverletzungen und derenVerletzungsmechanismen konzentrieren sich auf stumpfe Traumen inStrassenverkehrsunfällen. Daher werden nur Situationen betrachtet, beidenen ein flaches oder stumpfes Objekt auf den Brustkorb trifft, ohne indiesen einzudringen. Solche Situationen treten meist bei Unfällen, beidenen ein Fahrzeuginsasse an Strukturen wie dem Lenkrad, demArmaturenbrett oder an Komponenten der Rückhaltesysteme prallt, auf. Indiesem Zusammenhang sind insbesondere auch Fälle zu beachten, in denender Insasse nicht in der vorgesehenen Weise auf dem Sitz sitzt, sondern eineandere Position einnimmt ("out-of-position"), also beispielsweise die Füsseauf das Armaturenbrett legt. Des Weiteren sind Thoraxverletzungen beiälteren Fahrzeuginsassen zu berücksichtigen [Yoganandan et al. 2007].

Erfährt der Thorax einen stumpfen Anprall können drei verschiedeneVerletzungsmechanismen unterschieden werden: a) Kompression, b) eineBelastung, die durch Viskosität charakterisiert ist, und c) eine Belastung derinneren Organe durch Trägheit. Zudem können Kombinationen dieser dreiTypen auftreten.

Die resultierenden Verletzungen können als Verletzungen derknöchernen Strukturen und der Weichteile charakterisiert werden. Sehrhäufig werden der Brustkorb und die Lunge in Verbindung mitRippenfrakturen, Frakturen des Brustbeins und Rupturen der Pleuraverletzt. Falls Frakturen der Wirbel auftreten können auch Verletzungen desRückenmarks entstehen, die zu temporären neurologischen Ausfällen bishin zu Querschnittslähmungen führen können. Glücklicherweise sindsolche Verletzungen selten, ebenso wie Verletzungen der Aorta, desHerzens, der Speiseröhre und des Zwerchfells. Ein Überblick überverschiedene Verletzungen und deren AIS Code (Abbreviated Injury Scale)fasst Tabelle 5.1 zusammen. Da die heutige Fahrzeugflotte immer nocheinen nicht unerheblichen Anteil an Fahrzeugen enthält, die mit älterenRückhaltesystemen ausgerüstet sind und da ein signifikanter Teil derFahrzeuginsassen vorhandene Rückhaltesysteme wie den Sicherheitsgurtnicht oder nicht korrekt benutzt, werden entsprechend immer nochVerletzungen der knöchernen Thoraxstrukturen beobachtet (z.B. durchAnprall an das Lenkrad). Mit zunehmender Benutzung der Sicherheitsgurteund zunehmender Verbreitung von modernen Frontairbags ist zu erwarten,

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Verletzungsmechanismen 161

dass die Häufigkeit dieser Verletzungen abnehmen wird. Während dieMechanismen von Rippenfrakturen und einigen Lungenverletzungen heutebereits relativ gut bekannt sind, sind Mechanismen, die zu Verletzungen

Abb. 5.2 Mögliche Weichteil-Verletzungen des Thorax.

Tabelle 5.1 Beispiele der AIS Einteilung von Thoraxverletzungen der knöchernen Strukturen und der Weichteile [AAAM 2005].

AIS knöcherne Verletzungen AIS Weichteilverletzungen

1 eine Rippenfraktur 1 Kontusion der Bronchien

2 2-3 Rippenfrakturen; Brustbein-Fraktur

2 Einriss der Bronchien

3 4 oder mehr Rippenfrakturen auf einer Seite; 2-3 Rippenfrakturen mit Hämato- oder Pneumothorax

3 Lungenkontusion, leichte Herz-Kontusion

4 Dreschflegel-Thorax (“flail chest”); 4 oder mehr Rippenfrakturen auf jeder Seite; 4 oder mehr Rippenfrakturen mit Hämato- oder Pneumothorax

4 beidseitige Lungen-Lazeration; kleine Aorta-Lazeration; erhebliche Herz-Kontusion

5 beidseitiger Dreschflegel-Thorax (“flail chest”)

5 erhebliche Aorta-Lazeration; Lungen-Lazeration mit Pneumothorax

6 Aorten-Lazeration mit nicht auf das Mediastinum beschränkter Blutung

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162 Thoraxverletzungen

anderer Organe des Thorax führen, weniger gut erforscht. Abbildung 5.2fasst mögliche Weichteilverletzungen zusammen.

5.2.1 Rippenfrakturen

Gemäss AIS kann eine einzelne Rippenfraktur als AIS1 Verletzungbetrachtet werden. Sind 2-3 Rippen gebrochen, erhöht sich dieKlassifikation auf AIS2. Folglich sind solche Frakturen in der Regel nichtschwerwiegend und tatsächlich heilen isolierte, einzelne Rippenfrakturenüblicherweise ohne besondere Therapie von selbst. Treten jedoch multipleFrakturen auf, so kann es zu lebensbedrohlichen Komplikationen kommen.Bleiben die Haut und das über der Fraktur liegende Gewebe intakt, sprichtman von einer geschlossenen Fraktur. Perforieren scharfe Kanten dergebrochenen Rippen jedoch den Brustkorb, spricht man von offenenFrakturen. Solche offenen Frakturen sind besonders besorgniserregend, dasie zu einem Pneumothorax, einem Kollaps der Lunge oder auch zuInfektionen führen können. Gebrochene Rippen können zudem die Pleuravisceralis und/oder parietalis perforieren und dadurch Atemproblemeverursachen.

Im Allgemeinen entstehen durch eine sagittale Belastung des Thoraxeher einzelne Rippenfrakturen, während ein seitlicher Anprall häufiger zumultiplen Rippenfrakturen (bzw. Rippenserienfrakturen) führt.Grundsätzlich können Rippen an irgendeiner Stelle brechen, amwahrscheinlichsten ist es jedoch, dass sie am Punkt ihrer grösstenKrümmung und am Angriffspunkt der wirkenden Kraft brechen. Da dieRippen seitlich stärker gekrümmt sind und da dort weniger Muskelgewebedie Rippen bedeckt und dadurch schützt, sind laterale Frakturenwahrscheinlicher. Die Lokalisation seitlicher Rippenfrakturen hängt zudemvon der Form des anprallenden Körpers ab (Abb. 5.3).

Im Falle multipler Rippenfrakturen kann die Thoraxwand ihre Stabilitätverlieren. Dies kann dazu führen, dass die Bewegung des Thoraxumgekehrt zur normalen Bewegung erfolgt: beim Einatmen (Inspiration)

Abb. 5.3 Lokalisation von Rippenfrakturen in Abhängigkeit eines Anprallkörpers[nach Kramer 1998].

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Verletzungsmechanismen 163

wird die verletzte Thoraxwand angesaugt und reduziert dadurch dasLungenvolumen. Bei Exspiration bewegt sich die Wand nach aussen underschwert dadurch das Herauspressen der Luft aus der Lunge. Je grösser dieFläche einer derart verletzten Thoraxwand, desto geringer derLuftaustausch. Das Phänomen wird Dreschflegel-Thorax (“flail chest”)genannt und kann letztlich zu einer Unterversorgung mit Sauerstoff(Hypoxie) führen.

Wie Leichenversuche zeigten [z.B. Stalnaker und Mohan 1974, Melvinet al. 1975] hängt die Anzahl der Rippenfrakturen mehr von der Grösse derDurchbiegung der Rippen als vom zeitlichen Verlauf der Biegung bzw. derBiegegeschwindigkeit ab. Wegen der Viskosität des Thorax wird die Grösseder Kraft jedoch durch das Zeitprofil, mit der sie einwirkt, bestimmt. Fürein bestimmtes zeitabhängiges Profil der Belastung scheint die Höhe derKraft mit der Anzahl der Rippenfrakturen zusammenzuhängen. Dieplastischen Verformungseigenschaften des Knochens können zudem einenwichtigen Einfluss auf die maximalen, in Rippen auftretenden Spannungenhaben (s. Kap. 2.2). Wird an einer Stelle die maximale plastische Spannungüberschritten, ist keine (bzw. nur sehr geringe) Steigerung mehr möglich;die Bruchgrenze ist erreicht. Wird die plastische Verformungvernachlässigt, werden die zugehörigen Spannungen überschätzt.

Des Weiteren ist das Auftreten von Rippenfrakturen sehr altersabhängig.Kann der Brustkorb bei jungen Menschen von vorne ohne das Auftretenvon Frakturen derart zusammengedrückt werden, bis er die Wirbelsäuleberührt (wobei allerdings die inneren Organe entsprechend komprimiertwerden), so brechen die Rippen von Personen, die älter als 50 Jahre sindschon bei viel niedrigeren Belastungen (z.B. auch im Zuge einer Herz-Lungen-Wiederbelebung).

5.2.2 Lungenverletzungen

Verletzungen des Atemsystems sind vor allem Verletzungen der Lunge(Abb. 5.2). Durch Kompression des Thorax (sowohl mit als auch ohneRippenfraktur) kann eine Kontusion der Lunge entstehen. Dies tritt oftmalsin Kombination mit einem sogenannten Dreschflegel-Thorax (s. oben) auf.

Im Unterschied zu Rippenfrakturen hängen Lungenkontusionen vomzeitlichen Verlauf einer Belastung ab [Fung und Yen 1984]. Bei hohenGeschwindigkeiten wird eine Druckwelle durch die Thoraxwand auf dasLungengewebe übertragen, die zu Verletzungen der Kapillaren derAlveolen (Lungenbläschen) führt. Manchmal wird auch eine zentraleKontusion der Lunge ohne Schädigung des umliegenden Gewebes

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164 Thoraxverletzungen

beobachtet. Im Sinne einer Komplikation erhöht eine Lungen-Kontusionzudem das Risiko eine Pneumonie (Lungenentzündung).

Eine Lazeration und gelegentlich auch Perforation des Lungengewebeskann nahe von Rippenfrakturen auftreten. Hierdurch kann sich ein Pneumo-oder Hämatothorax entwickeln. Im ersten Fall füllt sich der Pleura-Spaltmit Luft, im zweiten mit Blut. Eine Kombination, bei der der Pleura-Raumsowohl Blut wie Luft enthält heisst Hämato-Pneumothorax.

Ein Pneumothorax resultiert aus einer Perforation der Pleura, d.h. imMembranbeutel zwischen Lunge und Brustkorb ist (z.B. durch einegebrochene Rippe) ein Loch entstanden. Beim Einatmen reduziert sich derintrapleurale Druck und es wird Luft durch das Loch aus der Lunge in denPleura-Spalt gesogen; beim Ausatmen wird die Lazeration hingegenzusammengedrückt, so dass die Luft aus dem Pleura-Spalt nicht mehraustreten kann. Folglich nimmt die Luft im Pleura-Spalt zu undkomprimiert schliesslich die Lunge.

Ein Hämatothorax reduziert das effektive Lungenvolumen durch Blut imPleuraspalt. Die Einblutung kann durch Verletzungen entsprechenderBlutgefässe, z.B. im Lungengewebe, bedingt sein.

5.2.3 Verletzungen anderer Organe des Thorax

Durch eine Belastung des Thorax kann das Herz verschiedene Verletzungenerleiden, beispielsweise Kontusionen und Lazerationen (Riss-/Schnittwunden) (Abb. 5.2). Eine Kontusion entsteht durch Kompressionund hängt mit der damit verbundenen Kompressionsgeschwindigkeitzusammen. Eine Lazeration hingegegen ist von der Grösse derKompression abhängig. Je nach Charakteristik der Belastung (insbesonderebei hoher Geschwindigkeit) können zudem Herzrhythmusstörungen,Kammerflimmern oder ein Herzstillstand auftreten. Eine solche Belastungunter hoher Geschwindigkeit (15 - 20 m/s) scheint die elektromechanischeSignalübertragung zu beeinträchtigen. Abbildung 5.4 illustriert eineKompression des Herzens zwischen Brustbein und Wirbelsäule.

Des Weiteren können grosse thorakale Blutgefässe wie die Aorta verletztwerden. Rupturen und Lazerationen sind die bei einem stumpfen Traumaam häufigsten beobachteten Verletzungen. Cavanaugh (2002) berichtet,dass arterielle Verletzungen zwar nur für 6 % bis 8 % der Verletzungen mitAIS >2 verantwortlich sind, diese aber 27 % bis 30 % der damitverbundenen Kosten entsprechen. Erwähnenswert ist ferner, dass 80 % bis85 % derjenigen, die bei einem Strassenverkehrsunfall ein Aortentraumaerleiden, noch an der Unfallstelle versterben [Smith und Chang 1986]. Die

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Verletzungsmechanismen 165

entsprechenden Verletzungsmechanismen fanden sich überwiegend beiAutounfällen mit hoher Geschwindigkeit gefolgt von Stürzen undangefahrenen Fussgängern [Ochsner et al. 1989].

Es wird davon ausgegangen, dass eine Ruptur der Aorta entweder durchZug- oder Scherkräfte zwischen relativ beweglichen Teilen des Gefässesund besser fixierten Stellen oder durch direkte Kompression gegen dieWirbelsäule oder durch plötzlichen exzessiven Anstieg des Drucks in derAorta entsteht. Abbildung 5.5. zeigt schematisch verschiedeneMöglichkeiten einer Ruptur der Aorta bei Kompression des Thorax. DesWeiteren hat Viano (1983) darauf hingewiesen, dass sich das mit Blutgefüllte Herz durch seine Trägheit innerhalb des Thorax verschieben kannund dadurch Strukturen, die den Bogen der Aorta fixieren, wie die nachoben abzweigenden Arterien oder das Ligamentum arteriosum, gestrecktwerden können. Dies kann bei der vertikalen, lateralen oder schrägenVerschiebung des Herzens vorkommen. Zudem beschreibt Viano dieMöglichkeit einer Lazeration der Aorta durch eine Kombination aus

Abb. 5.4 Kompression des Herzens [nach Kramer 1998].

Abb. 5.5 Kompression des Herzens und mögliche Rupturen der Aorta [nach Viano1990].

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166 Thoraxverletzungen

Kompression und Hyperextension der Halswirbelsäule (Abb. 5.6). Eszeigte sich, dass der Bereich des Aortenisthmus (Engstelle der Aorta) distalder Abzweigung der linken Arteria subclavia die häufigste Stelle fürthorakale Aorten-Verletzungen ist. 90 % solcher Verletzungen treten hierauf [Creasy et al. 1997].

Weitere Verletzungen der Organe des Thorax schliessen Rupturen derSpeiseröhre und Lazerationen des Zwerchfells mit ein. Letztere führen zuHernien. Wie Abbildung 5.7 zeigt, kann eine Lazeration des Zwerchfellsauch Folge eines stumpfen Traumas des Bauchraums sein (s. auch Kap. 6).

5.3 Biomechanisches Verhalten

Um das biomechanische Verhalten des Thorax mittels Parametern wieBeschleunigung, Kraft, Verformung oder Druck charakterisieren zukönnen, wurde eine Vielzahl von kontrollierten Laborversuchen

Abb. 5.7 Lazeration des Zwerchfells durch stumpfen Anprall am Abdomen [nachViano 1990].

Abb. 5.6 Druck auf den Thorax kannin Kombination mit einerHyperextension des Halses zuVerletzungen der Aorta führen [nachViano 1990].

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Biomechanisches Verhalten 167

durchgeführt. Vor allem in den 1970er Jahren wurden umfangreicheLeichenversuche durchgeführt, um Verletzungen nach einem Anprall zuuntersuchen. Die gewonnenen Erkenntnisse wurden dann zur Entwicklungvon Dummys für Frontal- und Seitenkollisionen wie auch für die Definitionvon Verletzungskriterien verwendet. Des Weiteren wurden mit diesenDaten mathematische Modelle des Thorax erstellt und validiert.

Als Versuchsanordnung wurden hauptsächlich Pendel- undSchlittenversuche gewählt. Zusätzlich wurden quasi-statische Experimente,teilweise mit Freiwilligen, durchgeführt, um die Steifigkeit des Thorax zubestimmen.

5.3.1 Frontale Belastungen

Um das biomechanische Verhalten des Thorax unter frontaler Belastung zuuntersuchen, wurden umfassende Versuchsreihen durchgeführt. Mit Hilfeeines starren Pendels wurde der Oberkörper von Leichen mechanischbeaufschlagt (Abb. 5.8), die Verschiebung des Brustbeins gemessen und sodie Kraft-Verformungs-Charakterisik des Thorax ermittelt [z.B. Kroell etal. 1971, 1974, Stalnaker und Mohan 1974]. Abbildung 5.9 zeigt einetypische in solchen Versuchen bestimmte Kraft-Verformungs-Kurve. DieKurve zeigt eine Hysterese, die in eine Phase der Belastung und eine Phaseder Entlastung unterteilt werden kann. Die Belastungsphase zeichnet sichdurch einen starken initialen (Kraft-) Anstieg, der durch die viskosenEigenschaften des Thorax bestimmt wird, und durch ein ebenfalls durch dieViskosität zu erklärendes Plateau aus. Bei maximaler Verformung bewegensich das Pendel und das Testobjekt gemeinsam mit gleicherGeschwindigkeit. Die zu diesem Zeitpunkt gemessenen Kräfte setzen sichaus der Trägheit (bedingt durch die Beschleunigung des gesamten Körpers)und den elastischen Kräften der Kompression des Gewebes zusammen. DieEntlastungsphase beschreibt die Entlastung des komprimierten Gewebesund zeigt ein elastisches nicht-lineares Verhalten des Thorax. Hinsichtlichdes Zusammenhangs zwischen dem Kraft-Plateau und der Geschwindigkeitdes Impaktors (bzw. des Pendels) zeigte sich, dass das Kraft-Plateau mit derGeschwindigkeit des Impaktors zunahm. Ausnahmen waren Fälle, in denender Impaktor eine geringe Masse, aber hohe Geschwindigkeit, aufwies.Hier trat kein Kraft-Plateau auf. Des Weiteren wurde gezeigt, dass einegeringere Masse des Impaktors zu geringerer Verformung führt [Lobdell etal. 1973]. Basierend auf Leichenversuchen wurden Kraft-Verformungs-Korridore für unterschiedliche Kombinationen aus Impaktormasse undGeschwindigkeit bestimmt, die als Vorgaben für das Verhalten von

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168 Thoraxverletzungen

Crashtest-Dummys dienen. In Ergänzung zu den dynamischen Pendelversuchen, die sich auf einen

Anprall am Brustbein konzentrierten, wurden quasi-statische Experimentedurchgeführt. Da 3-Punkt-Sicherheitsgurte und Airbags immer weiterverbreitet sind, wird auch die Betrachtung der frontalen Belastung unter

Abb. 5.9 Kraft-Verformungs-Kennlinien des Thorax aus Experimenten mitfrontaler Beanspruchung [aus Kroell et al. 1974].

Abb. 5.8 Verwendung einesImpaktors zur Beaufschlagung desBrustbeins einer Leiche [ausKroell et al. 1971].

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Biomechanisches Verhalten 169

langsamerer Beaufschlagung wichtiger. Auch die Verteilung der durcheinen auslösenden Airbag auf die Rippen übertragenen Kraft und die durchden Sicherheitsgurt auf das Schlüsselbein übertragene Belastung erforderneine quasi-statische Betrachtung der Belastung des Thorax.

Zur Durchführung solcher Versuche wird das Brustbein von Freiwilligenoder Leichen über eine Platte beaufschlagt, wobei der Rücken der Person(bzw. Leiche) an einer starren, unverformbaren Struktur anliegt. Dieapplizierte Kraft und die Eindrückung des Thorax (in antero-posteriorerRichtung) werden gemessen. Aus entsprechenden publiziertenMessergebnissen leiteten Melvin et al. (1985) bei einer Eindrückung desThorax von bis zu 41 mm eine lineare Steifigkeit von etwa 26.3 N/mm ab.Für grössere Deformationen von mehr als 76 mm steigt die Steifigkeit auf120 N/mm an. Diese Ergebnisse werden jedoch durch die individuelleKonstitution der Testpersonen beeinflusst und unterscheiden sich fernererheblich je nach Zustand während der Durchführung des Tests (z.B.angespannter bzw. entspannter Thorax bei Freiwilligenversuchen, frischeoder balsamierte Leiche). Die in Abbildung 5.10 dargestellten Ergebnissevon Lobdell et al. (1973) zeigen beispielsweise einen deutlichenUnterschied zwischen angespanntem bzw. entspanntem Oberkörper beiVersuchen mit Freiwilligen. Das Ergebnis, dass die Steifigkeit des Thoraxin angespanntem Zustand zunimmt, kann im Zusammenhang mitVerletzungstoleranzen als vorteilhaft betrachtet werden.

Der Einfluss des Tragens eines Sicherheitsgurtes, insbesondere desdiagonalen Schultergurtes (z.B. als Teil eines 3-Punkt-Gurtes) auf dieBelastung eines Fahrzeuginsassen wird ebenfalls seit den späten 1970er

Abb. 5.10 Ergebnisse quasi-statischer Freiwilligenversuche (Kraft-Verformungskurve). Der Einfluss eines angespannten (“tensed”) und einesentspannten (“relaxed”) Thorax wird deutlich [aus Lobdell 1973].

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170 Thoraxverletzungen

Jahren untersucht. Es wurde beobachtet, dass der Thorax unterkonzentrierten Belastung durch den Sicherheitsgurt stärker verletzlich ist.Verletzungen wegen einer Belastung durch den Sicherheitsgurt schienendurch Kompression des Thorax verursacht zu werden. ModerneGurtsysteme weisen daher beispielsweise einen Gurtkraftbegrenzer auf.Aus einer Analyse von Unfalldaten schlossen Bendjellal et al. (1997), dassdie durch den Schultergurt übertragene Kraft 4 kN nicht überschreitensollte. Auch Foret-Bruno et al. (1998) schlugen eine Gurtkraftbegrenzungauf 4 kN, kombiniert mit einem abgestimmten Airbagsystem, vor. Sieschätzten, dass bei Frontalkollisionen dadurch 95 % der AIS3+Thoraxverletzungen verhindert werden könnten.

Auch die Belastung des Thorax durch das Auslösen von Airbags wurdein verschiedenen Studien bewertet [z.B. Cavanaugh 2002]. Im Allgemeinenwurde das Entstehen von Verletzungen mit dem Druck im Airbag inVerbindung gebracht. Auf einen Fahrzeuginsassen können grosse Kräftewirken, wenn zu einem Zeitpunkt während des Aufblasens des Airbagsdessen verfügbares Volumen kleiner ist, als das erzeugte Gas-Volumen.Befindet sich ein Fahrzeuginsasse beispielsweise in einer ungünstigenSitzposition zu nahe am Airbag (“out of position”) und behindert dessenVorgang des Aufblasens, kann auf den Thorax des Insassen eine durch denDruck im Airbag entstehende Kraft wirken. Abbildung 5.11 illustriert einesolche Belastung (“punch-out mechanism”). Die Wechselwirkung mit demAirbag wird dabei durch eine zu geringe Nähe zum Airbagsystembestimmt, wodurch eine normale Entfaltung des Airbags eingeschränktwird. Dies kann bereits ganz am Anfang der Entfaltung (z.B. auch schondurch eine Position auf dem noch geschlossenen Airbag-Modul) auftretenoder auch erst zu einem späteren Zeitpunkt, nachdem der Airbag bereitsteilweise aufgeblasen wurde (“membrane loading”, Abb. 5.11). In letzteremFall umschlingt der Airbag neben dem Thorax auch den Kopf-Hals-Bereich, so dass zusätzlich zu Verletzungen des Thorax auchKopfverletzungen (z.B. Schädelbasisfrakturen) auftreten können[McElhaney et al. 2002]. Es zeigt sich somit, dass die Abstimmungzwischen Airbag- und Gurtsystem ein wichtiger Aspekt zur Maximierungdes Nutzens solcher Systeme ist.

Nach Untersuchung von Unfällen mit ausgelöstem Frontairbag kam Otte(1995) zu dem Schluss, dass das Schutzpotential eines 3-Punkt-Sicherheitsgurtes bis zu einem delta-v Wert von 35 km/h bis 40 km/hausreichend ist. Bei höheren delta-v Werten sollte ein zusätzlichesAirbagsystem aktiviert werden. Kallieris et al. (1995) halten im Gegensatzdazu eine Kompression des Thorax, wie sie durch einen Airbag entsteht, fürvorteilhaft, da die Kraft gleichmässiger verteilt wird. Nach der

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Durchführung von Leichenversuchen (Frontalkollision, 48 km/hKollisionsgeschwindigkeit) schlugen sie vor, insgesamt das Rückhalten desInsassen zwar durch einen Gurt zu bewerkstelligen, zur Entschärfung desVerletzungsrisikos des Thorax sollte dieser jedoch mittels Airbagsystemengeschützt werden. Der Index CTI (“combined thoracic index”) wurdeentwickelt, um in Crashtests sowohl die Belastung durch einen Airbag wiedurch ein Gurtsystem zu bewerten (s. Kap. 4.5). VerschiedeneToleranzwerte für eine Belastung des Thorax bei Frontalkollisionen sind inTabelle 5.2 zusammengestellt.

Auf Basis experimenteller Ergebnisse wurde ein mathematisches Modellzur Beschreibung des Verhaltens des Thorax unter frontaler Belastungentwickelt [Lobdell et al. 1973]. Das Massepunkt-Modell (“lumped-massmodel”) verwendet Massepunkte, Federn und Dämpfer (Abb. 5.12), wobeidie Kraft-Verformungs-Antwort des Modells an die experimentellbestimmten Korridore unter geringer und hoherBeaufschlagungsgeschwindigkeit angepasst wurde [Kroell et al. 1971,1974]. Zwischenzeitlich wurde das Modell in verschiedenen Arbeitenmodifiziert und mit zusätzlichen Versuchsdaten validiert. Im Rahmen vonDesignstudien zum Thorax von Dummys wird das Modell immernochangewendet, obschon entsprechende Finite Elemente Modelle immerausgereifter werden (s. Kap. 2).

Abb. 5.11 Mechanismen für Verletzungen, die durch Auslösen des Airbagsverursacht werden. Links: Druck auf den Thorax (“punch-out loading”). Rechts:Druck auf Thorax und den Kopf-Hals-Bereich (“membrane loading”) [aus Melvinund Mertz 2002].

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172 Thoraxverletzungen

Tabelle 5.2 Toleranzwerte für frontale Belastung des Thorax.

Toleranzwerte Verletzungen Referenzen

Kraft:

3.3 kN auf Brustbein leichte Verletzung Patrick et al. (1969)

8.8 kN auf Brust und Schultern

leichte Verletzung Patrick et al. (1969)

Beschleunigung:

60 g 3ms Wert für Hybrid III FMVSS 208 (alte Version)

Eindrückung:

58 mm keine Rippenfraktur Stalnaker und Mohan (1974)

52 mm Grenze für Hybrid III (5%) FMVSS 208

63 mm Grenze für Hybrid III (50%) FMVSS 208

Kompression:

20 % Beginn von Rippenfrakturen Kroell et al. (1971,1974)

40 % Dreschflegel-Thorax (“flail chest”)

Kroell et al. (1971,1974)

VCmax:

1.0 m/s 25 % Wahrscheinlichkeit für AIS ≥4

Viano und Lau (1985)

1.3 m/s 50 % Wahrscheinlichkeit für AIS ≥4

Viano und Lau (1985)

Combined Thoracic Index CTI:

Amax/60g+Dmax/

76mm

50 % Wahrscheinlichkeit für AIS >3 bei Leichen

Kleinberger et al. (1998)

Abb. 5.12 ViskosesThoraxmodell [ausLobdell 1973].

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Biomechanisches Verhalten 173

5.3.2 Laterale Belastungen

Um das biomechanische Verhalten den menschlichen Körpers unter seitlicheinwirkender Belastung zu untersuchen, wurden die gleichen Methodenwie zur Analyse des Effekts frontaler Belastungen verwendet.Leichenversuche waren die Methode der Wahl, um die Kraft-Verformungs-Kennlinien des Thorax unter lateraler Beanspruchung zu bestimmen. AlsErgebnis solcher Experimente wurden Hysterese-Kurven erhalten, diedenjenigen aus frontalen Belastungen ähnlich sind. Ein Unterschiedbestand jedoch darin, dass man kein oder nur ein wesentlich wenigerausgeprägtes Kraft-Plateau festgestellt hat. Zudem wurde gezeigt, dass derWiderstand des Thorax gegen seitliche Belastungen geringer ist als gegenfrontale Belastungen. Auch hat der Arm der Testperson bzw. desTestobjekts je nach Position während des Anpralls einen Einfluss auf dieErgebnisse. Der Arm kann ganz oder teilweise zwischen der anprallendenMasse und dem Thorax liegen oder angehoben sein. Cesari et al. (1981)demonstrierten diesen Einfluss in einer Testreihe mit Leichen. Es zeigtesich, dass der Arm eine schützende Wirkung haben kann, wenn er sichzwischen dem anprallenden Objekt und dem Thorax befindet.

Zusätzlich zu Tests mit Impaktoren wurden sogenannte Fall-Versuchedurchgeführt, um die Kraft-Deformations-Charakteristik der Thorax-Seitedes Anpralls zu analysieren. Dazu hat man Leichen aus einer Höhe von 1 mbis 3 m auf eine Kraftmessplatte fallen lassen [z.B. Stalnaker et al. 1979,Tarriere et al. 1979]. Die Ergebnisse, die teilweise auch mit abgedecktenbzw. gepolsterten Kraftmessplatten erzielt wurden, sind in Tabelle 5.3zusammengefasst. Als weiteres Resultat dieser Versuche wurde einKorridor zur Entwicklung eines Seitenanprall-Dummys vorgeschlagen.

Um die Auswirkungen von Seitenkollisionen zu untersuchen wurdenauch an der Universität Heidelberg entsprechende Schlittenversuchedurchgeführt [Kallieris et al. 1981]. Ein Sitz, dessen Bezug einen geringenReibungskoeffizienten aufwies, wurde auf einem Schlitten montiert. DerSchlitten wurde dann aus einer gewählten Geschwindigkeit abruptabgebremst, so dass die auf dem Sitz sitzenden Testobjekte (Leichen)seitlich rutschten und gegen eine (gepolsterte und ungepolsterte) Wandprallten. Die Beschleunigungen der Rippen, des Brustbeins und derBrustwirbelkörper wurden gemessen. Es zeigte sich, dass neben denBeschleunigungen auch physische Parameter der Testobjekte einensignifikanten Einfluss auf das Entstehen von Verletzungen hatten. Daherwurde der “Thoracic Trauma Index” (TTI) vorgeschlagen [Eppinger et al.1984], der unter anderem auch das Alter berücksichtigt (s. auch Kap. 5.4).Heutige Seitenanprall-Dummys erlauben die Messung der Beschleunigung

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174 Thoraxverletzungen

auf Höhe der oberen und unteren Rippen, so dass der TTI zur Bewertungvon lateralen Belastungen berechnet werden kann.

Table 5.3 Toleranzwerte für seitlichen Anprall des Thorax. (Abkürzungen: Wkt.= Wahrscheinlichkeit).

Toleranzwerte Verletzungen Referenzen

Kraft:

7.4 kN AIS0 Tarriere et al. (1979)

10.2 kN AIS3 Tarriere et al. (1979)

5.5 kN 25% Wkt. von AIS ≥4 Viano (1989)

Beschleunigung:

T8-Y 45.2 g 25% Wkt. von AIS ≥4 Viano (1989)

T12-Y 31.6 g 25% Wkt. von AIS ≥4 Viano (1989)

60 g 25% Wkt. von AIS ≥4 Cavanaugh et al. (1993)

TTI(d):

TTI(d) 85 g Max. für SID bei Fahrzeug mit 4 Türen

FMVSS 214

TTI(d) 90 g Max. für SID bei Fahrzeug mit 2 Türen

FMVSS 214

TTI 145 g 25% Wkt. von AIS ≥4 Cavanaugh et al. (1993)

TTI 151 g 25% Wkt. von AIS ≥4 Pintar et al. (1997)

Kompression der Hälfte des Thorax:

35% AIS3 Stalnaker et al. (1979), Tarriere et al. (1979)

33% 25% Wkt. von AIS ≥4 Cavanaugh et al. (1993)

Kompression des ganzen Thorax:

38.4% 25% Wkt. von AIS ≥4 Viano (1989)

VCmax halber Thorax:

0.85 m/s 25% Wkt. von AIS ≥4 Cavanaugh et al. (1993)

VCmax halber Thorax:

1.0 m/s 50% Wkt. von AIS ≥3 Viano (1989)

1.47 m/s 25% Wkt. von AIS ≥4 Viano (1989)

Page 187: Trauma-Biomechanik ||

Verletzungstoleranzen und - kriterien 175

5.4 Verletzungstoleranzen und - kriterien

Wie in den vorangegangenen Abschnitten beschrieben wurde, entstehenVerletzungen des Thorax durch Kompression, Belastungen aufgrund derViskosität und Trägheit des Thorax sowie aus Kombinationen derselben.Mit Hilfe verschiedener Experimente wurden das biomechanischeVerhalten des Thorax unter Belastung sowie entsprechendeverletzungsinduzierende Toleranzwerte bestimmt. Zudem wurdenVerletzungskriterien entwickelt, die einer gewissen Belastung des Thoraxein entsprechendes Verletzungsrisiko zuordnen. In diesem Kapitel werdendie am häufigsten verwendeten Verletzungskriterien bezüglich Thorax undToleranzwerte vorgestellt (s. auch Tab. 5.2 und 5.3).

5.4.1 Beschleunigung und Kraft

Erste Versuche die Belastung des Thorax zu quantifizieren, konzentriertensich auf die Beschleunigung. Als Toleranzwert für schwereThoraxverletzungen nimmt man heutzutage eine maximale Beschleunigungder Wirbelsäule an, die bei einer Einwirkdauer von 3 ms oder länger beifrontaler Belastung einen Wert von 60 g nicht überschreiten darf. DieserWert ist auch in FMVSS 208 zur Beurteilung von Frontalkollisionenfestgeschrieben. Für laterale Anpralle wurden unterschiedliche Grenzwertevorgeschlagen (s. Tab. 5.2).

In engem Bezug zur Beschleunigung steht die Definition vonToleranzwerten für eine einwirkende Kraft. Nimmt man eine effektiveMasse des Thorax von 30 kg an, so entspricht eine Kraft von 17.6 kN derBeschleunigung von 60 g. Leichenversuche von Patrick et al. (1969)zeigten jedoch, dass leichte knöcherne Verletzungen bereits bei 3.3 kN füreinen Anprall am Brustbein und 8.0 kN für eine verteilte Belastung aufSchultern und Thorax auftraten. Diese Ergebnisse zeigen, dass dieZuverlässigkeit eines einzelnen Beschleunigungs- oder Kraftkriteriums alsallgemeiner Parameter zur Beurteilung von Thoraxverletzungen eherbeschränkt ist. Zudem berücksichtigt keines der beiden Kriterien dasviskose Verhalten des Thorax. Folglich wurden komplexere Kriterienentwickelt, um eine bessere Korrelation mit den Ergebnissenexperimenteller Studien zu erhalten.

5.4.2 Thoracic Trauma Index (TTI)

Beim “Thoracic Trauma Index” (TTI) handelt es sich um ein

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176 Thoraxverletzungen

Verletzungskriterium, das zur Bewertung von Seitenkollisionen entwickeltwurde. Es wurde dabei angenommen, dass das Auftreten von Verletzungenan das Mittel der maximalen seitlichen Beschleunigung des Brustkorbs (aufder Seite des Anpralls) und der Beschleunigung der unterenBrustwirbelsäule gekoppelt ist. Zudem berücksichtigt der TTI das Gewichtund das Alter der Testperson (bzw. Leiche) und kombiniert damitInformationen zur Kinematik mit Parametern zur individuellenKonstitution. Das TTI Kriterium (Dimension: [g]) ist wie folgt definiert:

(5.1)

wobei AGE das Alter der Testperson (in Jahren) beschreibt; RIBy [g]repräsentiert das Maximum des Absolutwerts der lateralen Beschleunigungauf Höhe der 4. und 8. Rippe auf Seite des Anpralls; T12y [g] ist dasMaximum des Absolutwerts der seitlichen Beschleunigung am 12.Brustwirbel; M beschreibt die Masse [kg] der Testperson und Mstd ist einReferenzwert von 75 kg.

Verwendet man zur Durchführung von Crashtests einen 50-perzentilenHybrid III Dummy kann eine modifizierte Form des TTI, der TTI(d),berechnet werden. Um die TTI(d) Werte zu bestimmen wird deraltersabhängige Term in Gleichung 5.1 weggelassen und dasMasseverhältnis wird zu 1.0. Es ist zu beachten, dass dieBeschleunigungssignale vor der Berechnung des TTI bzw. TTI(d)bearbeitet werden müssen, d.h sie sind zu filtern und die Abtastrate(sampling) ist gemäss den Vorgaben aus FMVSS 214 und SAE J1727anzupassen.

Es wurde eine grosse Anzahl an Experimenten durchgeführt, um TTI-Werte mit Thorax-Verletzungen zu korrelieren [z.B. Kallieris et al. 1981].Anschliessend wurden mittels statistischer Methoden Risikofunktionendefiniert. Folglich reflektiert der TTI mehr eine statistische Korrelation alseine biomechanische. Dies gilt insbesondere da es keinen direkten Bezugzu einem Verletzungsmechanismus aufweist.

5.4.3 Compression Criterion (C)

Nach der Durchführung von stumpfen Anpralltests schlossen Kroell at al.(1971, 1974), dass die maximale Thorax-Kompression gut mit der AISEinteilung von Verletzungen korreliert, während Kraft und Beschleunigungdies nicht taten. Es wurde folgende Beziehung gefunden:

(5.2)

TTI 1,4AGE 0,5 RIBy T12y+( ) M Mstd⁄( )+=

AIS 3,78– 19,56C+=

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Verletzungstoleranzen und - kriterien 177

Hierbei definiert sich die Kompression C als Deformation der Brust geteiltdurch die Dicke des Thorax. Misst man eine Eindrückung des Thorax von92 mm bei einer Dicke von 230 mm für einen 50-perzentilen Mann, ergibtsich eine Kompression C von 40 %, was eine AIS4 Verletzung erwartenlässt. 30 % Kompression führt zu AIS2 Verletzungen. Die statistischeAnalyse des Verletzungsrisikos zeigt, dass bei Frontalkollisionen eineThorax-Kompression von 35 % mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 % zueiner schweren Verletzung gemäss AIS4 oder mehr führt. FMVSS 208gestattet bei einem 50-perzentilen Hybrid III Dummy für Frontalkollisioneneine maximale Eindrückung von 76 mm.

5.4.4 Viscous Criterion (VC)

Das VC Kriterium (“viscous criterion” oder auch “velocity of compression”genannt) ist ein Brustverletzungskriterium, welches berücksichtigt, dassWeichteilverletzungen nicht nur von der Kompression selbst, sondern auchvon der Geschwindigkeit der Kompression abhängen. Der VC-Wert [m/s]beschreibt das Maximum des (zeitabhängigen) Produkts aus derVerformungsgeschwindigkeit und der Deformation des Thorax. BeideParameter werden durch Messen der Rippeneindrückung (Seitenkollision)bzw. Brusteindrückung (Frontalkollision) bestimmt. Folglich gilt:

(5.3)

wobei V(t) [m/s] die Geschwindigkeit der Deformation darstellt und durchDifferentiation der Verformung D(t) berechnet wird. C(t) steht für dieFunktion der Kompression, die als Verhältnis der Deformation D(t) und deranfänglichen Dicke des Torsos b definiert ist. Details, wie die Messdatengefiltert werden müssen, finden sich für Seitenkollisionen in ECE R94 bzw.für Frontalkollisionen in SAE J1727. Oftmals wird auch das Maximum desVC, VCmax, angegeben, für das eine gute Korrelation mit dem Risiko fürThoraxverletzungen gefunden wurde [Viano und Lau 1985]. UnterVerwendung des Lobdell Modells (s. Kap. 5.3.1) kann eine Beziehungzwischen VC und der vom Thorax absorbierten Energie hergeleitet werden.Als Grenzwerte schreiben sowohl ECE R95 (Seitenanprall) und ECE R94(frontaler Anprall) einen VC-Wert von kleiner oder gleich 1.0 m/s vor.

5.4.5 Combined Thoracic Index (CTI)

Der Index CTI stellt ein weiteres Verletzungskriterium für den Thorax unterfrontaler Beanspruchung dar [Kleinberger et al. 1998]. Als Kombination

VC V t( ) C t( )× d D t( )[ ]dt

------------------- D t( )b

-----------×= =

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178 Thoraxverletzungen

aus Kompression und Beschleunigung zielt das CTI Kriteriuminsbesondere auf die Bewertung von Belastungen durch Airbags undGurtsysteme ab. Der CTI ist definiert aus dem 3 ms Wert der resultierendenBeschleunigung der Wirbelsäule (analog zum 3 ms Kriterium) und derEindrückung der Brust und wird gemäss folgender Gleichung berechnet:

(5.4)

worinAmax = 3 ms Wert der resultierenden Beschleunigung der Wirbelsäule [g]Aint = kritischer 3 ms Referenzwert [g]Dmax = Eindrückung der Brust [mm]Dint = kritischer Referenzwert der Eindrückung [mm].Die kritischen Referenzwerte wurden für verschiedene Dummy-Typenbestimmt. Für den 50-perzentilen Hybrid III lauten sie beispielsweise 85 gfür Aint und 102 mm für Dint.

Das CTI Kriterium berücksichtigt die unterschiedliche Belastung desThorax durch Gurt- bzw. Airbagsystem. Es basiert auf der Annahme, dassder Gurt bei gegebener Belastung einen grösseren Druck über seineKontaktfläche aufbaut als ein Airbagsystem, welches eine grössereKontaktfläche hat. Bei einem kombinierten Gurt-/Airbagsystem kann diekonzentrierte Belastung quasi entlang einer Linie (d.h. dieKraftübertragung durch den Gurt ist grösser als jede durch den Airbag)oder über eine verteilte Fläche (d.h. der Airbag ist dominant) übertragenwerden. Der CTI soll somit die gesamte Spanne möglicher Lastfällezwischen diesen beiden Extremen abdecken. Während die maximaleBeschleunigung des Thorax ein Mass für die Grösse gesamthaft auf denTorso wirkenden Kräfte im Verhältnis zu seiner Masse ist, ist die Thorax-Eindrückung ein Indikator für die durch den Gurt übertragene Belastung. Jegrösser die Eindrückung pro Einheit Beschleunigung ist, desto grösser istder relative Anteil des Gurtsystems [Cavanaugh 2002].

Der Entwicklung des CTI liegen Leichenversuche zugrunde; dieKorrelation des CTI zur Verletzungsschwere gemäss AIS erfolgte durchlogistische Regressionsanalyse. Derzeit ist der CTI Teil des FMVSS 208, indem auch Details zur Datenakquisition und den verschiedenenReferenzwerten gegeben werden.

5.4.6 Weitere Kriterien

Das “Rib Deflection Criterion” (RDC) beschreibt die Eindrückung der

CTIAmaxAint

--------------DmaxDint

---------------+=

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Thorax-Verletzungen im Sport 179

Rippen in Folge einer Seitenkollisionen; die Angabe erfolgt in [mm].Gemäss ECE R95 soll das RDC kleiner oder gleich 42 mm sein(Verwendung eines Seitenanprall-Dummys).

ThCC (oder TCC) ist die Abkürzung für “Thoracic CompressionCriterion”. Das ThCC beschreibt die Kompression des Thorax beiFrontalkollisionen als Eindrückung zwischen Brustbein und Wirbelsäule.Zur Bestimmung wird der Absolutwert der Thorax-Kompression (in [mm])verwendet; der heute verwendete Grenzwert legt ein Maximum von 50 mmfest (ECE R94).

5.5 Thorax-Verletzungen im Sport

Hinsichtlich Verletzungen des Thorax im Sport finden sich in der Literaturkeine systematischen Untersuchungen. Die oben beschriebenenVerletzungen und Verletzungsmechanismen gelten auch für traumatischeSportverletzungen. Verletzungen durch direkten Anprall, wiebeispielsweise durch Schläge oder Gegenstände (z.B. Puck, Ball, Baseball),werden ebenso beobachtet wie indirekte Belastungen. Serina und Lieu(1991) untersuchten das Verletzungspotential von Tritten im Taekwondo.Durch Videoauswertungen von Tritten gegen den Thorax wie auch durchModellierungen wurde das Verletzungsrisiko analysiert: es wurdenmaximale Verformungen der Brust von 5 cm und VC-Werte von bis zu1.4 m/s bestimmt.

Des Weiteren können Überlastungsverletzungen beispielsweise in Formvon Überlastungsfrakturen des Brustbeins oder der Rippen beobachtetwerden [Karlson 1998, Christiansen und Kanstrup 1997, Coris und Higgins2005]. Dabei scheint es sich jedoch um ein eher seltenes Phänomen zuhandeln.

5.6 Zusammenfassung

Verletzungen des Thorax sind am häufigsten mit einem stumpfen Traumaverbunden. Kompression, Viskosität und Trägheit sind relevante Parameterim Zusammenhang mit der Verletzungsursache. Insbesondere die visko-elastischen Eigenschaften des Thorax spiegeln sich in dessenbiomechanischem Verhalten wieder. Folglich berücksichtigen mancheVerletzungskriterien auch die Geschwindigkeit, mit der der Thoraxdeformiert wird.

Page 192: Trauma-Biomechanik ||

180 Thoraxverletzungen

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6 Verletzungen des Abdomens

Verletzungen der menschlichen Bauchhöhle treten im Allgemeinen alsstumpfes Trauma oder Penetration auf, wobei ersteres als Folge vonStrassenverkehrsunfällen häufiger vorkommt. Oft werden solcheVerletzungen nicht sofort erkannt bzw. lassen sich äusserlich nichterkennen.

Die Untersuchung des biomechanischen Verhaltens des Abdomens hatsich als besonders schwierig herausgestellt und auch die erhaltenenErgebnisse sind nicht leicht zu interpretieren. Daher mangelt es immer nochan ausreichendem Wissen über Verletzungsmechanismen und geeigneteVerletzungskriterien. “Der Leser muss sich der grossen Variabilität derbiomechanischen Eigenschaften und Toleranzwerte sehr bewusst sein.Diese wird in erster Linie durch die grosse biologische Variabilitätzwischen verschiedenen Personen sowie durch die Auswirkungen desAlterns bestimmt. Durchschnittswerte, die zur Konstruktion und Auslegunghilfreich sind, können auf Individuen nicht angewendet werden” [King2001]. Dieser Mangel an Know-how zeigt sich beispielsweise auch bei denverschiedenen Crashtest-Dummys, die nur eine rudimentäre Nachbildungdes Abdomens aufweisen (s. Kap. 2). Eine ausgezeichnete Übersicht überabdominale Verletzungen wurde auch von Rouhana (2002) veröffentlicht.

6.1 Anatomie des Abdomens

In Richtung des Kopfes (kranial) wird das Abdomen durch das Zwerchfellbegrenzt, in Richtung kaudal durch die Beckenknochen und Muskulatur.Die Lendenwirbelsäule, die selbst nicht als Teil des Abdomens betrachtetwird, bildet gemeinsam mit dem Kreuzbein (Os sacrum) und dem Beckendie hintere Grenze des Abdomens. Nach vorne wie auch zur Seite wird dasobere Abdomen durch den unteren Brustkorb abgegrenzt. Das untereAbdomen ist vorne und seitlich von Muskulatur umgeben. Wegen der

K.-U. Schmitt et al., Trauma Biomechanik, DOI 10.1007/978-3-642-11596-7_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

-

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184 Verletzungen des Abdomens

Rippen weist das obere Abdomen ein anderes biomechanisches Verhaltenund andere Toleranzgrenzen als der untere Teil auf. Die Präsenz der unterenRippen (wenngleich nicht direkt mit dem Brustbein verbunden, s. Kap. 5)spielt insbesondere bei Heck- und Seitenkollisionen eine Rolle. BeiFrontalkollisionen hingegen scheinen Organe, die direkt vor derWirbelsäule liegen, eine höheres Risiko aufzuweisen komprimiert zuwerden, als Organe, die seitlich der Wirbelsäule liegen.

Die Bauchhöhle beherbergt verschiedene Organe, die im Allgemeinen inkompakte Organe und Hohlorgane unterteilt werden können. DasUnterscheidungsmerkmal der beiden Gruppen bildet dabei die Dichte desgesamten Organs (nicht des Gewebes). Kompakte Organe wie Leber, Milz,Bauchspeicheldrüse, Nieren, Eierstöcke und Nebennieren weisen einehöhere Dichte auf als Hohlorgane wie Magen, Dick- und Dünndarm, Blaseund Gebärmutter. Die geringere Organ-Dichte erklärt sich durch die relativgrossen Hohlräume in den Organen selbst. Diese Hohlräume könnenbeispielsweise mit “Luft” oder Verdauungsmasse gefüllt sein. Diekompakten Organe hingegen enthalten flüssigkeitsgefüllte Gefässe undweisen daher eine grössere Dichte auf.

Die grössten Blutgefässe des Abdomens sind die abdominale Aorta unddie untere Hohlvene (Vene cava), die Hüftarterien und die Hüftvenen. DieAorta und die Hohlvene treten von kranial durch getrennte Öffnungendurch das Zwerchfell in den Bauchraum ein. Abbildung 6.1 zeigt dieAnordnung der Bauchorgane. Hinsichtlich des biomechanischen Verhaltensbei traumatischen Belastungen ist zu beachten, dass die Organe in derBauchhöhle eine relativ grosse “Beweglichkeit” bzw. Verschiebbarkeitaufweisen. Sie sind weder mit der Bauchdecke noch untereinander starrfixiert. Teilweise sind sie von Fett umgeben (z.B. die Nieren) oder mitFalten des Bauchfells verbunden (z.B. die Därme). Das Bauchfell (eineMembran, Serosa genannt) umgibt den Bauchraum und die Organe. Es istglatt und feucht und wirkt daher als Schmierstoff und trägt somit auch zur“Beweglichkeit” der Organe bei. Folglich können die Bauchorgane sichauch an verschiedene Körperhaltungen wie Sitzen oder Stehen anpassen.Des Weiteren ändert sich beispielsweise die Lage der Leber mit derAtmung, sie bewegt sich mit dem Zwerchfell. Diese “Beweglichkeit” hatdaher auf das biomechanische Verhalten einen grossen Einfluss, wie auchauf die Ergebnisse experimenteller Studien zur Untersuchung vonVerletzungsmechanismen.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass möglicheVerletzungsmechanismen aus anatomischer Perspektive vom komplexenAufbau des Abdomens sowie den physikalischen Eigenschaften und derStruktur der Organe abhängen müssen.

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Verletzungsmechanismen 185

6.2 Verletzungsmechanismen

Wegen des komplexen Aufbaus des Abdomens werden sowohl derEntstehungsort, die Wahrscheinlichkeit wie auch die Schwere vonVerletzungen nach stumpfen Traumen durch verschiedene Faktorenbeeinflusst. An erster Stelle scheint die anatomische Lage eines Organs zudessen Verletzungsrisiko beizutragen. Organe, die vor der Wirbelsäuleliegen, werden im Falle einer frontalen Belastung eher gegen dieWirbelsäule gedrückt (und dadurch komprimiert) als Organe, die seitlichliegen. Zudem wird das obere Abdomen teilweise durch den Brustkorbüberdeckt und dadurch bei frontalen Belastungen geschützt. Bedingt durchdie unsymmetrische Anordnung der Bauchorgane ist deren

Abb. 6.1 Die Bauchorgane alsProjektion auf die Körperoberfläche[nach Sobotta 1997].

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186 Verletzungen des Abdomens

Verletzungsrisiko entsprechend von der Richtung der Belastung abhängig.Erfolgt eine Beaufschlagung von rechts ist eine Verletzung der Leberwahrscheinlicher als bei einem Anprall von links (Abb. 6.2). Dabei kann esin der Leber — wie auch bei der Lunge — zu einer zentralen Rupturkommen, ohne dass das umliegende Gewebe dadurch verschoben bzw.verändert wird.

Beispiele möglicher Verletzungen des Abdomens und ihreKlassifizierung gemäss Abbreviated Injury Scale (AIS) sind in Tabelle 6.1zusammengestellt.

Bei Fahrzeugkollisionen haben die Strukturen im Fahrzeuginnenraum imFalle eines Anpralls einen erheblichen Einfluss auf die Verletzungsschwere.Mögliche Kontaktflächen können Lenkrad/Lenksäule, die seitlichen Türen,die Armlehne, das Armaturenbrett oder das Handschuhfach sein, wobeinicht angegurtete Fahrzeuginsassen ein entsprechend höheres Risiko haben,tatsächlich an eine solche Struktur zu prallen als angegurtete.

Auch die Beschaffenheit der Organe selbst ist im Zusammenhang mitVerletzungen wichtig. Es wurde festgestellt, dass kompakte Organehäufiger verletzt werden als Hohlorgane. Zudem kann der pathologischeZustand eines Organs einen merklichen Einfluss auf dieVerletzungstoleranz haben, da sich die Materialeigenschaften (z.B.Steifigkeit) entsprechend verändern.

Abb. 6.2 Häufigkeit von Verletzungen des Abdomens mit AIS > 3 fürverschiedene Organe bei seitlichem Anprall von rechts bzw. links [nach Rouhanaet al. 1985].

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Verletzungsmechanismen 187

Des Weiteren zeigte sich, dass der medizinische Zustand einer Personrelevant ist. Frühere Operationen, die zu Verwachsungen innerhalb derBauchhöhle führen können, scheinen beispielsweise ein prädisponierenderFaktor für Verletzungen zu sein. Auch das Alter einer Person beeinflusstdas Verletzungsrisiko bei stumpfen Bauchtraumen, wobei Kinder und älterePersonen ein höheres Risiko aufweisen. Insbesondere bezüglich Kindernsind im Vergleich zu Erwachsenen andere anatomische Gegebenheiten zubeachten. So ist das Abdomen proportional grösser als beim Erwachsenenund die Leber wird weniger durch den Brustkorb geschützt, wodurch sieeinem grösseren Risiko ausgesetzt ist. Khaewpong et al. (1995)untersuchten Fahrzeugunfälle, bei denen durch Rückhaltesystemegesicherte Kinder eine Verletzung des Abdomens erlitten haben. Es zeigtesich, dass fast 90 % dieser Verletzungen mit dem Anprall an dasRückhaltesystem verbunden waren. Alle verletzten Kinder wurden dabei ineinem Rückhaltesystem transportiert, dass nicht geeignet war und/odernicht korrekt benutzt wurde.

Tabelle 6.1 Beispiele von AIS Klassifikationen von Verletzungen des Abdomens [AAAM 2005].

AIS Code Beschreibung

1 Haut, Muskel: Kontusion (Hämatom)

2 Milz- oder Leber-Kontusion (<50% Oberfläche)

3 erhebliche Nieren-Kontusion, Milz-Ruptur

4 abdominale Aorta: kleine LazerationNiere/Leber: Ruptur

5 Niere: vollständige Zerstörung des Organs und seines Gefäss-Systems

6 Abriss der Leber (vollständige Trennung aller Gefässe)

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188 Verletzungen des Abdomens

6.3 Bestimmung des biomechanischen Verhaltens

In gleicher Weise wie auch für andere Körperregionen wurde dasbiomechanische Verhalten des Abdomens in experimentellen Studien mitLeichen oder Tieren untersucht. Manche Studien verwendeten dabeiImpaktoren, die das Abdomen vollständig abdeckten (sowohl in frontalenwie seitlichen Belastungen). Das dadurch bestimmte Verhalten desgesamten Abdomens vernachlässigt jedoch dessen inhomogenen Aufbau.Die Stelle der Krafteinleitung (z.B. rechte oder linke Seite) wie auch dieKörperhaltung während der Belastung spielen eine wichtige Rolle.

Des Weiteren beeinflussen die gewählten Versuchsbedingungenselbstverständlich auch die Ergebnisse der Experimente. Zur Untersuchungdes biomechanischen Verhaltens des Abdomens mittels Leichenversuchenwird häufig eine Position verwendet, bei der der Rücken an einer Wand o.ä.anliegt (“fixed back condition” im Vergleich zu “free back condition”).Durch eine solche Versuchsanordnung wird jedoch der Einfluss derWirbelsäule eliminiert.

Aus Sicht der Versuchsdurchführung hat es sich zudem als rechtschwierig erwiesen, die Verformung des Abdomens genau zu ermitteln.Meistens wurden Aufnahmen aus Hochgeschwindigkeit-Videokamerasausgewertet, wobei die Eindringung entweder in Bezug auf einen festenMesspunkt (z.B. auf der Wirbelsäule) oder relativ zu einem äusserenGegenstand bestimmt wurde.

Abb. 6.3 Kraft-Verformungs-Charakteristik des unteren Abdomens verschiedenerTestobjekte bei frontaler Belastung durch einen starren Impaktor [nach Nusholtz etal. 1988].

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Bestimmung des biomechanischen Verhaltens 189

Wegen der schlechten Qualität der meisten Videoaufnahmen, konnte dietatsächliche Eindringung in vielen Studien gar nicht bestimmt werden.Stattdessen wurden nur die Kraftdaten veröffentlicht. Die Ergebnisseeiniger Studien scheinen zudem nicht sehr zuverlässig zu sein [Rouhana2002].

Heute sind aus Leichenversuchen gewonnene Kraft-Verformungs-Kurven für das untere Abdomen unter frontaler Belastung verfügbar[Cavanaugh 1986, Nusholtz et al. 1988] (Abb. 6.3). Auch Hardy et al.(2001) und Foster et al. (2006) haben entsprechende Daten ausLeichenversuchen publiziert, bei denen die Versuchsbedingungen auchBelastungen durch Airbags und Sicherheitsgurte berücksichtigten.

Für frontale Belastungen gegen das obere Abdomen wurdevorgeschlagen, die gleichen Daten wie für das untere Abdomen zuverwenden, solange keine besseren Daten verfügbar sind [Rouhana 2002].Hinsichtlich seitlichen Belastungen wurden Schlittenversuche,Pendelversuche und Fallexperimente mit Leichen durchgeführt. DieFallversuche untersuchten insbesondere den Anprall an Armlehnen, d.h.man liess die Leiche aus einer gewissen Höhe auf eine Armlehne fallen[z.B. Walfisch et al. 1980]. Statt Kraft-Verformungs-Kurven wurde derzeitliche Verlauf der gemessenen Kraft veröffentlicht.

Die Belastung von Nieren unter stumpfem Anprall wurde durch Schmittet al. (2006a,b) in Pendelversuchen an menschlichen Nieren wie auch anNieren von Schweinen untersucht. Es konnte gezeigt werden, dass einVersagen des Nieren-Gewebes in erster Linie durch die Energie derBelastung gesteuert wird. Die visko-elastischen Eigenschaften der Nierewurden beschrieben und entsprechende Kraft-Verformungs-Charakteristiken bestimmt.

Abbildung 6.4 zeigt mögliche Verletzungsmechanismen und

Abb. 6.4 Mögliche Verletzungen und Verletzungsmechanismen für verschiedeneOrgane.

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190 Verletzungen des Abdomens

resultierende Verletzungen für die drei am häufigsten verletzten Organe.

6.4 Verletzungstoleranzen

Es wurden verschiedene Studien durchgeführt, um das biomechanischeVerhalten des Abdomens unter Belastung zu quantifizieren und darausgeeignete Verletzungskriterien abzuleiten. In diesem Zusammenhangwurde das Potential unterschiedlicher mechanischer Parameter alsVerletzungsprädiktor analysiert, doch obwohl verschiedensteMöglichkeiten untersucht wurden, konnten hinsichtlichVerletzungstoleranzen und Grenzwerten nicht viele Schlussfolgerungengezogen werden. Dies reflektiert wiederum den komplexen Aufbau desAbdomens wie auch die Schwierigkeiten der Durchführung geeigneterExperimente. Folglich ist weitere Grundlagenforschung notwendig, umVerletzungsmechanismen zu untersuchen und Verletzungstoleranzen zudefinieren. Dieser Abschnitt fasst die wichtigsten Versuche, Indikatoren fürAbdominalverletzungen zu quantifizieren, zusammen.

Im Allgemeinen wird angenommen, dass die auf einen Menscheneinwirkende Kraft gut mit den entstehenden Verletzungen korrelierensollte. An anästhetisierten Kaninchen durchgeführte Experimente unterseitlicher Belastung, haben diese Hypothese bestätigt. Es konnte gezeigtwerden, dass die maximale Kraft gut mit der Wahrscheinlichkeit einerNierenverletzung mit AIS ≥ 3 korreliert [Rouhana et al. 1986]. DieWahrscheinlichkeit einer Leberverletzung zeigte hingegen keineKorrelation. Miller (1989) führte Tierversuche mit Schweinen durch undfand unter Berücksichtigung der Belastungen durch einen Sicherheitsgurteine gute Korrelation zwischen der maximalen Kraft und derWahrscheinlichkeit von Verletzungen des unteren Abdomens vomSchweregrad AIS ≥ 3 und AIS ≥ 4. Wenngleich aus den Tierversuchen keineGrenzwerte abgeleitet werden konnten, so wurde auf Basis vonLeichenversuchen als Toleranz für eine maximal ertragbare Kraft ein Wertvon 4.4 kN vorgeschlagen [Talantikite et al. 1993].

Im Gegensatz dazu scheint die Beschleunigung kein geeigneter Indikatorfür Verletzungen des Abdomens zu sein [Rouhana 2002]. Die Messung derBeschleunigung stellt eine erhebliche Schwierigkeit dar, da dieBeschleunigung typischerweise mittels Sensoren an der Wirbelsäule bzw.dem Brustkorb bestimmt wird. Befestigt man jedochBeschleunigungssensoren an diesen Strukturen, so misst man imWesentlichen die Beschleunigung des gesamten Körpers. Daher ist eine

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Verletzungstoleranzen 191

gute Korrelation zu abdominalen Verletzungen nicht zwangsläufig zuerwarten.

Bedenkt man, dass die kompakten Organe des Abdomens“flüssigkeitsgefüllt” sind, so wäre ein zeitabhängiges Verhalten dieserOrgane anzunehmen. Verschiedene Studien, darunter die Arbeit von Mertzund Weber (1982), die Experimente mit Schweinen durchführten, konnteneinen starken Einfluss der Kompressionsrate auf das Entstehen vonVerletzungen nachweisen. Analog zur Belastung des Thorax, wurde auchhier für das Produkt aus maximaler Eindring-Geschwindigkeit V undmaximaler Kompression des Abdomens C eine gute Korrelation zurVerletzungsschwere erhalten [z.B. Rouhana et al. 1984, Stalnaker undUlman 1985]. Es zeigte sich zudem, dass für sehr langsameGeschwindigkeiten (z.B. Belastung durch den Sicherheitsgurt) diemaximale Kompression ein besserer Verletzungsindikator war. Für höhereGeschwindigkeiten (z.B. Belastung durch Airbag) war die maximaleGeschwindigkeit ein besserer Verletzungsprädiktor. Für zwischen diesenbeiden Fällen liegende Geschwindigkeiten und Eindrückungen erwies sichdas Produkt V*C als besserer Prädiktor als die maximale Geschwindigkeitbzw. Kompression einzeln. Ergänzend konnte gezeigt werden, dass dasProdukt aus maximaler Kraft F und maximaler Kompression C gut mit derWahrscheinlichkeit für Verletzungen vom Typ AIS ≥ 4 korreliert [Rouhana1987].

Hinsichtlich der Leber wurden von Kallieris und Mattern (1984)Lazerationen des Gewebes bei angegurteten Fahrzeuginsassen inSeitenkollisionen (kollisionsnahe Sitzposition) ab Beschleunigungen von75 g beobachtet. Untersuchungen zum stumpfen Anprall der Nierenzeigten, dass moderate bis schwere Nierenverletzungen ab einer Anprall-Energie von 4 J bzw. einer entsprechenden Energiedichte (“strain energydensity”) von 25 kJ/m3 zu erwarten sind [Schmitt et al. 2006a,b].

6.4.1 Verletzungskriterien

Derzeit ist nur in der europäischen Vorschrift zu Seitenkollisionen (ECER95) ein Grenzwert für Belastungen des Abdomens verankert. Diemaximale auf das Abdomen wirkende Kraft (“abdominal peak force”,APF), die mit einem EuroSID Dummy bestimmt werden kann, mussunterhalb eines Wertes von 2.5 kN für die innere Kraft liegen (diesentspricht 4.5 kN einer äusseren Kraft). ECE R44(Kinderrückhaltesysteme) schreibt eine qualitative Prüfung derGurtposition vor. Zudem wird bei dynamischen (Schlitten-) Versuchen eine

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192 Verletzungen des Abdomens

Knetmasse auf dem Bauch des Crashtest-Dummys plaziert, so dass nachdem Test beurteilt werden kann, ob eine Eindringung des Gurtes in denBauchraum zu erwarten wäre. Es sei angemerkt, dass bei derzeitigenKinder-Dummys im Gegensatz zu Seitenanprall-Dummys keineMöglichkeit besteht, die Belastung des Abdomens zu messen. Es werdenzwar verschiedene Vorschläge zu einer entsprechenden Instrumentierungeines Kinder-Dummys diskutiert, bisher aber noch nicht implementiert.

6.5 Einfluss des Sicherheitsgurtes

Im Kontext von abdominalen Verletzungen wird der Einfluss desSicherheitsgurtes, vor allem des Beckengurtes, oft diskutiert. Seit den1960er Jahren wird das sogenannte “Gurt-Syndrom” (“seat belt syndrome”)immer wieder in der Literatur beschrieben. Dabei wird angenommen, dassder Sicherheitsgurt durch ein Verrutschen aus der korrekten Position und/oder durch unsachgemässe Benutzung eine Belastung auf das Abdomenausüben kann. Sowohl das Verrutschen wie auch fehlerhafte Benutzungbeziehen sich primär auf den Beckengurt bzw. den Beckenteil eines 3-Punkt-Gurts. Das Verrutschen tritt bei Kollisionen mit hoherGeschwindigkeitsänderung (Δv) auf, wobei das Becken des Insassen unterdem Gurt durchrutscht, so dass der Gurt das Abdomen belastet (der Insassetaucht quasi unter dem Beckengurt durch, daher “submarining”). DerAufbau des Sitzes, insbesondere der Sitzfläche, hat folglich einen Einflussauf die Wahrscheinlichkeit eines Durchrutschens des Insassen. Um diesenBewegungsablauf zu verhindern, weist die Polsterung der Sitzfläche häufigeinen keilförmigen Zuschnitt, mit entsprechendem Anstieg des Polsters ander Vorderkante, auf. Auch werden Anti-Rutsch-Airbags und ähnlicheSysteme, die das Becken eines Insassen zurückhalten sollen, eingesetzt.Wird der Beckengurt nicht sachgemäss geführt, d.h. verläuft das Gurtbandoberhalb des Beckens (spina iliaca superior anterior), wird statt des stabilenBeckens das Abdomen belastet. Die korrekte Gurtführung ist insbesonderebei Kindern und Schwangeren kritisch [z.B. Arbogast et al. 2004].Nichtsdestotrotz sollten Schwangere unbedingt den Sicherheitsgurt tragen.Die US Strassenverkehrsbehörde (US National Highway Traffic SafetyAdministration) empfiehlt schwangeren Frauen den Beckengurt tief, überdas Becken zu führen und den (Beifahrer-) Airbag nicht auszuschalten. Daeine Verletzung der Schwangeren nachweislich ein Prädiktor für eineSchädigung des Fötus ist, dient die korrekte Verwendung vonRückhaltesystemen auch dem Schutz des Fötus [z.B. Klinich et al. 2008].

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Verletzungen des Abdomens im Sport 193

Systeme, die auch bei Schwangeren eine geeignete Gurtführunggewährleisten, sind kommerziell erhältlich. Allerdings sind die aktuellenForschungsergebnisse hinsichtlich dem Verletzungsrisiko schwangererFahrzeuginsassen noch nicht völlig schlüssig [siehe z.B. Manoogian et al.2007].

Trotz möglicher Verletzungen des Abdomens durch ein Durchrutschenunter dem Gurt sowie fehlerhafter Benutzung, wurde die Effektivität desSicherheitsgurtes in vielen Studien überzeugend nachgewiesen. Nichtangegurtete Fahrzeuginsassen haben ein etwa doppelt so grosses Risikotödliche Verletzungen zu erleiden wie angegurtete Personen [z.B.Langwieder et al. 1990, Lane 1994, Rouhana 2002]. Langwieder et al.(1990) berichten zudem, dass bis zu 90 % aller mit dem Sicherheitsgurt inVerbindung gebrachten Verletzungen AIS1-Verletzungen sind. Es kannjedoch nicht ausgeschlossen werden, dass sich das Verletzungsbild durchdie Verwendung des Gurts verändert. Während der SicherheitsgurtVerletzungen von Kopf, Hals und Thorax zuverlässig reduziert, könnte erbei fehlerhaftem Tragen möglicherweise für häufigere, aber leichteVerletzungen des Abdomens verantwortlich sein [Harms et al. 1987].

6.6 Verletzungen des Abdomens im Sport

Stumpfe wie auch penetrierende Bauchtraumen kommen im Sport nurselten vor, dafür finden sich in der Literatur einige Fall-Beschreibungenvon Hernien und Verletzungen der Leiste. Die sogenannte “Sport-Hernie”wurde insbesondere bei Athleten in Sportarten, die ein wiederholtes,schnelles (Ver-) Drehen erfordern, beschrieben (z.B. beim Eishockey,Fussball, Tennis, Feldhockey). In vielen dieser Fälle ist eine eigentlicheHernie jedoch nicht zu erkennen. Zur Ursache dieser Sport-Hernie werdenin der Literatur verschiedene Theorien beschrieben, von denen die meistenein Überlastungssyndrom implizieren. Abduktion (Abspreizen), Adduktion(Anziehen) und Flexion-Extension der Hüfte führen Scherkräfte über dieSchambeinfuge. Diese führen zu Spannungen (Belastungen) derMuskulatur der Leistenwand, die senkrecht zu den Fasern der Faszie undMuskeln wirken. Eine Zugbelastung auf die Muskulatur der Adduktorengegen den Widerstand einer fixierten unteren Extremität kann zusignifikanten Scherkräften über die Hemipelvis führen. Eine darausfolgende Schwächung oder ein Reissen der transversalen Faszie oderverbundener Sehnen wurde als Ursache entsprechender Schmerzenvermutet. Eine systematische Übersicht über Sport-Hernien findet sich

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194 Verletzungen des Abdomens

beispielsweise in Caudill et al. (2008). Andere Ursachen für, häufigchronische, Leistenschmerzen können Schambein-Ödeme oderNeuropathien mit Kompressionen von Nerven sein [z.B. Macintyre et al.2006, Harmon 2007].

6.7 Zusammenfassung

Verletzungen des Abdomens werden bei Fahrzeuginsassen am häufigstenim Zusammenhang mit der (unsachgemässen) Verwendung des (Becken-)Gurtes und/oder bei seitlichen Kollisionen diskutiert. Die biomechanischenGrundlagen bezüglich Verletzungsmechanismen und -grenzwerten sindnach wie vor eher schwach. Crashtest-Richtlinien wie die ECE R95(Seitenanprall) berücksichtigen die maximale auf das Abdomen wirkendeKraft als Verletzungskriterium.

6.8 Referenzen

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196 Verletzungen des Abdomens

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7 Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten

Verletzungen der unteren Extremitäten spielen insbesondere im Sport (z.B.Fussball, Skifahren) eine grosse Rolle. Aber auch bei Frontalkollisionen imStrassenverkehr stellen sie mittlerweile häufig erlittene, nicht unerheblicheVerletzungen dar, da bei Rückhaltesystemen wie Sicherheitsgurten undAirbags der Schutz der Beine (und Arme) nicht im Vordergrund steht.Wenngleich meist nicht lebensbedrohlich, so haben Verletzungen derExtremitäten jedoch oftmals langwierige Beeinträchtigungen zur Folge[Håland et al. 1998, Crandall 2001].

Dieses Kapitel beschäftigt sich mit Verletzungen des Beckens und derBeine. Nach einer kurzen Zusammenfassung der Anatomie folgt dieBeschreibung möglicher Verletzungsmechanismen und Verletzungen.Untersuchungen zum biomechanischen Verhalten sowie gängigeVerletzungskriterien werden vorgestellt. Abschliessend werden spezifischeAspekte von Sportverletzungen diskutiert.

7.1 Anatomie der unteren Extremitäten

Die unteren Extremität können in das Becken, die Oberschenkel, die Knie,die Unterschenkel, die Knöchel und den Fuss unterteilt werden (Abb. 7.1).Das Becken (Pelvis), das die unteren Extremitäten mit der Wirbelsäuleverbindet, wird von einem Ring aus vier Knochen gebildet: zwei Hüftbeineformen die seitlichen und vorderen Teile, während das Kreuzbein (Sakrum)und das Steissbein (Coccyx) den hinteren Teil darstellen (Abb. 7.2).Mechanisch gesehen stellt das Becken den einzigen Lastpfad dar, um dasKörpergewicht des Torsos zum Boden zu übertragen. Daher ist die Strukturdes Beckens recht massiv. Die Hüftknochen setzen sich aus dreimiteinander verschmolzenen Knochen zusammen (Os ilium, Os ischium,Os pubis). Zudem befindet sich in diesem Bereich die Hüftgelenkspfanne

K.-U. Schmitt et al., Trauma Biomechanik, DOI 10.1007/978-3-642-11596-7_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

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198 Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten

(Acetabulum), eine kugelförmige, mit Knorpel ausgelegte Aussparung. DieSchambeine und die Schambeinfuge, d.h. der Knorpel, welcher das rechtemit dem linken Schambein verbindet, bilden den vorderen Teil desBeckens. Insbesondere die dünneren, rahmenähnlichen Teile derSchambeine (ramus pubis superior und ramus pubis inferior) werden häufigverletzt. Das Kreuzbein, das die Rückwand des Beckens formt, setzt sichaus mehreren, verwachsenen Wirbelkörpern zusammen. Dem Rückenmarkentstammende Nerven (z.B. Ischias-Nerv) laufen in entsprechendenÖffnungen durch das Kreuzbein. Des Weiteren verlaufen auch grössereBlutgefässe nahe dem Kreuz- und Steissbein.

Abbildung 7.3 illustriert die Orientierung des Beckens in Abhängigkeitder Körperhaltung. Es ist offensichtlich, dass die Körperhaltung —beispielsweise bei einem Anprall an das Knie — einen Einfluss auf dieAuswirkung mechanischer Belastungen hat.

Des Weiteren bestehen Unterschiede zwischen der Becken eines Mannes

Abb. 7.1 Anatomie der unterenExtremität [nach Sobotta 1997].

Abb. 7.2 Knöcherne Strukturen desBeckens [nach Sobotta 1997].

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Anatomie der unteren Extremitäten 199

und derjenigen einer Frau. Die Form wie auch die mechanischenEigenschaften der Knochen sind etwas verschieden. Für die Betrachtungvon Verletzungsmechanismen sind diese Unterschiede jedoch primär nichtrelevant und werden daher hier nicht weiter diskutiert.

Der Oberschenkelknochen (Femur) schliesst am proximalen Ende mitdem Hüftgelenk und am distalen Ende mit dem Knie ab. Die verschiedenenBereiche des Knochens, insbesondere des Oberschenkelhalses, sind inAbbildung 7.4 dargestellt. Das Schienbein (Tibia) und das Wadenbein(Fibula) bilden den Unterschenkel zwischen Knie und Knöchel. DasKniegelenk verbindet den Femur und den Unterschenkel (Abb. 7.1) undstellt einen anatomisch recht kompakten Bereich dar, in den verschiedeneMuskeln, Sehnen, Bänder und Menisken involviert sind. Strukturen desKnies, wie die Kniescheibe, werden dabei häufig durch einen direktenAnprall verletzt.

Das Bein wird ferner von einer starken Muskulatur umgeben, diebeachtliche Kräfte erzeugen kann und daher Einfluss auf etwaigeVerletzungsmechanismen nehmen kann (s. Kap. 7.2.2).

Der Fuss bildet den Abschluss des Beins. Er besteht aus verschiedenen

Abb. 7.3 Ausrichtung derHüfte in verschiedenenKörperhaltungen: stehend(oben) und sitzend (unten)[nach Kramer 1998].

Abb. 7.4 Proximales Ende des Femurs[nach Sobotta 1997].

Abb. 7.5 Knochen des Fusses [nachSobotta 1997].

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200 Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten

Knochen: das Fersenbein (Os calcaneus) und der Talus befinden sich amproximalen Ende, die Mittelfussknochen (Ossa metatarsalia) und dieZehenglieder (phalanx) am dorsalen (Abb. 7.1 und 7.5).

7.2 Verletzungsmechanismen

Frakturen sind die am häufigsten durch Unfälle erlittenen Verletzungen desBeckens und der unteren Extremitäten. Sie entstehen eher durchSportunfälle bzw. Stürze als durch Unfälle im Strassenverkehr.Hüftfrakturen, insbesondere Oberschenkelhalsfrakturen, treten oft als Folgeeines Sturzes auf, vor allem bei älteren Personen. Diese Frakturen sinddaher von erheblicher Bedeutung [Majumder et al. 2008]. Weltweit erleidenjährlich ungefähr 1.7 Millionen Menschen eine solche Hüftfraktur [Kannuset al. 1999]. Im Unterschied dazu kommen Beckenfrakturen beiStrassenverkehrsunfällen selten vor. Sie tragen nur rund 1 % zum gesamten“Injury Priority Rating” (IPR, s. Kap. 2) bei [King 2002]. Eine Analyse vonFrontalkollisionen von Personenwagen [Kramer 1998] zeigte, dass Becken-und Hüftverletzungen in nur ca. 7 % aller untersuchten Fälle vorkamen,während 35 % aller Fahrzeuginsassen eine Kopfverletzung erlitten. 25 %der Insassen wiesen jedoch Bein- oder Fussverletzungen auf. ÄhnlicheErgebnisse lieferte eine Auswertung der NASS Datenbank [Crandall 2001].Es zeigte sich bei Frontalkollisionen, insbesondere für Verletzungen miteiner Schwere von AIS ≥ 2, ein grosser Einfluss der Rückhaltesysteme aufdas Verletzungsrisiko der unteren Extremitäten (Abb. 7.6) Es wurdebeobachtet, dass die Häufigkeit von Verletzungen der Beine ungefährdoppelt so gross ist wie jene von Kopfverletzungen, wenn einFahrzeuginsasse angegurtet ist und das Fahrzeug mit einem Airbagausgerüstet ist. Die Auswertung nach verschiendenen Regionen der Beinezeigte zudem, dass die Füsse und Knöchel das höchste Risiko einerVerletzung vom Typ AIS ≥ 2 aufweisen. Des Weiteren zeigten Morris et al.(2006) aufgrund von Unfalldaten aus Grossbritannien, dass AIS ≥ 2Verletzungen der unteren Extremitäten mit Abstand die teuerstenVerletzungen sind und für ca. 43 % der Verletzungsfolgekosten beifrontalen und seitlichen Kollisionen verantwortlich sind.

Bedingt durch die Tatsache, dass das Becken und der proximale Femuroftmals gemeinsam verletzt sind, werden solche Verletzungen meist als“Hüftverletzungen” beschrieben. Das Wort “Hüfte” bezeichnet jedochweder eine bestimmte anatomische Struktur, noch kann einer“Hüftverletzung” ein bestimmter Verletzungsmechanismus zugeordnet

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Verletzungsmechanismen 201

werden. Genau genommen wird die Hüfte durch die knöchernen Strukturenum das Hüftgelenk gebildet (Femur-Kopf, Pelvis, Acetabulum). Frakturendes proximalen Teils des Femurs werden oftmals jedoch ebenfallsHüftfrakturen genannt.

Ganz allgemein können Frakturen offen oder geschlossen sein. Währendbei einer geschlossenen Fraktur die Haut und das weiche Gewebe über derFraktur intakt bleiben, wird der Knochen bei offenen Frakturen exponiert,d.h. er ist von aussen sichtbar.

Abb. 7.6 Verteilung von Verletzungen mit Schweregrad AIS ≥ 2 bei frontalerBelastung je nach Körperregion (oben) und je nach Bereichen der Beine (unten)sowie in Abhängigkeit der benutzten Rückhaltesysteme [nach Crandall 2001].

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202 Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten

Abb. 7.7 Mögliche Frakturen alsFolge eines Anpralls des Knies[nach Crandall 2001].

Abb. 7.8 Typisierung verschiedener Frakturen [nach Levine 2002]. Es ist zubeachten, dass Frakturen durch Biegen auch als direkte Fraktur auftreten können.

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Verletzungsmechanismen 203

Weitere Parameter zur Klassifizierung von Frakturen können die Lageder gebrochenen Knochenstücke (verteilt bzw. verschoben/an derFrakturstelle verbleibend) oder die Stelle der Fraktur innerhalb desKnochens (intraartikular, metaphyseal, diaphyseal) sein [vgl. z.B. Levine2002]. Im Allgemeinen können Frakturen von Langknochen, insbesondereFrakturen der Knochen der Beine, in Abhängigkeit der zum Bruchführenden Belastung unterschieden werden. Dabei werden vier möglicheBelastungstypen unterschieden: direkte Belastung, indirekte Belastung,wiederholte Belastung und Penetration. Bei Unfällen im Strassenverkehrsind direkte und indirekte Belastungen die am häufigsten zu Frakturenführenden Belastungstypen. Prallt das Knie eines Fahrzeuginsassen beieiner Frontalkollision beispielsweise an das Armaturenbrett, so kann dieszu einer direkten Belastung mit Fraktur der Kniescheibe oder auch zu einerindirekten Belastung mit Fraktur des Femurschaftes oder des Acteabulumsführen (Abb. 7.7). Wie Abbildung 7.8 zeigt, können direkte und indirekteBelastungen verschiedene Fraktur-Typen zur Folge haben.

Ebenso wie andere Verletzungen werden auch Verletzungen des Beckensund der unteren Extremitäten gemäss AIS kategorisiert (Tab. 7.1). In den

Tabelle 7.1 Beispiele für Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten und deren AIS Klassifikation [AAAM 2005].

AIS Code Beschreibung

1 Knöchel, Hüfte: Verstauchung, Kontusion

2 Kniescheibe, Tibia, Fibula, Fersenbein, Mittelfuss: FrakturBecken: Fraktur (geschlossen)Fusszehe: AmputationHüfte, Knie: DislokationMuskeln, Sehnen: Lazeration (Ruptur, Einriss, Avulsion)

3 Femur: FrakturBecken: Fraktur (offen)Amputationsverletzung unterhalb des Knies

4 Becken: “open book” FrakturAmputationsverletzung oberhalb des Knies

5 Becken: erhebliche Verformung mit Unterbrechung der Blutversorgung und einem Blutverlust von mehr als 20%

6 -

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204 Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten

folgenden Abschnitten werden mögliche Verletzungen und die ihnenzugrunde liegenden Verletzungsmechanismen diskutiert. Dabei beschränktsich diese Darstellung auf Verletzungen, die durch stossartige Belastungenentstehen.

7.2.1 Verletzungen des Beckens und des proximalem Femurs

Verletzungen des Beckens werden klinisch in isolierte Frakturen desBeckenrings, multiple Frakturen des Beckenrings, Frakturen des Sakrumsund assoziierte Verletzungen unterteilt. Eine isolierte Fraktur desBeckenrings zeichnet sich durch eine einzelne Fraktur an einer Stelle desRings (z.B. am Schambein oder dem Ilium) aus. Frakturen des oberen undunteren Schambein-Asts werden häufig nach seitlicher Belastung mitAnprall am grossen Trochanter beobachtet. Der Beckenring bleibt nacheiner isolierten Fraktur stabil, d.h. es erfolgt keine grosse Verschiebung dergebrochenen Segmente. Im Gegensatz dazu wird der Beckenring beimultiplen Frakturen instabil und es sind grosse Verschiebungen dereinzelnen Segmente möglich. Auch können in Kombination mit multiplenFrakturen Verletzungen des Uro-Genitalbereichs auftreten.

Frakturen des Kreuzbeins (Sakrum) kommen bei extensivenVerletzungen des Beckens vor. Meist erfolgt die Fraktur über dem Foramenoder in der Nähe der Durchtrittslöcher der Nerven.

In diesem Fall sind auch die Nerven selbst gefährdet. WeitereVerletzungen, insbesondere starke Blutungen, können mit Beckenfraktureneinhergehen. Starke Blutungen grosser Blutgefässe der Beckenwand, wieauch aus der Oberfläche der Frakturstelle selbst, können lebensbedrohlichsein (selbst wenn die Fraktur operativ versorgt wird).

Aus biomechanischer Sicht sind entweder Kompression, vertikaleScherkräfte oder eine Kombination der beiden die entscheidendenMechanismen, die zu Frakturen des Beckens führen. Kompression desBeckens kann zudem in seitliche und frontale (d.h. antero-posteriore, a-p)Kompression unterteilt werden. Abbildung 7.9 zeigt mögliche Fraktur-Stellen bei seitlicher Kompression. Wird das Becken durch eine von vornenach hinten gerichtete Kraft komprimiert, können multiple Frakturen derSchambeinäste auftreten (“straddle fracture”). Eine antero-posterior (a-p)gerichtete Kompression, bei der die Kräfte auf den rechten oder linkenBeckenkamm einwirken, kann in einer Scharnier- oder “open book”-Fraktur resultieren (Abb. 7.9). Im Falle einer solchen a-p Kompression wirdder Durchmesser des Beckens vergrössert, so dass Zugkräfte auf das imBecken liegende Gewebe wirken können. Dadurch können Verletzungen

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Verletzungsmechanismen 205

der Ligamente entstehen. Wird das Becken durch vertikal wirkende Kräftebeansprucht, können Scherkräfte entstehen, die zu Frakturen wie auchRupturen der Ligamente führen können (Abb. 7.10).

Frakturen des Beckens waren bis in die frühen 1990er Jahre beiFussgängern, die in Fahrzeug-Fussgänger-Kollisionen verletzt wurden,dominant. Wurde der Fussgänger durch ein Fahrzeug seitlich am Beckenangestossen, entstanden Frakturen am Schambein (vorwiegend auf der demFahrzeug abgewandten, der nicht angestossenen Seite). Diese Verletzungenwerden heute quasi nicht mehr beobachtet. Durch Veränderungen der Formund der Strukturen der Fahrzeugfront wurde die Kinematik desangefahrenen Fussgängers derart beeinflusst, dass keine Becken-Frakturenmehr auftreten [Otte 2002, Snedeker et al. 2003].

Wie bereits erwähnt wird die Hüfte häufig durch Stürze verletzt. Einesolche laterale Belastung führt in der Regel zur Fraktur desOberschenkelhalses. Da Veränderungen wie Osteoporose das Frakturrisikoerhöhen sind Oberschenkelhals-Frakturen bei geriatrischen Patientenbereits durch geringe Energie-Einwirkung möglich [Levine 2002]. Stürzesind zudem im Zusammenhang mit Epilepsie-Patienten relevant, wobeineben der Hüfte vor allem der Kopf verletzt wird. Schwere Verletzungensind jedoch selten [Lawn et al. 2004]. Auch Fussball-Torhüter belasten bei

Abb. 7.9 Mögliche Frakturstellen nach seitlicher Kompression des Beckens [nachVetter 2000].

Abb. 7.10 Fraktur und Ruptur von Ligamenten durch vertikale Scherkräfte(rechts). “Open book” Fraktur (links) [nach Vetter 2000].

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206 Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten

seitlichen Hechtsprüngen häufig ihre Hüfte [Schmitt et al. 2008a, 2009].Zum Schutz der Hüfte bei Älteren so wie bei Sportlern werden Hüft-Protektoren verwendet [Schmid Daners et al. 2008, Schmitt et al. 2008b].

In Autounfällen werden Frakturen des proximalen Femurs jedoch nursehr selten beobachtet. Seitliche Belastungen hingegen führen eher zuFrakturen der Schambeine.

Luxationen und Dislokationen des Hüftgelenks (Abb. 7.11),möglicherweise in Kombination mit einer Fraktur des Acetabulums,können auch durch lateralen Anprall entstehen. Im Prinzip kommt es zueiner Dislokation der Hüfte, wenn sich diese in Flexion und Adduktionbefindet und gleichzeitig über den Femur in Rückwärtsrichtung belastetwird. Eine solche Belastungssituation tritt beispielsweise auf, wenn einFahrzeuginsasse mit übereinander geschlagenen Beinen im Fahrzeug sitztund eine Frontalkollision erfährt.

7.2.2 Bein-, Knie- und Fussverletzungen

Eine Untersuchung des Verletzungsmechanismus, der bei frontalenFahrzeugkollisionen zu einem Anprall am Armaturenbrett undnachfolgender Fraktur des Femurs führt, zeigte, dass die meisten Frakturendurch axiale Kompression entstanden (62 %), gefolgt von Biegung (24 %),Torsion und Scherung (je 5 %) [Crandall 2001]. Neben dem mechanischenLastfall wird die Erscheinungsform einer Fraktur des Femurschaftes durcheine leichte Krümmung des Knochens (bei der die konvexe Seite derKrümmung nach vorne zeigt) beeinflusst. Dies spielt vor allem bei

Abb. 7.11 Links: Dislokation der rechten Hüfte. Rechts: Dislokation und Frakturdes Acetabulums der linken Hüfte nach seitlichem Anprall. Der Femur-Kopfwurde in die mediale Wand des Acetabulums gestossen [Quelle: Prof. F. Walz].

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Verletzungsmechanismen 207

indirekten Belastungen des Femurs eine Rolle (Abb. 7.7).Ein Anprall des Knies kann zu einer Fraktur der Patella führen (direkte

Belastung der Kniescheibe). Durch starke Kontraktion der Muskulatur,insbesondere des Quadrizeps, bei leicht gebeugtem Knie kann ferner eineindirekte Beanspruchung der Patella auftreten. Dies kann ebenfalls einePatella-Fraktur zur Folge haben [Levine 2002]. Wichtig ist zudem derAnprallwinkel relativ zum Oberschenkel, unter dem das Knie beaufschlagtwird [Meyer und Haut 2003]. Im Unterschied zum stabilen Kugelgelenkder Hüfte, tragen die knöchernen Strukturen des Knies nur wenig zu dessenStabilität bei. Dies macht die Bänder des Knies verletzungsanfällig (s. auchKap. 7.5). Ist das Knie gebeugt während die Tibia durch einen Anprallkraftvoll nach hinten gestossen wird, kann das hintere Kreuzband reissen.Bei seitlichen Belastungen (z.B. Fahrzeug-Fussgänger-Kollisionen) werdenauch Rupturen der (seitlichen) kollateralen Bänder beobachtet. Einevollständige Dislokation des Knies kann zum Riss aller vier Hauptbänderdes Knies führen.

Analog zu Femur-Frakturen, können auch Frakturen der Tibia durchdirekte oder indirekte Belastung des Beins entstehen. Dabei stellen Tibia-Frakturen die häufigsten Frakturen langer Knochen dar [Crandall 2001] undda das Schienbein quasi direkt unter der Haut liegt (d.h. es wird nur durcheine sehr dünne Schicht weichen Gewebes bedeckt) sind solche Frakturenoftmals offene Frakturen. Die häufigsten Frakturen treten im mittlerenBereich des Schafts und im distalen Drittel der Tibia auf, da dort dieQuerschnittsfläche am kleinsten ist und entsprechend das kleinste auf dieQuerschnittsfläche bezogene Trägheitsmoment auftritt. Hinsichtlich derBelastungsart berichtet Crandall (2001), dass für die Tibia wie auch dieFibula axiale Belastung und direkter Anprall gleich oft vorkommen.Brechen sowohl Tibia und Fibula hängt die Stabilität der Fraktur von derFrakturstelle ab, d.h. die Fraktur ist weniger stabil, wenn beide Knochenauf gleicher Höhe brechen. Eine komplexere Form der Tibia-Fraktur ist dieFraktur des Tibia-Plateaus, d.h. eine Fraktur im Bereich des Tibiakopfeseinschliesslich einer Schädigung der Knorpelfläche des Kniegelenks.Solche Frakturen sind jedoch selten, sie machen nur ca. 1 % der klinischbeschriebenen Frakturen aus, stellen jedoch 10 % aller beiFahrzeugkollisionen unterhalb des Knies auftretenden Verletzungen vomSchweregrad AIS ≥ 2 dar [Crandall 2001]. Vom Mechanismus her könnendirekte Belastungen des Knies, rein axiale Beanspruchung sowie axialeBeanspruchungen bei gleichzeitiger Hyperextension des Kniesverantwortlich sein. Eine axiale Beanspruchung kann dabei durch Intrusiondes Fahrzeugbodens bei gleichzeitigem Einklemmen des Knies (z.B. unterdem Armaturenbrett) auftreten.

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208 Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten

Die Verletzungsmechanismen von Knöchel- und Fuss-Verletzungen sindeng mit den möglichen Bewegungsrichtungen des Knies und des (Hinter-)Fusses verknüpft (Abb. 7.12). Gemäss Crandall (2001) tretenKnöchelverletzungen bei Frontalkollisionen hauptsächlich durch axialeBelastung (58 %), Supination (15 %) und Pronation (11 %) auf. Nur 5 %resultieren aus einem direkten Anprall. Verletzungen der Mittelfussknochenwerden hingegen nur durch direkten Anprall verursacht und 100 % allerFersenbein-Frakturen entstehen durch axiale Kompression. Eine reineaxiale Belastung kann zudem in Frakturen des Talus resultieren,sogenannten Pylon-Frakturen, bei denen durch eine Verschiebung des Talusin Richtung Tibia sowohl die distale Tibia wie auch das Fersenbein und derTalus selbst betroffen sind. Eine Dorsalflexion (z.B. durch ein Eindringendes Fahrzeugbodens oder der Pedale in die Fahrgastzelle) und ein Fixierenbzw. Einklemmen des Knies können die auftretenden axialen Kräftevergrössern.

Supination und Pronation sind für die Mehrheit der Malleolar- (Knöchel-) Verletzungen, insbesondere Frakturen, verantwortlich, so dass derKnöchel eines der am häufigsten verletzten Gelenke des Körpers darstellt(s. auch Kap. 7.5). Die Drehgeschwindigkeit, die Orientierung desKnöchels sowie individuelle Faktoren wie das Alter oder frühereVerletzungen sind Faktoren, die einen entscheidenden Einfluss auf dieWahrscheinlichkeit, eine Knöchelverletzung zu erleiden, haben [Crandall2001].

In Fahrzeugunfällen beobachtete Fussverletzungen, insbesondereMittelfussfrakturen, entstehen meist durch Belastungen über die Pedale.Berührt die Ferse zudem den Fahrzeugboden, so können ferner Kräfte aufdas Fersenbein übertragen werden und zu dessen Fraktur führen [Levine2002].

Des Weiteren haben Leichenversuche gezeigt, dass einer Vorspannung(Vorbelastung) der Achilles-Sehne das Entstehen von Pylon-Frakturen

Abb. 7.12 Bewegungsrichtungen des Fusses [nach Crandall et al. 1996].

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Belastungstoleranzen für Becken und untere Extremitäten 209

beeinflusst. Bei einer Vorspannung von 2 kN waren deutlich wenigerzusätzliche Kräfte notwendig, um eine solche Fraktur zu verursachen alsbei Fällen ohne Vorspannung [Kitagawa et al. 1998a]. Zudem führt eineVorbelastung der Achilles-Sehne zu einer Zugbelastung und daher eher zuFrakturen des Fersenbeins. Verletzungsmechanismen werden fernererheblich durch die Bein-Muskulatur beeinflusst. Gemäss Cappon et al.(1999) können die hinteren Muskeln (Plantarflexoren) über 3.5 kNerzeugen, während für die vorne liegende Muskulatur (Dorsiflexoren)1.4 kN gemessen wurden [Petit et al. 1998]. Durch Anspannen der Muskelnvor einer Kollision bzw. einer erwarteten Belastung kann ein zusätzlicherBeitrag von über 2.8 kN resultieren [Crandall et al. 1995].

Schlittenversuche und Computersimulationen zeigten, dass durchMuskelkräfte vor allem die in axialer Richtung wirkenden Kräfte, dieeffektive Masse und die (mechanische) Steifigkeit des Beins erhöht werden.Ferner ändern sich die Spannungsverteilung innerhalb des Knochens unddie Kinematik, die weniger Auslenkung nach vorne sowie wenigerDrehung im Gelenk ausweist [Crandall et al. 1995]. Nichtsdestotrotz ist dieRolle, die die Muskulatur bei verschiedenen Verletzungsmechanismenspielt, derzeit nur ansatzweise bekannt, so dass diesbezüglich weitereForschungsarbeiten wichtig wären.

7.3 Belastungstoleranzen für Becken und untere Extremitäten

Das belastungsabhängige Verhalten einzelner Knochen wie des Femurs, derTibia oder der Fibula wurde in Experimenten mit ähnlichem Aufbau wiebei Materialprüftests (z.B. Biege- oder Torsionsversuche) bestimmt. DieErgebnisse sind in Tabelle 7.2 zusammengefasst.

Um das biomechanische Verhalten des Beckens unter vertikaler,frontaler und seitlicher Belastung zu untersuchen wurden Leichenversuchedurchgeführt. Da die Versuchsaufbauten (teilweise mit starren, teilweisemit gepolsterten Impaktoren) wie auch die Versuchsdurchführungen (z.B.hinsichtlich Instrumentierung und Position der Leiche) verschieden waren,ist es schwierig die jeweiligen Ergebnisse miteinander zu vergleichen. Dain manchen Versuchen keinerlei Frakturen auftraten, ist auch dieInterpretation der Resultate schwierig bzw. teilweise nicht schlüssig.

Nusholtz et al. (1982) führten Experimente durch, in denen dieBelastungssituation einer Frontalkollision im Strassenverkehr durchVerwendung eines Pendelschlagversuchs nachgestellt wurde. Das Knie

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210 Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten

einer sitzenden Leiche wurde mit einem Pendel beaufschlagt. Bis zu einerAnprallkraft von 37 kN wurden keine Frakturen des Beckens bzw. Hüftedetektiert. Brun-Cassan et al. (1982) beaufschlagten den gesamten Körpereiner nicht angegurteten Leiche, wobei am Knie maximale Kräfte zwischen3.7 kN und 11.4 kN gemessen wurden. Auch hier wurden bis auf eineAusnahme keine Becken-Frakturen festgestellt. Im entsprechenden Fallwurden bei einem Knieanprall von 8.8 kN Frakturen der rechte Kniescheibeund des Beckenkamms gefunden. Obschon die Ergebnisse derLeichenversuche recht unterschiedliche Ergebnisse aufweisen, wurde inFMVSS 208 eine maximal zulässige axiale Belastung des Femurs von10 kN vorgeschrieben.

Auch in Bezug auf seitliche Belastungen werden in der Literaturdivergierende Resultate beschrieben. Weder die maximale Beschleunigungdes Beckens noch die maximale Deformation des Beckens scheinen gut mitder Wahrscheinlichkeit, eine Becken-Fraktur zu erleiden, zu korrelieren.Gemäss Viano et al. (1989) zeigte sich jedoch, dass das Verhältnis vonDeformation des Beckens zu deren Breite (angegeben in Prozent derKompression) ein zuverlässiges Mass für Frakturen der Schambeinästedarstellt. 27 % Kompression des Beckens korrespondierte dabei mit einerWahrscheinlichkeit für eine schwere Verletzung von 25 %. Dieses Ergebniswurde durch Cavanaugh et al. (1990), die ebenfalls seitliche Belastungenmittels Leichenversuchen analysierten, bestätigt. Ein leicht höherer Werteiner Kompression von 32.6 % entsprach hier einer 25 %igenWahrscheinlichkeit einer Fraktur der Schambeinbogen.

Die (visko-elastischen) Materialeigenschaften wie auch das Versagen dernicht-knöchernen Strukturen des Beins wurden in verschiedenen

Tabelle 7.2 Mechanische Kenngrössen (Mittelwerte) der Bein-Knochen laut Levine (2002).

Femur Tibia Fibula

Mann Frau Mann Frau Mann Frau

Drehmoment [Nm] 175 136 89 56 9 10

Biegung [kN] 3.92 2.58 3.36 2.24 0.44 0.30

Maximales Moment (Durchschnitt) [Nm]

310 180 207 124 27 17

Kompression in Längsrichtung [kN]

7.72 7.11 10.36 7.49 0.60 0.48

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Belastungstoleranzen für Becken und untere Extremitäten 211

experimentellen Arbeiten untersucht, wobei die Ergebnisse wiederum einegrosse Streuung aufweisen. Solche Abweichungen sind jedoch zu erwarten,da für Sehnen und Bänder die maximal ertragbare Belastung von derQuerschnittsfläche des Gewebes abhängt. In der Literatur finden sichDurchschnittswerte für die maximal ertragbaren Zugspannungen fürSehnen und Bänder, die zwischen 50 und 100 MPa liegen. In Abhängigkeitdes jeweiligen Versuchsaufbaus werden Versagensgrenzen für Bänder desKnies von 7 bis 40 % Dehnung beschrieben [z.B. Butler et al. 1986,Kerrigan et al. 2003, Arnoux et al. 2004, Robinson et al. 2005]. Abbildung7.13 stellt typische Spannungs-Dehnungs-Diagramme für Ligamente desKnies dar. Dynamische, an Leichen durchgeführte Versuche zeigen, dassein 50 %iges Risiko einer Verletzung des Kollateralbands mit einemBiegemoment von 117 bis 134 Nm einhergeht [Ivarsson et al. 2003].Verschiedene andere Studien dokumentieren hingegen eine grössereSpanne für Versagensgrenzwerte, so dass diesbezüglich (noch) keineallgemeingültigen Schlussfolgerungen gezogen werden können.

Auch hinsichtlich des biomechanischen Verhaltens des Unterschenkelsund des Fusses wurden Experimente an Leichen und Freiwilligendurchgeführt. Hirsch und White (1965) bestimmten die Kraft-Verformungs-Kennlinien für statische, axiale Belastungen bei Leichen und Freiwilligen.Ein Vergleich der Ergebnisse legt den Schluss nahe, dass bezüglich derDruckfestigkeit von Fuss und Knöchel kein Unterschied zwischen

Abb. 7.13 Spannungs-Dehnungs-Kurven der Patella-Sehne (PT),des vorderen (VKB) und hinteren(HKB) Kreuzbandes und derseitlichen Faszien-Knochen-Übergange des lateralenKollateralbands (LKB) [nachButler et al. 1986].

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212 Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten

lebendem und totem Gewebe besteht [Crandall et al. 1996]. Ferner wurdedas Verhalten von Tibia und Knöchel auch unter dynamischer, axialerBelastung mittels Leichenversuchen analysiert [z.B. Petit et al. 1996,McMaster et al. 2000]. Abbildung 7.14 illustriert einen entsprechendenVersuchsaufbau, bei dem Fuss und Tibia durch ein Pendel beaufschlagtwerden. Als Versagensgrenzen für Tibia-Frakturen wurden beispielsweisefolgende Werte bestimmt: 7.8 kN [Begeman und Prasad 1990], 8.0 kN[Yoganadan et al. 1996]. 7.3 kN wurden für Pylon-Frakturen beschrieben[Kitagawa et al. 1998b] und ein Toleranzwert von 8.1 kN wurde fürFersenbein-Frakturen bestimmt [Begeman und Prasad 1990].

Für Dorsalflexion/Plantarflexion wurde das biomechanische Verhalten instatischen wie auch dynamischen Tests untersucht. Leichenversuchezeigten, dass bei einer erzwungenen Dorsalflexion von 45° eine 50 %igeWahrscheinlichkeit einer Knöchelverletzung besteht [Levine 2002]. Ruddet al. (2004) kamen in ihren Versuchen zu dem Ergebnis, dass ein Momentvon 59 Nm, gemessen am Knöchel, einem Risiko von 25 % für eineKnöchelfraktur bei Dorsalflexion entspricht (Angabe für einen 50-perzentilen Mann). Parenteau et al. (1998) führten quasi-statischeExperimente durch. Sie stellten Verletzungen bei 47.0±5.3° und36.2±14.8 Nm bei Dorsalflexion und 68.7±5.9° sowie 36.7±2.5 Nm beiPlantarflexion fest. Dynamische Versuche führten bei 138 Nm zuVerletzungen, wobei hier eine grosse Variabilität von ±50 Nm bestand[Begeman und Prasad 1990].

In ähnlicher Weise wie die Untersuchungen zu Dorsi-/Plantarflexionwurden auch Pronation und Supination des Fusses statisch und dynamischanalysiert. Für quasi-statische Belastungen fanden Parenteau et al. (1998)beispielsweise eine Versagensgrenze von ca. 34 Nm bei Supination und

Abb. 7.14 Versuchsaufbau zur Durchführung dynamischer Experimente zurBestimmung des biomechanischen Verhaltens [nach Crandall 2001].

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Belastungstoleranzen für Becken und untere Extremitäten 213

48 Nm bei Pronation. Abbildung 7.15 zeigt Ergebnisse für dasbiomechanische Verhalten bei Supination und Pronation gemäss Crandall etal. (1996).

Wie in den obigen Abschnitten beschrieben wurde, haben die bisherdurchgeführten Experimente zu Ergebnissen mit einer nicht unerheblichenStreuung geführt. Dabei wurden zusätzliche Einflüsse durch aktive undpassive Muskelkraft, durch eine im Moment der Belastung bereitsbestehende Belastung bzw. Spannung oder auch individuelle Faktoren wiedie Knochendichte nicht berücksichtigt [McMaster et al. 2000]. ZurQuantifizierung solcher Einflüsse wie auch zur Verbesserung der bisherigenDatenlage und damit zur besseren Definition von Verletzungstoleranzen,Verletzungskriterien, mathematischen Modellen oder Crashtest-Dummyssind weitere experimentelle Untersuchungen notwendig.

Abb. 7.15 Ergebnisse quasi-statischer Freiwilligen- und Leichenversuchebeschreiben das biomechanische Verhalten für Pronation (oben) und Supination(unten) in Form von Korridoren [nach Crandall et al. 1996].

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214 Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten

7.4 Verletzungskriterien

Derzeitige Richtlinien und Vorschriften enthalten nur wenige Kriterien zurBeurteilung des Verletzungsrisikos des Beckens und der unterenExtremitäten. Grundsätzlich ist dies nicht überraschend, da die Anzahl derzugrunde liegenden Experimente klein ist und die Ergebnisse in einigenAspekten noch nicht wirklich schlüssig sind. Es wurden jedoch weitereKriterien vorgeschlagen; diese wurden aber noch nicht in Vorschriftenaufgenommen. In Ergänzung zu vorgeschriebenen (gesetzlichen) Tests,berücksichtigen Testvorgaben von anderen Organisationen wie EuroNCAPbereits Verletzungen der Beine bei Fussgängern (s. auch Kap. 2.6).

7.4.1 Kompressionskraft

Zum Schutz des gesamten Komplexes von Hüfte, Oberschenkel und Knieschreibt FMVSS 208 eine maximale Kraft in axialer Richtung des Femursvon 10 kN vor.

ECE R94 gibt eine maximale Kompression in axialer Richtung der Tibiaeines Crashtest-Dummy vor (“tibia compression force criterion”, TCFC).Derzeit liegt dieser Grenzwert des TCFC bei 8 kN.

7.4.2 Femur-Kraft-Kriterium (Femur Force Criterion, FFC)

Das FFC Kriterium wird in ECE R94 beschrieben und dient derBeurteilung der auf den Femur einwirkenden Kompressionskraft wie auchder Zeitdauer [ms], für die diese Kraft wirkt. Das FFC wird aus derKompressionskraft [kN], die in axialer Richtung auf den Femur wirkt,bestimmt. Abbildung 7.16 stellt die Grenzwerte dieser Kraft dar, die nichtüberschritten werden dürfen.

7.4.3 Tibia-Index (TI)

Der Tibia-Index (TI) berücksichtigt Biegemomente sowie die in axialerRichtung auf die Tibia wirkende Kraft. Durch Berücksichtigung dieserbeiden Grössen soll das Risiko für Frakturen des Tibia-Schafts bestimmtwerden. Der TI berechnet sich gemäss folgender Gleichung:

(7.1)

wobei M das Biegemoment beschreibt und F die Kraft der Kompression

TI MM

krit-------------- F

Fkrit

-------------+=

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Verletzungskriterien 215

darstellt. Mkrit und Fkrit sind Referenz- bzw. Normierungswerte, die ausstatischen Biegeversuchen der Tibia gewonnen wurden [Yamada 1970]. Füreinen 50-perzentilen Mann sind 225 Nm für das Biegemoment und 35.9 kNfür die Druckkraft zu verwenden. Das Maximum des am oberen undunteren Ende der Tibia bestimmten TI darf an keiner Stelle einen Wert von1.3 überschreiten (ECE R94). Als weitere Beschränkung wurde einemaximale Kompression definiert. Die maximale Kompressionskraft musskleiner als 8.0 kN sein. Durch Skalierung der oben genanntenReferenzwerte wurden entsprechende Werte für andere Hybrid III Dummy-Grössen wie die 5-perzentile Frau und den 95-perzentilen Mann definiert.Weitere Details zur vorgeschriebenen Auswertung (z.B. der vorgegebenenFilterung der Messwerte) sind in ECE R94 beschrieben.

7.4.4 Weitere Kriterien

Für seitliche Belastungen wird die maximale Dehnung der Schambeinfugeals Mass für die Verformung des Beckens verwendet. Das entsprechendeKriterium ist die Schambeinfugen-Kraft (“pubic symphysis peak force”,PSPF), die einen Wert von 6 kN nicht überschreiten darf (vgl. ECE R95).

Eine maximale Verschiebung der Tibia von 15 mm wird in ECE R94(Frontalkollision) zum Schutz der Bänder des Knies beschrieben. Zudemwerden maximale Belastungen zum Schutz den Fusses und des Knöchels,beispielsweise eine maximale Kraft von 7.5 kN, diskutiert.

Abb. 7.16 Vorgeschriebene Femur-Kraft gemäss ECE R94.

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216 Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten

7.5 Verletzungen von Becken und unteren Extremitäten im Sport

Verschiedene intrinsische wie extrinsische Faktoren werden hinsichtlichihres Einflusses auf das Verletzungsrisiko von Sportverletzungen vonBecken und unteren Extremitäten diskutiert [z.B. Murphy et al. 2002].Während mehrere Studien gezeigt haben, dass die Verletzungshäufigkeit imTraining höher ist als während einem Wettkampf oder Spiel, werden anderemögliche Einflüsse wie Leistungsstufe, Schuhe oder ein stabilisierenderKnöchel-Verband (Sporttape) kontrovers diskutiert. Hinsichtlichintrinsischer Faktoren konnte nachgewiesen werden, dass eine frühereVerletzung — insbesondere in Kombination mit ungenügenderRehabilitation — das Risiko einer erneuten Verletzung erhöht. EineKorrelation zwischen dem Verletzungsrisiko und anderen Faktoren wieBein-Dominanz, Fitness-Status, Körpergrösse oder Beweglichkeit konntenicht eindeutig nachgewiesen werden oder hing stark vom Design derentsprechenden Studie ab. Diese inkonsistenten Resultate spiegeln diegrosse Variabilität der verschiedenen Sportarten sowie der individuellenEigenschaften der Athleten wieder und erschweren (bzw. verunmöglichen)eine systematische Darstellung von Verletzungsmechanismen undVerletzungstoleranzen.

Verletzungen der Muskulatur der Beine sind im Sport häufig. Einstumpfer Anprall, beispielsweise durch das Knie eines Anderen oder durcheinen Sturz, übt Druck auf die Muskeln aus und stellt den überwiegendenMechanismus von Muskelkontusionen dar. Geeignete Werte für einVerletzungsrisiko von Muskelkontusionen werden derzeit nichtbeschrieben. Dies kann dahingehend gedeutet werden, dass individuelleFaktoren das Entstehen einer solchen Verletzung stark beeinflussen. ImRahmen einer Studie zur Hüftbelastung von Fussball-Torhütern beimseitlichen Hechtsprung schätzten Schmitt et al. (2009) das Risiko einerKontusion im Bereich der Hüfte ab. Der experimentell bestimmteGrenzwert lag im Bereich von 110-125 N/cm2.

In ungefähr 9 bis 17 % aller Fälle entwickelt sich nach einem direktenAnprall eine Myositis ossificans traumatica, wobei davon ausgegangenwird, dass bei einer solchen Entwicklung die Verletzungsschwere eineRolle spielt. Myositis ossificans traumatica beschreibt eine nicht-neoplastische Bildung von Knochen und Knorpel im Bereich der zuvorerlittenen Verletzung bzw. entsprechender Hämatome. Die genaue Ursache,die Beziehung zu anderen Knochenbildungen (nach Operationen, erblichbedingt) und mögliche Behandlungen sind noch nicht vollständig geklärt

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Verletzungen von Becken und unteren Extremitäten im Sport 217

[Beiner und Jokl 2002].Zerrungen der hinteren Oberschenkel-Muskulatur kommen vor allem in

Sportarten vor, die Rennen, Sprinten oder Springen erfordern [Schache etal. 2009], treten aber ebenso bei (Ballett-) Tanz und Wasserski fahren auf.Auffallend ist eine hohe Wieder-Verletzungshäufigkeit, d.h. ein erhöhtesRisiko nach erlittener Verletzung wieder eine solche zu erleiden. Es wirdvermutet, dass eine Zerrung der hinteren Oberschenkelmuskeln gegen Endeder Schwung-Phase entsteht, wenn die Muskeln die Extension des Kniesabremsen, d.h. die Muskulatur kontrahiert während sie gestreckt wird.Folglich muss die Muskulatur von exzentrischer nach konzentrischerKontraktion umstellen, wodurch eine höhere Verletzlichkeit erklärt werdenkönnte [Peterson und Hölmich 2005].

Die knöchernen Strukturen der unteren Extremitäten können inverschiedenen Situationen derart belastet werden, dass die Fraktur-Grenzwerte (s. Kap. 7.2 und 7.3) überschritten werden und direkte oderindirekte Frakturen resultieren. Zudem können wiederholte, aber unter-kritische Belastungen zu einer Kumulierung von Mikrotraumen führen,wodurch Ermüdungsbrüche entstehen können (s. Kap. 9).Ermüdungsfrakturen von Tibia, Femur oder den Mittelfussknochen werdenbeispielsweise bei Langstreckenläufern oder Ballett-Tänzern beobachtet.

Bedingt durch die hohe Stabilität des Hüftgelenks sind Dislokationenund Subluxationen im Sport selten, wenngleich nicht unmöglich. AnterioreDislokationen werden manchmal als Folge von heftigen Kollisionen beimSkifahren und Kontaktsportarten beobachtet. Frakturen des Beckens sindim Sport ebenfalls ungewöhnlich [Anderson et al. 2001]. Der proximaleFemur kann durch direkten Anprall eine Fraktur erleiden (s. Kap. 7.2.1);auch können Ermüdungsfrakturen durch Überbelastung entstehen. Unternormalen Bedingungen bewirkt das nach unten gerichtete Biegemoment(durch Kraft auf Femurkopf bezogen auf die Länge des Femurhalses), dassim oberen Teil des Oberschenkelhalses Zugspannungen wirken. Diesewerden durch Kontraktion der Abduktoren und daraus resultierendemDruck auf den oberen Teil des Femurhalses kompensiert. Ermüdet jedochdie Muskulatur (z.B. der M. gluteus medius) wird dieser neutralisierendeEffekt reduziert und der Oberschenkelhals erfährt Zugspannungen [Egol etal. 1998]. Folglich können gerade in solchen Fällen durch wiederholteBelastung Ermüdungsfrakturen entstehen.

Die verschiedenen Strukturen des Knies können durch direkte undindirekte Belastung verletzt werden. Wie bereits in Kapitel 7.2.2beschrieben können Frakturen der Kniescheibe (Patella) vorkommen.Zudem werden auch Rupturen der Patellasehne, patellofemoraleSchmerzen (“patellofemoral pain syndrome”) oder patellare

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218 Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten

Sehnenentzündungen (als Springerknie, "jumper's knee", bekannt)beobachtet. Die Mehrheit der im Sport erlittenen Knieverletzungenbetreffen jedoch die Bänder und die Menisken. In einer Auswertung vonDaten zu über 7000 Knieverletzungen fanden Majewski et al. (2006), dassdie meisten Verletzungen das vordere Kreuzband (VKB) betrafen (20.3 %).Gefolgt von Läsionen des medialen Meniskus (10.8 %), des lateralenMeniskus (3.7 %), des medialen Kollateralbands (MKB) (7.9 %), deslateralen Kollateralbands (LKB) (1.1 %) und des hinteren Kreuzbandes(HKB) (0.65 %). Die am häufigsten zu solchen Knieverletzungenführenden Sportarten waren Fussball (35 %) und Skifahren (26 %). LKBVerletzungen wurden vor allem beim Tennis und Turnen beobachtet, MKBVerletzungen beim Judo und Skifahren, VKB-Verletzungen beim Handballund Volleyball, HKB-Verletzungen ebenfalls beim Handball, lateraleMeniskusverletzungen beim Turnen und (Ballett-) Tanzen sowie medialeMeniskusläsionen beim Tennis und Jogging.

Zu den mechanischen Funktionen der Menisken gehörenKraftübertragung und Stoss- (Energie-) Absorption (d.h. Dämpfung).Zudem leisten sie einen Beitrag zur Stabilität des Knies und erleichternDrehbewegungen. Kommt es zum Versagen der Menisken, so sind imAllgemeinen Komponenten aus Scherung und Kompression involviert.Risse in den Menisken werden beispielsweise durch eine Rotation desKörpers bei fixiertem und (durch die Körpermasse) belastetem Knieverursacht. Dies kann sowohl bei einer Kombination aus Flexion undRotation wie auch bei Extension und Rotation jeweils unter Belastungdurch das Körpergewicht beobachtet werden.

VKB-Rupturen erfolgen meist in Folge einer kombinierten Belastungaus Valgus-Stellung (Valgus: “X-Beine”, Varus: “O-Beine”) und nachaussen drehender Tibia-Rotation oder aus Hyperextension mit nach innengerichteter Tibia-Rotation [Whiting und Zernicke 1998]. Der ersteMechanismus wird zum Beispiel beim Rugby oder beim American Footballbeobachtet, wenn der Fuss unter Belastung des Körpergewichts auf demBoden steht, während ein anderer Spieler lateral an das Knie prallt unddadurch Valgus und Rotation verstärkt. Durch den zweiten Mechanismuskönnen VKB-Rupturen im Basketball oder beim Turnen bei einer Landungnach einem Sprung entstehen.

Beim Skifahren werden üblicherweise drei Verletzungsmechanismen, diezu VKB-Rupturen führen, in Betracht gezogen [Hunter 1999]: (a) Valgusmit externer Rotation (Verkanten der Skier auf der Innenseite mit Sturznach vorne zwischen die Skier), (2) VKB-Verletzung durch Landung aufdem hinteren Teil der Skier bei gestrecktem Knie, wodurch der Skischuhdie Tibia nach vorne verschiebt sobald auch der vordere Teil der Skier den

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Verletzungen von Becken und unteren Extremitäten im Sport 219

Boden berührt, (3) “Phantom-Fuss” Phänomen (“phantom footmechanism”, Sturz nach hinten zwischen die Ski bei Verkanten derInnenseite des Tal-Skis wodurch dem Bein eine Innenrotationaufgezwungen wird).

Verletzungen des hinteren Kreuzbandes (HKB) sind weniger häufig,können jedoch auftreten, wenn die Tibia relativ zum Femur nach hintenverschoben wird. Abbildung 7.17 zeigt ein Beispiel einer HKB-Verletzung.Eine Ruptur des HKB ist zudem bei Stürzen auf das gebeugte Kniemöglich, wenn dadurch die Tibia nach hinten verschoben wird bzw. wenndas Knie bei gleichzeitiger Plantarflexion des Fusses in eine Flexiongezwungen wird oder bei raschem Einknicken des leicht gebeugten Knies.Obschon allgemein anerkannt ist, dass eine Verletzung des HKBüblicherweise bei Flexion oder Hyperflexion des Knies auftritt, so wird dieAuswirkung eines von der Tibia ausgehenden Drehmoments kontroversdiskutiert [Whiting und Zernicke 1998, Senter und Hame 2006].

Es sei angemerkt, dass Sportlerinnen hinsichtlich Knieverletzungen einhöheres Risiko als Sportler aufweisen. Dies gilt insbesondere für VKB-Rupturen, die ohne Anprall entstehen. Es werden verschiedene Ursachenfür die höhere Verletzungshäufigkeit diskutiert, u.a. werden anatomischeund physiologische Unterschiede (z.B. Grösse/Form des Femur(endes),Muskelkraft, Ligament-Dominanz, Sexualhormone) sowie Unterschiede inder neuromuskulären Balance in Betracht gezogen. Eine umfangreicheÜbersicht zu diesem Thema findet sich in Dugan (2005).

Der Knöchel gehört zu den im Sport am häufigsten verletzten Gelenkendes Körpers. 75 % aller Knöchelverletzungen betreffen die Bänder desKnöchels, wobei in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle (85 %)Zerrungen durch Verletzungen bei Supination (typischerweise durch einUmknicken nach aussen bei auf dem Boden fixiertem Fuss) auftreten[Whiting und Zernicke 1998]. Faktoren, die auf ein erhöhtes

Abb. 7.17 Verletzung des hinterenKreuzbandes durch eine Verschiebungder Tibia relativ zum Femur nachhinten [nach Peterson und Renström2002].

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220 Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten

Verletzungsrisiko hindeuten, sind u.a. statische Fuss-Parameter (z.B. einhoher longitudinaler Bogen, ein breiter Fuss) sowie Gang-Parameter (z.B.ein mehr auf die Seite des Fusses ausgerichteter Gang). DieseRisikofaktoren sind jedoch weiterhin Gegenstand kontroverserDiskussionen und daher noch nicht als allgemeingültig zu betrachten[Morrison und Kaminski 2007]. Weitere Verletzungen von Knöchel, Fussund Achilles-Sehne wurden bereits in Kapitel 7.2.2 beschrieben; sie sindauch auf Sportverletzungen übertragbar. Zusätzlich treten Verletzungendurch Überlastung des Fusses (Ermüdungsfrakturen) und der Achilles-Sehne (mögliche Ruptur bei Degeneration der Sehne) auf. Verletzungendieser Art werden vor allem bei Ausdauersportlern und Militärrekrutenbeschrieben (s. Kap. 9).

7.6 Prävention

Präventionsstrategien im Sport hängen stark von der jeweiligen Sportartwie auch individuellen Faktoren ab. Daher ist es nicht überraschend, dassdas Schutzpotential verschiedener Massnahmen sehr kontrovers diskutiertwird und sich mitunter gegensätzliche Meinungen finden. Die Verwendungvon Verbänden, Stützen bzw. Tapes zur Stabilisierung des Knies [z.B.Najibi und Albright 2005] oder der Effekt von Schienbeinschonern zurVerhinderung von Tibia-Frakturen [z.B. Francisco et al. 2000] sindbeispielsweise Gegenstände solcher Diskussionen.

Zum Schutz der Hüfte sind sowohl für ältere Personen wie auch fürSportler verschiedene Protektoren verfügbar. Prinzipiell verwenden dieseProtektoren eine harte Schale zur Verteilung der Anprallkraft und/oderEnergie absorbierenden Schaum (s. auch Kap. 3.6). Je nach Design undverwendetem Material variiert das Schutzpotential solcher Protektorenerheblich [z.B. Schmid Daners et al. 2008, Schmitt et al. 2008b].

Im Bereich der Fahrzeugsicherheit findet sich — im Unterschied zumSport — recht grosse Übereinstimmung, durch welche Massnahmen sichdie Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten reduzierenlassen. Kniepolster, die im unteren Teil des Armaturenbretts angebrachtwerden, sollen das Knie bei direktem, frontalen Anprall schützen (fernerdienen sie bei nicht angegurteten Insassen zur deren Abstützung). UmVerletzungen der Knie-Ligamente zu verhindern ist es wichtig, dass dieKniepolster auch den oberen Teil der Kniescheibe abdecken, so dass dieKräfte axial in den Femur übertragen werden können. Des Weiteren wurdenKnie-Airbags entwickelt, durch die die Belastung des Knies bei

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Prävention 221

Frontalkollisionen reduziert werden soll (Abb. 7.18). ErsteFahrzeugmodelle werden bereits mit solchen Systemen ausgerüstet.

Um Knie und Beine eines Insassen in sicherem Abstand vomArmaturenbrett zu halten, d.h. um ein nach vorne Rutschen des Insassen zuvermeiden, wurde ein Airbag vorgestellt, der sich im Bereich derVorderkante der Sitzfläche befindet [Autoliv 2003]. Durch ein Auslösendes Airbags wird zudem das in Kapitel 6 beschriebene “submarining”verhindert und so auch das Verletzungsrisiko des Abdomens reduziert.

Weitere Massnahmen betreffen die Konstruktion der Fahrgastzelle, diederart optimiert wird, dass eine Intrusion bzw. dieIntrusionsgeschwindigkeit im Bereich der Beine möglichst klein ist. Durchkonstruktive Veränderungen der Pedale können zudem die auf die Füsseübertragenen Kräfte reduziert werden. Ferner wurden Fuss-Airbagsentwickelt. Diese sind am Fahrzeugboden angebracht und sollen vorVerletzungen der Knöchel und der Beine, die durch Deformation desBodens entstehen, schützen. Durch ein Anheben der Ferse wird dieDorsalflexion des Fusses reduziert. Håland et al. (1998) konnten zeigen,dass solche Airbags die Beschleunigung des Fusses um bis zu 65 %,diejenige der Tibia um bis zu 50 % und den Tibia-Index um 30 % bis 60 %reduzieren.

7.6.1 Massnahmen zum Fussgängerschutz

Während Technologien zum Erkennen von Fussgängern (z.B. durchInfrarot-Kameras) und zur Warnung des Fahrers Unfälle verhindern sollen,

Abb. 7.18 Möglichkeiten zur Prävention von Verletzungen der unterenExtremitäten: Knie-Airbag (rechts) und Anti-Rutsch-Airbag, der zudem ein“submarining” (s. Kap. 6) verhindert (links) [Autoliv 2003].

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222 Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten

werden parallel dazu Möglichkeiten entwickelt, um Verletzungen desFussgängers im Falle einer unvermeidbaren Kollision gering zu halten.Beispielsweise durch Minimieren der Aggressivität der Geometrie undStruktur der Fahrzeugfront, soll das Verletzungsrisiko für den Fussgängerreduziert werden.

Bezüglich der Geometrie konnten verschiedene Studien zeigen, dass dieForm der Fahrzeugfront einen grossen Einfluss auf mögliche Verletzungenhat. Die Auswertung der GIDAS Datenbank (s. Kap. 2) zeigtebeispielsweise, dass Verletzungen von Becken und oberem Bein nur beiFahrzeugen mit eher scharfkantiger und hoher Motorhaubenkantevorkommen [Otte 1999, 2002]. Dieses Ergebnis wurde durch Snedeker etal. (2003) bestätigt, die durch numerische Simulationen zeigen konnten,dass ein Fahrzeug mit niedriger Motorhaubenkante (<750 mm), einemgrossen Radius der Kante (>250 mm), einer mittleren Stossfängerhöhe(>150 mm) und einer ausreichend hohen Oberkante des Stossfängers(>490 mm) bei einem seitlichen Anprall an einen Fussgänger mit einerKollisionsgeschwindigkeit von bis zu 40 km/h praktisch jegliche Frakturenvon Becken/Oberschenkel verhindert werden könnten. Zudem konntegezeigt werden, dass die Rundung der Motorhaubenkante einen erheblichenEinfluss auf die Kinematik des Fussgängers hat. Auch scheint gemässdiesen Berechnungen ein direkter Zusammenhang zwischen dem Radiusder Motorhaubenkante und den im Acetabulum erzeugten mechanischenSpannungen zu bestehen.

Die Anprallgeschwindigkeit, mit der der Oberschenkel auf dieMotorhaube trifft, ist ein kritischer Faktor hinsichtlich desVerletzungsrisikos. Diese Anprallgeschwindigkeit ist oftmals jedoch nichtmit der Kollisionsgeschwindigkeit identisch, da dieAnprallgeschwindigkeit stark von der Form, insbesondere dem Radius, derHaubenkante abhängen kann [Snedeker et al. 2003].

Als potentiell verletzungsinduzierend können sich auch an derFahrzeugfront angebrachte Ornamente bzw. Kühlerfiguren erweisen. Dahermüssen solche Bauteile derart gestaltet werden, dass sie bei einem Anprallumklappen oder sich wegdrehen. In der Schweiz sind diesbezüglich dieDesign-Richtlinien des Bundesamtes für Strassen massgeblich [ASTRA2002]. Auch von Frontbügeln (zusätzliche Stossstangen) geht —insbesondere für Kinder — ein Verletzungsrisiko aus. Die Verwendungsolcher Bügel wurde in der Schweiz daher vom Gesetzgeber eingeschränkt[ASTRA 2002].

Ein weiterer relevanter Aspekt bei Fussgänger-Fahrzeug-Kollisionen istdie Struktur der Fahrzeugfront, vor allem die Deformationseigenschaftender Front vom Stossfänger bis zur Motorhaube. Der Stossfänger kann so

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Zusammenfassung 223

ausgelegt werden, dass er eine höhere Energieabsorption gestattet.Verschiedene Designbeispiele konnten zeigen, dass ein Aufbau ausSchäumen unterschiedlicher Dichte und einem geeigneten Träger die Beineeines Fussgängers stützen und gleichzeitig die übertragene Kraft reduzierenkann, so dass das Verletzungsrisiko sinkt. Zudem kann der Träger bzw. dasGehäuse der Frontscheinwerfer nachgiebig gestaltet werden, so dass derScheinwerfer bei einem Anprall eingedrückt wird, wodurch sich ebenfallsdas Verletzungsrisiko reduziert.

7.7 Zusammenfassung

Verletzungen der unteren Extremitäten sind im Sport häufig, wobei vorallem Rupturen der Bänder und Verletzungen der Gelenke beobachtetwerden. Ältere ziehen sich vor allem bei Stürzen Hüftverletzungen zu.Zudem erleiden Fussgänger, die von einem Fahrzeug angefahren werden,oftmals Verletzungen an den unteren Extremitäten. Fahrzeug-Fussgänger-Kollisionen sind daher ein wichtiger Aspekt der Sicherheit imStrassenverkehr. Folglich wird das Verletzungsrisiko hinsichtlich der Beineals Teil der Fussgänger-Sicherheit auch im Rahmen von Testverfahren wiedem EuroNCAP geprüft. Ergänzend finden sich in derzeitigen gesetzlichenVorschriften Begrenzungen der maximal zulässigen Kompression der Beinebei Fahrzeuginsassen.

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8 Verletzungen der oberen Extremitäten

Verglichen mit anderen Körperregionen haben Verletzungen der oberenExtremitäten im Bereich Fahrzeugsicherheit wohl die geringsteAufmerksamkeit erfahren. Teilweise lässt sich das durch die Tatsacheerklären, dass diese Verletzungen in der Regel nicht lebensbedrohlich sind.Nichtsdestotrotz können sie jedoch zu langwierigen Einschränkungen unddaher zu erheblichen gesellschaftlichen Kosten führen. Durch dieEinführung von zusätzlichen Rückhaltesystemen wie den Airbags sindVerletzungen der Arme und Hände wieder mehr ins Interesse gerückt.Wegen ihrer Nähe zu den oberen Extremitäten haben insbesondereSeitenairbags entsprechende Aufmerksamkeit erfahren, aber auch derEffekt von Frontairbags, die nahe der Hände und Unterarme gezündetwerden, wird untersucht. Immer neue Airbag-Entwicklungen, wiebeispielsweise mehrstufige Airbags, erfordern eine regelmässigeÜberprüfung der gängigen Ansichten hinsichtlich deren Schutzpotentialund etwaigen von Airbags ausgehenden Verletzungsrisiken.

Im Gegensatz zum Automobil-Bereich sind Verletzungen der oberenExtremitäten im Sport häufig. Sie sind daher entsprechend oft Gegenstandder Forschung. Zahlreiche Studien analysierten die Kinematik der oberenExtremitäten bei unterschiedlichen Bewegungsabläufen wie dem Werfen,einem Golf- oder einem Tennisschlag. Zudem finden sich viele Studien zuDiagnose und Behandlung von Sportverletzungen der oberen Extremitäten.Hinsichtlich Verletzungsmechanismen bestehen jedoch weiterhin vieleungelöste Fragen und bezüglich Verletzungskriterien undVerletzungsgrenzwerten finden sich quasi keine konklusiven Arbeiten.

8.1 Anatomie

Schulter (bzw. Schultergürtel), Oberarm, Unterarm und Hand bilden eineobere Extremität. In Abbildungen 8.1 und 8.2 sind die entsprechenden

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228 Verletzungen der oberen Extremitäten

knöchernen Strukturen dargestellt. Die Schulter besteht aus Schulterblatt (Scapula), Schlüsselbein

(Clavicula) sowie den Gelenken, die den Oberarm mit dem Oberkörperverbinden. Der Oberarm besteht aus dem Oberarmknochen (Humerus) undist via Schultergelenk mit der Schulter verbunden. Das Schultergelenkweist eine grosse Beweglichkeit auf. Die Bewegung von Schlüsselbein und

Abb. 8.1 Knochen und Gelenke der oberen Extremitäten [nach Sobotta 1997].

Abb. 8.2 Knöcherne Struktur der Hand [nach Sobotta 1997].

Akromion

Bursa subacromialis

Humerus M. biceps brachii

M. supraspinatus

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Verletzungshäufigkeiten und - mechanismen 229

Schulterblatt ermöglicht eine Verschiebung der Schulter in horizontaler wieauch frontaler Ebene. Zudem erlaubt das Schultergelenk Rotationen um diedrei anatomischen Achsen. Das Ellenbogengelenk verbindet den Ober- mit dem Unterarm, derwiederum aus Elle (Radius) und Speiche (Ulna) besteht. DasEllenbogengelenk ermöglicht die Beugung (Flexion) und Streckung(Extension) des Unterarms relativ zum Oberarm. Zudem ist dasEllenbogengelenk an der Drehung des Unterarms (Pronation/Supination)beteiligt. Diese Drehung wird durch die Ulna im Handgelenk ergänzt. DasHandgelenk schliesslich verbindet den Unterarm mit der Hand. Nebst denknöchernen Strukturen sind die oberen Extremitäten mit entsprechendenMuskeln, Bändern, Sehnen und weiterem Weichteilgewebe (z.B. Bursa)ausgestattet. Es ist anzumerken, dass sich die Masse sowie dieKnochendichte der oberen Extremitäten von Männern und Frauenunterscheiden. Frauen weisen sowohl eine geringere Masse wie auch einegeringere Knochendichte auf. Diese Unterschiede können sich im Alterverstärken (z.B. durch Osteoporose) und haben einen entsprechendenEinfluss auf die biomechanischen Eigenschaften dieser Strukturen.

8.2 Verletzungshäufigkeiten und - mechanismen

Frakturen der Langknochen der oberen Extremitäten bilden denSchwerpunkt der Verletzungen. Natürlich können auch Weichteile undMuskeln verletzt werden (z.B. Abschürfungen der Haut durch Kontakt miteinem Airbag [Duma et al. 2003, Rath et al. 2005]), solche Verletzungen alsFolge von Fahrzeugunfällen spielen jedoch eine untergeordnete Rolle.

Hinsichtlich Frakturen kann auch hier die in Kapitel 7 dargestellteKlassifikation angewendet werden. Sehr häufig sind Frakturen desSchlüsselbeins, die beispielsweise durch direkten Anprall, durchKompression bei seitlicher Belastung der Schulter oder durch einen Sturzauf den ausgestreckten Arm entstehen können. Eine typische Fraktur derSpeiche ist die Ulnaschaftfraktur (“nightstick fracture”), bei der es sich umeine isolierte, diaphysäre (d.h. den mittleren Teil des Knochen betreffende)Ulnafraktur handelt. Sie entsteht durch direkten Anprall (bei geringereinwirkender Energie z.B. durch einen Airbag) und weist eine transversaleFrakturlinie durch die Ulna auf (s. Abb. 7.8). Frakturen des Humerusresultieren hauptsächlich durch direkten Anprall, können aber auch ganzohne Kontakt entstehen. Es wurden einige Fälle beschrieben, bei denenMuskelkräfte, beispielsweise bei einem Wurf, zu einer Fraktur des

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230 Verletzungen der oberen Extremitäten

Humerus führten [Levine 2002]. Eine Auswertung von Fahrzeugunfällen in Grossbritannien mit Hinblick

auf Verletzungen der oberen Extremitäten bei Insassen von Fahrzeugen, dienicht mit Airbags ausgerüstet waren [Frampton et al. 1997], zeigte, dass86 % aller dieser Verletzungen vom Schweregrad AIS1 (d.h. kleinereAbrasionen, Kontusionen, Lazerationen) waren. Folglich waren 14 % vomSchweregrad AIS ≥ 2, wobei Frakturen bei allen Kollisionstypen diehäufigsten Verletzungen waren. Bei Frontalkollisionen wurden Frakturendes Unterarms am häufigsten beobachtet. Schulterverletzungen entstandenvor allem bei Seitenkollisionen und Überschlägen, wobei Clavicula-Frakturen die häufigsten Schulterverletzungen waren. Frakturen desHumerus fanden sich in Insassen-nahen Seitenkollisionen, nicht jedoch beiFrontalkollisionen oder Überschlägen. Handverletzungen wurdengelegentlich nach Frontalkollisionen festgestellt.

Huelke et al. (1997) untersuchten eine Stichprobe von 540 Unfällen, beidenen der Fahrerairbag ausgelöst wurde. Es zeigte sich, dass 34 % allerFahrer AIS1 Verletzungen der oberen Extremitäten erlitten; 3 % wiesenVerletzungen vom Typ AIS ≥ 2 auf.

Ein Anstieg von AIS ≥ 2 Verletzungen der oberen Extremitäten von1.1 % auf 4.4 % als Folge von Airbagzündungen wurde von Kuppa et al.(1997) beobachtet. Auch eine Studie von Goldman et al. (2005) legt nahe,dass eine zunehmende Ausrüstung der Fahrzeugflotte mit Airbags zu einemAnstieg von Verletzungen der oberen Extremitäten führt. Im Gegensatzdazu berichten Segui-Gomez und Baker (2002), die Fahrzeugmodelle derBaujahre 1993 - 1997 mit solchen der Baujahre 1998 - 2001 verglichenhaben, von einer Abnahme der Verletzungen von Armen/Händen seitmodifizierte, weniger aggressive Airbags (sogenannte “depoweredairbags”) eingeführt wurden.

Unterschiede der Verletzungsmuster von Fahrern verglichen mit anderenFahrzeuginsassen zeigte eine Analyse der amerikanischen DatenbankCIREN (“Crash Injury Research Engineering Network”) von Conroy et al.(2007). Nur 24.8 % aller Insassen wiesen Verletzungen der oberenExtremitäten auf. Die Hälfte der Verletzungen von Fahrern waren Frakturenam Unterarm; von den anderen Insassen erlitten hingegen nur ein Drittelsolche Verletzungen. Bei Seitenkollisionen traten bei Insassen öfterClavicula-Frakturen auf (29.5 % verglichen mit 17.1 % für Fahrer).Unterarm-Frakturen entstanden oftmals durch Airbags, aber nur 10 % allerFrakturen bei Fahrern wurden durch ein Wegschleudern des Arms durchden Airbag (eventuell mit anschliessendem Anprall an einerInnenraumstruktur, “airbag fling”) in Verbindung gebracht.

Airbag-induzierte Verletzungen der oberen Extremitäten bei

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Verletzungshäufigkeiten und - mechanismen 231

Seitenkollisionen wurden auch von McGwin et al. (2008) beschrieben.Wenngleich in dieser Studie kein Zusammenhang zwischen demVorhandensein eines Seitenairbags und dem allgemeinen Verletzungsrisikogefunden wurde, so wurde doch ein erhöhtes Risiko speziell fürDislokationen und AIS ≥ 2 Verletzungen beobachtet. Für das Risiko einerFraktur wurde hingegen kein Unterschied festgestellt.

Zusammenfassend wurden in den zuvor zitierten Studien somit folgendeUrsachen für Verletzungen der oberen Extremitäten identifiziert: • direkter Kontakt mit einem Airbag• Kontakt zu Strukturen im Fahrzeuginnenraum (einschliesslich

Intrusionen, z.B. bei Seitenkollisionen)• Kontakt des Arms zu einer Innenraumstruktur durch Wegschleudern

des Arms durch den Airbag• Verletzungen durch Kontakt mit einem anderen Fahrzeuginsassen

Des Weiteren wurde beobachtet, dass Frakturen der Clavicula durch dendiagnoal über die Schulter verlaufenden Teil des Sicherheitsgurts, durchden die Gurtkraft auf die Clavicula übertragen wird, verursacht werdenkönnen.

Einige Studien weisen zudem darauf hin, dass Frauen ein höheres Risikofür AIS ≥ 2 Verletzungen der oberen Extremitäten haben [z.B. Bass et al.1997, Schneider et al. 1998, Atkinson et al. 2002]. Als mögliche Ursachenfür dieses erhöhte Risiko werden folgende Faktoren diskutiert: 1) Frauenweisen im Allgemeinen kleinere Knochen auf, was zu einer reduziertenFestigkeit bzw. Bruchgrenze führt, 2) Frauen erfahren altersbezogen einegrössere Reduktion der Knochendichte (stärkere Osteoporose), 3) Frauensind im Allgemeinen von geringerer Körpergrösse und sitzen daher näheram im Lenkrad eingebauten Airbag, 4) junge Frauen bilden Knochen eheran der endokortikalen Oberfläche, wodurch die Biegesteifigkeit desKnochens reduziert wird (bei jungen Männern erfolgt die Knochenbildunghingegen eher periossal, d.h. um den Knochen herum. Die Kortikalis(äussere kompakte Knochenschicht) liegt somit weiter von der Längsachsedes Röhrenknochens entfernt; es kann ein höheres Biegemoment ertragenwerden)[z.B. Schoenau 2001].

Abschliessend sei zudem angemerkt, dass das Auftreten von Airbag-induzierten Verletzungen natürlich von der Charakteristik des Airbagsabhängt. In diesem Zusammenhang wird der Ausdruck Aggressivitätverwendet, mit dem der Einfluss des Airbag-Designs bezogen aufParameter wie das Design der Airbagabdeckung, der Druck-Zeit-Verlauf,der Art des Saums und die Airbag-Faltung beschrieben wird. DieAggressivität eines Airbags wird bestimmt, in dem das Verletzungsrisikoverschiedener Airbagsysteme verglichen wird (z.B. mit Hilfe des “Research

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232 Verletzungen der oberen Extremitäten

Arm Injury Device”, s. Kap. 8.4).

8.3 Verletzungstoleranzen

Bereits Weber (1859) und Messerer (1880) bestimmten die Kräfte undMomente, die zu einem Versagen der Knochen der oberen Extremitäten desMenschen führen. Diese Arbeiten blieben auch für lange Zeit diemassgeblichen Referenzen, bis seit den späten 1990er Jahren Verletzungender oberen Extremitäten wieder vermehrt ins Interesse gerückt sind.Mehrere Forschungsgruppen haben das biomechanische Verhaltenexperimentell untersucht und so zusätzliche Daten gewonnen. Tabelle 8.1fasst die Toleranzwerte bezüglich des Humerus zusammen.

Bass et al. (1997) führten Leichenversuche zur Bestimmung desFrakturrisikos des Unterarms durch. Die Ergebnisse zeigten, dass diePosition des Humerus, der Pronationswinkel des Unterarms (Pronation:Einwärtsdrehung) sowie die Position des Unterarms relativ zum Airbag-Modul das Risiko, durch das Auslösen des Airbags verletzt zu werden,beeinflussen. Zudem wurde aus den Resultaten geschlossen, dass ab einergewissen Stärke des Unterarms das Risiko selbst dann gering ist, wenn der

Tabelle 8.1 Toleranzwerte für den Humerus.

Humerus- Referenz

Biegemoment Scherkraft

Mann [Nm]

Frau [Nm]

Mann [kN]

Frau [kN]

115 73 Weber (1859)

151 85 Messerer (1880)

157 84 1.96 Kirkish et al., (1996)

230 130 2.5 1.7 Kirkish et al., (1996), skaliert auf 50-perz. Mann und 5-perz. Frau

138 Kallieris et al. (1997)

154 Duma et al. (1998a)

217 128 Duma et al., (1998b), skaliert auf 50-perz. Mann und 5-perz. Frau

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Verletzungstoleranzen 233

Unterarm nahe dem Airbag positioniert ist. Diese Ergebnisse unterstützendie Hypothese, wonach Frauen ein höheres Risiko haben, entsprechendeVerletzungen zu erleiden.

Pintar et al. (1998) untersuchten menschliche Unterarme unterdynamischen Biegebelastungen und stellten fest, dass das mittlereBiegemoment, bei dem die (männlichen und weiblichen) Versuchsprobenversagten, bei 94 Nm lag. Es zeigte sich jedoch, dass die Toleranz desUnterarms gegenüber Biegung stark mit der Knochendichte, derKnochenfläche und der Masse des Unterarms korrelierte. Folglich kam dieStudie zu dem Ergebnis, dass Personen mit geringer Knochendichte undgeringer Unterarm-Masse ein höheres Fraktur-Risiko aufweisen.

Im Hinblick auf die Richtungsabhängigkeit einer Belastung zeigtenLeichenversuche von Duma et al. (1998b), dass ein Unterarm in Supination(Auswärtsdrehung) um 21 % stärker ist (91 Nm) als in Pronation (75 Nm).Nach der Durchführung von weiteren Versuchen mit weiblichenUnterarmen in Pronation und eine Skalierung der Ergebnisse auf dieAnthropometrie der 5-perzentilen Frau wurde ein Toleranzwert von 58 Nmermittelt. Nimmt man an, dass sich der Unterarm eines Fahrers beim Griffans Lenkrad typischerweise in Pronation befindet, kann dieser Wert alskonservativer Verletzungsgrenzwert betrachtet werden.

Begeman et al. (1999) analysierten den Unterschied zwischen statischerund dynamischer Belastung. Neben quasi-statischen Biegeversuchenwurden mittels Fallgewicht, das zu einer Belastung von ca. 3 m/s führte,auch dynamische Tests durchgeführt. Eine Fraktur von Ulna oder Radiustrat bei einer durchschnittlichen dynamischen Maximalkraft von 1370 Nund einem durchschnittlichen Moment von 89 Nm auf. Die statischeBruchkraft bzw. das -moment waren ungefähr 20 % geringer. Amhäufigsten wurden einfache Frakturen (z.B. “nightstick fractures”)beobachtet. Die Unterschiede zwischen Ulna und Radius waren nichtsignifikant. Im Gegensatz zur Arbeit von Pintar et al. (1998) wurde auchkeine Korrelation des Versagensmoments zum Alter, dem Querschnitt, derKnochendichte oder dem Trägheitsmoment festgestellt. Da selbst Proben,bei denen bereits ein Knochen gebrochen war, immer noch ein hohesVersagensmoment aufwiesen, schlossen die Autoren, dass andereStrukturen des Unterarms eine grosse unterstützende Wirkung haben.

Hinsichtlich des Ellenbogens beobachteten Duma et al. (2001), dassVerletzungen nicht nur durch axiale Kräfte, sondern auch durch Kräfte, diesenkrecht auf den horizontalen Unterarm wirken, entstehen können. EineLinearkombination aus auf den Ellenbogen wirkender Axial- undScherkraft zeigte daher eine statistisch signifikante Korrelation zuVerletzungen des Ellenbogens. Als Grenzwerte für ein 50 %iges Risiko

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234 Verletzungen der oberen Extremitäten

einer Ellenbogenfraktur bestimmten Duma et al. (2002) inLeichenversuchen eine Kompressionskraft von 1780 N (bei einemBeugungswinkel von 30° relativ zur Längsachse des Unterarms).

Experimentelle Studien zum Schulterkomplex untersuchten dessenVerhalten bei mechanischer Belastung [z.B. Bolte et al. 2003, Compigne etal. 2004] wie auch die mechanischen Eigenschaften einzelner anatomischerStrukturen (z.B. der Ligamente, Koh et al. 2004). Seitliche und schrägeBelastungen, wie sie bei Seitenkollisionen und schräg-frontalenKollisionen vorkommen, standen im Mittelpunkt dieser Untersuchungen.Als Ergebnisse der Studien konnten Daten gewonnen werden, dieinsbesondere zur Evaluation und zur Verbesserung der Biofidelität vonCrashtest-Dummys wichtig sind. Zudem wurden Verletzungsgrenzen (vorallem für Frakturen der Clavicula) angegeben, bedingt durch dieKomplexität der Schulterregion sind diese jedoch noch nicht konklusiv.

8.4 Verletzungskriterien und Bewertung des Ver-letzungsrisikos durch Airbags

Derzeit ist die Bewertung des Verletzungsrisikos der oberen Extremitätenweder durch gesetzliche Vorschriften zur Fahrzeugsicherheit noch inRichtlinien oder Tests von Verbraucherorganisationen (z.B. EuroNCAP)enthalten. Es gibt weder festgelegte Verletzungskriterien nochentsprechende Testprozeduren.

Hardy et al. (1997, 2001) präsentierten jedoch die Idee der Bewertungdes Risikos von Unterarm-Frakturen durch Bestimmung derdurchschnittlichen distalen Unterarm-Geschwindigkeit (“Average DistalForearm Speed”, ADFS). Auf Basis statischer und dynamischer Versuche,die mittels Leichen wie auch anderen Testobjekten (d.h. Hybrid III Dummy,RAID, SAE Arm) an Airbags durchgeführt wurden, zeigte sich, dass diedistale Geschwindigkeit des Unterarms als Funktion der Masse desUnterarms und dessen Abstand zum Airbag ein guter Prädiktor für dieWahrscheinlichkeit einer Unterarm-Fraktur darstellt. Nach Skalierung derErgebnisse auf die Geometrie einer 5-perzentilen Frau konnte einem50 %igen Fraktur-Risiko ein ADFS-Wert von 10.5 m/s zugeordnet werden.Die ADFS nimmt linear ab, wenn der Abstand zum Airbag-Modulzunimmt.

Weitere Studien untersuchten Möglichkeiten, wie Verletzungen deroberen Extremitäten im Rahmen von Crashtests evaluiert werden könnenund wie die Aggressivität von Airbags in Bezug auf solche Verletzungen

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Verletzungskriterien und Bewertung des Verletzungsrisikos durch Airbags 235

bewertet werden kann. Um durch Zündung des Fahrerairbags verursachte Frakturen des

Unterarms zu untersuchen, verwendeten Saul et al. (1996) einen besondersinstrumentierten Arm eines 50-perzentilen Hybrid III Dummys, mit demBeschleunigungen und Biegemomente gemessen werden konnten. Esfanden sich Korrelationen mit der Aggressivität des Airbags, der Nähe zumAirbag und der relativen Position des Arms zum Airbag.

Bass et al. (1996) montierten den sogenannten SAE Arm, der eineneigens konstruierten und instrumentierten Arm einer 5-perzentilen Fraurepräsentiert, an einen Hybrid III Dummy. Das 50 %ige Risiko einer Ulna-oder Radius-Fraktur entsprach einem Moment am Unterarm von61 Nm ± 13 Nm. Das 50 %ige Risiko einer Ulna- und Radius-Frakturentsprach einem Moment von 91 Nm ± 14 Nm.

Um eine reproduzierbare Bewertung der Airbag-Aggressivität zuermöglichen wurde das “Research Arm Injury Device” (RAID) entwickelt[Kuppa et al. 1997]. Bei der Untersuchung der Wechselwirkung zwischengezündetem Airbag und dem Arm zeigte sich, dass die Orientierung desUnterarms relativ zum Airbag-Modul und der Abstand zwischen Unterarmund Airbag-Modul signifikante Parameter bezüglich des maximalengemessenen Biegemoments waren.

Neben den Möglichkeiten, die die verschiedenen Arm-Modelle bieten,wurden zwischen den Modellen jedoch auch Unstimmigkeiten festgestellt.Erhebliche Unterschiede im Verhalten zwischen Leichen und dem HybridIII Dummy wurden beispielsweise von Kallieris et al. (1997) beobachtet,die die Interaktion des Schulter-Arm-Komplexes mit Seitenairbagsuntersuchten. Ein Vergleich von Ergebnissen aus statischen Seitenairbag-Tests mit einem EuroSID-1, einem instrumentierten Hybrid III Arm undLeichen zeigte ebenfalls grosse Unterschiede in der Kinematik der oberenExtremitäten [Sokol Jafredo et al. 1998]. Zwischen den am Dummy und ander Leiche gemessenen Kräften bestand keine Korrelation. Duma et al.(1998a) dokumentierten Unterschiede in der Kinematik zwischen einem aneinem 5-perzentilen Hybrid III Dummy montierten SAE Arm und Leichen,die gemessenen Momente waren in beiden jedoch ähnlich.

Es wurden verschiedene Vorschläge veröffentlicht, wie man aktuelleCrashtest-Dummys modifizieren könnte, um die Kinematik und dieBelastung der oberen Extremitäten besser zu berücksichtigen. Törnvall etal. (2007, 2008) entwickelten zum Beispiel eine neue Schulter für denTHOR Dummy, die eine dem Menschen ähnliche Clavicula und einverbessertes Schultergelenk aufweist.

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236 Verletzungen der oberen Extremitäten

8.5 Verletzungen der oberen Extremitäten im Sport

Leistungs- wie Breitensportler erleiden eine Vielzahl von Verletzungen derKnochen, Muskeln, Bänder, Sehnen und Nerven der oberen Extremitäten.Wie bereits in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben wurde, sind auchdie oberen Extremitäten anfällig für Frakturen, Luxationen, Dislokationen,(teilweisen) Rupturen von Sehnen oder Bändern wie auch Verletzungen derMuskeln und Nerven. Insbesondere die Gelenke weisen ein hohesVerletzungsrisiko auf. Die vier Gelenke des Schultergürtels (Abb. 8.3) unddie Gelenke an Ellenbogen, Handgelenk und der Hand ermöglichen einengrossen Bewegungsumfang und gestatten die Ausführung komplexerBewegungsmuster. Die Stabilität eines Gelenks bestimmt dabei dessenWiderstandsfähigkeit gegen Dislokationen. Ein Zugewinn anBeweglichkeit geht mit einer reduzierten Stabilität einher. Dies giltinsbesondere für die Schulter, die wegen ihrer relativ schwachenknöchernen Passung und begrenzter Unterstützung durch die Muskulaturfür Dislokation anfällig ist. Es wird geschätzt, dass Schulterverletzungenzwischen 8 % und 13 % aller Sportverletzungen ausmachen [Ong et al.2002]. Sportarten, bei denen oft Bewegungen über Kopf ausgeführtwerden, wie Tennis, Baseball, Volleyball oder Schwimmen, könnenentsprechende Überlastungssyndrome zur Folge haben. Verletzungen imAmerican Football, Hockey oder Kontaktsportarten resultieren hingegenmeist durch ein direktes Trauma, z.B. eine Fraktur der Clavicula durcheinen Sturz auf die Schulter.

Durch direkten Anprall an eine Schulter, die abgespreizt (Abduktion)

Abb. 8.3 Die Gelenkedes Schultergürtels.

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Verletzungen der oberen Extremitäten im Sport 237

und nach aussen rotiert ist, kann es zu anteriorer glenohumeraler Instabilität(Luxation) kommen. Seltener tritt eine posteriore glenohumeraleInstabilität auf (z.B. nach heftigem frontalen Schulteranprall beiMannschaftssportarten). Akromioclaviculare Zerrungen können durchdirekte oder indirekte Krafteinleitung entstehen, wobei meist eineVerschiebung des skapularen Prozesses des Akromions vom distalen Endeder Clavicula her erfolgt. Des Weiteren werden Verletzungen derMuskulatur der Rotatorenmanschette und Verletzungen des Akromionsbeobachtet. Diese werden oftmals durch eine Kraft entlang des anliegendenArms (Adduktion), durch die der Kopf des Humerus gegen denkorakoacromialen Bogen gestossen wird, verursacht.

Vor allem in Sportarten mit über Kopf Aktivitäten sindÜberlastungsverletzungen der Schulter verbreitet. Häufig sind dabei dieSehnen der Rotatorenmanschette betroffen (z.B. Tendinitis beiGewichthebern). Es wird vermutet, dass die Form des Akromions (flach,gebogen oder abgewinkelt) das Auftreten der Verletzung beeinflusst.Zudem wird vermutet, dass auch das sogenannte Impingementsyndrom mitder Form des Akromions zusammenhängt. Impingementsyndrombeschreibt hier eine Abduktion des Arms, bei der die suprahumeralenStrukturen (insbesondere die Supraspinatus-Sehne und die subacrominalenBursae) gegen die anteriore Oberfläche des Akromions und deskorakoacromialen Bogens gepresst werden [Whiting und Zernicke 1998].Des Weiteren können Funktionsstörungen der Bizeps-Sehne (z.B. durchRuptur) Schulterschmerzen verursachen.

Da der Ellenbogen wesentlich stabiler als die Schulter ist, ist eineLuxation weniger wahrscheinlich. Die knöchernen Strukturen desEllenbogens können jedoch als Folge von direkten wie auch indirektenBelastungen brechen. In Abbildung 8.4 sind die verschiedenenFrakturtypen und die zum jeweiligen Frakturtyp führenden mechanischenBelastungen zusammengestellt.

Verletzungen der Nerven des Ellenbogens werden insbesondere inSportarten, die Werfen oder Benutzung eines Schlägers (z.B. Tennis,Badminton) beinhalten, erlitten [Keefe und Lintner 2004]. In diesenSportarten werden zudem häufig Überlastungsverletzungen wieEpicondylitis, Tendinitis, myotendniose Überdehnungen oderOsteochondrose beobachtet, wobei die Epicondylitis am weitestenverbreitet ist. Als Folge wiederholter Belastungen nehmen Mikroschädenzu. Es wird eine zunehmende Degeneration des Gewebes beobachtet bis esschliesslich zu einer Entzündung kommt. Man unterscheidet zwischenlateraler und medialer Epicondylitis. Laterale Epicondylitis beschreibteinen degenerativen Zustand der Fasern der Sehne zwischen der

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238 Verletzungen der oberen Extremitäten

knöchernen Epicondyle auf der Aussenseite des Ellenbogens. Diese Sehnenverankern diejenigen Muskeln, die Hand und Handgelenk strecken bzw.anheben. Da viele Tennisspieler eine laterale Epicondylitis erleiden, istdiese auch unter dem Ausdruck “Tennis-Ellenbogen” bekannt. Vonfolgende Faktoren wird vermutet, dass sie die Entstehung einer lateralenEpicondylitis begünstigten: schlechte Technik (insbesondere beimRückhand-Spiel), exzentrisches Auftreffen des Balls auf dem Schläger, zufest angespanntes bzw. verkrampftes Halten des Schlägers, Schwingungendes Schlägers [Whiting und Zernicke 1998]. Mediale Epicondylitis betriffthingegen den Ansatz der Flexor-Sehne an der medialen Epicondyle undwird vor allem bei Sportlern, die werfen, bei Golfern und Tennisspielern(Vorhand und Aufschlag) beobachtet.

Abb. 8.4 Ellenbogen-Frakturen durch Hyperextension, axiale Kompression,Abduktion (oben, von links nach rechts), Dislokation und Kombinationen ausAbduktion und Hyperextension (unten, von links nach rechts). Abkürzungen: H:Humerus, R: Radius, U: Ulna, C: Kompression, T: Zug [nach Barlett 1999].

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Verletzungen der oberen Extremitäten im Sport 239

Bezüglich Unterarm und Handgelenk werden im Sport Frakturen desdistalen Radius sehr häufig beobachtet. Beim Sturz auf den ausgestrecktenArm bei (hyper-) extendierter Hand (z.B. ein Sturz beim Inline-Skaten oderSnowboarden) werden Kompressionskräfte induziert, die zu einer Frakturführen können. Es wurden verschiedene Systematiken vorgeschlagen, umdistale Radiusfrakturen nach klinischen (radiologischen) Gesichtspunktenoder in Bezug auf den Verletzungsmechanismus (analog zur Klassifikationin Kap. 7.2) zu kategorisieren. Im Zusammenhang mit Radius- (und Ulna-)Frakturen wird oftmals die Ulna-Varianz genannt. Die Ulna-Varianz ist alsVerhältnis zwischen der Länge der Ulna und des Radius definiert, d.h. siecharakterisiert die Längendifferenz der beiden Knochen. Sind beideKnochen gleich lang, ist die Ulna-Varianz null. Eine positive Ulna-Varianzbedeutet, dass - gemäss Röntgenbild in neutraler Armrotation - die Ulnalänger als der Radius ist. Die meisten Menschen weisen eine leicht negativeUlna-Varianz auf, so dass der Radius ca. 80 % der Kompressionskräfteaufnimmt, die über die Hand übertragen werden [Whiting und Zernicke1998]. Eine allgemeingültige Korrelation der Ulna-Varianz zumFrakturrisiko wurde jedoch (noch) nicht gefunden.

Eine Untersuchung zur Belastung des Handgelenks beim Turnen amPferd [Markolf et al. 1990] zeigte, dass — in Abhängigkeit von derjeweiligen Übung — Belastungen bis zum zweifachen des Körpergewichtsbzw. bis zum 219fachen Körpergewicht pro Sekunde auftreten können. DesWeiteren wird vermutet, dass gerade bei jugendlichen Turnern wiederholteVerletzungen im Bereich der Epiphyse des Radius zu einem frühzeitigenEnde des Knochenwachstums und somit zu einer entsprechenden Ulna-Varianz führen. Das bei Turnern häufige Vorkommen vonHandgelenksverletzungen und Überlastungssyndromen ist somit nichtüberraschend. Sinnvolle Abschätzungen bzw. Empfehlungen, welcheBelastungen das Handgelenk verletzungsfrei ertragen kann, sind derzeitwegen der Vielzahl individueller Einflussfaktoren jedoch nicht vorhanden.

Im Gegensatz dazu finden sich diverse Studien zur Belastung desHandgelenks und des Unterarms durch Vorwärts- und Rückwärtsstürze.Experimentelle Studien untersuchten das Frakturrisiko mittelsLeichenarmen, wobei Belastungen simuliert wurden, die einem Sturz aufden ausgestreckten Arm entsprechen sollen. Teilweise wurden die Versuchezudem unter Verwendung von Handgelenkprotektoren durchgeführt, umderen Wirksamkeit zu untersuchen. Die Versuchsergebnisse weisen einegrosse Streuung auf. Giacobetti et al. (1997) beschrieben beispielsweiseeine durchschnittliche zur Fraktur führende Kraft eines ungeschützen Armsvon 2245 N (Bereich: 1470 - 4116 N). Tabelle 8.2 fasst verschiedeneErgebnisse solcher Studien zusammen. Wie man sieht wird der Vergleich

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240 Verletzungen der oberen Extremitäten

der Versuchsergebnisse durch unterschiedliche Versuchsanordnungen undVersuchsbedingungen erschwert. Ergänzend wurden Experimente mitmechanischen Modellen des Unterarms (ähnlich dem Arm eines Crashtest-Dummys) [z. B. Kim et al. 2006] sowie Freiwilligenversuche [z.B. Hwanget al. 2006, Schmitt et al. 2009] durchgeführt. Auch wurde dasFrakturrisiko (z.B. im Hinblick auf die Richtungsabhängigkeit dereinwirkenden Belastung) mittels Computersimulationen analysiert [Troy etal. 2007]. Es konnten verschiedene Parameter, die das Frakturrisikobeeinflussen, identifiziert werden. Dazu zählen u.a. der Winkel derEllenbogenbeugung beim Aufprall, die Sturzrichtung, dieAufprallgeschwindigkeit sowie die effektive Masse [Chiu und Robinovitch1998, Chou et al. 2001, DeGoede et al. 2002a/b, Kim et al. 2003, Schmitt etal. 2009]. Der Winkel der Ellenbogen-Flexion weist beispielsweise einensignifikanten Einfluss auf die effektive Masse, die auf den Unterarm wirkt,

Tabelle 8.2 Studien, die das Verletzungsrisiko der Handgelenke und das Schutzpotential von Handgelenkschützern untersucht haben.

Referenz Versuchsaufbau/ Belastung positives Schutzpotential

Giacobetti et al. 1997

75° Dorsalflexion Anprallgeschwindigkeit: 25mm/sdurchschnittliche Bruchkraft: 2245 N

nein

Lewis et al. 1997 60-70° Dorsalflexion63.5-152.4 cm Fallhöhe

ja

Moore et al. 1997 75° Dorsalflexion78-104 cm Fallhöhe16 kg Impaktormasse

ja

Greenwald et al. 1998

75° Dorsalflexion40 cm Fallhöhe23 kg Impaktormasse

geringer Effekt unter grosser Belastung, möglicherweise prophylaktischer Effekt bei Belastung mit niedriger Energie

Staebler et al. 1999 75° DorsalflexionBelastung 100 N/s

ja

McGrady et al. 2001 30.5/76 cm Fallhöhe ja

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Zusammenfassung 241

auf. Eine Beugung des Ellenbogens im Moment des Aufpralls reduziert dieeffektive Masse und damit die auf das Handgelenk wirkende Kraft, d.h. dasFrakturrisiko wird reduziert. Je nach Versuchsanordnung führten die in derLiteratur beschriebenen experimentellen Arbeiten jedoch zu sehrunterschiedlichen Angaben für die effektive Masse. Während Kim et al.(2006) oder Schmitt et al. (2009) die effektive Masse (für eine Seite) mit ca.5 % des Körpergewichts bzw. 3-5 kg angeben, verwenden Greenwald et al.(1998) über 20 kg (bilateral).

Zum Schutz vor Frakturen des Handgelenks werden verschiedeneHandgelenkprotektoren angeboten. Ein Grossteil dieser Protektoren zieltdarauf ab, die bei einem Sturz einwirkenden Kräfte vom Handgelenk weg,in Richtung Unterarm zu leiten. Zusätzlich sollen Abrasionen verhindertwerden. Über das Schutzpotential solcher Protektoren wird kontroversdiskutiert, wobei in manchen Studien ein Nutzen der Protektorennachgewiesen wurde, während in anderen Studien kein Schutzpotentialgezeigt werden konnte (s. Tab. 8.2). Eine umfassende Zusammenstellungder Literatur zu diesem Themenkreis findet sich in Russel et al. (2007).

An Sportverletzungen der Hand werden vor allem Frakturen derMittelhand- und Fingerknochen sowie Zerrungen und Rupturen derkollateralen metacarpophalangealen und interphalangealen Ligamentebeobachtet [z.B. Bartlett 1999]. Wenngleich Verletzungen der Hand denAthleten bei der Ausübung seines Sports einschränken oder diese gar füreinen längeren Zeitraum unmöglich machen, so können solcheVerletzungen doch oftmals nicht-operativ behandelt werden, so dass eineRückkehr zum Sport nach entsprechender Rehabilitation möglich ist [Sneadund Rettig 2001].

8.6 Zusammenfassung

Im Sport werden die oberen Extremitäten häufig verletzt. Zusätzlich zuFrakturen und Rupturen treten vor allem Luxationen der verschiedenenGelenke sowie Überlastungsverletzungen auf. Im Zusammenhang mitFahrzeugunfällen werden Airbag induzierte Verletzungen der oberenExtremitäten diskutiert. Ein standardisiertes Prüfverfahren zur Beurteilungdes damit verbundenen Verletzungsrisikos ist derzeit ebenso wenigvorhanden wie allgemein akzeptierte Verletzungskriterien. Dasbiomechanische Verhalten sowie die Belastungen, die zu Frakturen derknöchernen Strukturen oder zu Rupturen der Ligamente führen, wurdenhingegen in verschiedenen experimentellen Studien untersucht.

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242 Verletzungen der oberen Extremitäten

8.7 Referenzen

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9 Schädigungen und Verletzungen durch chronische Belastung

Ein Unfall ist definiert als ein heftiges, ungewöhnliches, möglicherweisegesundheitsschädigendes Ereignis, das plötzlich und unerwartet auftritt undin der Regel von kurzer Dauer ist. Personen, die einen Unfall erleiden,können im Allgemeinen nicht oder nur unzureichend auf das Ereignisreagieren, um eine Verletzung zu verhindern. Der Ausdruck “chronisch”impliziert hingegen eine Belastung, die über einen — im Vergleich zurtypischen Dauer eines Unfalls — langen Zeitraum wirkt. Demzufolge sindphysische wie auch mentale Reaktionen der betroffenen Personen immermöglich und können nicht vernachlässigt werden. Entscheidend ist, dassbei chronischer mechanischer Überlastung Gesundheitsschäden und/oderVerletzungen bei Belastungen auftreten können, die für sich genommenunterhalb der individuellen Verletzungstoleranzen (die in denvorangegangenen Kapiteln beschrieben wurden) liegen. Die Auswirkungder Belastungen wird jedoch durch die lange Einwirkdauer bestimmt undverschärft. Dabei tritt die Belastung nicht zwangsläufig ununterbrochenauf; sie kann regelmässig oder auch unregelmässig wirken, z.B. nurwährend Trainingszeiten (Sport) oder Arbeitszeiten (Baumaschinen).Teilweise wirken diese Belastungen über Jahre hinweg. Die einzelneBelastung selbst ist in der Regel ungefährlich bzw. der Körper kann sichrasch davon erholen. Ursachen, Mechanismen, Belastungsmuster,Toleranzen wie auch Prävention und Möglichkeiten zur Minderung vonGesundheitsschäden unterscheiden sich daher deutlich von denjenigen, dieaus der Analyse von Unfällen bekannt sind.

Der Unterschied zwischen Verletzung und Erkrankung ist oftmals nichtklar abgegrenzt. Langwierige Folgen von möglicherweise schädigendenmechanischen Belastungen werden mit der Ausübung verschiedener Berufe(z.B. im Bereich Bau) in Verbindung gebracht, als Berufskrankheitenbetrachtet und als solche behandelt. Andere Verletzungen wie das“Repetitive Strain Injury (RSI) Syndrome” (wiederholte

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248 Schädigungen und Verletzungen durch chronische Belastung

Zerrungsverletzung), das bei Tennisspielern beobachtet werden kann,werden — trotz des Namens — als Krankheit und nicht als Verletzungbetrachtet, da es sich klinisch erst nach zahlreichen mikroskopischenVerletzungen in Form von entsprechenden Beschwerden manifestiert.Zudem ist es schwierig, objektive, quantitative Diagnoseverfahren zuentwickeln [z.B. Gouttebarge et al. 2009].

Chronisch-mechanische Belastungen, die zu gesundheitlichenProblemen führen können, treten in verschiedener Form auf. Das Spektrumder Belastungsszenarien reicht dabei von stochastisch auftretenden,einzelnen Stössen, die während gewisser Arbeiten oder sportlicherAktivität vorkommen (z.B. beim Boxen), bis zu kontinuierlich wirkendenBelastungen, z.B. Vibrationen bzw. lauten Geräuschen. Ebenso verschiedensind die Merkmale der betroffenen Personen, beispielsweise hinsichtlichBeruf, körperlicher Aktivität oder sozialem Umfeld. Dementsprechend sindauch die Erfassung und Dokumentation der Belastungen, Bestimmungenund Eingriffe von Behörden, die juristische Würdigung, Gesetze,Haftungsfragen und Versicherungsdeckungen und folglich auch dasVorgehen und etwaige Konsequenzen nach einer Verletzung sehrverschieden. Hinzu kommt, dass Behörden, in deren Kompetenzbereich dieÜberwachung bzw. der Schutz vor chronischen Belastungen fällt, imAllgemeinen keine Verknüpfung zur Sicherheit im Strassenverkehr oderanderen Bereichen des Unfall- bzw. Risikomanagements haben, so dasshier üblicherweise keine Synergien vorherrschen.

Chronische mechanische Überlastung, Ermüdung oder Fehlhaltungenkönnen sich in verschiedenen Formen und Schweregraden manifestieren: • Ein Arbeiter, der routinemässig einen Bohrhammer benutzt, kann eine

Triangular Fibrocartilage Complex (TFCC) Läsion (auch ulnokarpaleBandkomplex-Verletzung genannt) erleiden.

• Nach einer anstrengenden Wanderung können unsere Füsseschmerzhafte, aber harmlose Blasen aufweisen.

• Eine vielversprechende Sportlerkarriere kann durch zu häufiges undungeeignetes Training beendet werden.

• Wiederholte Exposition zu lauter Musik kann permanente Hörschädenverursachen.

• Rückenschmerzen, die teilweise zu erheblichen Einschränkungenführen können, können durch routinemässige Hausarbeiten inunphysiologischer Haltung entstehen.

• Bluthochdruck führt zu einer gesteigerten, schliesslich schädigendenLeistung des Herzens.

• Das Herz eines Rad- oder Ruder-Profis, der durch intensives Trainingeine physiologische Hypertrophie entwickelt, erfordert eine besondere

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249

Beachtung und entsprechendes “Rück-”Training nach dem Ende derLeistungssportaktivitäten.

Im Strassenverkehr bezieht sich Sicherheit fast ausschliesslich aufplötzlich auftretende Situationen und Schutzsysteme (z.B. Airbag) wirkenoftmals nur kurzzeitig, während mögliche schädigende chronischeBelastungen etwa aufgrund langer täglicher Autofahrten, hauptsächlichdurch komfortorientiertes und ergnomisches Design (z.B. der Sitze)kontrolliert werden. Berufskrankheiten und Verletzungen ausArbeitsunfällen — insbesondere solche, die auf chronische mechanischeBelastung zurückzuführen sind — wurden im Gegensatz dazu wegen ihrerhohen sozioökonomischen Signifikanz, der politischen Dimension,Versicherungsansprüchen und Unfallversicherungen sehr ausführlichuntersucht. In den Industrieländern sind daher eine Vielzahl vonVorschriften zur Arbeitsplatzsicherheit in Kraft getreten, deren Einhaltungdurch staatliche Stellen wie auch Versicherungen überprüft wird. In denUSA trat 1970 der “Occupational Safety and Health Act” (OSHA) in Kraft.Dadurch erfuhr die Arbeitsplatzsicherheit zunehmende Aufmerksamkeitund es konnten eindrucksvolle Verbesserungen erzielt werden, obschonauch die De-Industrialisierung einen signifikanten Beitrag dazu geleistethaben könnte (Tab. 9.1). Auf internationaler Ebene beobachtet die“International Labor Organization” (ILO, www.ilo.org) die Situation derArbeitsunfälle und gibt entsprechende Empfehlungen zur Verbesserung derSicherheit heraus.

Die Situation im Hinblick auf Schädigungen durch sportliche Aktivitätist ebenfalls durch erhebliche Gesundheitskosten gekennzeichnet (Tab.9.2), unterscheidet sich sonst jedoch von derjenigen der Arbeitswelt. In deröffentlichen Wahrnehmung steht eher der Gesundheitszustand prominenterSportler oder Teams im Vordergrund, während durch Sport verursachteSchädigungen der Allgemeinen Bevölkerung weniger Aufmerksamkeiterfahren. Wird die Sicherheit im professionellen Sport primär durchentsprechende Regeln, dem Einsatz von Schiedsrichtern oder derAusbildung von Trainern addressiert, so finden sich im Breitensport wenigsystematische, meist ad hoc initiierte Massnahmen, die sich auf allgemeineEmpfehlungen beschränken und/oder von Sportartikel-Herstellern promotetwerden. Dies kann wohl dadurch erklärt werden, dass Sportaktivitäten inder Regel Freizeitvergnügen darstellen.

Wiederum sehr unterschiedlich sind die Umstände bezüglichGesundheitsproblemen durch kontinuierlich anstregendeHaushaltsarbeiten. Dieser Bereich ist aus wissenschaftlicher Sicht praktischunerforscht.

Schädigungen und Verletzungen durch chronische Belastung

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250 Schädigungen und Verletzungen durch chronische Belastung

Tabelle 9.1 Entwicklung der Arbeitsplatzsicherheit von 1970 bis 2005 in denUSA (Zahlen bis 1990 sind Schätzungen aus “National Safety Council AccidentFacts”, Zahlen ab 1990 basieren auf Angaben des “Bureau of Labor Statistics”).

Jahr Getötete Beschäftigte

(x10-3)

Getötete pro 100'000

Beschäftigte

1970 13’800 77’000 18

1975 13’000 85’200 15

1980 13’200 98’800 13

1985 11’500 106’400 11

1990 10’500 117’400 9

1995 6’275 126’200 5

2000 5’920 136’377 4.3

2005 5’734 142’894 4.0

Tabelle 9.2 Unfälle/Verletzungen sowie Erkrankungen durch Sport (Schätzungfür die Schweiz gemäss Bundesamt für Gesundheit, 2001). Direkte Kostenbeinhalten Gesundheitskosten, indirekte Kosten werden durch Arbeitsausfall,Verwaltungsaufwand usw. verursacht. Die Zahlen sind in Relation zu 7.5 Mio.

Einwohnern und einem BSP von ca. 500 109 CHF zu sehen.

Unfälle Erkran-kungen

direkte Kosten [CHF]

indirekte Kosten [CHF]

Sport verursacht... 300’000 1.1 109 2.3 109

Körperliche Betätigung einer Mehrheit der Bevölkerung verhindern...

2.3 106 2.7 109 1.4 109

Bewegungsmangel der Bevölkerung verursacht...

1.4 106 1.6 109 0.8 109

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Arbeitsmedizin 251

Rheumatologie, Orthopädie, Neurologie, Sportmedizin, Radiologiesowie Schmerztherapie sind diejenigen medizinischen Disziplinen, die beichronischen Beschwerden hauptsächlich involviert sind. Bei Beteiligungpsychischer und sozialer Faktoren kann zudem auch die Psychiatrierelevant sein. Während hier betrachtete Erkrankungen wie Bursitis(Entzündung einer Bursa, d.h. eines Schleimbeutels zur Reduktion derReibung zwischen Haut, Ligamenten oder Sehnen und knöchernenStrukturen) vor allem durch externe mechanische Überlastung über einenlängeren Zeitraum entstehen, kann eine mechansiche Überlastung jedochauch durch den Körper selbst verursacht werden. Fettleibigkeit,Bluthochdruck oder muskuläre Dysbalance sind Beispiele für Belastungen,die ein entsprechendes Risiko hinsichtlich Gesundheitsschäden undfrühzeitigem Tod bedeuten können. Haltungsschäden, z.B. durchkontinuierliches Arbeiten in gebeugter Körperhaltung, stellen eine weitereQuelle für gesundheitliche Probleme dar. Die quantitative Anwendungbiomechanischer Ansätze, wie sie in diesem Buch vorgestellt wurden, istangesichts der Vielzahl dieser Umstände schwierig. “Einfache”,beschreibende Statistiken, d.h. die Sammlung von Fallzahlen und derenBeobachtung während mehrerer Jahre, überwiegen hier. RealistischeExperimente zur Langzeit-Belastung können kaum durchgeführt werden,analytischen Ansätzen fehlt das Grundlagenwissen und zudem darf nichtvernachlässigt werden, dass physiologische und psychische Reaktionenunter länger anhaltendem Schmerz enorme individuelle Variationenaufweisen. Folglich beschränken sich Aktivitäten zur Arbeitsplatzsicherheitzu einem grossen Teil auf die Prävention von Unfällen und darausresultierenden Verletzungen.

Die Rehabilitation ist sowohl im Falle von Unfallfolgen wie auch beichronischen Leiden wichtig. Hierbei ist die Biomechanik in so fernrelevant, als dass sich Physiotherapie, physikalische Therapie,orthopädische Hilfen, Rollstühle, Trainingsgeräte usw. auf der Anwendungvon Methoden und dem Design von Apparaten abstützen, bei denenbiomechanische Grundsätze zwar auf einem einfachen, aber dennochwichtigen Niveau eine Rolle spielen. Da dies jedoch keinen direkten Bezugzur Trauma-Biomechanik hat, werden diese Bereiche hier nicht weitervertieft.

9.1 Arbeitsmedizin

Zahlreiche Berufe und Arbeitsbedingungen sind mit schwerer und

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252 Schädigungen und Verletzungen durch chronische Belastung

anstrengender mechanischer Belastung in Verbindung zu bringen; sieschliessen ein grosses Spektrum an Tätigkeit vom Bergbau bis Balletttanzein. Das Problem lang andauernder Gesundheitsschäden ist in all diesenBereichen relevant, es ist jedoch in jedem Fall verschieden zu behandeln.Zudem differieren vorgeschriebene Arbeitsbedingungen und -standards jenach Land erheblich von einander. Der Einfluss von Gewerkschaften oderNGOs, wie auch juristische Aspekte hinsichtlich Frühpensionierung,Arbeitsunfähigkeit und Arbeitsunfallversicherung sind ebenfalls zubeachten und entsprechend den lokalen politischen Gegebenheitenverschieden. Des Weiteren wurden Unterschiede je nach Geschlechtbeobachtet. Die besonderen Risiken von Frauen in diesem Umfeld werdenbeispielsweise in einem ausführlichen Bericht der WHO diskutiert (P.Kane, ed., Women and Occupational Health).

Eine Vielzahl von Vorschriften wie auch Status-Berichten zurGesundheit von Personen in anstrengenden, unfallgefährdetenArbeitsbereichen werden durch die Occupational Safety and HealthAdministration des US Department of Labor (http://www.osha.gov)erlassen. Andere Länder unterhalten vergleichbare Behörden bzw.Organisationen. In der Schweiz werden diese Aufgaben für gewisse Teileder arbeitenden Bevölkerung beispielsweise durch die (teilweise ingesetzlichen Auftrag handelnde) Unfallversicherung Suva übernommen.Im Folgenden sind einige Kommentare für ausgewählte Berufsgruppenzusammengestellt:• Baugewerbe, Bergbau, Wald-/Holzarbeit: Diese Berufsgruppen werden

im Zusammenhang mit harter körperlicher Arbeit meist zuerst genannt.Frühzeitige Invaliditäts-Renten und krankheitsbedingte Arbeitsausfällesind in diesen Branchen keine Seltenheit [Brenner and Ahern 2000]und die zugrunde liegenden Problematiken sind seit langen bekannt.Während das unfallbedingte Verletzungsrisiko durch zahlreicheVorschriften angegangen wird (Helme, Handschuhe, Gehörschutzusw.), sind Langzeit-Folgen nur schwer zu kontrollieren. Teilweisestossen Präventionsmöglichkeiten hier auf praktische Grenzen, wennz.B. ein zu hebendes Gewicht nicht reduziert werden kann. Folglichsind Rückenbeschwerden weit verbreitet [Latza et al. 2002]. DieKosten durch Gesundheitsprobleme sowie die Notwendigkeit weitererEffizienzsteigerungen führen daher zu vermehrtem Einsatz vonMaschinen.

• Pflegeberufe: Pflegeberufe sind zu einem gewissen Teil mitanstrengender, körperlicher Arbeit und daraus folgenden Beschwerdenverbunden. Die durch die EU geförderte Studie NEXT (Nurses EarlyExit Study) hat die Lage intensiv untersucht. Die physische Belastung,

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Arbeitsmedizin 253

d.h. das Heben, das Beugen über Patienten sowie die Arbeit mitunkooperativen und aggressiven Patienten wurden dabei als diehauptsächlichen Probleme identifiziert.

• Professionelles Tanzen (klassisches Ballett, Breakdance): Amenorrhö(Ausbleiben der Regelblutung) ist bei Frauen, die regelmässigkörperlich belastender Arbeit oder sich häufig änderndemArbeitsumfeld ausgesetzt sind (wie z.B. Balletttänzerinnen oderLangstrecken-Flugbegleiterinnen), eine häufige Komplikation. Damiteinhergehender Verlust von Knochendichte kann nicht systematischdurch Training kompensiert werden [Warren et al. 2002].Erwartungsgemäss ist bei Balletttänzern vor allem das Sprunggelenkvon chronischen Leiden betroffen [Rand 1999]. Ein umfangreicherÜberblick über die Risiken von professionellen Tänzern findet sich in[Dance Medicine — The Dancer's Workplace, Unfallkasse Berlin]. Diebesonderen Risiken beim Breakdance wurden von Kauther el al. (2009)untersucht.

• Lärm: Hörverlust ist eine häufige Folge einer übermässigen Lärm-Exposition. In manchen Fällen werden, selbst mit kleinenMusikgeräten mit Kopfhörern, enorme Lautstärken erzielt (Tab. 9.3).Seit der weit verbreiteten Nutzung von leistungsstarken Musikanlagen

Tabelle 9.3 Maximale Geräuschpegel in verschiedenen Situationen (Quelle:The Safe Side, Wisconsin, USA, vol. VII, 2004).

Lautstärke [dBA]

Lautstärke [dBA]

Knallkörper 125-155 Rasenmäher 90-110

Konzerte 120 Auto-Hupe 110

Gewehrschuss 150-167 Presslufthammer 113

Kino 118 Haartrockner 90

Sportanlass 127 Kettensäge 110

Fitness Centre, Aerobics Studio

150 Stereoanlage 105 - 120

Motorboote 85-115 Spielsachen 135-150

Motorräder 95-120

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254 Schädigungen und Verletzungen durch chronische Belastung

hat sich die Problematik erheblich ausgeweitet, da viele jungeMenschen davon betroffen sind. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dassdie Problematik ebenfalls im traditionellen, klassischen Umfeldbesteht: Die maximale Lautstärke, der ein Musiker eines Wagnerspielenden Orchesters ausgesetzt ist, kann bis 140 dBA betragen. DasRisiko eines Hörschadens ist stark mit der Expositionszeit korreliert.Gemäss der Schweizerischen Unfallversicherung werden 4 h/WocheDisko-Musik bei 93 dBA (geschlossener Raum) oder 2 h/WocheOpenair-Konzert bei 100 dBA als tolerierbar angesehen; mangelsbesseren Wissens wird zur Extrapolation ein linearer Verlaufangenommen.

9.2 Sport

9.2.1 Allgemeine Betrachtungen

Überlastungsverletzungen machen ungefähr 50 % aller Sportverletzungenaus [Wilder und Sethi 2004]. Sie entstehen in der Regel durch physischeÜberbeanspruchung (“overuse syndrome”). Wiederholtes Mikrotrauma,das die Selbstheilungsmöglichkeiten des Körpers übersteigt, führt zu einerAkumulation der Mikrotraumen und schliesslich zu makroskopischenVerletzungen und entsprechenden klinischen Symptomen. Das “RepetitiveStrain Injury (RSI) Syndrome" ist ein weiterer Ausdruck, der dasPhänomen beschreibt.

Zu den am häufigsten klinisch beobachteten Problemen gehören: • Tendinitis (schmerzhafte Entzündung einer Sehne) zählt in diesem

Kontext zu den am häufigsten diagnostizierten Beschwerden.Altersbedingte Degeneration, die viele grosse Sehnen der oberen wieunteren Extremitäten betreffen kann, verstärkt die Symptomatik[Karamanidis und Arampatzis 2006]. Dies führt zu einer erhöhtenPrädisposition für schmerzhafte Läsionen während sportlicherAktivität. Veränderungen der Kollagenzusammensetzung wurden alshauptsächliche Ursache identifiziert [Riley et al. 1994]. SpezifischeBeispiele sind Tendinitis der Rotatorenmanschette, “TennisEllenbogen” (laterale Epicondylitis, s. Kap. 8.5), Tendinitis derAchilles-Sehne, die bei Aktivitäten wie Laufen, über Kopf Werfen undAufschlägen beim Tennis beobachtet werden. Es ist zu beachten, dasdiese Läsionen eindeutig mit unwiederbringlichen degenerativenVeränderungen verbunden sind und nicht “nur” vorübergehende

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Sport 255

Entzündungen darstellen. Der Ausdruck Tendinopathie beschreibt denSachverhalt in diesen Fällen wohl geeigenter als der AusdruckTendinitis, der rein entzündliche Prozesse impliziert.

• Medial Tibial Stress Syndrome (MTSS, teilweise auch medialesSchienbeinkantensyndrom genannt) beschreibt ein typischesÜberlastungssydrom am Bein [Madeley et al. 2007]. Ein angepasstesTraining und entsprechende Rehabilitation werden zur Verbesserungder Knöchelmuskulatur empfohlen.

• Ermüdungsfrakturen werden durch kleinste Risse im Knochencharakterisiert. Diese Mikrorisse entstehen oft durch repetitiveÜberlastung (beispielsweise bei Basketballspielern, die auf dem Platzquasi dauernd Springen) [Snyder et al. 2006, Wilder and Sethi 2004,Egol et al. 1998, Fredericson et al. 1997]. Eine Reaktion auf eine solcheVerletzung illustriert die in Abbildung 1.2 gezeigte Mikrokallus-Bildung. Während solche mikroskopischen Verletzungen, sofern sieselten genug sind, die Remodellierung von Knochen begünstigen(unser Skelett wird unter normalen Bedingungen innerhalb von 4-6Jahren einmal ersetzt) [z.B. Martin 2003], ist eine kontinuierlicheextensive Bildung von Mikrorissen schädlich. Bei jugendlichenAthleten werden zudem Epiphysitis oder Apophysitis, d.h.Überlastungsverletzungen der Wachstumszone wie Morbus Osgood-Schlatter (schmerzhafte Reizung der Insertion der Patellasehne amvorderen Schienbein) oder ein "shin splint" genanntes Syndrom(ähnliche Symptome) beobachtet [Wilder und Sethi 2004].

Durch die verschiedenen im Sport typischen extensiven Bewegungenwie Springen oder Rennen, sind die unteren Extremitäten, insbesondereFuss und Knöchel [Valderrabano et al. 2006], Sportschuhe und die Strukturdes Bodens (steif, elastische oder Energie absorbierend) wichtig [z.B.Bartlett 1999]. Da bezüglich Fuss und Knöchel für verschiedene Sportartenbis zu einem gewissen Grad typische Belastungsszenarien definiert werdenkönnen, ist eine quantitative Analyse des Designs von Sportschuhenmöglich [Reinschmidt und Nigg 2000, Stefanyshyn und Nigg 2000]. ImFalle von Laufschuhen spielen die Kontrolle der Pronation sowie dieDämpfung eine wichtige Rolle. Bei Hallenschuhen wurden die lateraleStabilität, die torsionale Flexibilität, die Dämpfung und der Kraftschluss(Traktion) als signifikante Designparameter bezüglichVerletzungsprävention ausgemacht. Ein weiteres mit Sportschuhenassoziiertes (aber auch anderweitig auftretendes) Problem ist dieOnychodystrophie (Nagelveränderung) bzw. Mycosis (Pilz-Infektion derNägel) durch chronische mechanische Irritation [Romano et al 2005].

In ähnlicher Weise ist das Knie, vor allem beim Springen, von Interesse

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256 Schädigungen und Verletzungen durch chronische Belastung

[Tibesku und Pässler 2005].In der Literatur finden sich umfangreiche Empfehlungen zur Prävention

von Überlastungsverletzungen im Sport [z.B. Niams 2007, NCSS 2007, bfu2009]. Zusätzlich stellt die Schulung und Sensibilisierung von Trainern,insbesondere im Profi-Sport, eine wichtige Aufgabe dar.

9.2.2 Kontakt-Sportarten

Einige Kontakt-Sportarten (Boxen, Kick-Boxen, Ringen, Kampfsport)können zu Verletzungen führen. Es ist primär die Aufgabe des/derSchiedsrichter/s die jeweiligen Regeln durchzusetzen und akute ernsthafteVerletzungen zu verhindern (wobei Riss-Wunden an Augenbraue oderLippe hier keine als ernsthaft betrachteten Verletzungen darstellen müssen).Während ein einmaliges K.O. (knock-out) eher harmlos ist undüblicherweise eine vollständige Erholung möglich ist, so ist dies fürmehrfach erlittene Belastungen dieser Art nicht der Fall.

Boxen, Kick-Boxen, Ringen und Kampfsportarten unterliegen teilweisestrengen Regeln, wie beispielsweise denjenigen der World BoxingAssociation [WBA 2007] oder der Fédération Internationale de la LutteAmateur [FILA 2007]. Nichtsdestotrotz spielen Langzeitfolgen solcherSportarten in diesen Regeln nur eine untergeordnete Rolle. Ferner zeigteeine Untersuchung von Taekwondo-Kicks im Wettkampf [Serina und Lieu1991], dass verletzungsinduzierende Belastungen des Thorax erreichtwerden können (s. auch Kap. 5.5).

9.3 Hausarbeit

Wie oben bereits erwähnt sind die Langzeitfolgen von Hausarbeitmehrheitlich unerforscht, wenngleich unphysiologische Körperhaltungenbeim Arbeiten in der Küche (niedrige Arbeitsflächen, die zuRückenbeschwerden führen können) oder Reinigungsarbeiten (gebeugteHaltung) nicht unüblich sind. Beschwerden, die aus solchen Tätigkeitenresultieren, werden meist durch Hausärzte ohne nennenswerteInanspruchnahme von Versicherungsleistungen behandelt. Trotzdemnehmen sich einige Verbraucherschutzorganisationen diesem Themenkreisan und versuchen die entsprechenen Probleme zu analysieren, Betroffenezu beraten und geben Empfehlungen ab.

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Zusammenfassung 257

9.4 Zusammenfassung

Chronische Erkrankungen und Verletzungen durch mechanischeÜberbelastung, Ermüdung oder Fehlhaltungen stellen ein erheblichessoziales und sozioökonomisches Problem dar. In den Industriestaaten wirddas Problem durch die steigende Lebenserwartung und damit durch einenhöheren Anteil älterer Personen verstärkt. Die Biomechanik wie sie indiesem Buch vorgestellt wurde, hat in diesem Bereich jedoch nur eine sehreingeschränkte Relevanz. Quantitative Toleranzgrenzen für Belastungen alsFunktion der Häufigkeit und Dauer dieser Belastungen existieren kaum.Dies liegt vor allem daran, dass bislang die Anwendung quantitativerbiomechanischer Methoden, d.h. Messung, Analyse und Modellierungeiner dauerhaften mechanischen Exposition, nicht umfassend undsystematisch erfolgt ist. Folglich überwiegen qualitative Empfehlungen,allgemeine Regeln und Ansätze zur Beobachtung und statistischenBeschreibung. In Anbetracht der hohen Signifikanz der Langzeitfolgenmechanischer Belastungen, stellt deren Erforschung eine grosse zukünftigeHerausforderung für die Biomechanik dar.

9.5 Referenzen

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258 Schädigungen und Verletzungen durch chronische Belastung

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Kauther MD, Wedemeyer Ch, Wegner A, Kauther KM, von Knoch M (2009):Breakdance Injuries and Overuse Syndromes in Amateurs and Professionals,Am J Sports Med, Vol 37, pp. 797-802

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NCSS - Nat. Center for Sports Safety (2007): http://www.sportssafety.org/articles/chronic-overuse-injuries

Niams - Nat. Insitutue of Arthritis and Musculoskeletal and Skin Deseases (2007):http://www.niams.nih.gov/hi/topics/sports_injuries/ffsportsinjuries.htm

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10 Index

Der folgende Index listet in erster Linie Schlagworte, die in mehrerenKapiteln relevant sind, sowie Abkürzungen, die oftmals aus demEnglischen stammen, auf. Anatomische Begriffe und spezifischeVerletzungen sind nicht enthalten; diese werden in den Kapiteln derjeweiligen Körperregion erläutert.Aa3ms (3ms-Kriterium) 50, 87ADFS (average distal forearm

speed) 234Airbag 61, 96, 111, 127, 146, 169f,

178, 220, 230, 234AIS (abbreviated injury scale) 30,

75, 110, 160, 186, 203, 230Arbeitsmedizin 10, 251Bbiomechanisches Verhalten 39, 54,

79, 119, 166, 188, 209, 232BioRID 52, 59, 129, 137BioSID 58Boxen 17, 89fCC (compression criterion) 176Computersimulation 12, 37, 62, 99CRABI 61Crashtest-Dummy 42, 44, 53siehe auch BioRID, BioSID,

CRABI, Hybrid III, POLAR,SID, THOR, TNO-10 World-SID

CTI (combined thoracic index) 171,177

DDAI (diffuse axonal injury) 75, 77,

94delta-v 36EECE 45, 47, 50f, 133

ECE R12 61ECE R21 87ECE R22 87ECE R25 87ECE R44 191ECE R94 45, 50, 61, 87, 133,

177, 179, 214, 215ECE R95 45, 51, 57, 177, 179,

191, 215EES (energy equivalent speed) 36Epidemiologie 19Ermüdungsbruch/-fraktur 138, 217,

220, 248, 255FFFC (femur force criterion) 214Finite Elemente (FE) Methode/

-Modelle 38f, 62FMH (free motion head form) 44

K.-U. Schmitt et al., Trauma Biomechanik, DOI 10.1007/978-3-642-11596-7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

-

Page 272: Trauma-Biomechanik ||

262 Index

FMVSS 45, 48f, 55FMVSS201 61, 87FMVSS208 46, 50, 85, 87, 127f, 133f, 172, 175, 177f, 210, 214FMVSS214 46, 51, 57, 174, 176

(American) Football 16, 90, 139, 141, 218, 236

Frontalkollision 36, 45f, 50, 55f, 60, 96, 112, 115, 118, 126f, 133, 170f, 175, 177, 179, 184, 200, 203, 206, 208f, 215, 221, 230

Fussball 16, 39, 89, 94, 193, 205, 216, 218

Fussgängersicherheit/-schutz/-kollision/-Dummy/-Airbag 3, 45, 55, 61, 96, 98f, 165,205, 207, 214, 221f

GGAMBIT 87Gehirnerschütterung 76, 80, 84, 89HHandgelenkprotektor 239, 241Heckkollision 46, 59f, 114f, 124f,

128, 130, 132f, 137, 143, 147Helm 87, 90, 95fHernie (Diskus-/Sportler-) 110,

119, 166, 193HIC (head injury criterion) 50f, 85,

90HPC (head protection criterion) 50f,

87Hybrid III 55, 91, 93, 128, 137, 172,

176, 215, 235IInline-Skaten 239IPR (injury priority rating) 32

IRAV (injury assessment referencevalue) 62

ISS (injury severity score) 32IV-NIC (intervertebral NIC)134KKind(er) 4, 29, 45, 47f, 54f, 61, 79,

93, 122, 127, 187, 191f, 222Kollisionsgeschwindigkeit 35Kontaktsport 139, 217, 236, 256Kopfstütze 47, 116, 130, 142, 144LLähmung (siehe Plegie)Lärm 3, 253Leistenverletzungen (siehe auch

Hernie) 193LNL (lower neck load index) 132MMehrkörpermodell 62Menschmodell 40, 42, 62MIX Kriterium 137MTBI (mild traumatic brain injury)

77, 90, 93Myositis ossificans traumatica 216NEuro) NCAP (new car assessment

programme) 52f, 61, 125,214, 234

NDC (neck displacement criterion)135f

NIC (neck injury criterion) 125f,136

Nij 127Nkm 125, 136Oout of position 48, 128, 170PPlegie 139POLAR 61Polsterung (Padding) 95, 192Prellung 32, 74, 89

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PSPF (pubic symphysis peak force)215

QQTF (Quebec Task Force) 115RRAID (research arm injury device)

235RDC (rib deflection criterion) 178Rebound 116RID/RID2/RID3d 59f, 132Risikofunktion 30, 33, 86, 176RSI (repetitive strain injury) 247Rückenschmerz 118, 140, 248SSAE Arm 235SAHR 145Schienbeinkanten-Syndrom/

-schoner 220, 255Seitenkollision/-anprall 43, 45, 50f,

55, 57, 173, 176f, 179, 191f,230f, 234

SI (severity index) 82, 85Sicherheitsgurt/-systeme 14, 44, 47,

55f, 96, 116, 118, 142, 160,168f, 190f, 231

SID 57, 174Sitz/-lehne/-position/-schiene/-test

47, 49, 116, 124f, 130, 132,137, 141, 143, 146f, 160,170, 191f, 221, 249

Skifahren 16, 89, 217, 218Snowboard 16, 89, 239Starrkörper/-dynamik/-modell 24,35, 37f, 62Stosszahl 36submarining 192, 221S-Verformung 116TTCFC (tibia compression force

criterion) 214

ThCC/TCC (thoracic compression criterion) 179

THOR 56, 85, 235TI (tibia index) 50, 214TNO-10 60TTI (thoracic trauma index) 173fUÜberdeckung 36Ulna-Varianz 239Unfallrekonstruktion 34fUnfallstatistik 19VVC (viscous criterion) 50f, 177Verletzungskriterium 29WWHIPS 147WIL 143WipGARD 148World-SID 59WSTC (Wayne State Tolerance

Curve) 80f, 85, 87

Index 263


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