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toll ffm

Date post: 24-Mar-2016
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Katalog zum Projekt toll ffm - galerie für zeitgenössische kunst, Frankfurt 2009-2010
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galerie für zeitgenössische kunst toll
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galerie für zeitgenössische kunst

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1 Jahr toll ffm - galerie für zeitgenössische kunst

Unsere tolle Galerie im Blumenkübel entstand mit der Überlegung, einen Ort für zeit-genössische und ortsbezogene Kunst in Frankfurt am Main zu schaffen. Seit Juni 2009 haben wir im monatlichen Turnus die Arbeiten junger Künstlerinnen und Künstler im Rahmen von Einzelausstellungen in der toll ffm präsentiert. Ausgangspunkt und Aus-wahlkriterium war formal und inhaltlich jeweils die Auseinandersetzung mit den be-sonderen Gegebenheiten unseres Ausstellungsraumes (1,50 x 1,50 x 0,90 m) und den Spezifika des Standortes in der Fahrgasse. Thematisch ging es uns dabei immer aufs Neue um künstlerische Perspektiven auf die Straße als Ort öffentlichen Lebens, Fragen des urbanen Miteinanders und die Situation von Kunst und ihre Rolle in die-sen Gestaltungsprozessen. Anders als in den vielen etablierten Galerien ging es uns mit der toll ffm darum, die künstlerischen Positionen direkt im öffentlichen Raum zur Diskussion zu stellen und grundsätzlich unabhängig von Öffnungszeiten, Habitus und Geldbeutel allen und jederzeit zugänglich zu machen. Komplementär und mit augen-zwinkernder Referenz zu dem gängigen Galerienwesen versteht sich die toll ffm als Plattform des gestalterischen Experiments und kunstbetriebsimmanenter Befragung.

Das Konzept des toll-Projekts ist dabei auch als Netzwerk des künstlerischen Aus-tauschs rund um den Globus zu verstehen, deren Realisation gegenwärtig auch in Montevideo, Florida und Salto (Uruguay) stattfindet und in weiteren Städten (in Rumä-nien und Brasilien) bereits angedacht ist. Besonders herzliche Grüße gehen an dieser Stelle an Agustina Rodríguez und Eugenia Gonzáles nach Montevideo, die uns mit dem großem Erfolg ihres toll-Projekts auf der Südhalbkugel inspiriert und Mut gemacht haben, unsere Ideen auch hier in Frankfurt Wirklichkeit werden zu lassen!

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Die toll ffm wurde konzipiert, organisiert und kuratiert von spezialLabor. Wir sind eine Gruppe junger Künstlerinnen und Künstler, einige von uns haben ihre Studien an Uni und/oder Akademie bereits abgeschlossen, andere setzen diese momentan noch fort. Wir treffen uns regelmäßig und verfolgen gemeinsam das Ziel, kulturelle Projekte in Frankfurt und dem Rhein-Main-Gebiet zu realisieren. Seit einigen Jahren arbeiten wir kontinuierlich daran, Anlässe zu nutzen und zu schaffen, um über lokal spezifische und allgemein gesellschaftlich relevante Themen ins Gespräch zu kommen. Hierbei sind wir einem Kunstverständnis verpflichtet, das sich bewusst von reinem „l´art pour l´art“ ab – und einem poetisch-politischen innergesellschaftlichen Dialog zuwendet. Wir – Ximena Aburto Felis, Jasmin Grünewald, Raul Gschrey, Rahel Hünig, Bernd Metz, Anne Persch, Anselm Schenkluhn, Anja Winter und Irina Zikuschka – freuen uns sehr über unser gemeinsames Ausstellungsjahr und bedanken uns hier schon mal ganz herzlich bei allen Künstlerinnen und Künstlern, die mit Ihren Arbeiten die toll ffm erfüllt und uns erfreut haben!

Auf den folgenden Seiten findet Ihr einen Rückblick auf das vergangene Jahr und Infor-mationen zu den Künstlern: Ericson Krüger, Katja Kämmerer, Johanna Piltz, Wendelin Weishaupt, Thomas Weyand, Florian Rexroth, Cordula Hofmann, sternmorgenstern, Maria Anisimowa und Stefan Stark sowie dem Street Art-Vortrag von Heike Derwanz zur toll ffm als Freifläche. Dank auch an Euch alle, wir haben mit Euch insgesamt elf inspirierende Ausstellungseröffnungen, Konzerte und Vorträge erlebt und eine rau-schende Halbzeit-Party zusammen gefeiert! Und es bleibt spannend: da die toll ffm nun nach einem Jahr ihre Tore erst mal schließt, heißt es für uns als Projektgruppe: auf, auf! Zu neuen Ufern!

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Mit Ericson Krüger (*1974) eröffnete die toll ffm ihre Frankfurter Ausstellungsreihe mit einem Künstler, der sich auf frische Weise mit Fragestellungen zu Zeit und Raum, Urbanität und den Bewegungen der Akteure im städtischen Raum in ganz unterschiedlichen künstlerischen Medien auseinandersetzt. Krüger wurde in Ma-nila/Philippinen geboren, studierte an der Städelschule bei Prof. Thomas Bayrle und absolvierte sein Studium der Visuellen Kommunikation an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach.

Seine raumfüllenden Wandzeichnungen und Miniaturmodelle nehmen stets Bezug auf ortspezifische Architektur und die jeweils typischen Momente des von ihm vor-gefundenen genius loci. Diesen transportiert er in seinen graphischen Erzählungen und findet eine Form der Sichtbarkeit, die zwar orts- und architekturgebunden ope-riert, jedoch stets auf zarte Weise philosophische Fragen hindurch scheinen lässt. Für die toll ffm entwickelte Ericson Krüger eine graphische Arbeit, die schwarz auf weiß als Wandzeichnung umgesetzt wurde, deren sich vielschichtig durch-webendes Geflecht von Linien den Kübel an allen Seiten umspielte, die Grenzen von Innen und Außen kunstvoll überschritt und die Galerie selbst als plastisches Kunstobjekt im öffentlichen Raum thematisierte.

Ericson Krüger

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Katja Kämmerer (*1973) arbeitet plastisch, installativ und mit den Mitteln der Per-formance Art. 2006 schloss sie an der Goethe-Universität Frankfurt im Bereich Plastik bei Prof. Jochen Fischer und Prof. Dr. Jean-Christophe Ammann ihr Studi-um ab und realisierte in den vergangenen Jahren Projekte und Ausstellungen in Frankfurt, Berlin, Bochum, Norwegen und auf den Philippinen.

Kämmerer entwickelte für die toll ffm eine Rauminstallation, angeregt durch das bauliche Umfeld und die Poesie der kleinformatigen Galerie als außergewöhnli-chem Ausstellungsort. Ihre Materialcollage umkreiste dabei mit andeutungsreichen, erzählerischen Miniaturbauten die Paradoxie temporärer Stabilität – ein Thema, das ihre Arbeiten stets in unterschiedlichen Bezugskontexten durchdringt. So wur-den aus Fundobjekten und Verpackungsmaterial räumliche Collagen. Hier und da war ein kleines buntes Sonnenschirmchen zu sehen, dort ein Balkon, ein Fenster, da eine verlassene Schaukel. In dieser Arbeit fand das Anliegen Gestalt, Aspekte körperlicher oder mechanischer Bewegung und Erzählungen voller biographischer Versatzstücke sowie Bilder kollektiver Erinnerungserfahrung in ein offenes Assozi-ationssystem aus materiellen und immateriellen Sinn- und Bedeutungsrelationen zu übersetzen. Ihre installative Montage bewegte sich dabei gekonnt auf dem sch-malen Grad zwischen Konkretion und Abstraktion.

Katja Kämmerer

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Wendelin Weishaupt (*1978) studierte an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach bei Wolfgang Luy. Seine Rauminstallationen und Plastiken sind neben der Präsenz im Frankfurter Raum seit vielen Jahren Bestandteil überregionaler Schauen, so beispiels-weise der „paradise found“ in Benrath 2007 oder der „star alliance“ 2008 im Giessener Kunstverein.

Direkt unter der Oberfläche gilt es zu suchen, was gefunden werden will, schien die von Weishaupt für die toll ffm konzipierte Arbeit dem Betrachter zu zu flüstern. Unter der transparenten Abdeckung der toll ffm breiteten sich ineinander verschlungene bun-te Luftmatratzen aus, welche die Galerie bis zum Maximum ausfüllten. Irritierend de-platziert erschienen diese aufgeblasenen Gummi-Körper eingepfercht zwischen den Betonwänden der Galerie. Klaustrophobische wie nostalgische Emotionen evozierend wurde deutlich: sie beinhalten mehr als nur heiße Luft. In dicht gedrängten Membra-nen tragen sie Ereignisse und Situationen eingeschrieben, die wir kennen und derer wir uns erinnern. Synthetikschläuche als „sinnliche Zeugen“ vergangener Tage, unbe-schwerter Jugendzeiten am See oder der Familienreise im voll gepackten Auto, wo das aufgeblasene Spielzeug gerade noch Platz fand. Diese Arbeit von Wendelin Weis-haupt trägt aber noch weiter. Denn die Luftmatratze als industriell gefertigtes Erzeug-nis unserer Gesellschaft, verweist auf soziokulturelle wie ökonomische Phänomene und Systeme, mit denen wir in unserer alltagsweltlichen Praxis umgehen – meist ohne sie in Frage zu stellen. Bei Weishaupt jedoch wurden aus Luftmatratzen, Schwimm-flügeln und Rettungsringen präzise Fragezeichen, die, als Diagnoseinstrumente zur Realitätsprüfung eingesetzt, schnell jede Sentimentalität abschüttelten. Die auf diese Weise durch seine Exponate berührten Bereiche der Freizeit und ihrer gesellschaftli-chen Bedingungen bzw. Folgen wurden so mit scharfem Röntgenblick bis aufs Mark schonungslos durchleuchtet.

Wendelin Weishaupt

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Zentrales Thema von Johanna Piltz (*1976) bilden freche provokative Brechungen räumlicher Situationen wie sozialer Settings, welches sie in frischen Formen meist im Medium der Zeichnung und der Installation bearbeitet. Für ihre Vorliebe, die Verhältnisse der Behältnisse und Körper zu durchdringen, wird plötzlich aus einem Ausgang ein Eingang oder umgekehrt, werden Öffnungen geschaffen, wo es ei-gentlich keine gibt. Etwas dringt nach außen, zieht nach innen, fliegt heraus, wird durchbrochen, umgedreht.

Für die toll ffm entwickelte die Künstlerin eine räumliche Situation, bei der sie die ehemalige Funktion der Galerie auf ironisch-spielerische Weise hinterfragte: Die Natur macht sich hier in Form eines ausgewachsenen Baumes selbstständig und setzt sich über die Begrenzung des Betonkastens hinweg. Gegen die gewünsch-te Wuchsrichtung stellt sich dieser buchstäblich quer und erobert wie zum Trotz menschliches Terrain. Auch wenn dieses Konzept mit Rücksicht auf die Sicher-heit der städtischen Fußgänger etwas beschnitten werden musste, so nahm die Installation dennoch Bezug auf die anderen Blumenkübel der Straße und schien augenzwinkernd jenen auf weniger inspirierte Art und Weise „Grünzeug“ präsen-tierenden Behältern die Frage zu zurufen: Warum nicht einfach so?

Johanna Piltz

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Schon der Titel „In Appropriation“ der toll ffm-Ausstellung von Thomas Weyand (*1981) verwies auf die Fragezeichen zum Kunst- und Ausstellungsbetrieb, die sein künstleri-sches Arbeiten durchziehen: Ein weißer Raum mit akkurat gehängten Bildern, eine tradi-tionelle Kunstpräsentation par excellence, mit einer Vernissage zum Hindurchschlendern und fröhlichem Sinnieren – hätte der Mikrokosmos der toll ffm nicht andere Perspektiven eingefordert. Präzise auf die Situation abgestimmt nahm Weyand, Kunststudent an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, mit der Präsentation seiner Fotografien in der toll ffm Bezug auf die Frage der Position und Rezeption von Kunst und Wirklichkeit. Mit seiner Arbeit steht er durch und durch in der Tradition der Appropriation Art und findet sich wieder in einer Reihe von Künstlern, allen voran Yasumata Morimura, Elaine Stur-tevant aber auch Thomas Demand. Wie sie ist er ein Raubkopierer auf hohem Niveau. Seine Fotografien gleichen denen der Bechers und von Sugimoto scheinbar bis auf Haar. Das ist auch kein Wunder, denn ihre Motive sind die Vorlage für seine komplex aufgebauten Miniaturmodelle, die er dann wiederum in altmeisterlicher Manier ablichtet. Aufgrund der Miniaturen, in ihrer Ausführung den eigentlichen Schauplätzen abstrahiert, erfahren seine Motive eine Loslösung von zeitlichen und räumlichen Bezugspunkten.

Mit dieser konzeptuellen Strategie stehen seine Arbeiten als postmodernes Zeichen für ein Simulakrum, das über die Imitation der Wirklichkeit selbst zum Bestandteil ihrer Idee wird. Dadurch wird die Unterscheidung von Kopie und Original, von Vorbild und Abbild ausgehebelt. Und genau hier verbirgt sich die Vielschichtigkeit von Weyands Konzept, das über Doppelung und Nivellierung ein selbstreferenzielles Kunstsystem hinterfragt. Zeitgleich zur Ausstellung in der toll ffm wurde „In Appropriation“ im Berliner HFG_OF Satellit (secondhome) gezeigt, wo Weyands Fotografien in ihrem originären Großformat gehängt, noch einmal mehr die Frage nach Original und Kopie und der Bedeutung der Orte stellten.

Thomas Weyand

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Florian Rexroth (*1981) ermöglicht in seinen Arbeiten einen neuen Blick auf Natur im urbanen Raum, indem er mit einem riesigen weißen Tuch zur Abdeckung des städtischen Hintergrundes analog „Bäume der Stadt“ freistellt. Dabei arbeitet er im Zeitalter der digitalen Manipulierbarkeit bewusst mit analogen Großformatkameras um seine speziellen Portraits der Bäume zu realisieren. Fotos aus dieser Serie konnte man im vergangenen Jahr in der Ausstellung „Gute Aussichten – junge deutsche Fotografie“ international betrachten.

Die Aktionen Rexroths sind wichtiger Teil seiner künstlerischen Arbeit und so war der Berliner Künstler gleich zweimal bei uns zu Gast. Einmal konnte Ende Oktober im Kunstverein Familie Montez die Aktion Rexroths miterlebt und anschließend gefeiert werden und Anfang November gab es dann die dazugehörige Ausstel-lung in der toll ffm: Einer der vielen Frankfurter Stadtbäume fand auf diese Weise im ehemaligen Blumenkübel eine besondere Würdigung durch die großformatige Präsentation seines Portraits.

Florian Rexroth

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Es ist ein Widerspruch in sich, Street Art auf einem Blumenkübel anpflanzen zu wollen. Denn Poster, Sticker, Schablonengraffiti oder Installationen unter dem Na-men Street Art sind gerade ungeplant und ungefragt in den Straßen der Städte aufgetaucht. Dieser Widerspruch ist ein guter Anlass, die Besonderheiten von Street Art um die Bruchstelle herum zu extrahieren. Dazu möchte ich die Fahr-gasse in Frankfurt und den Blumenkübel als eine Versuchsanordnung in einem künstlerisch-wissenschaftlichen Labor betrachten. Der öffentliche Raum der Stra-ße ist dabei das Labor und der Blumenkübel ist das Testobjekt, was von den For-schern der toll ffm mit den unterschiedlichsten Konzepten und Materialien traktiert wird. Seine Veränderung wird dokumentiert und die Forschungsberichte in einem Katalog veröffentlicht.

Bevor der Blumenkübel nun zum Testobjekt wurde, war er ein Stadtmöbel. Er besteht aus einem Container aus Beton, der mit Erde gefüllt eine gestaltbare Fläche einen Meter oberhalb des Gehsteigs bietet. Durch die Bepflanzung wird das Grau der Straße optisch aufgelockert. Blumen und Sträucher sind hier ein geplanter Einschnitt, der auf eine Belebung und Stadtverschönerung abzielt. In den Versuchen der toll ffm wird der Kübel nun auf seine eigene Struktur reduziert, ein Betonbehälter mit einer Innen- und einer Außenwand. Von Erde entleert, weiß gestrichen und mit einer Glasplatte zur Abdeckung belegt, ist er zu einem white cube geworden, der Kunstobjekte in sich aufnimmt und herausstellt. Er stellt da-mit das dominierende Modell der Inszenierung von westlicher Kunst nach. Durch die Glasplatte kann man hineinsehen, aber nicht hineingreifen, es ist ein abge-schlossener Innen- und ein frei zugänglicher Außenraum entstanden.

Straße, white cube und BlumenkübelEin Essay von Heike Derwanz

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Von Dezember 2009 bis Februar 2010 wur-de die toll ffm zu einer öffentlichen Interak-tionsfläche für Künstler. Die anonyme Ge-staltung des „open space“ unterlag lediglich dem normativen Umgang mit öffentlichen Flächen seitens städtischer Akteure.

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Das abweichende Experiment der Forscher der toll ffm war nun, die Versuchsreihe zu öffnen und den Kübel zur äußeren Gestaltung für alle frei zu geben. Die sonst ungewollten Veränderungen des Straßenbildes durch Kunst, also Street Art, wa-ren hier ausschließlich gewollt und explizit erwünscht. Und so wurden im Verlaufe mehrerer Wochen zwei Seiten des Kübels gestaltet. Die dominierenden Techniken waren dabei Schablonengraffiti, die eine Seite recht farbig, die andere in Schwarz/Weiß. Doch zu einem Drunter und Drüber von Motiven und Techniken ist es nicht gekommen. Im Gegenteil, der Kübel blieb eher brav – aber chic. Wie auch hier, konnte man in den Galerien und Museen, in denen Street Art in den letzten Jahren ausgestellt wurde, nie die Vorraussetzungen oder den Kontext der Straße so nach-bilden, dass dabei eine authentische Street Art entstand. Im sozialen Laborraum „Straße“ (als Ort und oft auch Thema dieser Kunst) müssen die Werke erst aus der Mischung von Voraussetzungen, Formen und Funktionen emergieren.

Neun Faktoren können dabei ausgemacht werden: Ortsspezifizität, Illegalität, An-onymität und Vergänglichkeit als Determinanten, Bildhaftigkeit und Technik-Offen-heit als formale Merkmale und Freiheit, Protest und Stadtverschönerung als mög-liche Funktionen dieser Kunstform.

Ortsspezifisch ist par excellence auch die Land Art. Doch sie ist meist an Orten zu finden, die wir als Natur beschreiben würden, während Street Art üblicherweise in der Stadt entsteht. Hier antwortet sie auf Werbung und Verkehrszeichen, Stadt-möbel, Architektur oder Kunst im öffentlichen Raum. Gehen alte Definitionen, wie von Robert Sommer 1975 noch davon aus, dass Street Art-Werke direkt auf der Straße entstehen, werden sie heute zumeist nur installiert und davor im „Atelier“

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vorbereitet. Die Künstler reduzieren so die Zeit, in der sie bei der in den meisten Ländern strafbaren Handlung überrascht werden können.

In vielen Städten, ob in New York oder Stockholm, werden die stark restriktiven Graffiti-Gesetze auch für Street Art angewendet. Immer wieder gibt es deshalb Beispiele von Künstlern, die Geldstrafen zahlen müssen oder Gefängnisstrafen ableisten. Dies bringt jedoch Street Credibility, was ich als das subkulturelle Kapital der Street Art-Künstler bezeichnen möchte: „Street Crediblity ist aber nicht [nur] ein Effekt sozialer Erfahrung, sondern auch die Folge von bestimmten Handlun-gen: illegal Graffiti sprühen, auf der Straße batteln oder in einem Jungendhaus eines heruntergekommenen Stadtviertels trainieren“, schreiben Gabriele Klein und Malte Friedrich in ihrem Buch „Is this real?“ über Praktiken des HipHop. Sowohl Street Art-Künstler, als auch Graffiti-Künstler verstoßen per se mit jedem einzelnen Werk gegen Gesetze und schützen sich deshalb meist durch Anonymität vor der Strafverfolgung. Diese rechtliche Situation hat aber nicht nur Auswirkung auf die Künstler und die Herstellung der Werke, sondern auch auf ihre Haltbarkeit. Sind die in Auftrag gegebenen Werke im Inneren des Blumenkübels beispielsweise durch die Glasplatte geschützt, verändern sich Street Art-Werke unaufhörlich. Sie verblassen und vergehen, sie werden weggereinigt oder auch häufig entwendet, um ein anderes Leben z.B. in einer Kunstsammlung zu beginnen.

Die Beliebtheit von Street Art, und das illustriert auch das Experiment des Kübels sehr schön, liegt in ihrer starken Bildhaftigkeit und damit Zugänglichkeit für ein breites Publikum. Im Gegensatz zur Kalligraphie des Graffiti oder abstrakter zeitge-nössischer Kunst spricht es den Betrachter häufig bildhaft und emotional an, zum

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Beispiel durch Figuren, die den Stadtraum wie in einer zweiten Realität beleben. Und noch ein formales Merkmal hat sich am Experiment in der Fahrgasse gezeigt: geklebte Fotos, elaborierte Schablonen oder schnelle Zeichnungen bescheinigen die Technik-Offenheit der Kunstform. Street Art ist nicht zuletzt durch die Anonymi-tät der Künstler in vielerlei Hinsicht frei: Sie muss keine Zwecke erfüllen, sie muss nicht etwas Bestimmtes darstellen, sie muss nicht nach handwerklichen Regeln hergestellt werden. Und somit rangieren die Motivationen der Künstler von politi-schem Protest bis zur Stadtverschönerung oder einer Kombination von beidem.

Die Verschönerung der grauen Betonstädte war auch das Ziel der Stadtplaner, die den Blumenkübel aufstellen ließen. Nur haben sie nicht geahnt, welches künstle-rische Experiment zur Dichotomie von Kunst im Außen- oder Innenraum als Rah-menbedingungen zeitgenössischer Kunst daraus hervorgehen sollte!

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Cordula Hofmann (*1981) lebt und arbeitet in Frankfurt am Main. Nach ihrem Stu-dium in Wien und Frankfurt waren ihre Arbeiten bereits 2008 in der Fahrgasse in den Räumlichkeiten der Galerie Maurer zu sehen, anschließend folgten weitere Ausstellungen im Rhein-Main-Gebiet u.a. im Forum für Wissenschaft und Kunst in Wiesbaden.

Hofmann reflektierte mit ihrer Arbeit in der toll ffm den Widerspruch von privaten Wünschen nach individuellem Wohnraum und der industriell erzeugten Gleich-förmigkeit von Wohnstrukturen, womit sie thematisch am Kernaspekt der Galerie ansetzte, städtische Kultur und Fragen des urbanen Lebens direkt im öffentlichen Raum zur Diskussion zu stellen. Dabei ging Hofmann der Idee des Wohnraums in ihrer Konfrontation mit seinen tatsächlich zugrunde liegenden Strukturen nach. Sie übersetzte in ihrer Arbeit für den Blumenkübel die gleichförmigen und unper-sönlich wirkenden Außenansichten von Wohnkomplexen in graphisch reduzierte, fortlaufende Ornamente, die sie dann an Stelle von Wohnraum verschönernden Schmuckband-Tapeten im Innenraum der Galerie anbrachte. Monotone Zeichen-bewegungen und serielle Arbeitsweise transportierten dabei die äußeren visuellen Strukturen der Stadt ins Innere des Raums, wodurch deren auch hinter Gardinen und Fenstern normierende Präsenz zum Gegenstand der Wahrnehmung gemacht wurde.

Cordula Hofmann

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Vom 23. bis 25. April 2010 wurde die toll ffm Teil des Frankfurter V-Kunst-Festivals für zeitgenössische Videokunst. Zu diesem Anlass gab es im Blumenkübel die Arbeit „time.line.second“ von sternmorgenstern zu sehen: eine Dokumentation der Intstallationsperformance „time.line“ in Form von Stop-Motion-Technik wurde zum eigenständigen Film, welcher die einzelnen Abschnitte der sich quer durch Europa konstruierenden Installation der beiden Künstler Daniel Stern (*1981) und Marcus Morgenstern (*1985) zeigte.

Mit ihrer Raumskulptur aus Schrauben und Dachlatten waren sternmorgen-stern monatelang durch Europa unterwegs, gastierten auf belebten öffentlichen Plätzen oder inmitten romantischer Strand- oder Gebirgslandschaften. Wie eng unsere Begriffe von Urbanität und Natur verknüpft sind mit bestimmten dazu gehörigen Bildern, wurde in „time.line.second“ ebenso sichtbar wie der wechselseitige Bezug beider Konstrukte, deren steter Auf- und Umbau dabei aber immer von Städtischem ausgehend beleuchtet wurde. Die sich im Rah-men einer Performance ständig entwickelnden Skulptur formuliert das Eph-emere ihrer Konstruktion formal wie im Gedankenspiel und erhält im Medi-um der Videokunst ihre eigene Qualität. Die akkustische Dimension dieses V-Kunst-Werks in der toll ffm wurde mit Musik von Michel Jordan erzeugt, der die sperrigen wie die filigranen Aspekte der Arbeit von sternmorgenstern schlüssig in den Bereich der Akkustik übersetzte.

sternmorgenstern

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Mit ihrer Installation in der toll ffm verdichtete Maria Anisimowa (*1984) eine viel-schichtige Auseinandersetzung mit Materialität, kunsthistorischen Referenzen und der Zeichenhaftigkeit ihrer gesellschaftlichen Umwelt. In archäologischer Manier deckte sie Bedeutungszuweisungen unserer Kultur auf und setzte sie in Bezie-hung zu den sich selbst als nicht- und außerökonomische verschleiernden Para-digmen der Kunst- und Kulturproduktion. Dabei entwickelte die Künstlerin in einer zunächst rüde und sperrig anmutenden Formsprache minderer Souvenirästhetik und süßlich-künstelnder Veredelungspraxen eine inhaltliche wie detailtiefe Poetik.

Die HfG-Studentin führte in der eigens für die toll ffm entwickelten Arbeit Materi-alien wie Glas, Ölfarbe, gefundene Zeichen und Raum so zusammen, dass die Bedeutungen dieser Einzelbestandteile in ihrer wechselseitigen Konfrontation zum essentiellen Thema der Arbeit kristallisiert wurden. Plexigläserne Kristalle bargen in ihrem Innern feine Hologramm-Gravuren massentouristischer Ikonografien und Ölfarbe wurde sichtbar entblößt als Träger jahrhundertlanger Kunsthistorie. In glei-chem Kontrast stand die edle Form der Signifikanten zur öligen Anmut der Hoch-kultur. Beinhaltet Anisimowas Malerei grundsätzlich grafische Elemente in Bezug zur Objekthaftigkeit, so sind ihre Objekte genauso von dem malerischen Moment beeinflusst und getragen. Mit Anisimowas erster Soloshow wurden auf diese Wei-se die vielschichtigen Ausdrucksweisen ihres künstlerischen Oeuvres installativ zusammengeführt. Dies geschah mit durchaus provokativ-aggressivem Rückver-weis auf Mythen des autonom schaffenden Künstlergenies.

Maria Anisimowa

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Bei der Betrachtung von Stefan Starks (*1983) in der toll ffm gezeigten architektur-poetischen Fotografien fiel eine Sache direkt ins Auge: die Abwesenheit dessen, was die latente Spannung der Bilder ausmacht. Wirkten seine Motive temporär verlassener Schauplätze wie die Leere des Stadtraums im Mittagsschlaf, so deute-te sich an, was der im Bild festgehaltenen Situation vorausging oder folgen könnte. Improvisierte Umbauten oder einzelne Details karger Straßenecken zeugten von menschlicher Gegenwart, ihrer Aneignung und Wahrnehmung städtischer Struk-turen. Die spezifische Qualität dieser Orte schillerte zwischen romantisch unbe-stimmter Zartheit und unbehaglich gespannter Stille. Der soziale und raumzeitliche Kontext blieb dabei genauso offen wie das Verhältnis des grafischen Abbildes zu seiner räumlichen Realität.

Der in München geborene HfG-Student befragt in seinem fotografischen Oeuvre die Wahrnehmung von sozialem und euklidischem Raum und - im Zuge dessen - das Medium der Fotografie selbst. In der Installation in der toll ffm wurde dies durch das Herauslösen von Bildelementen und deren plastischer Übersetzung von den Fotos in den Galerieraum besonders deutlich. In modellhaftem Format verwehrten und entwickelten sie gleichzeitig eine Verbindung zur tatsächlichen Raumästhetik. Mit der motivischen Doppelung waren seine dioramischen Fotografien so von ei-ner geradezu herausfordernden Räumlichkeit geprägt. Während Starks Bilder in der toll ffm Architektur auf ihre Kulissenhaftigkeit untersuchten, thematisierten sie gleichsam den Stadtraum als Bühne und warfen den Blick wie ein Spiegel zurück auf die in der Darstellung fehlenden sozialen Akteure.

Stefan Stark

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Wir danken ganz herzlich:

der Stadt Frankfurt am Main sowie den Ämtern für Kultur, Grünflächen und Stadt-planung für die Überlassung des Blumenkübels und die ideelle wie finanzielle Unterstützung! Allen Künstlerinnen und Künstlern des toll-Jahres 2009/2010! Andreas Greulich, Christoph von Löw und Ralf Böckle insbesondere für ihre große Hilfe und Gastfreundschaft! Allen Galerien der Fahrgasse für ihre Unterstützung und vor allem für die gute Nachbarschaft! Darüber hinaus gilt unser Dank Ulf Kilian, Prof. Susanne Windelen, Prof. Jochen Fischer, Mirek Macke vom Kunst-verein Familie Montez, Sven Conrad und der gesamten Reinweiss-Crew, der VGF, Dorothee Schug und Vera Kartschewski! Der toll-Crew in Montevideo! UND LAST BUT NOT LEAST: Allen AnwohnerInnen der Fahrgasse, die uns mit Kaffee und Werkzeug versorgt, fröhlich mit uns die Kunst gefeiert oder aber großzügig unser Feiern der Kunst allmonatlich vor ihrer Haustür toleriert haben!

Vielen Dank:Es war toll mit Euch allen!

toll ffm - galerie für zeitgenössische kunst 2009/2010 ist ein Projekt von spezialLabor

Kataloggestaltung: Ximena Aburto FelisTexte und Lektorat: Rahel Hünig, Bernd Metz, spezialLaborAbbildungen: Irina Zikuschka

Weitere Infos und Kontakt unter http://www.spezlab.de, http://tollffm.blogspot.comoder zur toll mvd auf http://tollgallery.blogspot.com.

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