+ All Categories
Home > Documents > Titel - static.uni-graz.at · ren ‘plot unit’ (Botvin & Sutton-Smith 1977: 378). Die Autoren...

Titel - static.uni-graz.at · ren ‘plot unit’ (Botvin & Sutton-Smith 1977: 378). Die Autoren...

Date post: 07-Nov-2019
Category:
Upload: others
View: 2 times
Download: 0 times
Share this document with a friend
171
75 Narrative Strukturen in der Kindersprache Herausgegeben und eingeleitet von Ralf Vollmann und Peter B. Marschik Frühjahr 2011
Transcript

75

Narrative Strukturen

in der

Kindersprache

Herausgegeben und eingeleitet

von

Ralf Vollmann und Peter B. Marschik

Frühjahr 2011

Grazer Linguistische Studien (GLS) 75 (Frühjahr 2011)

Ralf Vollmann, Peter B. Marschik (eds.)

Narrative Strukturen in der Kindersprache

Ralf VOLLMANN & Peter B. MARSCHIK Editorial

5-6

Ralf VOLLMANN & Katrin BARTL & Elisabeth STRUTZMANN & Sonja HEPFLINGER & Katharina SCHWABL & Peter B. MARSCHIK Erzählungen von Vorschulkindern: Hintergrund und Methodologie

7-24

Katrin BARTL & Ralf VOLLMANN & Elisabeth STRUTZMANN & Peter B. MARSCHIK Erzählstrukturen bei 3- bis 6-jährigen Vorschulkindern

25-37

Elisabeth STRUTZMANN & Katrin BARTL & Nina GRÜNBERGER & Ralf VOLLMANN Tempusgebrauch in Erzählungen 3- bis 6-jähriger Kinder

39-53

Elisabeth STRUTZMANN & Nina GRÜNBERGER & Katrin BARTL & Ralf VOLLMANN Aktantenreferenz in Erzählungen 3- bis 6- jähriger Kinder

55-67

Katharina SCHWABL & Ralf VOLLMANN & Katharina WIND Protoliterate Strukturen bei Kindergartenkindern mit Migrations-hintergrund

69-89

Sonja HEPFLINGER & Ralf VOLLMANN & Christa EINSPIELER & Katrin BARTL & Peter B. MARSCHIK Der Zusammenhang von pragmatischen und narrativen Kom-petenzen bei einem Mädchen mit Rett Syndrom

91-107

Elisabeth SWOBODA Erzählkompetenz von Kindern mit einer spezifischen Sprach-erwerbsstörung

109-144

Monika DANNERER "An einem schönen und sonnigen Tag ..." – Zur Gestaltung von Erzählanfängen und -abschlüssen in schulnahen Erzählsituationen

145-164

Christoph HENKE Zum Diskus von Phaistos

165-171

Grazer Linguistische Studien 75 (Frühjahr 2011); S. 5-6

Editorial

Ralf Vollmann* & Peter B. Marschik#

* Karl-Franzens-Universität Graz # Medizinische Universität Graz

Der Aspekt "narrative Strukturen und Kompetenzen" in der frühen Sprachentwick-

lung ist ein sehr komplexer Forschungsbereich, dem in jüngsten internationalen For-

schungsbestrebungen immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Als "österreichi-

sche" Forschungsergebnisse und zur Weiterentwicklung diesbezüglicher Theoriebil-

dung und klinischer Ansätze haben wir im Dezember 2009 am Institut für Sprachwis-

senschaft der Universität Salzburg im Rahmen der 37. österreichischen Linguistikta-

gung einen Workshop mit dem Titel “Narrative Strukturen in der Kindersprache” ver-

anstaltet. Dieser derzeit sehr lebhaften Forschungsrichtung Rechnung tragend, haben

wir die Möglichkeit genutzt, einen Themenband der Grazer Linguistischen Studien

herauszugeben und eine Reihe dieser ersten Forschungsergebnisse schriftlich fest-

zuhalten.

Ralf Vollmann et al. stellen eingehend die Methodologie dar, die dem Grazer

Projekt "Wie Kinder erzählen" (ein Forschungsprojekt, das vom Land Steiermark un-

terstützt wird) und dem internationalen Projekt zur Erweiterung des CDI3 zugrunde-

liegt. Daran schließen Katrin Bartl et al. mit ersten Ergebnissen zu narrativen

Kompetenzen von Vorschulkindern im Rahmen des CDI3 Projektes an. In zwei De-

tailstudien werden die Aspekte Aktanteneinführung, Referenz, und Tempusgebrauch

von Elisabeth Strutzmann und KollegInnen dargestellt.

Sonja Hepflinger et al. berichten von der pragmalinguistischen Analyse eines

Mädchens mit Rett-Syndrom (Preserved Speech Variant – PSV), einer seltenen

schwerwiegenden genetischen Erkrankung mit tiefgreifender Beeinträchtigung der

kommunikativen Kompetenz.

In einer Studie zur Erzählkompetenz von Kindergarten-Kindern mit Migrations-

hintergrund stellen Katharina Schwabl et al. schließlich die besondere Problematik

der narrativen Kompetenz von Kindern mit nicht-deutscher Muttersprache dar.

Elisabeth Swoboda hat die Erzählkompetenz von Kindern mit spezifischer

Sprachentwicklungsstörung untersucht, ein Bereich von hoher Relevanz für Diagnos-

tik und Frühförderung. Monika Dannerer schließlich spannt den Bogen zur Erzähl-

kompetenz von Kindern im Schulalter.

Aufgrund der hohen Anzahl von Themennummern der GLS musste eine vor

längerer Zeit eingereichte Publikation von Christoph Henke (über den Diskus von

Phaistos) ungebührlich lange auf Veröffentlichung warten. Um dies nicht noch länger

zu verzögern, was aufgrund der folgenden Ausgaben nötig wäre, haben wir verein-

bart, diesen interessanten Artikel an unseren Themenband anzuhängen.

Wir danken den Autorinnen und Autoren für ihre Bemühungen sowie die gute

und zuverlässige Mitarbeit, die schließlich diesen Band ermöglicht haben, und wün-

Ralf Vollmann/Peter B. Marschik

______________________________________________________________________

6

schen allen Leserinnen und Lesern viel Freude mit dieser Ausgabe der Grazer Lin-

guistischen Studien.

Graz, Jänner 2011

Ralf Vollmann & Peter B. Marschik

Kontakt:

ao.Univ.Prof. Mag.Dr. Ralf Vollmann

Projekt “Wie Kinder erzählen”, Forschungsteam ‘PLANS’

Institut für Sprachwissenschaft, Karl-Franzens-Universität Graz

[email protected]

Ass.-Prof. Mag.DDr. Peter B. Marschik

Projekt “Wie Kinder erzählen”, Forschungsteam ‘IN:spired’

Institut für Physiologie, Medizinische Universität Graz

[email protected]

Grazer Linguistische Studien 75 (Frühjahr 2011); S. 7-24

Erzählungen von Vorschulkindern: Hintergrund und Methodologie1

Ralf Vollmann* & Katrin Bartl*# & Elisabeth Strutzmann* & Sonja

Hepflinger* & Katharina Schwabl* & Peter B. Marschik#

* Karl-Franzens-Universität Graz # Medizinische Universität Graz

1. Einleitung

Grundlegende grammatische Fähigkeiten und Wortschatz werden bis zum Vorschul-alter in ihren Grundzügen erworben. Ab 03;00 beginnt die Entwicklung der Erzählfä-higkeit, wobei die Kinder lernen, kohäsive Elemente einzusetzen, um einzelne Ereig-nisse temporal und kausal miteinander zu verbinden, oder auch, um auf Aktanten zu referieren. Die Erzählkompetenz, als Anwendung des literaten Sprachgebrauchs, wird als wichtige Vorläuferfähigkeit für den späteren schulischen Erfolg betrachtet. Bis-lang gibt es keine Screening-Methode für Kinder im Vorschulalter, die auch die Er-zählfähigkeiten erfasst. Um die Erstellung eines solchen Verfahrens zu ermöglichen, muss zunächst die Erzählentwicklung bei sprachunauffälligen Kindern in diesem Alter untersucht und beschrieben werden.

Im Folgenden werden relevante Erzählmodelle diskutiert, verschiedene Metho-den zur Erfassung der Erzählkompetenz vorgestellt, sowie Teilnehmer, Material und Methode der in einigen Beiträgen verwendeten Grazer CDI-Studie dargelegt.

2. Erzähltheorie

2.1. Das Höhepunkt-Modell

Mit der Entwicklung des Höhepunkt-Modells von Labov & Waletzky 1973 (1967) wurde der Grundstein für viele weitere Erzählmodelle gelegt. Labov & Waletzky 1972, 1973 formulieren Elemente, die in Erzählungen üblicherweise enthalten sind. Diese Komponenten erfüllen unterschiedliche Funktionen. Eine Erzählung beginnt fa-kultativ mit einem ‘Abstract’. Dieser stellt eine Zusammenfassung der nachfolgenden Ereignisse dar und soll das Interesse des Zuhörers wecken. Auf jeden Fall sollte eine vollständige Erzählung eine ‘Orientierung’ beinhalten. Der Erzähler gibt dem Hörer

1 Diese Forschungsarbeit wird vom Land Steiermark unterstützt (Projekt “Wie Kinder erzählen

– Text- und Erzählkompetenz im Vorschulalter: Eine Voraussetzung für den schulischen Er-folg”), sowie auch von der Stadt Graz (Projekt “Von 1 bis 13: Kinder erzählen, Kinder lesen”), und sie steht im Rahmen des internationalen Projekts “Communicative Development Invento-ries (CDI).

Ralf Vollmann et al. ______________________________________________________________________

8

Informationen über die an der Geschichte beteiligten Personen, sowie über Zeit und Ort des Geschehens. Üblicherweise findet die ‘Orientierung’ am Beginn der Er-zählung statt, es können aber auch zu späteren Zeitpunkten der Geschichte orientie-rende Informationen eingeschoben werden. Ein Großteil der Erzählung besteht aus der ‘Komplikation’, worunter eine Sequenz an Ereignissen verstanden wird. Hier ent-steht ein Konflikt oder ein anderes erzählwürdiges Ereignis. Nach Labov & Waletzky (1973: 33) fehlt einer Erzählung ohne ‘Evaluation’ “significance” und sie hat “no point”. Besonders in Erzählungen von persönlichen Erlebnissen ist die ‘Evaluation’ ein bedeutender Bestandteil, wie Labov & Waletzky in ihrer Studie, in der die Pro-banden von selbst erlebter großer Gefahr erzählen sollten, herausfinden konnten. Die Erzähler verwendeten hier evaluative Äußerungen, um ihre Lebensgefahr glaubhaft darzustellen. Schließlich wird der in der ‘Komplikation’ dargestellte Konflikt in der ‘Auflösung’ behoben. Das letzte, wiederum fakultative Element einer Erzählung ist die ‘Coda’. Der Zuhörer wird aus der Geschichte heraus- und wieder in die Gegen-wart zurückgeführt. Dies geschieht etwa durch deiktische Elemente wie in “That was it.” (Labov & Waletzky 1973: 40) oder mit Äußerungen, die bis in die Gegenwart hi-neinführen wie etwa “[...] ever since then, I haven’t seen the guy, ’cause I quit [...]”(Labov & Waletzky 1973: 40).

Abb. 1: Das Konzept einer Erzählung nach Labov & Waletzky (1973: 41).

2.2. Der entwicklungspsychologische Ansatz

Der entwicklungspsychologische Ansatz geht davon aus, dass die kognitive Entwick-lung eines Kindes eine Voraussetzung für dessen Sprachentwicklung darstellt (vgl. Piaget 1972). Als Vertreter dieses Ansatzes sehen Botvin & Sutton-Smith 1977 die Entwicklung der narrativen Komplexität von einer kognitiven Perspektive. Sie be-trachten anstelle des Inhalts einer Erzählung die kognitive Dimension des Erzählens, nämlich die Entwicklung der strukturellen Komplexität. Ihnen zufolge besteht eine Erzählung aus einer Verbindung mehrerer Handlungen. Die grundlegende struk-turelle Einheit in einer Erzählung wird als ‘plot unit’ bezeichnet. Primäre ‘plot units’ drücken Motivation für eine Handlung (z.B.: Angriff) oder eine mögliche Handlung (z.B.: Drohung) aus. Eine Erzählung entwickelt sich von einem Anfangszustand (z.B.: Angst) zu einem positiven oder negativen Endzustand (z.B.: Freisein von dieser Angst oder weiterhin Angst haben), welche beide als primäre ‘plot units’ angesehen werden.

Erzählungen von Vorschulkindern: Hintergrund und Methodologie ______________________________________________________________________

9

Diese beiden primären ‘plot units’ werden gemeinsam als ‘nuclear dyad’ bezeichnet. Eine Geschichte muss den Autoren zufolge zumindest aus einer ‘nuclear dyad’ bestehen. Sekundäre ‘plot units’ sind Handlungen oder mögliche Handlungen mit der Funktion, von einem Anfangszustand zum Endzustand zu führen. Demnach sind sie Übergangselemente zwischen der ersten primären ‘plot unit’ und der zweiten primä-ren ‘plot unit’ (Botvin & Sutton-Smith 1977: 378).

Die Autoren definieren sieben Ebenen einer Erzählung, bestimmt nach ihrer Komplexität. Erzählungen auf Ebene 1 sind nicht kohärent und unvollständig. Er-zählungen auf Ebene 2 enthalten eine ‘nuclear dyad’, jedoch keine sekundären ‘plot units’ zwischen den beiden primären ‘plot units’. Bei den Erzählungen auf Ebene 3 sind diese sekundären ‘plot units’ bereits enthalten. Erzählungen auf Ebene 4 enthal-ten zwei oder mehr Handlungssequenzen (‘nuclear dyads’), jedoch wieder keine se-kundären ‘plot units’. Demnach sind diese Erzählungen vergleichbar mit jenen auf Ebene 2, sofern man von der Länge absieht. Daher stellen wir, ebenso wie Becker (2001: 23), die zunehmende strukturelle Komplexität der Erzählungen auf Ebene 4 im Vergleich zu jenen auf Ebene 2 in Frage. Botvin & Sutton-Smith (1977: 381) argumen-tieren in diesem Zusammenhang folgendermaßen: “[...] increases along one dimen-sion result in decreases along another dimension.” Erzählungen auf Ebene 5 setzen sich aus zwei oder mehreren ‘nuclear dyads’ zusammen und enthalten zusätzlich se-kundäre ‘plot units’. Ebene 6 ist gekennzeichnet durch ‘subplots’, welche in die Haupthandlung eingeschoben werden. Erzählungen auf der komplexesten Ebene be-stehen aus ‘nuclear dyads’, sekundären ‘plot units’ und zwei oder mehreren ‘subplots’ (Botvin & Sutton-Smith 1977: 379ff.).

Botvin & Sutton-Smith 1977 führten eine Studie bestehend aus zwei Experimen-ten durch. Am ersten Experiment nahmen 80 Kinder zwischen 3 und 12 Jahren teil. Je 10 Kinder wurden in Altersgruppen zum Alter 5, 6, 7, 8, 9, 10 und 12 Jahren eingeteilt. 4 Kinder waren 3 Jahre alt und 6 Kinder waren 4 Jahre alt. Alle Kinder sollten eine Phantasiegeschichte erzählen. Manche Kinder erzählten sogar mehrere Geschichten, es wurde jedoch nur jeweils die erste Erzählung in die Analyse inkludiert. In einem zweiten Experiment wurde dieser Versuchsaufbau mit 140 Kindern wiederholt (n=14 in allen Altersgruppen, Intervall: 1 Jahr).

Die Ergebnisse zeigen, dass die strukturelle Komplexität der Erzählung mit dem zunehmenden Alter der Kinder anstieg. Es konnten individuelle Unterschiede festge-stellt werden. Im Durchschnitt beschrieben die 3- und 4-jährigen Kinder einzelne Handlungen, die nicht miteinander verbunden wurden, wodurch sich eine Vielzahl an inkohärenten Erzählungen ergab. Die 4- und 5-jährigen Kinder begannen narrative Strukturen zu verwenden. Sie erwähnten einen Konflikt und organisierten die Ereig-nisse um diesen Konflikt herum. In diesem Alter kamen bereits ‘nuclear dyads’ zur Anwendung. Im Alter von 6 Jahren weiteten die Kinder ihre Erzählungen aus. 7-jäh-rige Kinder begannen mit der Verknüpfung mehrerer ‘nuclear dyads’. Im Alter von 11 wurden eingebettete Strukturen verwendet, mit 12 Jahren schließlich auch mehrere. Diese Strukturen sind besonders komplex, da sie aufgrund von Planung mehr kog-nitive Kapazität erfordern. Botvin & Sutton-Smith (1977: 386) vergleichen den Erwerb der linguistischen Strukturen mit jenem der narrativen Strukturen: “the order of

Ralf Vollmann et al. ______________________________________________________________________

10

acquisition of narrative structures is similar to that of analogous linguistic struc-tures”. Dies wird in Tab. 1 ersichtlich.

Tab. 1: Zusammenspiel der linguistischen und der narrativen Entwicklung (Botvin & Sutton-Smith 1977: 386).

Structural principles Linguistic development Narrative development

Lack of integration Series of one word utterances

Series of plot units

Articulation of elementary structures

Simple sentences Simple dyadic structure

Conjunction and coordina-tion

Compound sentences Episodic structure

Hierarchical organization (Superordination and sub-ordination)

Center embedded sentences

Embedded dyadic structure (Subplotting)

2.3. Der Ansatz der Geschichtengrammatiker

Als Vertreter der Geschichtengrammatiker geht Rumelhart 1975 von einer internen Struktur einer Geschichte aus, die er als Schema bezeichnet. Ebenso wie auf Satzebe-ne wird auch eine Wohlgeformtheit für Erzählungen angenommen (Rumelhart 1975: 211). Rumelhart entwickelt eine Grammatik, die ihm zufolge auf einfache Erzäh-lungen zutreffend ist. Diese Grammatik besteht aus syntaktischen Regeln, die die Struktur der Bestandteile einer Geschichte generieren, sowie aus semantischen Inter-pretationsregeln, die mit den jeweiligen syntaktischen Regeln korrespondieren und die die semantische Repräsentation der Geschichte festlegen. Rumelhart (1975: 213ff.) beschreibt sein Modell mit Hilfe der Margie-Geschichte, welche in Tab. 2 dargestellt wird.

Tab. 2: Text-Beispiel aus der Margie-Geschichte (Rumelhart 1975: 216).

(1) Margie was holding tightly to the string of her beautiful new balloon.

(2) Suddenly, a gust of wind caught it

(3) and carried it into a tree

(4) It hit a branch

(5) and burst

(6) [sadness]

(7) Margie cried and cried.

Erzählungen von Vorschulkindern: Hintergrund und Methodologie ______________________________________________________________________

11

Abb. 2: Syntaktische Struktur der Margie-Geschichte (Rumelhart 1975: 217).

Die erste syntaktische Regel, Regel 1 (Story → Setting + Episode), etwa besagt, dass eine ‘Story’ (= ‘Geschichte’) ein ‘Setting’ und eine ‘Episode’ beinhalten muss. Die korrespondierende semantische Interpretationsregel, Regel 1’ (ALLOW (Setting, Epi-sode)), bringt zum Ausdruck, dass das ‘Setting’ die nachfolgende ‘Episode’ ermög-licht, aber nicht direkt verursacht. Für die Erzählung der Margie-Geschichte bedeutet dies, dass die Tatsache, dass Margie einen Luftballon in der Hand hält, den Verlust des Ballons ermöglicht, jedoch nicht auslöst. Der Luftballon muss erst einmal beses-sen werden, um verloren gehen zu können. Das einfache Halten des Ballons allerdings kann nicht dazu führen, dass der Ballon davonfliegt. Regel 2 (Setting → (State)*

2) besagt, dass das ‘Setting’ aus zustandsbeschreibenden Aussagen besteht.

Regel 3 (Episode → Event + Reaction) sagt aus, dass eine ‘Episode’ aus einem ‘Event’ (= ‘Ereignis’) und einer ‘Reaction’ (= ‘Reaktion’) auf dieses ‘Ereignis’ besteht. Die unterschiedlichen Möglichkeiten, wie das ‘Ereignis’ aussehen kann, wird in Regel 4 beschrieben. In dem Beispiel der Margie-Geschichte besteht das ‘Ereignis’ aus einer Sequenz an ‘Ereignissen’ (Aussagen (2) und (3)). Regel 5 (Reaction → Internal Response + Overt Response) besagt, dass die ‘Reaktion’ auf das ‘Ereignis’ oder die ‘Ereignisse’ aus einer ‘Internal Response’ (= ‘internen Reaktion’) und einer ‘Overt Response’ (= ‘externen Reaktion’) besteht. Die korrespondierende semantische Inter-pretationsregel, Regel 5’ (MOTIVATE (Internal Response, Overt Response)), besagt, dass die ‘interne Reaktion’ die ‘externe Reaktion’ motiviert. Laut Regel 6 (Internal Response → {Emotion | Desire}) kann diese ‘interne Reaktion’ entweder als ein ‘De-sire’ (= ‘Bedürfnis’) oder ein ‘Emotion’ (= ‘Gefühl’) repräsentiert sein. Die ‘externe Reaktion’ kann laut Regel 7 (Overt Response → {Action | (Attempt)*} eine ‘Action’ (= ‘Handlung’) oder eine oder mehrere ‘Attempts’ (= ‘Versuche’) sein. Zweiteres trifft zu, wenn es sich bei der ‘internen Reaktion’ um ein ‘Bedürfnis’ handelt. In diesem Fall wäre die ‘externe Reaktion’ der ‘Versuch’, das ‘Bedürfnis’ zu befriedigen. Im Text-Beispiel der Margie-Geschichte handelt es sich bei der ‘internen Reaktion’ um das ‘Gefühl’ der Traurigkeit, das die ‘externe Reaktion’, Margies Weinen, motiviert. Die übrigen Regeln betreffen die ‘Versuche’ und werden hier nicht weiter erläutert, da sie für das Text-Beispiel der Margie-Geschichte nicht relevant sind.

2 In der Regelschreibung von Rumelhart 1975 bedeutet * das Vorhandensein einer oder

mehrerer Einheiten. In diesem konkreten Fall sind ein oder mehrere Zustände gemeint.

Ralf Vollmann et al. ______________________________________________________________________

12

Ein großer Unterschied zwischen dem Modell von Rumelhart 1975 und jenem von Labov & Waletzky 1973 besteht darin, dass die ‘interne Reaktion’, die bei Labov & Waletzky im Begriff der ‘Evaluation’ enthalten ist, im Gegensatz zu dieser nicht explizit genannt werden muss, sondern implizit bleiben und inferiert werden kann (wie im Beispiel der Margie-Geschichte).

2.4. Relationsstruktur (nach Quasthoff)

Das Modell der Relationsstruktur nach Quasthoff 1980 besteht aus zwei grundlegen-den Teilen: semantische und pragmatische Elemente. Die semantischen Elemente werden durch die ‘cognitive story’ (= ‘kognitive Geschichte’) definiert. Die semanti-schen Elemente berücksichtigen die spezifische narrative Situation und werden dieser entsprechend festgelegt. Beispielsweise muss eine ‘orientation’ (= ‘Orientierung’) nicht gegeben werden, wenn der Hörer bereits über die teilnehmenden Aktanten, Zeitpunkte und Orte der Geschichte Bescheid weiß. Auch eine fixe Ordnung ‘orien-tierender’ Äußerungen ist nicht erforderlich, da der Erzähler sich fortwährend auf das Vorwissen des Hörers einstellen und dort, wo dem Hörer Informationen fehlen, diese liefern muss. Demnach kann ‘Orientierung’ gleich zu Beginn, erst später in der Er-zählung, oder in beiden Fällen geäußert werden. Quasthoff (1980: 88f.) geht davon aus, dass die Ereignisse in einer Erzählung relational geordnet sind, da etwa Informa-tionen im kognitiven System ebenfalls relational geordnet sind. Demnach sind die Knoten in ihrem hierarchisch gebauten Baumdiagramm keine Kategorien, sondern Relationen, d.h.: “Die Knoten repräsentieren die Relationen, wobei die jeweils unter-geordneten Relationen die Relate der jeweils dominierenden Relation bilden” (Quast-hoff 1980: 97). Ebenso wie Rumelhart (1975: 213ff.), beschreibt auch Quasthoff (1980: 98ff.) ihr Erzählmodell anhand der Margie-Geschichte. Sie erweitert diese Erzählung jedoch um den Satz [0] zu Beginn der Geschichte.

Tab. 3: Erweiterte Margie-Geschichte (Quasthoff 1980: 98).

[0] Margie is a little girl whom I watched in the playground yesterday.

(1) Margie was holding tightly to the string of her beautiful new balloon.

(2) Suddenly, a gust of wind caught it

(3) and carried it into a tree

(4) It hit a branch

(5) and burst

(6) [sadness]

(7) Margie cried and cried.

Die Relationen für dieses Text-Beispiel finden sich in der untenstehenden Tabelle. Sie sind in dieser Weise zu lesen: A (B,C) bedeutet das Bestehen einer Beziehung A zwi-schen den Relaten B und C.

Erzählungen von Vorschulkindern: Hintergrund und Methodologie ______________________________________________________________________

13

Tab. 4: Relationen für die erweiterte Margie-Geschichte (Quasthoff 1980: 100ff.).

Abkürzung Relationen in ausgeschriebener Form

(1) KE/MK (ZIELSTZG, KOGESCH) ‘konversationelle Erzählung als kom-munikatives Mittel’ (‘kommunikative Zielsetzung’, ‘kognitive Geschichte’)

(2) KOGESCH (GEGENSATZ, ERLUMF) ‘kognitive Geschichte’ (‘Gegensatzrela-tion’, ‘Erlebnisumfeld’)

(3) GEGENSATZ (AP, PLANBRUCH) ‘Gegensatzrelation’ (‘Agentenplan’, ‘Planbruch’)

(4) AP (AUSGZST, NCE) ‘Agentenplan’ (‘Ausgangszustand’, ‘nor-mal course of events’)

(5) PLANBRUCH (NCE, KOMP) ‘Planbruch’ (‘normal course of events’, ‘Komplikation’)

(6) KOMP (EREIGNIS, REAKTION) ‘Komplikation’ (‘Ereignis’, ‘Reaktion’)

(7) EREIGNIS (ZUSTV*, ERGEBNIS) ‘Ereignis’ (‘Zustandsveränderung(en)’, ‘Ergebnis’)

(8) ZIELSTZG (SPAUSGZST, SPINTEND)

‘Zielsetzung’ (‘Ausgangszustand der Er-zählhandlung’, ‘intendierter Endzustand’)

(9) SPAUSGZST (SIT 1, SIT n) ‘Ausgangszustand der Erzählhandlung’ (‘Situation 1’, ‘Situation n’)

Die ‘konversationelle Erzählung als kommunikatives Mittel’ ist die Beziehung zwi-schen der ‘kommunikativen Zielsetzung’ und der ‘kognitiven Geschichte’. Quasthoff & Nikolaus (1982: 19) definieren die ‘kognitive Geschichte’ als die mentale Repräsen-tation des Erzählers von der beschriebenen Situation zu dem Zeitpunkt, an dem die Geschichte erzählt wird. Sie ist eine Relation zwischen der ‘Gegensatzrelation’ und dem ‘Erlebnisumfeld’. Das ‘Erlebnisumfeld’ enthält irrelevante Information für die Erzählung selbst. Quasthoff (1980: 101) gibt in diesem Zusammenhang folgendes Bei-spiel: Der Erzähler der erweiterten Margie-Geschichte kann sich während des Erzäh-lens nicht nur an das Wegfliegen des Luftballons erinnern, sondern ihm fällt auch ein, dass er an jenem Tag zum ersten Mal seinen neuen blauen Pullover trug.

In der Margie-Geschichte besteht die ‘Gegensatzrelation’ aus den Relaten ‘Agen-tenplan’ und ‘Planbruch. Diese ‘Gegensatzrelation’ ist vergleichbar mit der ‘Kompli-kation’ bei Labov & Waletzky 1973. Weiters besteht die Relation ‘Agentenplan’ zwi-schen dem ‘Ausgangszustand’ und dem ‘normal course of events’, d.h. dem erwar-teten Geschehen. Satz (1) beschreibt die Beziehung zwischen dem ‘Ausgangszustand’ und dem ‘normal course of events’, wobei diese Erwartungen inferiert werden müs-sen (Margie hält weiterhin den Ballon fest). Zwischen dem ‘normal course of events’ und der ‘Komplikation’ besteht die Beziehung ‘Planbruch’. Der ursprüngliche ‘Plan’ des Aktanten wird zerstört. Die ‘Komplikation’ ist die Beziehung zwischen einem ‘Er-eignis’ und einer ‘Reaktion’ auf dieses ‘Ereignis’. Das ‘Ereignis’ ist eine Beziehung zwischen den so genannten ‘Zustandsveränderungen’ (Satz (2) bis (4)) und dem ‘Er-gebnis’. Das ‘Ergebnis’ ist das Explodieren des Luftballons in Satz (5). Margie ‘rea-giert’ mit Traurigkeit (6) und Weinen (7).

Ralf Vollmann et al. ______________________________________________________________________

14

Die eben erläuterte ‘kognitive Geschichte’ bezieht sich auf die mentalen Reprä-sentationen des Erzählten während des Erzählprozesses. Im Gegensatz dazu wird un-ter der ‘Zielsetzung’ die pragmatische Komponente der Erzählung verstanden, indem sie sich auf den Erzählprozess selbst bezieht. Der Sprecher passt seine Erzählung an das Wissen des Hörers – wie auch schon oben dargestellt – an. Diese Beziehung ‘Zielsetzung’ besteht zwischen dem ‘Ausgangszustand der Erzählhandlung’ und dem ‘intendierten Endzustand der Erzählhandlung’. Unter dem ‘Ausgangszustand’ wird eine gerichtete Beziehung zwischen je zwei ‘Situationen’ verstanden. Hierbei ist an-zumerken, dass ‘Situation 1’ den ‘Ausgangszustand’ für ‘Situation 2’ bildet, während ‘Situation 1’ auch die ‘Ausgangssituation’ der ganzen Geschichte darstellt. In der un-ten dargestellten und beschriebenen Hasengeschichte (siehe 3.3.) pflückt der Hase in der ‘Situation 1’ Karotten und sammelt sie in einem Korb. Der ‘Ausgangszustand’ für ‘Situation 2’, in der ein Pferd den Korb stiehlt, ist, dass dieser Korb mit Karotten über-haupt vorhanden ist. Zuletzt soll ein Beispiel für einen ‘intendierten Endzustand’ ge-geben werden: Quasthoff (1980: 106) bezeichnet etwa die Überzeugung des Hörers von der Einstellung des Erzählers als ‘intendierten Endzustand’.

Abb. 3: Relationsstruktur der Margie-Geschichte (Quasthoff 1980: 99).

2.5. Das schema-theoretische Modell

Boueke et al. 1995 entwickelten unter Berücksichtigung früherer Erzählmodelle (Bre-mond, Labov & Waletzky, van Dijk und Quasthoff, um einige zu nennen) den schema-theoretischen Ansatz. Diesem zufolge muss eine Erzählung alle relevanten Ereignisse beinhalten, welche temporal miteinander verbunden werden sollen. Weiters ist ein Bruch des erwarteten Ereignisverlaufs notwendig, wie auch die emotionale Qualifizierung der Ereignisfolgen (Boueke et al. 1995: 75).

Auf der untersten Ebene des Modells befinden sich die ‘Ereignisse’. Sie beziehen sich auf kognitive Repräsentationen von Handlungen und Zuständen und werden durch ‘semantische Einheiten’ ausgedrückt. Diese werden in der graphischen Darstel-lung des Modells (siehe Abb. 4) in Form von kleinen Kästchen abgebildet. Die nächsthöhere Ebene bilden die ‘Ereignisfolgen’, die als additive oder temporale Ver-

Erzählungen von Vorschulkindern: Hintergrund und Methodologie ______________________________________________________________________

15

bindungen der einzelnen ‘Ereignisse’ definiert werden. Die ‘Ereignisfolgen’ werden durch sogenannte ‘Ereignisstruktur-Markierungen’ markiert und auf diese Weise zu ‘Setting’, ‘Episode’ und ‘Abschluss’ zusammengefasst. Demnach wird eine ‘Ereignis-folge’ etwa als ‘Setting’ markiert. Dieses ‘Setting’ beinhaltet Informationen über An-fangszustand und den ‘normal course of events’ in einer Erzählung (Boueke et al. 1995: 78). Im Anschluss daran findet ein ‘Bruch’ dieses ‘normal course of events’ statt. Diese ‘Diskontinuität’ wird durch Ausdrücke wie “aber” und “aber dann” (Boueke et al. 1975: 78) markiert. Der ‘Bruch’ findet seine Ursache im ‘auslösenden Ereignis’, welches gemeinsam mit dessen ‘Folgeereignissen’ die ‘Episode’ bildet. Der ‘Ab-schluss’ kann einerseits den Ausgangszustand wiederherstellen oder eine alternative Lösung für den ‘Bruch’ bereitstellen. Die Bestandteile ‘Setting’, ‘Episode’ und ‘Ab-schluss’ müssen ebenfalls markiert werden. Dies erfolgt durch die sogenannte ‘affek-tive Markierung’, durch die diese Komponenten der Erzählung emotional markiert werden. Das markierte ‘Setting’ ergibt die ‘Exposition’, die markierte ‘Episode’ die ‘Komplikation’ und der markierte ‘Abschluss’ die ‘Auflösung’. Als weitere Elemente des Erzählmodells von Boueke et al. 1995 sind die ‘Orientierung’ und der ‘Schluss’ zu nennen, welche nicht direkt zur kognitiven ‘Geschichte’ zählen, jedoch Hintergrund-information bieten. Der Zuhörer wird mit Hilfe dieser Mittel einerseits in die Er-zählung hineingeführt und andererseits wieder aus dieser Erzählwelt herausgeführt (vgl. Boueke et al. 1995: 77ff.).

Abb. 4: Darstellung des schema-theoretischen Ansatzes (Boueke et al. 1995: 76).

Obwohl nicht alle diese Bestandteile in einer konkreten Erzählung präsent sein müs-sen, muss sie zumindest “Erzählwürdigkeit” (Boueke et al. 1995: 79) enthalten. Diese “Erzählwürdigkeit” kommt entweder im ‘auslösenden Ereignis’, in den ‘Folgeereig-nissen’ oder im ‘Abschluss’ zum Ausdruck.

Im Folgenden sollen die beiden Formen von ‘Markierungen’ näher erläutert wer-den. Wie bereits oben angedeutet, können ‘Ereignisfolgen’ mit Hilfe von ‘Ereignis-

Ralf Vollmann et al. ______________________________________________________________________

16

struktur-Markierungen’ markiert werden. Die Markierungen, die notwendig sind, um von einem ‘Setting’ sprechen zu können, sind die Einführung des Hauptaktanten, so-wie Erklärungen zu Zeit und Ort des Geschehens. Weiters muss der ‘normal course of events’ festgelegt werden, wofür häufig Adverbien wie “oft”, “immer” und “wieder einmal” (Boueke et al. 1995: 89) gebraucht werden. Von einer ‘Episode’ spricht man, wenn ein neuer Ort oder ein neuer Zeitpunkt eingeführt wird, als auch der Kontrast zum Ausgangszustand durch Konnektoren wie “aber” und “doch” deutlich wird (Boueke et al. 1995: 90). Der ‘Abschluss’ kommt beispielsweise zustande durch den Ausdruck von Lösungsversuchen. (Boueke et al. 1995: 89ff.)

Hinsichtlich der ‘Affekt-Markierungen’ unterscheidet man zwischen ‘psycholo-gischer Nähe’, ‘Valenz’ und ‘Plötzlichkeit’. ‘Psychologische Nähe’ wird erzielt durch Gedanken der Aktanten und direkte Rede. Der Zuhörer soll sich mit dem Hauptak-tanten identifizieren können. Mit ‘Valenz’ soll der Kontrast zwischen dem ‘normal course of events’ und dem ‘Bruch’ maximiert werden, was durch eine besondere Her-vorhebung der jeweils positiven bzw. negativen Aspekte erfolgt. ‘Plötzlichkeit’ wird durch die Hervorhebung der Unerwartetheit der neuen Ereignisse ausgedrückt.

Ein ‘Setting’, das durch eine ‘Affekt-Markierung’ markiert wird, bezeichnen die Autoren als ‘Exposition’. ‘Valenz’ wird in der ‘Exposition’ durch die Erklärung der Ziele des Aktanten hervorgerufen, als auch durch die Zuweisung positiver Gefühle. ‘Psychologische Nähe’ kann etwa durch direkte Rede erfolgen, wohingegen ‘Plötz-lichkeit’ für die ‘Exposition’ gänzlich irrelevant ist. Diese Art an ‘Affekt-Markierun-gen’ ist besonders wichtig für die ‘Komplikation’. Durch Temporaladverbien wie “und plötzlich” (Boueke et al. 1995: 117) erhält die ‘Komplikation’ eine ‘affektive Mar-kierung’.

Eine interessante Erweiterung des Erzählmodells von Boueke et al. 1995 wird von Becker (2001: 87f.) geleistet. Sie kommt zu dem Schluss, dass das schema-theore-tische Modell nicht nur auf Bildergeschichten angewendet werden kann (wofür es ur-sprünglich entworfen wurde), sondern mit kleinen Änderungen auch für andere Er-zählformen. Boueke et al. 1995 definieren den Anfangszustand als positiv, welcher von einem negativen ‘Bruch’ gefolgt wird und schließlich in eine positive Auflösung übergeht. Becker (2001: 87f.) stellt richtig fest, dass beispielsweise Märchen oft mit einem Mangelzustand beginnen, welcher im Laufe der Geschichte überwunden wird. Hier ist der Ausgangszustand negativ und wird von einem positiven Zustand abge-löst. Das Modell muss also dahingehend erweitert werden, dass die emotionale Mar-kierung für ‘Exposition’, ‘Komplikation’ und ‘Auflösung’ sowohl positiver als auch negativer Natur sein kann.

Boueke et al. 1995 analysierten narrative Daten von 96 Kindern aus Bielefeld und Umgebung, die in drei Altersgruppen zu je 32 Kindern einteilt wurden: Kinder-garten (05;07-05;11), Mitte der Volksschulzeit (07;07-07;11) und Ende der Volksschul-zeit (09;07-09;11). Der Versuchsaufbau bestand aus vier je vier-teiligen Bilderge-schichten aus der Serie “Der kleine Herr Jakob”: “Gemeinsamer Weg”, “Frühjahrsmü-digkeit”, “Schneeballschlacht” und “Achtung, Glatteis!” (Boueke et al. 1995: 123). Mit den Kindern wurden vier unterschiedliche Experimente durchgeführt. In die weitere Auswertung fanden nur die ersten beiden und die Hälfte des vierten Experiments Eingang, weshalb auf die anderen Experimente hier nicht weiter eingegangen wird.

Erzählungen von Vorschulkindern: Hintergrund und Methodologie ______________________________________________________________________

17

Im ersten Experiment sollte die Hälfte der Kinder zunächst die Bildergeschichte “Ge-meinsamer Weg” erzählen. Dann wurden die Bilder der Geschichte “Frühjahrsmüdig-keit” gemischt und den Kindern verdeckt vorgelegt. Diese sollten sie wieder auf-decken und so sortieren, dass die Bilder eine Geschichte ergaben. Während des Sor-tierens sollten die Kinder ihre Gedanken laut ausdrücken. Im zweiten Experiment wurde der Hälfte der Kinder die Geschichte “Frühjahrsmüdigkeit” in geordneter Rei-henfolge der Bilder und im Anschluss daran die Geschichte “Gemeinsamer Weg” in ungeordneter Reihenfolge präsentiert. Im vierten Experiment bekamen die Kinder alle vier Bilder der Geschichte “Schneeballschlacht” vorgelegt. Nachdem sie diese betrach-tet hatten, wurden die Bilder verdeckt und die Kinder sollten die Geschichte erzählen. Zusätzlich zu diesen Experimenten wurden standardisierte Tests mit den Kindern durchgeführt (Boueke et al. 1995: 124ff.).

Die Erzählungen der Kinder wurden in der Analyse in vier Typen gegliedert: ‘isolierte Ereignisdarstellung’, ‘lineare Ereignisdarstellung’, ‘strukturierte Ereignis-darstellung’ and ‘narrativ strukturierte Ereignisdarstellung’. Eine Erzählung wird als ‘isoliert’ bezeichnet, wenn keine semantische Beziehung zwischen den Ereignissen besteht. Solche Texte zeichnen sich durch die Verwendung von deiktischen Partikeln wie ‘hier’ und ‘da’ aus, die deiktisch auf das Bildmaterial verweisen (Boueke et al. 1995: 130). Ein ‘linearer’ Text wurde von den Kindern dann produziert, wenn die Er-eignisse semantisch miteinander verbunden wurden. Dies kann durch temporale Kon-nektoren erfolgen. Wichtig ist, dass sich die Ereignisse auf der gleichen Ebene befin-den und keines besonders hervorgehoben wird. Ein ‘strukturierter’ Text enthält schließlich auch ein hervorgehobenes Ereignis. Dieses steht im Kontrast zu der im ‘Setting’ definierten Ausgangssituation. Ein Text ist ‘narrativ strukturiert’, wenn zu-sätzlich zu den für den ‘strukturierten’ Text relevanten Bestandteilen auch eine ‘af-fektive Markierung’ der Komponenten erfolgt. Zumindest eine ‘Komplikation’ muss vorhanden sein (Boueke et al. 1995: 130f.).

In der jüngsten Altersgruppe produzierten die Kinder gelegentlich ‘isolierte’ Texte, vorwiegend ‘lineare’ und selten ‘strukturierte’ oder sogar ‘narrativ struk-turierte’ Texte. In der zweiten Klasse wurden vor allem ‘lineare’ und ‘strukturierte’ Texte produziert. Einige ‘narrativ strukturierte’ Texte konnten in den kindlichen Erzählungen gefunden werden. In der vierten Klasse waren schließlich die Mehrzahl der Erzählungen ‘narrativ strukturiert’. Es konnten keine signifikanten Unterschiede zwischen den einzelnen Bildergeschichten gefunden werden (Boueke et al. 1995: 135f.).

In Bezug auf die Verwendung ‘affektiver Markierungen’ konnte ein altersspezifi-scher Anstieg beobachtet werden. In diesem Zusammenhang stellten Boueke et al. (1995: 141) fest, dass die ‘affektiven Markierungen’ in ‘isolierten’ und ‘linearen’ Tex-ten sich vorwiegend auf Einzelereignisse bezogen (lokale Funktion). Ein ‘narrativ strukturierter’ Text kann erst entstehen, wenn eine globale Struktur mit den Konsti-tuenten ‘Setting’, ‘Episode’ und ‘Abschluss’ vorhanden ist. Die ‘affektive’ Qualifizie-rung dieser globalen Konstituenten ist erforderlich, um einen ‘strukturierten’ Text in einen ‘narrativ strukturierten’ zu überführen. Dies gelang nur einem Kind im Kinder-gartenalter und verbesserte sich sukzessive bis zur 4. Klasse.

Ralf Vollmann et al. ______________________________________________________________________

18

3. Empirische Studie

3.1. Ziel

Wie in Kapitel 2 bereits angeschnitten, beginnt die Entwicklung der Erzählkompetenz im Vorschulalter. Da diese Fähigkeit besonders wichtig für den späteren Erfolg in der Schule ist, ist eine frühe Diagnose zur Förderung von Risikokindern wünschenswert. Im deutschsprachigen Raum steht eine Vielzahl von Testmaterialien zur Verfügung, um den Wortschatz und die grammatikalischen Fähigkeiten von Kindern im Vor-schulalter zu testen. In diesem Zusammenhang seien exemplarisch die standardisier-ten Tests SETK (Grimm 2001), AWST-R (Kiese-Himmel 2005), und ‘Patholinguisti-sche Diagnostik bei Sprachentwicklungsstörungen’ (Kauschke & Siegmüller 2002) zu nennen. Für den deutschsprachigen Raum wurden auch die CDI-I- und CDI-II-Eltern-fragebögen (Marschik et al. 2004a, 2004b) entwickelt, wodurch eine Screening-Metho-de bereits für jüngere Kinder ermöglicht wird. Die Text- und Erzählkompetenz im Vorschulalter hingegen blieb, wohl aufgrund der Komplexität dieser Kompetenz, bislang unberücksichtigt. Daher wird zur Zeit im Rahmen der Entwicklung des CDI-III, in einem internationalen Subprojekt ‘Narratives in Communicative Development Inventories’, ein Zusatztest zur Erzählkompetenz entwickelt. In einem ersten Schritt wurde in 12 Sprachen eine Pilotstudie durchgeführt, in der sprachlich unauffällige Vorschulkinder (03;00-06;00) drei Bildergeschichten erzählen sollten. Auch in Österreich wurden Daten erhoben und analysiert (Leitung: Peter B. Marschik & Ralf Vollmann).

In weiterer Folge wird ein Fragebogen entwickelt werden, mit dem die ermittel-ten Kriterien der Erzählkompetenz ‘online’, also in der Erzählsituation, evaluiert wer-den können. Nach der Analyse der Daten werden daher zur Feststellung der Reliabili-tät Erwachsene mit den Erzählungen und einem Fragebogen konfrontiert und ihr Ur-teil mit der Datenanalyse verglichen. Dazu wird das Material von Testpersonen eva-luiert und die Ergebnisse mit der bereits vorgenommenen Auswertung verglichen. In einem weiteren Schritt wird das Material mit Daten von als sprachauffällig diagnosti-zierten Kindern verglichen. Im internationalen Vergleich wiederum werden die Er-gebnisse in allen Sprachen verglichen und evaluiert.

3.2. Teilnehmer

Im Zuge der internationalen Kooperation ‘Narratives in Communicative Develop-ment Inventories’ wurden narrative Daten von 54 monolingualen Kindern deutscher Muttersprache (27 Mädchen und 27 Buben) im Alter zwischen 03;00 und 06;00 Jahren erhoben. Diese wurden in sechs Untergruppen (Intervall: 6 Monate) zu je 9 Kindern unterteilt. Alle Kinder wiesen eine typische Sprachentwicklung auf. Zwillinge wur-den von der Studie ausgenommen.

Erzählungen von Vorschulkindern: Hintergrund und Methodologie ______________________________________________________________________

19

Tab. 5: Einteilung der Kinder in Altersgruppen.

A 03;00,00-03;05,30 D 04;06,00-04;11,30 B 03;06,00-03;11,30 E 05;00,00-05;05,30 C 04;00,00-04;05,30 F 05;06,00-05;11,30

3.3. Material

Den Kindern wurden drei Bildergeschichten vorgelegt, die jeweils aus vier schwarz-weißen Bildern bestanden. Die Kinder erzählten zuerst die ‘Luftballongeschichte’ (siehe Abb. 5). Diese handelt von einem Bub, der einen Luftballon kauft und damit nach Hause gehen will, doch plötzlich verliert er den Luftballon, sodass der Bub trau-rig wird. Das Bildmaterial enthält keine Auflösung, welche von den Kindern inferiert werden muss (vgl. Bartl 2010, Bartl et al. 2010). Es wird im Rahmen des internationa-len Projekts erwogen, das erste Bild an das Ende der Geschichte zu verschieben, um dadurch eine Auflösung zu erhalten.

Abb. 5: Luftballongeschichte (© Annette Karmiloff-Smith)

Als nächstes erzählten die Kinder die ‘Alptraumgeschichte’ (siehe Abb. 6). In dieser Geschichte hat ein Mädchen einen Alptraum, sodass ihre Mutter ihr einen Teddybär bringt und sie daraufhin wieder gut schlafen kann. Auch hier wird über eine neue Version der Geschichte nachgedacht, da sich die Vogelperspektive im ersten Bild für die Kinder als schwierig zu interpretieren erwies (vgl. Bartl 2010, Bartl et al. 2010).

Abb. 6: Alptraumgeschichte (© CDI3 Svetlana Kapalková)

Zuletzt wurde den Kindern die ‘Hasengeschichte’ (siehe Abb. 7) vorgelegt, welche von einem Hasen handelt, der Karotten pflückt, die jedoch von einem Pferd gestohlen

Ralf Vollmann et al. ______________________________________________________________________

20

werden. Der Hase bemerkt dies und läuft dem Pferd nach, um die Karotten zurückzu-bekommen. Die Geschichte endet damit, dass die beiden die Karotten teilen.

Abb. 7: Hasengeschichte (© CDI3 Ageliki Nicolopoulou)

Zusätzlich zu diesen Bildergeschichten wurden den Kindern standardisierte Tests vorgelegt. Es wurden Subtests der ‘Patholinguistischen Diagnostik bei Sprachent-wicklungsstörungen’ (Kauschke & Siegmüller 2002) durchgeführt, als auch mit jenen Kindern der relevanten Altersgruppen der AWST-R (Kiese-Himmel 2005). Den jüngsten Kindern wurden zusätzlich Subtests des SETK 3-5 (Grimm 2001) vorlegt.

3.4. Methode

Die Daten wurden von Studierenden in Kindergärten im Raum Graz aufgenommen. Die Kinder sollten die Bildergeschichten zweimal erzählen (Version A, Version B), was jedoch, namentlich bei kleineren Kindern, nicht immer möglich war. Erst ab 04;06 liegen beinahe von jedem Kind zwei erzählte Versionen der Geschichte vor. Da der Versuchsablauf gemeinsam mit den standardisierten Tests für manche Kinder in einer Sitzung zu anstrengend wurde oder sie keine Freude mehr am Erzählen hatten, wurden diese Kinder einige Tage später noch einmal besucht.

Die narrativen Daten wurden in einer relationalen Datenbank (CHILDES-kom-patibel) phonologisch und orthographisch transkribiert, sowie grammatikalisch und textlinguistisch kodiert und analysiert.

Tab. 6 zeigt exemplarisch die Transkription in der Datenbank. Die Abkürzungen TID, CID, STID, GRP, SPK, TXT, PHO und HDR wurden verwendet. TID ist die fort-laufende Nummer in der Datenbank (‘transcription-ID’). Jedes Kind erhält in Überein-stimmung mit dem internationalen Projekt einen eindeutigen Code (CID = ‘child-ID’). Der Code des Kindes im Transkriptionsbeispiel bedeutet, dass es sich bei dem Kind um einen 50 Monate alten deutschsprachigen Bub handelt, dem innerhalb der öster-reichischen Kinder die Nummer 22 zugeordnet wurde. Die Abkürzungen der Bilder-geschichten wurden in der Spalte STID (‘story-ID’) notiert; 01 ist die Luftballonge-schichte, 02 die Alptraumgeschichte, und mit 03 wird auf die Hasengeschichte refe-riert. 03A im nachstehenden Beispiel bezieht sich auf die erste Erzählung (Version A) der Hasengeschichte. Die GRP enthält die Altersgruppe jedes Kindes (A-F, 03;00-06;00). Die orthographische Transkription erfolgte in Spalte TXT und die phonolo-

Erzählungen von Vorschulkindern: Hintergrund und Methodologie ______________________________________________________________________

21

gische Transkription in Spalte PHO. In der Spalte SPK (‘speaker’) befindet sich die Kurzversion des Codes der Kinder bzw. die Initialen des Namens des Interviewers, welche die jeweilige Aussage (transkribiert in TXT und PHO) tätigten. Die Abkür-zung HDR steht für ‘header’ und bezieht sich auf allgemeine Informationen zum Kind und zur Aufnahmesituation, wie sie bei einem Export in das CHILDES-Format notwendig wären (siehe Tab. 7).

Tab. 6: Transkriptionsbeispiel aus der Datenbank.

TID CID STID GRP SPK TXT

16069 G50M22 03A C HDR @Begin 16070 G50M22 03A C HDR @Age of CHI: 04;02,23 16071 G50M22 03A C HDR @Birth of CHI: 20041217 16072 G50M22 03A C HDR @Sex of CHI: male 16073 G50M22 03A C HDR @ID of CHI: 22 16074 G50M22 03A C HDR @Language: German 16075 G50M22 03A C HDR @Transcriber: Evi Pfaffstaller 16076 G50M22 03A C HDR @Reliability: Ralf Vollmann 16077 G50M22 03A C HDR @Location: Kindergarten, Graz, Austria 16078 G50M22 03A C HDR @Date of Situation: 20090209 16079 G50M22 03A C HDR @Situation: bunny & horse story, first time 16080 G50M22 03A C M22 da frisst er Karotten. 16081 G50M22 03A C M22 und das Pferd frisst jetzt Karotten. 16082 G50M22 03A C M22 und der lauft da weg 16083 G50M22 03A C M22 und der lauft nach. 16084 G50M22 03A C M22 und da und da tun beide essen.

Tab. 7: Es besteht die Möglichkeit, mit geringem Aufwand die Transkription in das CHILDES-Format zu exportieren.

@Begin @Age of CHI: 04;02,23 *M22: da frisst er Karotten. @Birth of CHI: 20041217 %pho: d̥a fȐɪst eɐ ̯kaȐɔtn̩̩ @Sex of CHI: male *M22: und das Pferd frisst jetzt

Karotten. @ID of CHI: 22 %pho: ʊnt d̥as pfɛɐ̯d̥̯ fȐɪst jɛts kaȐɔtn̩̩ @Language: German *M22: und der lauft da weg. @Transcriber: Evi Pfaffstaller %pho: ʊnt d̥ɛɐ̯̯ ̯laɔf̯t d̥a v̥ɛķ @Reliability: Ralf Vollmann *M22: und der lauft nach. @Location: Kindergarten, Graz, Austria %pho: ʊnt d̥ɛɐ̯̯ ̯laɔf̯t nɑ:x @Date of Situation: 20090209 *M22: und da und da tun beide

essen. @Situation: bunny & horse story, first time %pho: ʊnd̥ d̥a ʊnd̥ d̥a tu:n.s baɛd̯ɛ̈ ɛsn̩̩

Das Material wurde in der Datenbank vollständig hinsichtlich Phonologie, Gramma-tik und Textkompetenz annotiert.

Ralf Vollmann et al. ______________________________________________________________________

22

3.5. Methodenkritik

Das Erzählen einer Bildergeschichte erfordert die kognitive Kompetenz, die bildlich dargestellten Ereignisse zu rekonstruieren. Beim Erzählprozess muss eine Über-setzung der bildlichen Handlungsabfolge in eine sprachliche erfolgen (Koll-Stobbe 1989: 135). Für diese komplexe Aufgabe werden den Kindern verschiedene kognitive Fähigkeiten abverlangt, über die sie Bornens 1990 zufolge unter einem Alter von 5 Jahren nicht verfügen. Obgleich die Datengewinnung mit Bildergeschichten aus die-sem Grund gerade mit jüngeren Kindern problematisch ist, hat sie den großen Vor-teil, vergleichbare Erzähldaten zu ergeben. Der Einwand, dass beim Erzählen einer Bildergeschichte nur die einzelnen abgebildeten Ereignisse erwähnt werden müssen, wird von Boueke et al. (1995: 121) entkräftet, indem diese zwar eingestehen, dass die semantischen Aspekte der Geschichte in den einzelnen Bildern erkennbar sind, jedoch weiters anmerken, dass das Bildmaterial nichts über die Beziehung zwischen den Ereignissen aussagt. Die Struktur jeder Bildergeschichte muss demnach vom Erzähler selbst inferiert werden und das Erwähnen der auf den Einzelbildern dargestellten Ereignisse genügt hier nicht. Ein Nachteil der Datenelizitierung mit Bildergeschich-ten gegenüber jener mit freien Erzählungen wie die Lebensgefahrberichte von Labov & Waletzky 1973 besteht darin, dass die Kinder beim Erzählen einer Bildergeschichte nicht ihre eigenen mit Emotionen verbundenen Erlebnisse erzählen und diese Er-zählungen so oftmals arm an persönlicher Reflexion sind. Ninio & Snow (1996: 177f.) stellten allerdings auch fest, dass einige an ihrer Studie teilnehmenden Kinder keine wirklich gefährlichen Erlebnisse zu berichten wussten, weil sie so etwas noch gar nicht erlebt hatten.

Dieser kurze Vergleich der Vor- und Nachteile der Verwendung von Bilderge-schichten und freien Erzählungen zeigt, dass weder die eine noch die andere Methode unproblematisch ist. Je nach Anwendungszweck wird sich die eine Form der Daten-erhebung als brauchbarer erweisen als die andere. Gerade für die Erstellung eines raschen und robusten Screening-Verfahrens in Form einer ‘online’-Evaluierung ist die einfache Vergleichbarkeit des erhaltenen Erzählmaterials mit einem Fragebogen es-sentiell, weshalb hier der Datengewinnung mittels Bildergeschichten der Vorzug ge-geben wird.

4. Ausblick

Die im Aufbau befindliche Datenbank von österreichischen Kindern ohne bzw. mit Sprachauffälligkeiten, mit genetischen Syndromen und mit Migrationshintergrund mit gleichartigem Testmaterial erlaubt die quantitative Analyse der vorschulischen narrativen Kompetenz, und daneben natürlich auch die Analyse anderer Aspekte (z.B.: phonologische Variation, Syntax). In weiterer Folge kann die Fragebogenmetho-de angewandt und mit der bestehenden Analyse evaluiert werden. Der internationale Vergleich mit 12 Sprachen wird crosslinguistische Aspekte behandeln. Ziel ist die Er-stellung eines internationalen, einzelsprachlich kalibrierten Assessment-Materials zur raschen Evaluierung kindlicher Kompetenz.

Erzählungen von Vorschulkindern: Hintergrund und Methodologie ______________________________________________________________________

23

5. Bibliographie

Bartl, Katrin (2010). There is a bunny and a horse and carrots ... Narrative compe-tence in Austrian preschoolers. Diplomarbeit. Universität Graz.

Bartl, Katrin & Strutzmann, Elisabeth & Vollmann, Ralf & Marschik, Peter B. (2011). Erzählstrukturen bei 3- bis 6-jährigen Vorschulkindern. GLS, 75, 25-37.

Becker, Tabea (2001). Kinder lernen erzählen. Zur Entwicklung der narrativen Fähigkeiten von Kindern unter Berücksichtigung der Erzählform. Baltmanns-weiler: Schneider-Verlag Hohengehren.

Bornens, Marie-Therese (1990). Problems brought about by “reading” a sequence of pictures. Journal of Experimental Child Psychology, 49, 189-226.

Botvin, Gilbert J. & Sutton-Smith, Brian (1977). The Development of Structural Com-plexity in Children’s Fantasy Narratives. Developmental Psychology, 13 (4), 377-388.

Boueke, Dietrich & Schülein, Frieder & Büscher, Hartmut & Terhorst, Evamaria & Wolf, Dagmar (1995). Wie Kinder erzählen. Untersuchungen zur Erzähltheorie

und zur Entwicklung narrativer Fähigkeiten. München: Fink. Dannerer, Monika (2011). “An einem schönen und sonnigen Tag ...” – Zur Gestaltung

von Erzählanfängen und -abschlüssen in schulnahen Erzählsituationen. GLS, 75, 145-164.

Ehlich, Konrad & Wagner, Klaus R. (eds.) (1989). Erzähl-Erwerb. Bern et al.: Lang. Grimm, Hannelore (2001). SETK 3-5: Sprachentwicklungstest für drei- bis fünfjährige

Kinder. Göttingen: Hogrefe. Helm, June (ed.) (1973). Essays on the Verbal and Visual Arts. Washington: Universi-

ty of Washington Press. [2nd edition, 1st edition: 1967] Hepflinger, Sonja & Vollmann, Ralf & Einspieler, Christa & Bartl, Katrin & Marschik,

Peter B. (2011). Der Zusammenhang von pragmatischen und narrativen Kompe-tenzen bei einem Mädchen mit Rett Syndrom. GLS, 75, 91-107.

Kauschke, Christina & Siegmüller, Julia (2002). Patholinguistische Diagnostik bei

Sprachentwicklungsstörungen. München: Elsevier. Kiese-Himmel, Christiane (2005). AWST-R- Aktiver Wortschatztest für 3- bis 5-

jährige Kinder. Göttingen: Beltz Test GmbH. Koll-Stobbe, Amei (1989). Erwerb von Erzählkultur: Bildererzählen. In Konrad Ehlich

& Klaus R. Wagner (eds.), Erzähl-Erwerb. Bern et al.: Lang. Labov, William (1972). Language in the Inner City: Studies in the Black English Ver-

nacular. Philadelphia: University of Pennsylvania Press. Labov, William & Waletzky, Joshua (1973). Narrative Analysis: Versions of Personal

Experience. In June Helm (ed.), Essays on the Verbal and Visual Arts. Washing-ton: University of Washington Press, pp. 12-44. [2nd edition, 1st edition: 1967]

Marschik, Peter B. & Vollmann, Ralf & Einspieler, Christa (2004a). ACDI-1, Austrian

Communicative Development Inventories, Level 1. Medizinische Universität Graz. [2nd edition]

Marschik, Peter B. & Vollmann, Ralf & Einspieler, Christa (2004b). ACDI-2, Austrian

Communicative Development Inventories, Level 2. Medizinische Universität Graz. [2nd edition]

Ralf Vollmann et al. ______________________________________________________________________

24

Ninio, Anat & Snow, Catherine E. (1996). Pragmatic Development. Colorado: West-view Press.

Piaget, Jean (1972). Sprechen und Denken des Kindes. Düsseldorf: Schwann. Quasthoff, Uta M. (1980). Erzählen in Gesprächen. Tübingen: Narr. Quasthoff, Uta M. & Nikolaus, Kurt (1982). What Makes a Good Story? Towards the

Production of Conversational Narratives. In August Flammer, & Walter Kintsch (eds.), Discourse processing. Amsterdam & New York & Oxford: North-Holland Publishing Company, pp. 16-28.

Rumelhart, David E. (1975). Notes on a Schema for Stories. In Daniel G. Bobrow & Allan Collins (eds.), Representation and Understanding: Studies in Cognitive Science. New York & San Francisco & London: Academic Press, pp. 211-236.

Schwabl, Katharina & Vollmann, Ralf & Wind, Katharina (2011). Protoliterate Struk-turen bei Kindergartenkindern mit Migrationshintergrund. GLS, 75, 69-89.

Swoboda, Elisabeth (2011). Erzählkompetenz von Kindern mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung. GLS, 75, 109-144.

Strutzmann, Elisabeth & Bartl, Katrin & Grünberger, Nina & Vollmann, Ralf (2011a). Tempusgebrauch in Erzählungen 3- bis 6-jähriger Kinder. GLS, 75 39-53.

Strutzmann, Elisabeth & Bartl, Katrin & Grünberger, Nina & Vollmann, Ralf (2011b). Aktantenreferenz in Erzählungen 3- bis 6-jähriger Kinder. In GLS, 75, 55-67.

Kontakt: ao.Univ.Prof. Mag.Dr. Ralf Vollmann

Projekt “Wie Kinder erzählen”, Forschungsteam ‘PLANS’ Institut für Sprachwissenschaft, Karl-Franzens-Universität Graz [email protected]

Grazer Linguistische Studien 75 (Frühjahr 2011); S. 25-37

Erzählstrukturen bei 3- bis 6-jährigen Vorschulkindern1

Katrin Bartl*# & Ralf Vollmann* & Elisabeth Strutzmann* & Peter

B. Marschik#

* Karl-Franzens-Universität Graz # Medizinische Universität Graz

1. Einleitung

Die Grammatik der Muttersprache wird bereits im frühen Vorschulalter weitgehend beherrscht. Im Vergleich zur grammatischen Kompetenz erweist sich die Textkompe-tenz als deutlich komplexer. So beginnen Kinder erst im Vorschulalter, Geschichten selbst zu erzählen, was als Vorläuferfähigkeit für diese Textkompetenz betrachtet werden kann, da es sich dabei um eine frühe Form des literaten Sprachgebrauchs handelt. Der Erwerb der Erzählkompetenz ist folglich essentiell für den schulischen Erfolg. Im Gegensatz zur grammatischen Kompetenz gibt es bislang noch kein Test-verfahren, mit dem die Erzählkompetenz von Kindern im Vorschulalter evaluiert wer-den kann. Es ist wichtig festzustellen, welche narrativen Kategorien von sprachun-auffälligen Kindern in welchem Alter beherrscht werden. Zu diesem Zweck wird der-zeit eine Pilotstudie mit monolingualen Kindern deutscher Muttersprache im Vor-schulalter durchgeführt, die in die internationale Studie ‘Narratives in Communi-cative Development Inventories’ eingebettet ist (vgl. Vollmann et al. 2010). Die 54 un-tersuchten Kinder zwischen 03;00 und 06;00 (eingeteilt in die Altersgruppen A bis F, Intervall: sechs Monate) wurden dazu aufgefordert drei je vierteilige Bildergeschich-ten zu erzählen. Die Daten wurden hinsichtlich gängiger narrativer Parameter unter-sucht, wobei insbesondere das Vorhandensein der von Labov & Waletzky 1973 festge-legten Bestandteile einer Erzählung (Setting, Komplikation, Auflösung, Evaluation) von Interesse ist. Diesem Erzählmodell zufolge wird ein Ereignis thematisiert, das im Kontrast zur Ausgangssituation steht. Der dabei entstehende Konflikt wird schließ-lich in der Auflösung behoben. Um das unerwartete Ereignis hervorzuheben und da-mit die Erzählung für den Hörer besonders interessant zu gestalten, werden eva-luative Äußerungen (direkte Rede, persönliche Reflexion des Erzählten) eingebaut. Neben diesen problemzentrierten Komponenten einer Erzählung wird in dieser Arbeit auch ein Augenmerk auf die syntaktische Komplexität der kindlichen Äußerungen

1 Diese Forschungsarbeit wird vom Land Steiermark unterstützt (Projekt “Wie Kinder erzählen – Text- und Erzählkompetenz im Vorschulalter: Eine Voraussetzung für den schulischen Er-folg”), sowie auch von der Stadt Graz (Projekt “Von 1 bis 13: Kinder erzählen, Kinder lesen”), und sie steht im Rahmen des internationalen Projekts “Communicative Development Invento-ries (CDI).

Katrin Bartl et al. ______________________________________________________________________

26

gelegt. Weiters wird der Einfluss der Caregiver auf die Leistungen der Kinder beleuchtet.

2. Syntaktische Strukturen

Beim Erzählen der Bildergeschichten wurden syntaktisch komplexere Strukturen mit zunehmendem Alter immer häufiger verwendet, während einfachere Strukturen wie Ein- oder Mehrwortäußerungen sukzessive abnahmen. Besonders hervor stach die Koordination mit den Konjunktionen ‘und’, ‘dann’, ‘und dann’ und sehr selten ‘aber’. Ab einem Alter von 04;06 bauten 94% der 54 an dieser Studie teilnehmenden Kinder Koordination in ihre Erzählungen ein. Die Konjunktionen ‘dann’ und ‘und dann’ (temporale Funktion) wurden mit höherem Alter deutlich häufiger, wohingegen ‘und da’ (keine temporale Funktion) abnahm und bei den Kindern zwischen 05;06 und 06;00 nicht mehr vertreten war.

Obwohl Koordination recht gleichmäßig auf alle Geschichten verteilt ist, finden sich die meisten koordinierten Äußerungen im Korpus in der Hasengeschichte, wie auch Abb. 1 zeigt. Hier verwendeten bereits deutlich mehr jüngere Kinder diese Struktur.

Abb. 1: Verwendung von Koordination in den drei Bildergeschichten. Altersgruppen A-F wie in Kapitel 1 beschrieben.

Koordination – Vergleich

0%10%20%30%40%50%60%70%80%90%

100%

A B C D E F

Altersgruppe

Pro

zent

der

Kin

der

Luftballon

Alptraum

Hase

Subordination, eingeleitet durch Subjunktoren (‘weil’, ‘dass’, etc.), ist im vorliegenden Korpus nur spärlich vertreten und bei erster Betrachtung scheint es sogar zu einer leichten Abnahme mit höherem Alter der Kinder zu kommen. Durchschnittlich ver-wendeten drei Kinder in der jüngsten Altersgruppe (A), aber nur ein Kind in der äl-testen Altersgruppe (F) beim Erzählen einer Bildergeschichte eine Subordinations-struktur. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass 80% der subordinierten Äuße-rungen mit dem Subjunktor ‘weil’ eingeleitet wurden. Andere Subjunktoren wie ‘dass’ und ‘während’ traten nur vereinzelt auf.

Erzählstrukturen bei 3- bis 6-jährigen Vorschulkindern ______________________________________________________________________

27

Abb. 2: Verwendung subordinierter Äußerungen in den drei Bildergeschichten.

Subordination (gesamt) – Vergleich

0%10%20%30%40%50%60%70%80%90%

100%

A B C D E F

Altersgruppe

Pro

zent

der

Kin

der

Luftballon

Alptraum

Hase

Aufgrund der aufgestellten Hypothese, dass Kinder mit zunehmendem Alter häufiger auf komplexere syntaktische Strukturen zurückgreifen, wurden die geäußerten Subor-dinationen eingehender untersucht. Es konnte festgestellt werden, dass Caregiver ge-rade bei jüngeren Kindern durch Nachfragen den Verlauf der Erzählung beeinfluss-ten. So fragten sie etwa ‘Warum weint der Bub?’, worauf die Kinder nicht selten mit ‘Weil der Luftballon weggeflogen ist.’ antworteten. Diese Frühform der Subordina-tion trat vor allem bei den jüngeren Kindern auf und verschwand ab einem Alter von 05;00. Auch Diessel (2004: 158ff.) kommt zu dem Schluss, dass diese Art an Kausal-sätzen typisch für jüngere Kinder ist.

In unserer Analyse wurden diese aufgrund ‘Warum?’ oder ‘Wieso?’ elizitierten ‘weil’-Sätze zunächst als Subordination gewertet, wie im nachfolgenden Beispiel aus der Datenbank ersichtlich wird.

Bsp. 1: Kind G48F26, subordinierte Äußerung in Verbindung mit einer Frage des Caregivers. (1) F26 da da ist ein Bub 04-SC

F26 und der will den Luftballon haben. 05-MC-COO

F26 dann hat er den Luftballon schon. 05-MC-COO

F26 und dann fliegt der Luftballon davon. 05-MC-COO

F26 da weint er. 04-SC

EP wieso denn?

F26 weil der weil Luftballon weggeflogen ist. 05-MC-SUB

Im Anschluss daran erfolgte die getrennte Auswertung der selbstständig produzierten Subordinationen und jener subordinierten Äußerungen, die als Reaktion auf eine Fra-ge des Caregivers zu betrachten sind (vgl. Abb. 3). 7,4% aller Kinder zwischen 03;00 und 04;06 griffen auf eine Subordination ohne Hilfe des Caregivers zurück. Im Ver-gleich dazu, verwendeten bereits 17,3% der Kinder zwischen 04;06 und 06;00 eine sol-che Struktur. Hier sei anzumerken, dass die meisten selbstständig eingeleiteten

Katrin Bartl et al. ______________________________________________________________________

28

subordinierten Äußerungen von den Kindern der Gruppe D (04;06-05;00) produziert wurden.

Das Ergebnis, dass vor allem jüngere Kinder subordinierte Strukturen als Reak-tion auf Fragen der Caregiver verwendeten, korreliert mit der Menge an Hilfestellun-gen, die die Caregiver den jüngeren Kindern zukommen ließen (vgl. Kapitel 3). Diese Auswertung kann weiters die leichte Abnahme mit dem Alter in der Verwendung aller subordinierten Äußerungen erklären.

Abb. 3: Subordination mit und ohne vorhergehende Frage des Caregivers.

Subordination – Durchschnitt

0%10%20%30%40%50%60%70%80%90%

100%

A B C D E F

Altersgruppe

Pro

zent

der

Kin

der

gesamt

ohne Frage

3. Hilfestellungen der Caregiver

Wie im vorhergehenden Kapitel am Beispiel der Subordination gezeigt wurde, wur-den syntaktische Strukturen in hohem Maße von Hilfestellungen bzw. Fragestellun-gen der Caregiver beeinflusst. Daher stellte sich die Frage, wie viele derlei Hilfestel-lungen die Kinder in ihren Erzählungen benötigten. Dazu wurde ermittelt, ob ein Kind in einer Geschichte (i) mehr als drei Hilfestellungen, (ii) ein bis zwei, oder (iii) keine Hilfestellungen bekam. Hierbei wurde die erste Instruktion in die Aufgaben-stellung nicht inkludiert.

Die Ergebnisse in Abb. 4 zeigen, dass in allen Altersgruppen zumindest gele-gentlich Hilfestellungen gegeben wurden. 42,59% aller teilnehmenden Kinder konnten die Luftballongeschichte und 44,44% aller Kinder konnten die beiden anderen Ge-schichten ohne weitere Anweisungen erzählen. Mindestens drei Hilfestellungen wur-den von 24,07% der Kinder in der Luftballongeschichte und von 27,78% der Kinder in den beiden anderen Geschichten benötigt. Diese Ergebnisse zeigen eine überwiegend gleichmäßige Verteilung der Hilfestellungen auf alle Geschichten. Hinsichtlich der Altersverteilung konnte festgestellt werden, dass Hilfestellungen vor allem in der jüngsten Altersgruppe (03;00-03;06) benötigt wurden, und dass diese ab einem Alter von 04;06 deutlich seltener wurden.

Erzählstrukturen bei 3- bis 6-jährigen Vorschulkindern ______________________________________________________________________

29

Abb. 4: Hilfestellungen von den Caregivers an die Kinder.

Hilfestellungen – Durchschnitt

0%10%20%30%40%50%60%70%80%90%

100%

A B C D E F

Altersgruppe

Pro

zent

der

Kin

der

mind. 3

1 bis 2

keine

4. Narrative Strukturen

Als Richtlinien für die Analyse der narrativen Konstituenten wurde in Übereinstim-mung mit dem internationalen Projekt ‘Narratives in Communicative Development Inventories’ (vgl. Vollmann et al. 2010) das Konzept einer Erzählung von Labov 1972 und Labov & Waletzky 1973 herangezogen und, wie in der nachfolgenden Tabelle ab-gebildet, leicht abgeändert. Die linke Spalte präsentiert die Komponenten einer Erzäh-lung nach Labov 1972 und Labov & Waletzky 1973, wohingegen die rechte Spalte die vom Projekt vorgegebenen und in diesem Artikel analysierten Kategorien angibt.

Tab. 1: Vergleich der untersuchten Kriterien nach Labov 1972 und Labov & Waletzky 1973 mit der vorliegenden Studie. Labov 1972, Labov & Waletzky 1973 Narratives in Communicative

Development Inventories

Abstract (Zusammenfassung der nach-folgenden Geschichte)

nicht analysiert

Orientierung (Aktanten, Zeit, Ort, An-fangsverhalten, Anfangssituation)

Aktanten, Setting/Orientierung (Zeit, Ort), Anfangsereignis (aus dem heraus ein Pro-blem entstehen kann)

Komplikation (Abfolge von aufeinan-der folgenden Ereignissen)

Problemidentifikation (das Problem tritt auf), Lösungsversuch/Komplikation (drückt aus, wie die Aktanten versuchen, das Problem zu lösen)

Evaluation (befindet sich meist zwi-schen Komplikation und Auflösung, nämlich dann, wenn die maximale Komplikation erreicht wurde, kann je-doch auch an anderen Positionen im

Evaluation (Einstellungen des Erzählers, Gefühle und Gedanken der Aktanten wer-den explizit genannt, direkte Rede werden ausgedrückt wird eingesetzt, Evaluation kann über die gesamte Geschichte verteilt

Katrin Bartl et al. ______________________________________________________________________

30

Text auftreten; mit Hilfe der Evalua-tion werden die Einstellungen des Er-zählers ausgedrückt)

auftreten), interne Reaktion (emotionale Äußerungen, welche nicht am Bildmaterial dargestellt sind werden inferiert, weiters werden Begründungen gegeben)

Auflösung (Auflösung der Komplika-tion)

Auflösung (Auflösung des Problems)

Coda (Überleitung zurück zum turn-by-turn-talk)

nicht analysiert

4.1. Setting/Orientierung

Eine Erzählung wird mit Informationen über Zeit und Ort des Geschehens eingelei-tet, um dem Hörer eine Orientierung zu geben. Oftmals wird die Einführung der Ak-tanten auch zur Kategorie ‘Setting’ gezählt (wie auch bei Labov & Waletzky 1973). Hier sei auf die Ausführungen zur Aktanteneinführung in Strutzmann et al. 2010 ver-wiesen. Setting hinsichtlich Zeit kann etwa ausgedrückt werden durch ‘eines Tages’ oder ‘gestern’; räumliche Information wird zur Verfügung gestellt durch Aussagen wie ‘Sie liegt im Bett’ oder ‘Der Hase liegt im Gras’.

Setting liegt in den Daten selten vor. Genau genommen wird es in der Luftbal-longeschichte von keinem Kind und in der Hasengeschichte nur gelegentlich ab einem Alter von 05;00 verwendet. Die meisten Orientierungen (ca. 1/3 der Kinder) werden in der Alptraumgeschichte geäußert, indem auf das Bett referiert wird. Abge-sehen von der häufigen Verwendung in Gruppe E, ist diese narrative Struktur relativ gleichmäßig auf die verschiedenen Altersgruppen verteilt. Zeitliche Informationen treten im gesamten Korpus nicht auf. Es sei anzumerken, dass Äußerungen wie ‘im Bett’, die auf die Frage der Caregiver ‘Wo ist das Mädchen?’ gegeben wurden, in die Auswertung nicht inkludiert wurden, da wir dies nicht als selbstständiges und unbeeinflusstes Erwähnen der räumlichen Information betrachten.

Abb. 5: Die Verwendung von Setting in den drei Bildergeschichten.

Setting – Vergleich

0%10%20%30%40%50%60%70%80%90%

100%

A B C D E F

Altersgruppe

Pro

zent

der

Kin

der

Luftballon

Alptraum

Hase

Erzählstrukturen bei 3- bis 6-jährigen Vorschulkindern ______________________________________________________________________

31

4.2. Ausgangsereignis

Im Ausgangsereignis werden all jene Situationen und Handlungen beschrieben, aus denen heraus sich ein Problem entwickeln kann. In der Luftballongeschichte könnte dies als ‘Der Mann gibt dem Bub einen Luftballon und der Bub geht mit dem Luftbal-lon spazieren.’ realisiert werden. In der Alptraumgeschichte muss erwähnt werden, dass das Mädchen im Bett liegt oder schläft, damit ein Alptraum eintreten kann. Die nachfolgende Tabelle bildet ein Beispiel für ein explizit gemachtes Ausgangsereignis in der Alptraumgeschichte ab.

Bsp. 2: Kind G62F44, Ausdruck des Ausgangsereignisses.

(2) F44 sie schlafte in dem Bett. AUSGANGSEREIG.

F44 doch plötzlich fangt sie an zu weinen,

F44 weil da Monstern sind.

Die Ergebnisse zeigen einen durchschnittlichen Anstieg dieser narrativen Komponen-te mit zunehmendem Alter. So referierten nur 48,1% der Kinder in der jüngsten Al-tersgruppe auf ein Ausgangsereignis, wohingegen dies bei 96,3% der Kinder ab 04;06 der Fall war. Ein besonders großer Anstieg zeigte sich in der Alptraumgeschichte, bei der nur 22,22% der Kinder von Gruppe A, aber bereits 94,44% der 5-jährigen auf diese Struktur zurückgriffen. Die Darstellung des Ausgangsereignisses gelang den jüngsten Kinder vor allem in der Luftballongeschichte. Hier benannten bereits 72,22% der 3-jährigen Kinder das Ausgangsereignis.

Abb. 6: Nennung des Ausgangsereignisses in den drei Bildergeschichten.

Ausgangsereignis – Vergleich

0%10%20%30%40%50%60%70%80%90%

100%

A B C D E F

Altersgruppe

Pro

zent

der

Kin

der

Luftballon

Alptraum

Hase

Hinsichtlich dieser narrativen Kategorie stellte sich deutlich heraus, dass vor allem die jüngsten Kinder mit der Vogelperspektive des ersten Bildes der Alptraumge-schichte Probleme hatten. Sie interpretierten das Ereignis in diesem Bild nicht wie vorgesehen, sondern in Form von Äußerungen wie ‘Das Mädchen schaut aus dem Fenster.’ oder ‘Sie ist in der Schachtel.’ Derartige Äußerungen wurden trotzdem als Ausgangsereignisse gewertet, weil sich auch aus diesen heraus Probleme ergeben

Katrin Bartl et al. ______________________________________________________________________

32

können. So könnte sich etwa das Mädchen, das aus dem Fenster schaut, umdrehen, Geister sehen und erschrecken.

In einer weiteren Auswertung wurde die Häufigkeit jener nicht zielgemäßen In-terpretationen des ersten Bildes der Alptraumgeschichte in einen Vergleich mit den adäquaten Interpretationen gesetzt. Die Ergebnisse geben an, dass nicht zielgemäße Interpretationen in allen Altersgruppen mit Ausnahme der ältesten Kinder vorhanden waren, besonders häufig aber im Alter zwischen 03;00 und 04;06 (37% aller Kinder in diesen Altersgruppen) auftraten. In dieser Altersspanne gelang nur 18,52% der Kinder eine zielgemäße Interpretation des Ausgangsereignisses. Demnach waren 66,66% aller ausgedrückten Ausgangsereignisse in diesem Altersbereich nicht zielgemäß.

Von Gruppe D an verwendeten mehr Kinder die intendierte Interpretation des ersten Bildes als eine nicht zielgemäße. Dennoch erwähnten noch 33,33% der Kinder von 04;06 bis 05;06 die nicht intendierte Interpretation der Handlung. In der Alters-gruppe F konnte keine nicht adäquate Interpretation des Ausgangsereignisses mehr gefunden werden.

Abb. 7: Adäquate und nicht adäquate Interpretation der Handlung im ersten Bild der Alptraumgeschichte.

Ausgangsereignis – Alptraumgeschichte

0%10%20%30%40%50%60%70%80%90%

100%

A B C D E F

Altersgruppe

Pro

zent

der

Kin

der

fehlt

adäquat

nicht adäquat

4.3. Problemidentifikation

Eine Problemidentifikation wird realisiert, wenn ein Kind den Bruch des “normal course of events” (Boueke et al. 1995: 75) ausdrückt. In der Luftballongeschichte wur-de die Darstellung des Problems üblicherweise in Form vergleichbarer Aussagen wie ‘Dann fliegt der Luftballon weg.’ realisiert (vgl. Bsp. 3).

Bsp. 3: Kind G56F30, Problemidentifikation in der Erzählung der Luftballongeschich-te.

(3) F30 bei der ersten kriegt er an [=einen] Luftballon.

F30 dann geht er spazieren.

F30 dann fliegt der Luftballon weg. PROBLEM IDENT.

F30 dann weint er.

Erzählstrukturen bei 3- bis 6-jährigen Vorschulkindern ______________________________________________________________________

33

Auch in der Hasengeschichte wurde das Problem überwiegend zielgemäß erkannt, wie exemplarisch in Beispiel 04 dargestellt.

Bsp. 4: Kind G56F30, Problemidentifikation in der Erzählung der Hasengeschichte.

(4) F30 da, da tut er Karotten pflücken. F30 da galoppt das Pferd so da hinüber, F30 und nimmt es das die Karotten weg. PROBLEM IDENT. F30 und dann galoppt’s weg, F30 und dann rennt da Hase da da nach, F30 aber erst so und dann da. F30 dann sieht er's, dass die zwei teilen.

Gerade in der Alptraumgeschichte wurde das Problem oftmals nur erwähnt, ohne es näher zu beschreiben, wie in ‘Das Mädchen weint’. Äußerungen dergleichen wurden nicht als Problemidentifikation gewertet, da die Versuchsperson nur das Vorhanden-sein eines Problems beschrieb, ohne dieses zu erläutern. In der Alptraumgeschichte wurden zusätzlich zur zielgemäßen Interpretation des Problems, dass das Mädchen einen Alptraum hat, Äußerungen wie ‘Das Mädchen sieht Gespenster.’ gefunden. Diese wurden als Problemidentifikation gewertet, jedoch im Folgenden zusätzlich ge-trennt ausgewertet. Lediglich 13,51% jener Kinder, die eine Problemidentifikation in der Alptraumgeschichte produzierten, referierten auf den Alptraum. Jedes dieser Kin-der war 04;06 oder älter. 59,4% der Kinder, die eine Problemidentifikation äußerten, bezogen sich auf Geister, Schatten oder Bilder, die der Aktantin Angst machen. Der Rest gab andere Erklärungen wie z.B. eine Krankheit des Mädchens.

Die Ergebnisse für alle Geschichten zeigen, dass das Problem sowohl in der Luft-ballongeschichte als auch in der Hasengeschichte von einer sehr hohen Prozentzahl an Kindern identifiziert und explizit benannt wurde. In der Alptraumgeschichte wurde das Problem erst ab 04;06 von der überwiegenden Mehrheit der Kinder (88,89%) erwähnt. Für die Ausnahme in der ersten Gruppe konnte bis dato keine zu-friedenstellende Begründung gefunden werden. Zum jetzigen Zeitpunkt kann der Einfluss der Caregiver als alleinige Ursache ausgeschlossen werden.

Abb. 8: Vergleich der Problemidentifikation in den drei Bildergeschichten.

Problemidentifikation – Vergleich

0%10%20%30%40%50%60%70%80%90%

100%

A B C D E F

Altersgruppe

Pro

zent

der

Kin

der

Luftballon

Alptraum

Hase

Katrin Bartl et al. ______________________________________________________________________

34

4.4. Lösungsversuch/Komplikation

Im Erzählmodell von Labov & Waletzky 1973 ist der Begriff ‘Komplikation’ im Ge-gensatz zu den Vorgaben des internationalen Projekts recht breit gefasst. Hier soll er explizit nur auf die Problemlösungsversuche der Aktanten verweisen. Als solcher Problemlösungsversuch erfordert er auch die vorhergehende Identifikation und Be-schreibung des Problems. Daher wurden Äußerungen wie ‘Der Hase rennt hinter dem Pferd her.’ nur unter der Bedingung als Komplikation gewertet, dass vorher die Erwähnung des Stehlens der Karotten erfolgte.

Hinsichtlich dieser narrativen Komponente gehen die Ergebnisse für die einzel-nen Geschichten auseinander, wie in Abb. 9 dargestellt. Die Alptraumgeschichte und die Hasengeschichte zeigen einen ähnlichen Verlauf mit einer zunehmenden Verwendung des Lösungsversuches ab einem Alter von 04;06. In der Luftballon-geschichte jedoch produzierte nur ein einziges Kind einen Lösungsversuch. Dies wird damit in Zusammenhang gebracht, dass die relevante Information zur Produktion eines Lösungsversuches im Bildmaterial nicht dargestellt ist und von den Kindern inferiert werden müsste, was (bis auf eben diese Ausnahme) nicht erfolgte. Die Kin-der beendeten ihre Erzählungen in diesem Fall mit der Problemidentifikation.

Abb. 9: Vergleich der Komplikation in den drei Bildergeschichten.

Komplikation – Vergleich

0%10%20%30%40%50%60%70%80%90%

100%

A B C D E F

Altersgruppe

Pro

zent

der

Kin

der

Luftballon

Alptraum

Hase

4.5. Auflösung

Nach dem Lösungsversuch kann es nun zu einer Lösung des in der Erzählung aufge-tretenen Problems kommen. Auch hier ist wieder wichtig, dass an früheren Stellen der Erzählung überhaupt ein Problem geäußert worden war. Zur Verdeutlichung soll in der unterstehenden Tabelle ein Beispiel für eine fehlende Identifikation des Pro-blems und einer damit zusammenhängenden nicht zu wertenden Problemlösung ge-zeigt werden.

Erzählstrukturen bei 3- bis 6-jährigen Vorschulkindern ______________________________________________________________________

35

Bsp. 5: Kind G43M10, diese Erzählung beinhaltet keine Problemidentifikation und da-her auch keine Lösung. (5) NG […] erzähl mal!

M10 die ist da drinnen.

NG bitte?

M10 die ist da drin.

M10 und dann weint sie da noch.

NG mhm.

M10 und da ist noch ein Bär.

NG mhm.

M10 und des Mädl haltet.

M10 dann schlafen sie. KEINE AUFLÖSUNG

Wie bereits bei der Komplikation festgestellt werden konnte, gelang es den Kindern mit einer Ausnahme nicht, die notwendige Information in der Luftballongeschichte zu erschließen und daher fehlen die Problemlösungen. In den beiden anderen Bilder-geschichten ergab sich ein altersgemäßer Anstieg in der Verwendung der Problemlö-sung. 44,44% der 3-jährigen und bereits 72,22% der 5-jährigen Kinder produzierten eine Problemlösung in der Hasengeschichte. In der Alptraumgeschichte waren es sogar 88,88% der 5-jährigen Kinder.

Abb. 10: Problemlösung in den drei Bildergeschichten.

Auflösung – Vergleich

0%10%20%30%40%50%60%70%80%90%

100%

A B C D E F

Altersgruppe

Pro

zent

der

Kin

der

Luftballon

Alptraum

Hase

4.6. Evaluation

Unter Evaluation wird der Ausdruck von Gefühlen und Gedanken der Aktanten zu-sammengefasst. Weiters fallen die Beschreibung der Erzählerperspektive und direkte Rede in diese narrative Kategorie, wobei ersteres im Korpus nicht vertreten ist. Nach-stehendes Beispiel aus der Datenbank enthält eine direkte Rede.

Katrin Bartl et al. ______________________________________________________________________

36

Bsp. 6: Kind G59M32, direkte Rede in der Erzählung der Hasengeschichte. (6) M32 das ist der Hase und das Pferd.

M32 der Hase tut da Karotten / dings.

M32 und er, er, er tut dann so eins essen.

M32 sie, sie tut dann die Karotten weg.

M32 er muss dann hinten nachlaufen,

M32 weil er schon die Karotten hat.

M32 und er, dann sie fri-, und er sagt: DIREKTE REDE

M32 das sind meine Karotten.

32% der evaluativen Äußerungen im Korpus sind Vorkommen der direkten Rede. Die-se wurden von 14,81% aller Kinder verwendet. In Bezug auf direkte Rede wurden ge-schichtenspezifische Unterschiede in der Häufigkeit der Anwendung deutlich. Sieben Kinder verwendeten direkte Rede in der Hasengeschichte, nur ein Kind in der Alp-traumgeschichte und keine einzige direkte Rede konnte in den Erzählungen der Luft-ballongeschichte gefunden werden. Nach Labov & Waletzky (1973: 33) muss jede Ge-schichte eine Evaluation enthalten, um als vollständig betrachtet zu werden. In unse-ren Daten sind evaluative Äußerungen selten und es lässt sich auch kein signifikanter altersspezifischer Anstieg erkennen. Im Durchschnitt verwendeten 15,43% der Kinder beim Erzählen einer Bildergeschichte eine Evaluation. Am seltensten (mit 12,96% aller Kinder) kam diese narrative Komponente in der Alptraumgeschichte zum Einsatz.

Abb. 11: Evaluation in den drei Bildergeschichten.

Evaluation – Vergleich

0%10%20%30%40%50%60%70%80%90%

100%

A B C D E F

Altersgruppe

Pro

zent

der

Kin

der

Luftballon

Alptraum

Hase

5. Diskussion

Unsere Studie zeigt einen altersspezifischen Anstieg in der Verwendung der syntak-tisch komplexeren Struktur Koordination, wohingegen Subordination auch von den älteren Kindern nur spärlich gebraucht wurde. Dies trifft ebenfalls auf evaluative Äußerungen zu. Sowohl Subordination als auch Evaluation wird zwar von allen Al-

Erzählstrukturen bei 3- bis 6-jährigen Vorschulkindern ______________________________________________________________________

37

tersgruppen angewendet, jedoch ohne signifikante Zunahme mit dem Alter der Kin-der. Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass derart komplexe Strukturen vor dem Eintritt in die Schule zwar beherrscht, aber in Verbindung mit dem Erzählen von einfacheren Bildergeschichten selten verwendet werden. Bereits viele der jüngsten Kinder konnten das Anfangsereignis nennen und das Problem in der Geschichte identifizieren. Mit 04;06 inkludierten beinahe alle Kinder diese Strukturen in ihre Er-zählungen. Auch diejenigen narrativen Strukturen, die sich mit der Problemlösung auseinandersetzen, wurden mit zunehmendem Alter häufiger verwendet. Hier fallen die größten geschichtenspezifischen Unterschiede auf. Bis 04;06 wurden häufig Hilfe-stellungen benötigt. Die älteren Kinder produzierten ihre Erzählungen weitgehend selbstständig.

Zusammengefasst konnten wir feststellen, dass den Kinder bis 04;06 einige der untersuchten narrativen Kategorien Probleme bereiteten. Um 04;06 herum erwiesen sich jedoch in den meisten Kategorien deutlich bessere Ergebnisse. Lediglich emotio-nale Äußerungen und Begründungen blieben selten; hier kann man einen Einfluss des Versuchsdesigns in Betracht ziehen.

6. Bibliographie

Bartl, Katrin (2010). There is a bunny and a horse and carrots ... Narrative compe-tence in Austrian preschoolers. Diplomarbeit. Universität Graz.

Boueke, Dietrich & Schülein, Frieder & Büscher, Hartmut & Terhorst, Evamaria & Wolf, Dagmar (1995). Wie Kinder erzählen. Untersuchungen zur Erzähltheorie

und zur Entwicklung narrativer Fähigkeiten. München: Fink. Diessel, Holger (2004). The Acquisition of Complex Sentences. Cambridge: Cambridge

University Press. Labov, William (1972). Language in the Inner City: Studies in the Black English Ver-

nacular. Philadelphia: University of Pennsylvania Press. Labov, William & Waletzky, Joshua (1973). Narrative Analysis: Versions of Personal

Experience. In June Helm (ed.), Essays on the Verbal and Visual Arts. Washing-ton: University of Washington Press, pp. 12-44. [2nd edition, 1st edition: 1967]

Strutzmann, Elisabeth & Grünberger, Nina & Bartl, Katrin & Vollmann, Ralf (2011). Aktantenreferenz in Erzählungen 3- bis 6-jähriger Kinder. GLS, 75, 55-67.

Vollmann, Ralf & Bartl, Katrin & Strutzmann, Elisabeth & Hepflinger, Sonja & Marschik, Peter B. (2011). Erzählungen von Vorschulkindern: Hintergrund und Methodologie. GLS, 75, 7-24.

Kontakt: Mag. Katrin Bartl

Projekt “Wie Kinder erzählen” Institut für Sprachwissenschaft, Universität Graz Institut für Physiologie, Medizinische Universität Graz [email protected]

Grazer Linguistische Studien 75 (Frühjahr2011); S. 39-53

Tempusgebrauch in Erzählungen 3- bis 6-jähriger Kinder1 Strutzmann Elisabeth* & Katrin Bartl*

# & Nina Grünberger* &

Ralf Vollmann* * Karl-Franzens Universität Graz # Medizinische Universität Graz

1. Hintergrund

Im Zuge der Sprachentwicklung ist der Erwerb der Erzählfähigkeit eine wichtige Komponente, welche von den Kindern erst erlernt werden muss. Essentielle Parame-ter für das verständliche Erzählen einer Geschichte sind Kohäsion (sprachliche Merk-male des Zusammenhalts) und Kohärenz (inhaltliche Merkmale des Zusammenhalts). Ein wichtiges Mittel, um Kohäsion zu erzeugen, ist laut de Beaugrande und Dressler 1981 der Tempusgebrauch. Durch die unterschiedliche Verwendung der Tempora kann zwischen Vor-, Gleich- und Nachzeitigkeit differenziert werden. Ausgehend von der Theorie von Reichenbach 1947 gibt es drei Parameter – Sprechzeitpunkt (Zeitpunkt des Sprechens), Ereigniszeitpunkt (Zeitpunkt des Ereignisses) und Refe-renzzeitpunkt (Zeitpunkt, von dem aus die jeweilige Situation betrachtet wird) – und je nach Einordnung dieser drei Punkte auf der linearen Zeitachse ergeben sich die unterschiedlichen Tempora. Bei Präsens überlappen sich diese drei Punkte, bei Perfekt überlappt sich der Sprechzeitpunkt mit dem Referenzzeitpunkt, und der Ereignis-zeitpunkt liegt vor dieser Überlappung, bei Präteritum überlappen sich der Referenz- und der Ereigniszeitpunkt und diese Überlappung liegt vor dem Sprechzeitpunkt. Die Theorie von Reichenbach wird unter anderem auch von Comrie 1985 und Klein 1994 weitergeführt.

Abb. 1: .Tempora: Beispiele der Anordnungen der drei Zeitpunkte entlang der Zeitachse (analog Reichenbach 1947: 290).

1 Diese Forschungsarbeit wird vom Land Steiermark unterstützt (Projekt “Wie Kinder erzählen – Text- und Erzählkompetenz im Vorschulalter: Eine Voraussetzung für den schulischen Er-folg”), sowie auch von der Stadt Graz (Projekt “Von 1 bis 13: Kinder erzählen, Kinder lesen”), und sie steht im Rahmen des internationalen Projekts “Communicative Development Invento-ries (CDI).

Elisabeth Strutzmann et al. ______________________________________________________________________

40

Ziel der Arbeit war es herauszufinden, welche Tempora beim Erzählen einer Bilder-geschichte bei 3- bis 6-jährigen Kindern vorkommen, welche Funktionen diese Tem-pora in der Geschichte haben und ob sie die Funktion des Diskurszusammenhangs stützen.

2. Tempus im Diskurs

Der Tempusgebrauch gilt als einer der Hauptparameter in der Mikrostruktur von Texten. Botting 2002 konnte in ihrer Studie zeigen, dass der Tempusgebrauch mit dem Grammatikverständnis korreliert, denn Kinder mit Tempusfehlern schnitten auch bei den formalen Sprachtests (TROG, (Bishop 1982)), und hier vor allem beim Grammatikverständnis), schlechter ab.

Während Kinder mit pragmatischen Beeinträchtigungen (PLI, pragmatic lan-guage impairment) und Kinder mit einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung (SLI, specific language impairment) in Nacherzählungen gleich viele Fehler bei der Tempusmarkierung machen, verfünffacht sich dieser Wert in Bildergeschichten bei PLI-Kindern, und bei SLI-Kindern tritt dieser Effekt sogar sieben Mal so häufig auf (Botting 2002: 9f.), während 11-jährige, sich normal entwickelnde Kinder in Bezug auf den Tempusgebrauch fehlerfreie Geschichten erzählen (Simkin & Conti-Ramsden 2001).

2.1. Theorie von Weinrich

Die Theorie von Weinrich 1964, 1993 beschreibt den Tempusgebrauch im Diskurs. Aus diesem Grund soll sie an dieser Stelle kurz erwähnt werden.

Weinrich 1964, 1993 geht prinzipiell von zwei Kategorien aus, in welche die un-terschiedlichen Tempora des Deutschen unterteilt werden können: das Tempus-Re-gister (=Sprechhaltung) und die Tempus-Perspektive. Zusätzlich gibt er eine diskurs-pragmatische Funktionsbeschreibung der Tempora als Reliefgebung (Weinrich 1964) an.

Das Tempus-Register kann durch zwei Einstellungen ausgedrückt werden: das Besprechen und das Erzählen (Weinrich 1993: 198 ff.). Sie erfüllen somit unterschied-liche Funktionen. Zu den Tempora der besprochenen Welt zählen das Präsens, das Perfekt und das Futur und zu den Tempora der erzählten Welt zählen das Präteritum und das Plusquamperfekt.

Abb. 2: Übersicht über die Tempus-Register (analog Weinrich 1993: 198).

Tempusgebrauch in Erzählungen 3- bis 6-jähriger Kinder ______________________________________________________________________

41

Die zwei unterschiedlichen Register unterscheiden sich einerseits in ihren semanti-schen Merkmalen und andererseits in ihrer Rezeptionshaltung und bilden somit eine “binäre Opposition” (Weinrich 1993: 198). Tempora des Besprechens signalisieren laut Weinrich eine gespannte Rezeptionshaltung, während Tempora des Erzählens (auch “narrative Tempora” genannt) eine entspannte Rezeptionshaltung einnehmen. Prä-sens, Perfekt und Futur verlangen mehr Aufmerksamkeit vom Hörer, da die “Gel-tungsweise der Prädikation” (Weinrich 1993: 199) mit den jeweiligen Tempora ge-troffen wird. Jede Prädikation kann bejaht oder verneint werden, das heißt, dass sie vom Hörer auf eine Antwort hinzielt. Somit erhält der Hörer das Recht den Textfluss des Erzählers zu unterbrechen. Dies wird mit dem semantischen Merkmal {Bereit-schaft} des besprechenden Tempusregisters ausgedrückt.

Anders verhält es sich bei den Tempora der erzählten Welt. Präteritum und Plus-quamperfekt sind durch das semantische Merkmal {Aufschub} gekennzeichnet. Dies bedeutet, dass diese Tempora zwar ebenfalls Reaktionen des Hörers steuern, da sie auch einen festen Geltungsanspruch (durch den Indikativ) haben, doch durch die Kennzeichnung als narrative Tempora ist dem Hörer intuitiv klar, dass aufgrund der Detailliertheit einer Erzählung sich diese erst entfalten muss.

Des weiteren unterteilt Weinrich die Tempora der deutschen Sprache in ver-schiedene Perspektiven (Weinrich 1993: 207). Hierfür unterscheidet er zwischen einer Neutral- (beziehungsweise Null-) Perspektive, wozu er Präsens und Präteritum zählt, und einer Differenz-Perspektive, welche wiederum in eine Rück-Perspektive (hierzu zählt Perfekt und Plusquamperfekt) und eine Voraus-Perspektive (Futur) unterteilt wird. Dies ermöglicht den Ausdruck von Vor-, Gleich- und Nachzeitigkeit.

Abb. 3: Übersicht über die Tempus-Perspektiven (analog Weinrich 1993: 208).

Die genannten Tempus-Merkmale führen nun in unterschiedlicher Kombination zu den Tempora der deutschen Sprache. Präsens ist das am häufigsten verwendete Tem-pus. Es drückt eine Nullperspektive aus, und ermöglicht somit keine Vor-oder Rück-schau, da ihm dieses semantische Merkmal fehlt. Präsens gehört zum besprechenden Tempus-Register und verlangt deshalb vom Hörer eine gespannte Rezeptionshaltung. Es wird laut Weinrich (1993: 213) häufig für performative Sprechakte verwendet. Handlungen, welche in naher Zukunft stattfinden sollen, werden auch mit Präsens

Elisabeth Strutzmann et al. ______________________________________________________________________

42

ausgedrückt. Das Präsens jedoch kann auch aus seiner besprechenden Funktion her-vortreten und eine erzählende Funktion in Form des historischen Präsens einnehmen.

Im Gegensatz dazu steht das Präteritum, welches zu den erzählenden Tempora gehört. Zwar drückt es wie das Präsens eine Nullperspektive aus, jedoch unterschei-den sich die beiden Tempora in ihren semantischen Merkmalen und somit in der Ein-stellung der Geltungsweise einer Prädikation.

Der Bedeutungsunterschied zwischen dem Präsens und dem Präteritum, zwi-schen {Bereitschaft} und {Aufschub}, ist also ein Gegensatz der Einstellung, nicht not-wendig der Zeit. Anders ausgedrückt: Es handelt sich um einen (sprach-) anthropo-logischen, nicht einen chronologischen Unterschied. Mit dem erzählenden Tempus Präteritum erzählt man Geschichten, das ist seine erste und prototypische Funktion (Weinrich 1993: 219).

Das Präteritum dient dem Fortlauf einer Handlung innerhalb einer Geschichte und stellt häufig, aber nicht immer, ein Vergangenheitstempus dar, denn diese Funktion kann auch von Perfekt, Plusquamperfekt oder vom historischen Präsens übernommen werden.

Das Perfekt, welches eine klammerbildende Tempusform ist, besitzt das semanti-sche Registermerkmal {Bereitschaft}, da es zu den besprechenden Tempora gehört, und die Perspektive der {Rückschau}. Es dient somit der Beziehung auf Vergangenes. Der Unterschied zum Präteritum ist aber jener, dass das Perfekt nicht erzählend wirkt, sondern “[…] sich im Rückgriff auf das Gedächtnis in den Informationshaus-halt einer besprechenden Situation ein [spielt]” (Weinrich 1993: 224). Perfekt wird eher punktuell und zusammenfassend verwendet. Eine wichtige Funktion dieses Ver-gangenheitstempus ist die Verbindung zwischen erzählenden und besprechenden Situationen in einem Text. “Die Vergangenheit, auf die man sich mit dem Perfekt beziehen kann, ist folglich eine Vergangenheit, die zur Gegenwart gehört, weil sie zu deren Geltungsbereich gehört und in ihr nachwirkt” (Weinrich 1993: 224).

Das Plusquamperfekt, auf welches hier nicht näher eingegangen wird, kenn-zeichnet sich durch das Register-Merkmal {Aufschub} und das Perspektiven-Merkmal {Rückschau}. Seine nahezu alleinige Funktion in Erzählungen ist der Ausdruck einer Vorgeschichte, also die Darstellung der Vorzeitigkeit der Vergangenheit (Weinrich 1993: 227).

Futur zeichnet sich durch das Register-Merkmal {Bereitschaft} und das Perspek-tiven-Merkmal {Vorausschau} aus. Es ist somit das “Tempus der Erwartung” (Wein-rich 1993: 231) und “der Prognose” (Weinrich 1993: 232). Wenn in einer Erzählung aber keine vorausschauende Perspektive eingenommen wird, steht an Stelle des Futurs eine Präsensform.

Eine dritte Kategorisierung der Tempora ist die Reliefgebung. Sie ist kontext-orientiert und geht aus dem konstrastiven Gebrauch der Tempora hervor. Prinzipiell wird eine Erzählung in Einleitung, Erzählkern und Ausleitung unterteilt. Weinrich merkt an, dass durch den unterschiedlichen Tempusgebrauch innerhalb dieser Erzähl-teile ein Relief entsteht. Dieses Relief teilt eine Erzählung wiederum in einen Vor-dergrund und in einen Hintergrund (der Vordergrund einer Erzählung ist der Kern, den Hintergrund stellen Ein- und Ausleitungen dar). Dieser Theorie zufolge sind erzählende Tempora die Tempora des Hintergrunds und beschreibende Tempora die

Tempusgebrauch in Erzählungen 3- bis 6-jähriger Kinder ______________________________________________________________________

43

Tempora des Vordergrunds (Weinrich 1964: 159). Die genaue Mischung und Ver-teilung der Tempora innerhalb einer Geschichte bleiben aber immer dem Erzähler überlassen.

2

2.2. Temporalität in verschiedenen Textsorten

Die Tempusverwendung ist laut Becker 2005 von der jeweiligen Textsorte abhängig. Hierfür untersuchte sie Kinder mit fünf, sieben und neun Jahren in Bezug auf Erleb-niserzählung, Bildergeschichte, Fantasiegeschichte und Nacherzählung. Aus der Stu-die ging hervor, dass in kindlichen Erlebniserzählungen vor allem Perfekt, vereinzelt aber auch szenisches Präsens verwendet wird. Bildergeschichten werden meist mit Präsensformen erzählt, in ihrem gesamten Korpus war keine Präteritumform zu finden und nur vereinzelte Perfektformen bei den neunjährigen Kindern. Die Fanta-siegeschichten wurden mit zunehmendem Alter häufiger mit Präteritum erzählt. In den Nacherzählungen der fünfjährigen Kinder konnten schon Präteritumformen ge-funden werden, insgesamt aber lag hier bei allen Kindern die höchste Präteritum-frequenz vor.

Abb. 4: Tempusgebrauch in vier Textsorten (aus Becker 2005: 38).

Erzählform Phraseologismen Tempusgebrauch

Erlebniserzählungen allgemein keine, vereinzelt bei den Neunjährigen

Perfekt, vereinzelt szenisches Präsens

Bildergeschichte keine Präsens, kein Präteritum, ver-einzelt Perfekt bei den Neun-jährigen

Fantasiegeschichte mit dem Alter zunehmender Gebrauch narrativer Formeln

mit dem Alter deutlich zu-nehmender Präteritumge-brauch

Nacherzählung Übernahme konkreter Formen oder parallel gebildeter Phrasen

schon bei den Fünfjährigen Präteritum, insgesamt die höchste Präteritumfrequenz

Die Entwicklung vom Präsens zu einem Vergangenheitstempus hin ist laut Becker (2005: 83) also keine lineare Entwicklung und somit stellt die Entwicklung des Tem-pusgebrauchs “keine narrationsgebundene Entwicklung” dar (Becker 2005: 85).

3. Exkurs: Erwerb der Vergangenheitstempora

Bereits Stern 1907 zeigte in ihren Beobachtungen der eigenen Kinder, dass die (deutschen) Tempora zu unterschiedlichen Zeitpunkten erworben und verwendet werden. Mit etwa zwei Jahren wird das Partizip Perfekt zum Ausdruck von Ver-

2 Prinzipiell werden im Hintergrund die Einführung der Aktanten, Beschreibungen, Re-flexionen und ähnliches ausgedrückt. Dies sind obligatorische Parameter einer Einleitung und einer Ausleitung einer Geschichte.

Elisabeth Strutzmann et al. ______________________________________________________________________

44

gangenheit verwendet, erst anschließend kommt es zur Verwendung des Perfekts (im Laufe des dritten Lebensjahres). Präteritum wird nur in der Form “war” (mit ungefähr vier Jahren), welche eine Variante für das Perfekt “gewesen sein” darstellt, ver-wendet. Erst im fünften Lebensjahr wird das Präteritum zielsprachlich korrekt ange-wendet (Weinrich 1964: 68f). Diese Meinung gilt nun seit über 100 Jahren als bestä-tigt.

Aksu-Koç (1994: 333f.) stellte für das Türkische fest, dass Kinder mit 03;00 zwi-schen den Tempora differenzieren können, mit 05;00 das primäre Erzähltempus auf-rechterhalten können und mit 09;00 Aspektunterschiede zielsprachlich korrekt an-wenden können.

4. Sprachvergleich

In einer sprachübergreifenden Studie (Englisch, Deutsch, Spanisch, Hebräisch und Türkisch; geleitet von Berman & Slobin 1994) wurde der Tempusgebrauch und seine Funktionen in mehreren Sprachen mithilfe der “Frog Story” untersucht. Tempus ist ein strukturelles Charakteristikum für die Erzeugung von Kohäsion in einer Nar-ration (Berman & Slobin 1994: 109f). Es wurden jeweils die dominanten Erzähltem-pora, Tempuswechsel und die Aspektverwendung analysiert. Die Definition eines Erzähltempus variiert aber bei den unterschiedlichen Autoren: so sieht Aksu-Koç 75% der Sätze in einer Zeitform innerhalb einer Geschichte als genügend an, während Sebastián & Slobin ein Tempus erst ab einer Verwendung von mindestens 80% als Erzähltempus ansehen. Der typologische Unterschied der Sprachen ist auffällig (siehe Abbildung 5), aber es liegen auch ebenso sprachunabhängige Ergebnisse (vor allem in Bezug auf das primäre Erzähltempus) vor.

Abb. 5: Tempus-/Aspektformen in den jeweiligen Sprachen (aus Berman & Slobin 1994: 115).

Spanisch Englisch Türkisch Deutsch Hebräisch LEGENDE

PRS PRS HAB PRS PRS PRS: Präsens

PRS PRG PRS PRG PRS PRG PRG: Progressiv

PRS PRF PRS PRF ― PRS PRF PFV: Perfektiv

PST PRF PST PRF D.PST PRF/ M.PST PRF

PST PRF IPV: Imperfektiv

PFV PST D.PST/ M.PST

PST PST HAB: Habitual

IPV D./M.PST: Sonder-

formen im Türkischen

PFV PRG PST PRG D.PST PRG/ PST: Past

IPV PRG M.PST PRG

It is clear that the five languages lie on a line, with Spanish presenting the

greatest diversity and German the least, while Hebrew has no diversity at all.

English and Turkish lie somewhere in the middle of this line. They both mark

Tempusgebrauch in Erzählungen 3- bis 6-jähriger Kinder ______________________________________________________________________

45

progressive and perfect in the past, and English has a present perfect. Turkish

does not have a distinct present perfect form, […], however, it has twin

versions of each of the past forms, depending on mode. (Berman & Slobin 1994:

115)

Zur Verwendung von Präsens oder Perfekt wird angegeben, dass entweder Präsens als Vergegenwärtigung der Geschichte oder das ‘narrative Perfekt’ (Berman & Slobin 1994: 112 f.) verwendet werden kann. Futurformen seien in Bildergeschichten nicht sinnvoll, da eine vorliegende Geschichte im Normalfall einer Erzählung nicht in die Zukunft gesetzt wird. Perfekt sei in Erzählungen die unmarkierte weil häufigere Form, wird aber häufig durch Präsens ersetzt (historisches Präsens) (Berman & Slobin 1994: 131).

Bei den englischen Daten wurde gezeigt, dass Kinder mit 03;00 kein eindeutiges Erzähltempus verwenden, aber dass die Tendenz eher zum Präsens hingeht. Mit 04;00 werden Präsens und Perfekt in gleichem Ausmaß verwendet. Kinder ab 05;00 verwen-den eher Perfekt für die Erzählung der Geschichte, während die adulte Kontrollgrup-pe Präsens als primäres Erzähltempus verwendete. Ebenso haben die Tempuswechsel in den unterschiedlichen Altersgruppen verschiedene Funktionen: mit 05;00 haben die auftretenden Tempuswechsel meist lokale Funktionen (dienen also dem Ausdruck von Vorzeitigkeit), während Erwachsene Tempuswechsel aufgrund der Trennung des Hauptstranges vom Nebenstrang anwenden. Ab 09;00 nehmen die Tempuswechsel wieder ab und ebenso wurden in dieser Altersstufe Phraseologismen wie “once upon a time” eingeführt.

Im Spanischen gibt es mehrere Aspektunterschiede, welche in kindlichen Narra-tiven eine wichtige Rolle spielen. Bezüglich des Erzähltempus konnte gezeigt werden, dass Kinder mit 3000 meist Präsens verwenden, da sie die Geschichten Bild-für-Bild erzählen. Mit 04;00 wird häufiger Perfekt als mit 05;00 verwendet. Ab 09;00 gibt es keine Vermischungen der Erzähltempora mehr.

Das Hebräische ist gekennzeichnet durch wenige Tempora und Aspekte. In kind-lichen Narrativen wird nur Präsens und Perfekt verwendet. Bezüglich des Erzähl-tempus konnte festgestellt werden, dass der Perfektgebrauch mit zunehmendem Alter der Kinder steigt. Erst ab 11;00 konnte eine leichte Tendenz für Präsens als Erzähl-tempus gezeigt werden. Perfekt wurde für die Trennung des Hauptstranges und für dessen Hervorhebung verwendet (anzumerken ist aber, dass es sich hier eher um den perfektivischen Aspekt handelt). Tempuswechsel bis 04;00 sind semantisch bedingt durch das jeweilige Item. Mit 05;00 wurden Tempuswechsel, welche hier lexikalisch bedingt sind, nur mehr im Hauptteil gefunden.

Aksu-Koç stellte für das Türkische fest, dass Kinder mit 03;00 entweder Präsens oder Mischungen von Präsens und Perfekt als Erzähltempus verwenden. Mit 05;00 verwendet ein Drittel der Kinder Perfekt für diese Funktion und mit 09;00 gibt es eine starke Tendenz zu Präsens in Bezug auf das Erzähltempus. Tempuswechsel dienen vor allem der persönlichen Meinung und der Vorzeitigkeit. Der Wechsel der Tempus-formen nimmt mit zunehmendem Alter ab und ist aspektuell bedingt. Sie stellte eben-so fest, dass Kinder, welche Tempuswechsel anwendeten, auch besser strukturierte Erzählungen darboten.

Elisabeth Strutzmann et al. ______________________________________________________________________

46

5. Empirische Untersuchung

Die empirische Studie, welche in Vollmann et al. (dieser Band) vorgestellt wurde, wurde auch als Datengrundlage für die folgende Analyse verwendet. Die Daten der 54 Kinder zwischen 03;00 und 06;00, welche in sechs Altersgruppen unterteilt wurden, wurden in Bezug auf den Tempusgebrauch, Tempuswechsel, Verwendung von Tem-poraladverbien und den Ausdruck von Gleichzeitigkeit in ihren Erzählungen untersucht.

In Bezug auf den Tempusgebrauch gibt es zu den drei verwendeten Geschichten folgendes zu sagen: (i) Geschichte 1 (Luftballongeschichte) wurde von den Kindern gut verstanden und wiedergegeben. (ii) Geschichte 2 (Alptraumgeschichte) wurde von den Kindern am wenigsten verstanden beziehungsweise kommt es hier zu gro-ßen Unterschieden in den Erzählungen. Probleme stellen zum Beispiel das erste Bild dar, welches teilweise nicht richtig erkannt wird (vgl. Bartl et al. 2010). Allgemein wird die Geschichte 2 am kürzesten und hinsichtlich der Tempusverwendung auch am wenigsten abwechslungsreicherzählt. Die Geschichte 2 wird vor allem von den jüngeren Kindern durch eine reine Bildbeschreibung dargestellt. (iii) Geschichte 3 (Karottengeschichte) wird am ausführlichsten und am genauesten erzählt und sie weist auch die höchste mittlere Äußerungslänge (MLU, mean length utterance) auf. Hier treten auch die meisten unterschiedlichen Tempusformen auf.

6. Analyse

In den auszuwertenden 279 Geschichten kommen 1959 Verbformen vor. Nach Häufig-keit geordnet ergibt sich folgende Reihung: Präsens (74,45%, 1457 Formen), verblose Sätze (15,44%, 302 Formen), Perfekt (4,6 %, 90 Formen), Infinitivkonstruktionen (2,7%, 53 Formen), Präteritum (1,58%, 31 Formen), nicht auswertbar (0,72%, 14 Formen), Perfekt Partizip (0,2%, 4 Formen), Imperativ (0,2%, 4 Formen), Plusquamperfekt (0,05%, 1 Form) und Konjunktiv (0,05%, 1 Form). Zählt man die verblosen Sätze zu den Prä-sensformen, ergeben sich rund 90% Präsensformen im Vergleich zu 6,4% Vergangen-heitstempora. 11 Kinder verwendeten Präteritum und von 27 Kindern wurde Perfekt verwendet). Präsens ist in allen Altersgruppen das primäre Erzähltempus und dient als unmarkierte Tempusform der reinen Personenkongruenz.

Laut Behr & Quintin (1996: 146f.) haben verblose Sätze alle notwendigen Äuße-rungsparameter und sind durch Kohäsion aus dem Kontext heraus verständlich (Behr & Quentin 1996: 147). Verblose Sätze werden von allen Kindern, besonders aber von den jüngeren, häufig als Antwort auf eine Frage geäußert. Somit wird das Verb des Interviewers vom Kind als Ellipse übernommen, so dass es zu einer vollständigen Antwort kommt.

Tempusgebrauch in Erzählungen 3- bis 6-jähriger Kinder ______________________________________________________________________

47

Bsp. 1: Kind G41F07, Ausschnitt aus der Alptraumgeschichte

(1) F07 viele Geister. VERBLOS EP ok, und dann, EP was passiert’n hier? EP wer kommt’n da? F07 Bär Mama. VERBLOS EP genau. F07 Bär Mädchen. VERBLOS EP und was tun sie da? F07 kuscheln. INF:kuscheln

Beispiel 1 stammt von einem 03;05-jährigen Mädchen. Jeder Aktant wird hier nur mittels einer Nominalphrase und somit verblosen Sätzen eingeführt. Auch die einzel-nen Beziehungen, in welcher die Protagonisten zu einander stehen, werden verblos beschrieben (“Bär Mama” bedeutet, dass die Mutter mit dem Bären kommt. “Bär Mädchen” könnte bedeuten, dass das Mädchen den Bären von der Mutter erhält. – Beispiele dieser Art lassen sich aber auch in den älteren Gruppen finden.

Bsp. 2: Kind G69M53, Alptraumgeschichte

(2) M53 da weint sie. PRS:3S:weinen M53 äh, wegen (?) xxx gruselt xxx PRS:3S:gruseln M53 weiß nicht, was das ist. PRS:1S:wissen

PRS:3S:sein M53 Geister. VERBLOS

Dieses Beispiel (2) stammt von einem 05;09-jährigen Jungen. Die Geister, welche in Zeile 18896 noch nicht erkannt wurden, wurden kurze Zeit später verblos eingeführt. Die Antworten der Kinder sind somit nur durch Einbeziehen des situationellen und/oder kontextuellen Umfeldes (vgl. Behr & Quintin 1996: 149) verständlich.

Am Beginn von Erzählungen sind verblose Sätze “texteröffnend” (Behr & Quin-tin 1996: 175), das heißt sie dienen einer Art der Aktanteneinführung (im Falle von Nominalphrasen), oder auch einer Einführung in Ort und Zeit (“und dann”). Nach Weinrich (1993) sind verblose Sätze Einleitungen in den Hauptstrang einer Geschich-te. In verblosen Sätzen wird die Tempusmarkierung elliptisch ersetzt und es gilt die in der Äußerung zuvor stehende Tempusform weiter (somit ist das Prinzip des pro-gressiven Bedeutungsaufbaues von Von Stutterheim 1987 gegeben). Ein verbloser Satz kann auch durch Temporaladverbien markiert sein. Durch deren Einführung kann zumindest auf Vorzeitigkeit, Gleichzeitigkeit oder Nachzeitigkeit geschlossen werden.

Verblose Sätze traten bei den 03;00 bis 03;06-Jährigen zu rund 30% auf, wurden aber mit zunehmendem Alter immer seltener verwendet und durch Präsensformen er-setzt. Zusammenfassend kann zum Präsensgebrauch gesagt werden, dass er – abge-sehen von den Kindern der Gruppe 1 und auch teilweise bei jenen der Gruppe 2 – re-lativ konstant zwischen 80 und 85% lag. In den A-Versionen fand man quasi idente

Elisabeth Strutzmann et al. ______________________________________________________________________

48

Zahlen ab der Gruppe 4 (04;06-04;11;30), in den B-Versionen pendelte sich der regel-mäßige Präsensgebrauch aber bereits bei Gruppe 3 (04;00-04;05;30) ein (was auf eine geringere Verwendung von verblosen Sätzen zurückzuführen ist). Bei den Kindern der Gruppe 6 erkannte man einen leichten Abfall bei den Präsensformen in Vergleich zu den jüngeren Gruppen, dafür aber einen signifikanten Anstieg der Vergangen-heitstempora.

Perfektformen traten signifikant bereits in der ersten Gruppe, und dann erst wie-der in Gruppe 4 und Gruppe 6 auf, deren prozentueller Anteil nahm aber vor allem in den A-Versionen in der ältesten Gruppe durch Einführen des Präteritums ab. In den B-Versionen der Gruppe 6 fand man Perfektformen sogar zu 10,29%.

Präteritum wurde erst in Gruppe 6 relevant (vereinzelte Formen können in Gruppe 1, 3 und 4 nachgewiesen werden) und hier besonders in den B-Versionen

3 ge-

äußert.

7. Tempuswechsel

Jeder Wechsel vom Präsens zum Perfekt oder zum Präteritum hin ist eine Abwei-chung von der unmarkierten Form und sollte somit eine Funktion erfüllen. Beim Per-fekt werden viele Funktionen aufgezeigt, im Präteritum nur sehr wenige. Die Tem-puswechsel im vorliegenden Korpus wurden analog der Studie von Bamberg 1987 analysiert.

18% aller Tempuswechsel dienten der Problemdarstellung. Das Problem der je-weiligen Geschichte (das Davonfliegen des Luftballons, der Moment des Alptraums, das Stehlen der Karotten durch das Pferd) wurde somit in knapp jeder fünften Ge-schichte im Perfekt geäußert, wenn die zuvor genannte Einleitung im Präsens steht. Dieser Wechsel trat in allen Gruppen, am stärksten jedoch in Gruppe 1 auf. Perfekt wird an dieser Stelle meist durch telische, resultative oder punktuelle Verben be-schrieben und stellt daher eine Verwendung des lexikalischen Aspekts dar.

Bsp. 3: Kind G55M33, Luftballongeschichte

(3) M33 ähm, der zeigt auf den da. PRS:3S:zeigen 1 M33 und dann den Luftballon, VERBLOS 1 M33 den hat er. PRS:3S:haben 1 M33 dann- VERBLOS 2 M33 dann hat er’n, PRS:3S:haben 2 M33 dann ist er weggeflogen. PRF:3S:ist+ weggeflogen 3 M33 und da weint er. PRS:3S:weinen 4

3 Unserer Meinung nach geht es hier aber bereits um literate Strukturen, welche durch die Phrase des Interviewers “Erzähl mir die Geschichte bitte noch einmal” gefordert werden. Manche Kinder (besonders die älteren) in der sechsten Gruppe erzählen die B-Versionen länger und auch genauer und verwenden in diesen Versionen auch häufiger Präteritum- und weniger Präsensformen.

Tempusgebrauch in Erzählungen 3- bis 6-jähriger Kinder ______________________________________________________________________

49

17% aller Tempuswechsel im Korpus dienen dem Abschluss einer Geschichte. Dies tritt in allen Gruppen auf und stellt eine Kernfunktion des Perfekts in kindlichen Nar-rativen dar. Quasthoff (1980: 228) gibt an, dass der Detailliertheitsgrad einer Ge-schichte entscheidend für den Gebrauch der Tempora ist. Der Kern der Erzählung ist detailliert und aus diesem Grund wird Präsens verwendet, während die Einleitung oder der Schluss meist nur der Einführung der Aktanten oder dem Abschluss dient und somit nicht detailliert ist. Aus diesem Grund werden Einleitungen und Abschlüs-se in Nicht-Präsensformen geäußert. Auch Weinrich (1993: 158f.) spricht von einer Reliefgebung einer Geschichte, welche besagt, dass beschreibende Tempora wie Prä-teritum dem Hintergrund einer Erzählung dienen (das heißt in Ein- und Ausleitungen vorkommen) und dass erzählende Tempora wie Präsens der Vordergründigkeit einer Geschichte dienen (das heißt, dass sie im Hauptteil vorkommen).

Perfekt übernimmt in unserem Korpus diese Funktion für den Abschluss. Bam-berg (1987: 152) konnte diese Funktion von Perfekt auch in seinem Korpus finden und erklärt sie dadurch, dass eine vereinfachte Struktur am Frame- beziehungsweise Sze-nenende durch einen Tempuswechsel zusammengehalten wird ('thematic connected-ness').

Bsp.4: Kind G43M10, Karottengeschichte

(4) M10 der tut die da einistecken [=hineinst.]. PRS M10 der Hase. M10 und der esst die dann der Hase. PRS M10 und dann und dann hoppelt er da weg der Hase PRS M10 und dann nimmt er den mit zuhause. PRS M10 den Korb. M10 und dann ist er schon zuhause PRS M10 und hat er noch nicht aufgessen. PRF

Weiters dienen Tempuswechsel für den Ausdruck der Vorzeitigkeit. Diese Funktion von Perfekt sollte nach deskriptiven Grammatiken die Hauptfunktion des Vergangen-heitstempus sein, doch in kindlichen Narrativen übernimmt sie diese Funktion nur zu 13%. Viel mehr übernimmt Perfekt in vorschulischen Erzählungen Funktionen der Ko-häsion und der Kohärenz und hält so die Aussage zusammen.

12% aller Tempuswechsel im Korpus konnte in kausalen Erklärungen gefunden werden. Hier spielt besonders die Wahl der Verben eine Rolle bei der Entscheidung welches Tempus verwendet wird. Kausale Erklärungen in der Luftballongeschichte standen am häufigsten im Perfekt, das heißt, dass diese Funktion eines Tempuwech-sels kontextabhängig ist. Bamberg (1987) fand diese Möglichkeit des Tempuswechsels häufig bei Kindern zwischen 05;00 und 06;00.

Bsp.5: Kind G38F05, Luftballongeschichte

(5) F05 der Mann hat viele Luftballone. PRS F05 ist der kleine Mann. PRS F05 der mag sein Luftballon haben. PRS

Elisabeth Strutzmann et al. ______________________________________________________________________

50

F05 trägt er ihn weg. PRS F05 der fliegt davon. PRS F05 weil der Mann nicht gut festgehalten hat. PRF

8% aller Tempuswechsel dienten der Bildwiederholung. In allen Fällen, in welchen ein Bild wiederholt wurde, steht die Wiederholung, also das erneute Erzählen eines Bildes innerhalb der Geschichte, im Perfekt. Präteritum übernimmt diese Funktion nicht. Dieses Phänomen tritt in der Gruppe 1, 2, 3 und 4 auf. Hier übernimmt Perfekt also die Funktion der Restrukturierung der Geschichte ('Readjustment' nach Bamberg 1987: 160).

Bsp. 6: Kind G62F44, Luftballongeschichte

(6) F44 hatte er, hatte ihm den Luftballon gegeben. PQP F44 und dann ist er Gub [=Bub] spazieren gegangen. PRF F44 dann ist er, dann ist er weggeflogen. PRF F44 und dann fangt er an zu weinen, PRS F44 weil er weggeflogen ist. PRF

Wechsel von Präsens zu Präteritum hin waren seltener, erfüllten aber eine spezifische Funktion: Präteritum diente der Einleitung. Wie oben erwähnt, stellt diese Präteri-tumverwendung nach Quasthoff (1980: 228) und Weinrich (1993: 158f.) eine diskurs-pragmatische Funktion des Tempus dar.

Bsp. 7: Kind G67F49, Karottengeschichte

(7) F49 da Hase wollte seine Karotte reingeben, PRET F49 aber nachher kommt das Pferd PRS F49 und ist stolz, PRS F49 dass er die Karotten hat. PRS F49 und dann lauft das Pferd davon mit seine Karotten. PRS F49 und dann isst er’s. PRS F49 und dann ist er voll böse. PRS

Abb. 6: Vergleich Einleitung/Abschluss von Perfekt mit Präteritum (Angaben in Pro-zent)

Tempusgebrauch in Erzählungen 3- bis 6-jähriger Kinder ______________________________________________________________________

51

Die Abbildung 6, welche den prozentuellen Anteil von Eröffnung mit Perfekt und Präteritum und dem Abschluss mit Perfekt zeigt, lässt eindeutig erkennen, dass der Abschluss einer Geschichte eine diskurspragmatische Funktion des Perfekts in kindli-chen Narrativen darstellt. Die Eröffnung mit Perfekt ist bis auf die Ausnahme in Gruppe 5 weniger relevant. Die Eröffnung einer Geschichte mit Präteritum ist ab der Gruppe 4 eine wichtige Funktion dieses Vergangenheitstempus.

8. Ausblick

Mit der vorliegenden Untersuchung konnte gezeigt werden, dass bis zum Alter von vier Jahren einige wichtige Parameter in Bezug auf den Tempusgebrauch in kindli-chen Narrativen erlernt werden (wie z.B. die Präteritumverwendung und der Umgang mit literaten Elementen). Neben der grammatischen Kompetenz entwickeln sich auch Aspekte pragmatischer Kompetenz (situationsangepasster Gebrauch von Kohäsions- und Kohärenzmittel wie z.B. die Wahl des richtigen Tempusregisters), die für den Schriftspracherwerb essentiell ist. Der Erwerb dieser Parameter bis zum Schuleintritt ist eine Grundvoraussetzung für den Schulerfolg. Ziel unseres Projektes ist es in weiterer Folge ein Screeningverfahren zu erstellen, welches diese pragmatische Kompetenz überprüft. Der Analyse zufolge ist der Gebrauch der Tempora unter anderem einer dieser Parameter und zeigt die narrative Kompetenz auf.

9. Bibliographie

Aksu-Koç, Ayhan A. (1994). Development of Linguistic Forms: Turkish. In Ruth Ber-man & Dan Isaac Slobin (eds.), Relating events in narrative: a crosslinguistic de-velopmental study. Hillsdale, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates, pp. 329-388.

Bamberg, Michael G. (1987). The acquisition of narratives. Learning to use language. Berlin; New York, Amsterdam: Mouton de Gruyter.

Bamberg, Michael G. (1994). Development of Linguistic Forms: German. In Ruth Ber-man & Dan Isaac Slobin (eds.), Relating events in narrative: a crosslinguistic de-velopmental study. Hillsdale, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates, pp. 189-238.

Beaugrande, Robert-Alain de & Dressler, Wolfgang Ulrich (1981). Einführung in die Textlinguistik. Tübingen: Niemeyer (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissen-schaft, Band 28).

Becker, Tabea (2001). Kinder lernen erzählen: zur Entwicklung der narrativen Fähig-keiten von Kindern unter Berücksichtigung der Erzählform. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren.

Becker, Tabea (2005). Mündliche Vorstufen literaler Textentwicklung: vier Erzählfor-men im Vergleich. In Helmuth Feilke & Regula Schmidlin (eds.), Literale Textent-wicklung. Untersuchungen zum Erwerb von Textkompetenz. Frankfurt/Main, Wien: Lang, pp. 19-42.

Elisabeth Strutzmann et al. ______________________________________________________________________

52

Behr, Irmtraud & Quintin, Hervé (1996). Verblose Sätze im Deutschen. Zur syntakti-schen und semantischen Einbindung verbloser Konstruktionen in

Textstrukturen. Eurogermanistik; 4. Tübingen: Stauffenburg-Verlag. Berman, Ruth (1988). On the Ability to Relate Events in Narrative. Discourse Pro-

cesses, 11, 469-497. Berman, Ruth & Slobin, Dan Isaac (eds.) (1994). Relating events in narrative: a cross-

linguistic developmental study. Hillsdale, New Jersey: Lawrence Erlbaum Asso-ciates.

Berman, Ruth & Neeman, Yonni (1994). Development of Linguistic Forms: Hebrew. In Ruth Berman & Dan Isaac Slobin (eds.), Relating events in narrative: a crosslin-guistic developmental study. Hillsdale, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates, pp. 285-328.

Bishop, Dorothy V.M (1982). Test for reception of grammar. Published by author at Manchester University.

Botting, Nicole (2002). Narrative as a tool for the assessment of linguistic and prag-matic impairments. Child Language Teaching and Therapy,18;1, 1-21.

Comrie, Bernard (1985). Tense. Cambridge, UK: Cambridge University Press. Feilke, Helmuth & Schmidlin, Regula (eds.) (2005). Literale Textentwicklung. Unter-

suchungen zum Erwerb von Textkompetenz. Frankfurt/Main, Wien: Lang. Kauschke, Christina & Siegmüller, Julia (2010). Patholinguistische Diagnostik bei

Sprachentwicklungsstörungen. München: Elsevier. Klein, Wolfgang (1994). Time in language. London: Routledge. Kiese-Himmel, Christiane (2005). AWST-R- Aktiver Wortschatztest für 3- bis 5-jäh-

rige Kinder. Göttingen: Beltz Test GmbH. Paul, Rhea (2007). Language Disorders from Infancy through Adolescence. Assess-

ment & Intervention. Mosby: Elsevier. Peschel, Corinna (ed.) (2002). Grammatik und Grammatikvermittlung. Frank-

furt/Main: Lang. Quasthoff, Uta (1980). Erzählen in Gesprächen: linguistische Untersuchung zu Struk-

turen und Funktionen am Beispiel einer Kommunikationsform des Alltags. Tü-bingen: Narr.

Quasthoff, Uta (1983). Kindliches Erzählen. In Dietrich Boueke & Wolfgang Klein (eds.), Untersuchungen zur Dialogfähigkeit von Kindern. Tübingen: Narr, pp.45-74.

Quasthoff, Uta (2002). Tempusgebrauch von Kindern zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In Corinna Peschel (ed.), Grammatik und Grammatikvermittlung. Frankfurt/Main: Lang, pp. 179-198.

Quintin, Hervé & Najar, Margarete & Genz, Stephanie (eds.) (1997). Temporale Be-deutungen – Temporale Relationen. Tübingen: Stauffenburg Verlag.

Reichenbach, Hans (1947). Elements of symbolic logic. New York, London: The Free Press.

Sebastián, Eugenia & Slobin, Dan Isaac (1994). Development of Linguistic Forms: Spanish. In Ruth Berman & Dan Isaac Slobin (eds.), Relating events in narrative: a crosslinguistic developmental study. Hillsdale, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates, pp. 239-284.

Tempusgebrauch in Erzählungen 3- bis 6-jähriger Kinder ______________________________________________________________________

53

Simkin, Zoё & Conti-Ramsden, Gina (2001). Non-word repetition and grammatical morphology: normative data for children in their final year of primary school. International Journal of Language and Communication Disorders, 36, 395-404.

Stern, Klara (1907). Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung. Leipzig: Verlag von Johann Ambrosius Barth.

Strutzmann, Elisabeth (2010). Tempusgebrauch in kindlichen Narrativen. Diplomarbeit. Universität Graz.

Strutzmann, Elisabeth & Bartl, Katrin & Grünberger, Nina & Vollmann, Ralf & Marschik, Peter B. (2010). Tempusgebrauch in Erzählungen 3- bis 6-jähriger Kinder. Poster at ISES6. Rostock: 11.-13.03.2010.

Strutzmann, Elisabeth & Bartl, Katrin & Vollmann, Ralf & Marschik, Peter B. (2010): Narrative Kompetenz im Vorschulalter. Wiener Linguistische Gazette WLG (im Druck).

Von Stutterheim, Christiane (1986). Temporalität in der Zweitsprache. Eine Untersu-chung zum Erwerb des Deutschen durch türkische Gastarbeiter. Soziolinguistik und Sprachkontakt, Band 2. Hrsg. von Norbert Dittmar. Berlin, New York: Walter de Gruyter.

Weinrich, Harald (1964). Tempus. Besprochene und erzählte Welt. Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag.

Weinrich, Harald (1976). Sprache in Texten. Stuttgart: Ernst Klett Verlag. Weinrich, Harald (1993). Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim: Leipzig;

Wien; Zürich: Dudenverlag. Kontakt: Mag. Elisabeth Strutzmann

Projekt “Wie Kinder erzählen” Institut für Sprachwissenschaft, Universität Graz [email protected]

Grazer Linguistische Studien 75 (Frühjahr 2011); S. 55-67

Aktantenreferenz in Erzählungen 3- bis 6-jähriger Kinder1

Strutzmann Elisabeth* & Nina Grünberger* & Katrin Bartl*# &

Ralf Vollmann*

* Karl-Franzens Universität Graz, # Medizinische Universität Graz

1. Referenz und Deixis allgemein

Referenz ist der “Bezug sprachlicher Ausdrücke auf eine außersprachliche Welt” (Per-sonen, Gegenstände oder Handlungen) (Glück 2005: 531). Nach Searle (1971: 127f.) gibt es notwendige Bedingungen zur Referenz. Dies ist einerseits der existierende Ge-genstand, auf den referiert wird, und andererseits muss die Identifizierung durch den Zuhörer durch sprachliche Mittel erfüllbar sein. Nach Vater (2005: 71) gibt es vier Re-ferenzbereiche: Situations-, Orts-, Zeit- und Dingreferenz (zu welcher die Aktantenre-ferenz zählt).

Im Gegensatz dazu steht der kontextabhängige Gebrauch von Wörtern (Mei-bauer 2001: 12), die Deixis, denn deiktische Ausdrücke gewinnen ihre Bedeutung nur durch den Bezug auf die Sprechsituation, in der sie geäußert werden (Glück 2005: 127). Sowohl Referenz als auch Deixis spielen beim Verstehen von Erzählungen eine wichtige Rolle. Die Aktanteneinführung und -referenz ist notwendig, um die einzel-nen Protagonisten innerhalb einer Geschichte zu erkennen und wiederzuerkennen. Kinder erwerben diese pragmatische Fähigkeit erst im Laufe des Vorschulalters als eine der narrativen Kompetenzen.

2. Möglichkeiten der Aktantenreferenz

Als Hintergrund muss zunächst erwähnt werden, dass es einen Unterschied bei der Aktantenreferenz im kindlichen Sprachgebrauch und der Aktantenreferenz in litera-ten Texten gibt. In mündlich getätigten Äußerungen, also im oraten Sprachgebrauch, werden Aktanten meist mit einer gewissen Kontextabhängigkeit eingeführt und auf sie referiert. Das heißt, dass beim Einführen der Aktanten bei Kindern, die Bilderge-schichten nacherzählen, die Aktanten sowohl für das Kind als auch für den Intervie-wer ersichtlich sind. In literaten Texten fehlt dieser gemeinsame Bezug zur Bildvor-gabe, und deshalb müssen Aktanten mit anderen linguistischen Mitteln eingeführt und erhalten werden.

1 Diese Forschungsarbeit wird vom Land Steiermark unterstützt (Projekt “Wie Kinder erzählen – Text- und Erzählkompetenz im Vorschulalter: Eine Voraussetzung für den schulischen Er-folg”), und sie steht im Rahmen des internationalen Projekts “Communicative Development Inventories (CDI).

Elisabeth Strutzmann et al. ______________________________________________________________________

56

Aktanteneinführung geschieht in literaten Texten durch indefinite Nominal-phrasen (‘Da ist ein Mann ... ’), Referenzwechsel wird durch Definitheit markiert (‘Da kommt der Bub’), und Referenzerhaltung erfolgt durch Pro-Formen (z.B. Pronomina, Demonstrativa) ‘Der Bub kommt. Er/Der nimmt ... ’).

Mehrdeutige Referenz ergibt sich, wenn nach dem Einführen des ersten Aktan-ten ein zweiter mit gleichem Genus auftritt und beide mit Pronomen erhalten wer-den. Aktanten sollen nicht ambig eingeführt werden, und es soll nicht ambig auf sie referiert werden, jedoch tritt dies in kindlichen Narrativen häufig auf. Bamberg 1987 geht davon aus, dass Kinder erst mit 07;00 Jahren in der Lage sind, ambige Äußerun-gen zu vermeiden.

Bsp. 1: ambige Referenz, Kind G56M35 (1) und der Bub wollte den Luftballon kaufen. EINF 1:DEF 2:DEF dann ist er (=Luftballon) mit, SR 2:PRO und wollte damit nach Hause gehen. SR 1:– dann ist er (=Luftballon) weggeflogen. SR 2:PRO und dann hat er (=Junge) geweint. SR 1:PRO

Aktanten können auch ohne indefinite oder definite Einführung mit Pronomina er-halten werden, und es kann auf sie gewechselt werden. Diese Möglichkeit wird als ‘referenzloser Gebrauch’ von Pronomina bezeichnet. In diesem Fall wird die Ge-schichte nur durch die Kontextabhängigkeit verstanden.

Bsp. 2: Referenzloser Pronomengebrauch, Kind G69F50 (2) als erstes liegt die im Bett. EINF 1:DEM und dann weint sie. MR 1:PRO und da- und dann und da sind da Gespenster. SR 2:DIV:PL und dann gibt die Mama der ein Teddy. SR 3:DEF 1:DEM

4:INDEF und dann ist sie zufrieden. SR 1:PRO

Strategien der Referenzerhaltung (‘maintaining reference’) und des Referenzwechsels (‘switching reference’) können nun auf verschiedene Weise erfolgen (Bamberg 1987: 93f.): (i) eine nominale Strategie wird angewendet, wenn der Großteil der Referenzen mit einer Nominalphrase geäußert werden. (ii) Eine thematische Strategie ergibt sich, wenn der Hauptaktant mit Pronomen erhalten wird (Der Junge ... Er ...). (iii) Kinder verwenden eine anaphorische Strategie, wenn der Großteil der Referenzerhaltungen mit Pronomina geschieht und die Referenzwechsel mit einer Nominalphrase geäußert werden. Diese Variante ist für den Zuhörer am besten verständlich. (iv) Strategien, die aus einer Mischung der drei eben genannten hervorgehen, werden als gemischte Strategie bezeichnet.

Aktantenreferenz in Erzählungen 3- bis 6-jähriger Kinder ______________________________________________________________________

57

3. Frühere Studien

3.1. Thematische Subjektstrategie

Karmiloff-Smith 1985 lieferte eine der umfangreichsten Arbeiten zum Thema Aktan-tenreferenz in kindlichen Narrativen und beschäftigte sich mit der Herstellung von Kohäsionsbeziehungen in narrativen Texten. Für ihre Studie untersuchte sie 420 eng-lisch- und französischsprachige Kinder zwischen 04;00 und 09;00. Als Material ver-wendete sie vier je sechsbildrige Bildergeschichten, die sich in der Anzahl der Aktan-ten, deren Relevanz, deren Geschlecht und deren Auftretenshäufigkeit unterschieden. Als Hypothese nahm sie an, dass Kinder eine Reihe deiktischer Formen verwenden und sie beim Referieren wie Demonstrativpronomina behandeln. Die Ergebnisse der Studie wurden von Karmiloff-Smith in drei Levels eingeteilt:

Im 1. Level, welches Kinder zwischen 04;00 und 05;00 betrifft, werden Aktanten mittels definiter Nominalphrasen eingeführt und die Kinder verwenden darauf auf-bauend eine Pronominalisierung beim Herstellen der Referenz. Durch diesen strikten Pronominagebrauch kommt es zu Ambiguitäten (vor allem bei gleichem Geschlecht der Aktanten, hierfür siehe auch unsere Ergebnisse). Daraus schlussfolgert sie, dass sich die Kinder dieser Problematik nicht bewusst sind, da die Pronomina in ihrer deiktischen Funktion verwendet werden und da während des Erzählens auf die Bild-vorlage referiert wird.

Kinder zwischen 05;00 und 06;00, welche dem 2. Level zugeordnet werden, füh-ren Aktanten indefinit ein und erhalten und wechseln die Referenz anschließend mit Pronomen. Die Proformen werden aber nicht mehr rein deiktisch verwendet, sondern eher in ihrer anaphorischen Funktion eingesetzt. Ebenso konnte Karmiloff-Smith für dieses Alter die thematische Subjektstrategie ("thematic subject constraint") fest-setzen, welche besagt, dass Kinder die Subjektposition für den Hauptaktanten reser-vieren und dass diesem Aktanten dann bei der Referenzerhaltung alle Pronomina-lisierungen vorbehalten sind.

Im 3. Level (08;00-09;00) ist die thematische Subjektstrategie zwar noch vorhan-den, aber die Subjektposition ist nicht mehr ausschließlich für den Hauptaktanten re-serviert.

3.2. Kohäsive Fähigkeiten bei deutschsprachigen Kindern

Bamberg 1987 untersuchte die Entstehung kohäsiver Fähigkeiten im deutschen Sprachraum und insbesondere die altersbedingten Strategien der Referenzherstellung in narrativen Texten von Kindern. Hierfür untersuchte er 25 deutschsprachige Kinder zwischen 03;06 und 10;01 und verwendete die "Frog Story"

2, welche den Kindern ein-

mal im Kindergarten und zweimal von den Eltern vorher erzählt wurden. Aus seinen Ergebnissen geht in Bezug auf die Aktanteneinführung hervor, dass

75% aller Kinder hierfür eine definite Nominalphrase verwendeten. Kein Kind zwi-

2 Die "Frog Story" ist eine 24-teilige Bildergeschichte ohne Texte. Dieses Material wurde ab seinem Erscheinen 1967 häufig für die Sammlung von Kindersprachdaten verwendet.

Elisabeth Strutzmann et al. ______________________________________________________________________

58

schen 03;06 und 04;01 verwendete eine indefinite Nominalphrase an dieser Position. 16% der Kinder gebrauchten Pronomen.

Für die Referenzerhaltung und den Referenzwechsel verwendeten die Kinder un-terschiedliche Strategien, die erstens vom Alter und zweitens vom Aktanten, auf den referiert wird, abhängig sind. Somit ergeben sich unterschiedliche Mittel der Refe-renzherstellung beim Referieren auf Haupt- und Nebenaktanten.

Für den Hauptaktant gilt die thematische Subjektstrategie: pronominale Formen sind bei der Referenzerhaltung oder beim Referenzwechsel dem Hauptaktanten vor-behalten. Diese Strategie wird besonders von Kindern zwischen 03;06 und 04;01 be-vorzugt. Deshalb kann anhand der Pronominalisierung erkannt werden, ob es sich um den Haupt- oder um einen Nebenaktanten handelt, denn alle pronominalen For-men sind für den Hauptaktanten reserviert, während auf Nebenaktanten mittels no-minaler Formen referiert wird.

Die anaphorische Strategie (welche literat korrekt ist, Referenz wird nominal ge-wechselt und pronominal erhalten) wird besonders von Kindern ab 09;00 verwendet. Nominale Strategien traten nur bei den jüngsten Kindern der Studie auf (und hier auch nur selten).

Bamberg verglich seine Ergebnisse mit jenen von Karmiloff-Smith und stellte fest, dass in seinem Korpus die thematische Subjektstrategie bereits bei Kindern zwi-schen 03;06 und 04;01 auftritt. Daraus schloss er, “that young German speaking chil-dren have discourse skills that French and English speaking children develop only at a later age” (Bamberg 1987: 77f.).

3.3. Aktanteneinführung & Referenzherstellung

Boueke et al. 1995 untersuchten wiederum die Aktanteneinführung und die Referenz-herstellung bei 96 Kindern im Alter von 05;00, 07;00 und 09;00 Jahren und ver-wendeten hierfür vierteilige Bildergeschichten. Aus der Analyse geht hervor, dass Kinder mit 05;00 definite und pronominale Formen zur Aktanteneinführung verwen-deten. Referenzerhaltung erfolgte mittels definiter Formen und Pronomina. Fünfjähri-ge Kinder verwendeten sprachliche Formen in ihrer deiktischen Funktion und suchen daher Zuflucht im extralinguistischen Kontext und appellieren mit Mitteln der Deixis an das mit dem Erwachsenen geteilte Wissen (Boueke et al. 1995: 148f.).

Kinder mit 07;00 führten Aktanten vorrangig korrekt indefinit ein und es traten nur noch vereinzelt definite Formen auf. Referenzwechsel wurde mit definiten Nominalphrasen oder Eigennamen vollzogen. Kinder mit 09;00 verwendeten fast gänzlich die korrekten Formen.

3.4. Aktanteneinführung in unterschiedlichen Textsorten

Becker 2001 behandelte in ihrer Dissertation zur Entwicklung narrativer Fähigkeiten die Aktanteneinführung in vier unterschiedlichen Textsorten (Bildergeschichte, Nacherzählung, Phantasiegeschichte, Erlebniserzählung). Hierfür untersuchte sie 55 Kinder mit 05;00, 07;00 und 09;00 Jahren. In den Befragungen saßen die Kinder

Aktantenreferenz in Erzählungen 3- bis 6-jähriger Kinder ______________________________________________________________________

59

anderen Kindern gegenüber, waren aber durch Trennwände getrennt, sodass es keine gemeinsame Bildvorlage und somit keine Kontextabhängigkeit gab.

Becker konnte in den Daten einen unangebrachten Pronominagebrauch (bis zu

48% in der Bildergeschichte im Vergleich zu 10% bei den Erlebniserzählungen) fest-

stellen. Die Bildergeschichte bereitete in allen Altersgruppen die größten Schwierig-

keiten, wenn es darum geht Kohäsivität zu rekonstruieren. Becker konnte feststellen,

dass die Formen der primären Produktion es den Kindern anscheinend leichter

machen, aber dennoch verschoben sich die Leistungen um ungefähr zwei Jahre

(Becker 2001: 143f.).

Bezüglich der Aktanteneinführung konnte Becker zeigen, dass hier die Textsorte

eine große Rolle spielt. Kinder mit 05;00 verwendeten zu einem Großteil Pronomina

in ihrer deiktischen Funktion, aber dies war auch bei der Nacherzählung der Fall,

woraus Becker schloss, dass dies nicht allein durch visuellen Stimulus bedingt ist,

sondern der reproduktiven Gattung gemein ist. Die reproduktive Gattung ist eine ex-

terne Textwelt, und daher gelingt es dem Kind schlechter, intratextuelle Referenz auf-

zubauen.

Bei den 07;00-jährigen Kindern trat die pronominale Einführung nicht mehr auf,

sondern wurde durch eine Mischform von definiten und indefiniten Nominalphrasen

ersetzt. Definite Nominalphrasen wurden vor allem bei menschlichen Aktanten

verwendet.

Becker merkt aber in Bezug auf die Textsorte ‘Bildergeschichte’ noch an, dass

die thematische Subjektstrategie abhängig von der jeweiligen Erzählform ist und aus-

schließlich in Bildergeschichten zu finden ist. Becker geht davon aus, dass die unter-

schiedlichen Leistungen in der Erzählform begründet sein müssen, denn in Erlebnis-

erzählungen gelingt die korrekte Aktanteneinführung den Kindern bereits in jünge-

rem Alter.

4. Empirische Studie

Im Folgenden werden Aktanteneinführung, Referenzwechsel und Referenzerhaltung

aus den Teildaten des Erzählkompetenzprojekts im Rahmen des CDI-III (54 Kinder,

01A: Luftballongeschichte, einmaliges Erzählen und 01B: Wiederholung; 02A: Alp-

traumgeschichte, einmaliges Erzählen) analysiert. Die vorliegenden Daten unter-

scheiden sich aufgrund der unterschiedlichen Bildvorlage: bei der Luftballonge-

schichte werden bereits im ersten Bild alle drei Aktanten (alle maskulin) dargestellt,

während in der Alptraumgeschichte im ersten Bild nur der Hauptaktant aufgezeigt

wird. Unterschiede im Ausdruck lassen sich bei unseren untersuchten Vorschul-

kindern finden.

Elisabeth Strutzmann et al. ______________________________________________________________________

60

Abb. 1: Gegenüberstellung der jeweils ersten Bilder (Luftballongeschichte, Alptraum-geschichte)

In der vorliegenden Studie wird die Kontextabhängigkeit der Aktantenreferenz durch zwei unterschiedliche Geschichten und dem daraus resultierenden unterschiedlichen Gebrauch der linguistischen Mittel näher betrachtet.

4.1. Aktanteneinführung

Prinzipiell stellt die Geschichte 01 die Kinder vor eine Herausforderung, denn alle drei Aktanten (alle maskulin) sind bereits im ersten Bild erkennbar. Die Kinder müssen bereits hier abwägen, welche Figur den Hauptprotagonist darstellt. Wie an der Abbildung 2 erkennbar, ist die Aktanteneinführung in dieser Geschichte nicht von Präferenzen gekennzeichnet.

Die Aktanteneinführung stellt besonders für jüngere Kinder ein Problem dar. Obwohl mit 03;00 die syntaktischen Strukturen hierfür bei sprachunauffälligen Kin-dern schon erworben sind, werden Aktanten in unserem Korpus zu einem hohen Prozentsatz (32%) mit unmarkierten Einwortäußerungen (nur markiert mit Singular oder Plural) eingeführt. Die literat richtige Einführung der Aktanten mittels einer indefiniten Nominalphrase kann bereits bei Kindern im Alter 03;06-04;00 erkannt werden, jedoch werden Aktanten bei Kindern mit 04;06-05;00 dreimal so häufig mit einer definiten Nominalphrase eingeführt. Mit 04;00 werden die drei Aktanten zwar noch literat korrekt eingeführt, aber dieses Verhältnis löst sich zugunsten der oraten Gebrauchsform bei Kindern im Alter 04;06-05;00. Proformen nehmen tendenziell zu und gipfeln mit 05;00-05;06 als häufigste Form der Aktanteneinführung in der Luftballongeschichte. Ab 05;06-06;00 nehmen alle Möglichkeiten bis auf indefinite Nominalphrasen ab und der Gebrauch der indefiniten Nominalphrasen ist das vor-herrschende Mittel der Aktanteneinführung.

Demonstrativa treten bei Kindern mit 03;00 und ab 04;05 auf. Unmarkierte Sin-gularformen kommen bis zu den 04;05-jährigen Kindern vor, während unmarkierte Pluralformen in allen Altersgruppen (bis auf jene Kinder mit 04;06) vorkommen. Die Einführung von Haupt- und Nebenaktanten in der Luftballongeschichte unterscheidet sich in ihrer linguistischen Vielfalt: Hauptaktanten werden vor allem sowohl definit

Aktantenreferenz in Erzählungen 3- bis 6-jähriger Kinder ______________________________________________________________________

61

als auch indefinit eingeführt, während Nebenaktanten eher indefinit (außer bei 04;05-jährigen Kindern), also literat korrekt, eingeführt werden.

Abb. 2: Aktanteneinführung, Luftballongeschichte

Die Geschichte 02 (Alptraumgeschichte, siehe Abbildung 3) ist – was die Aktanteneinführung anbelangt – leichter verständlich. Bis auf eine Ausnahme der 05;00-jährigen Kinder führen alle Teilnehmer die Aktanten pronominal ein. Dies geht aus der Bildvorlage hervor, denn im ersten Bild sieht man nur ein Mädchen, dass ängstlich in seinem Bett liegt. Indefinite Nominalphrasen nehmen mit zunehmenden Alter bis 05;00 ab und steigen dann erneut an. Definite Nominalphrasen werden besonders von den 05;00-jährigen Kindern zur Aktanteneinführung verwendet, bewegen sich aber sonst im Mittelfeld. Einwortäußerungen kommen nur in der jüngsten Altersgruppe vor.

Abb. 3: Aktanteneinführung, Alptraumgeschichte

Elisabeth Strutzmann et al. ______________________________________________________________________

62

4.2. Referenzerhalt

Zur Referenzerhaltung werden großteils die literat korrekten Proformen eingesetzt. In

allen Altersstufen werden Pronomina am häufigsten verwendet. Der Gebrauch der

Demonstrativa zur Referenzerhaltung ist besonders bei den 03;06-04;00-Jährigen sehr

hoch: auf neun Pronomina kommen sieben Demonstrativa. Ebenso lässt sich erneut

feststellen, dass jüngere Kinder noch mehrere linguistische Kategorien als ältere ver-

wenden. Ab 04;06 werden Einwortäußerungen und indefinite Nominalphrasen zur

Referenzerhaltung vermieden.

Bsp. 3: Referenzerhalt, Kind G71M43

(3) Ein Bub kauft sich einen Luftballon. EINF 1:INDEF

2:INDEF und dann geht er mit’n Luftballon. MR 1:PRO 2:DEF dann verliert er’n. MR 1:PRO 2:PRO und dann ist er traurig und weint. MR 1:PRO

Abb. 4: Referenzerhaltung, Luftballongeschichte

Ein sehr ähnliches Bild zeigt uns die Referenzerhaltung in der Alptraumgeschichte

(siehe Abbildung 05). Proformen übernehmen ebenfalls diese Funktion, während defi-

nite Nominalphrasen und Pluralformen, Possessive und Numeralia sich zwischen 10%

und 30% einpendeln. Indefinite Nominalphrasen wurden von den Kindern mit 03;06

bzw. mit 05;06 verwendet.

Aktantenreferenz in Erzählungen 3- bis 6-jähriger Kinder ______________________________________________________________________

63

Abb. 5: Referenzerhaltung, Alptraumgeschichte

4.3. Referenzwechsel

Referenzwechsel wurden von allen Kindern mehrheitlich mit pronominalen Formen

durchgeführt, daraus folgt, dass die Referenz nur implizit und nicht verbal gewechselt

wurde. Für den Hörer erfolgt kein Referenzwechsel, und die Geschichte bleibt nur

durch den deiktischen Kontext (also das Sehen der gemeinsamen Bildvorlage) ver-

ständlich.

Ebenso lässt sich erneut feststellen, dass jüngere Kinder noch mehr linguistische

Kategorien als ältere Kinder verwendeten. Der Gebrauch der definiten Nominalphra-

sen nahm grob gesehen ab (bis auf eine erneute Steigung bei den 04;00-Jährigen). De-

monstrativa waren besonders bei den Kindern der Gruppe B sehr häufig. Unmarkierte

Singularformen wurden am ehesten von den jüngsten Kindern verwendet; in den

Gruppen der älteren Kinder kamen sie nur noch in Ausnahmefällen vor. Diese un-

markierten Singular- und Pluralformen wurden meist in verblosen Sätzen geäußert

und stellen somit einen Sonderfall dar. In verblosen Sätzen gilt die implizite Referenz:

die letztmarkierte Form (sei es der Ausdruck von Aktanten oder die Tempuswahl) gilt

in verblosen Sätzen so lange, bis eine neue markierte Form auftritt. Unmarkierte Plu-

ralformen, Possessivformen und Eigennamen spielten ebenfalls nur in der Gruppe der

03;00-jährigen Kinder eine Rolle.

Elisabeth Strutzmann et al. ______________________________________________________________________

64

Abb. 6: Referenzwechsel, Luftballongeschichte

In der Alptraumgeschichte (Abbildung 7) zeigt sich ein ähnliches Bild wie bei der Luftballongeschichte, jedoch traten nichtpronominale Formen häufiger auf. Literat korrekte definite Nominalphrasen wurden häufig in Gruppe 1, 3 und 5 geäußert, wäh-rend in Gruppe 4 viele Einwortäußerungen zu finden waren. Indefinite Nominalphra-sen traten in Gruppe 2 und – analog der Luftballongeschichte – in der Gruppe der Kinder ab 05;06 auf.

Abb. 7: Referenzwechsel, Alptraumgeschichte

Aktantenreferenz in Erzählungen 3- bis 6-jähriger Kinder ______________________________________________________________________

65

4.4. Sonderfall: Wiederholungen

Die Kinder wurden nach ihrem ersten Versuch, die Geschichte zu erzählen aufgefor-dert, dies ein zweites Mal zu probieren. Bei 37 Kindern, also 68,5%, glückte dies. Aus diesem Grund kann die Analyse der Wiederholungen nur als Tendenz angesehen werden. Es ergeben sich aber interessante Aspekte in Bezug auf den unterschiedli-chen Referenzgebrauch. Da die Kinder die Wiederholung sofort nach dem erstmaligen Erzählen darbrachten, war für einige Kinder die Aktanteneinführung “nicht nötig”.

In den Wiederholungen wurden sowohl die Haupt- als auch die Nebenaktanten mit weniger linguistischen Möglichkeiten eingeführt. Die Hauptaktanten wurden – ähnlich wie in den A-Versionen – mit mehreren Stilmitteln eingeführt, und keine Möglichkeit wurde bis 04;00 häufiger genützt. Erst mit 04;00 wurden vermehrt indefi-nite Formen angewendet, jedoch wurden ab 04;06 eher definite und pronominale For-men verwendet. Die Kinder der Gruppe der 05;00-Jährigen verwendeten am häufig-sten definite Formen zur Einführung der Hauptaktanten, während die Kinder der Gruppe ab 05;05 sowohl definite als auch indefinite Formen verwendeten. Nebenak-tanten wurden in den Wiederholungen bis auf die Kinder der Gruppe A literat korrekt mit indefiniten Formen eingeführt. In diesen Erzählungen lässt sich somit die Form des Erzählens finden, die der Standardsprache am ähnlichsten ist.

Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Wiederholungen. In allen Altersgruppen wurden Referenzwechsel am häufigsten mit pronominalen Formen durchgeführt. Bei den Kindern der Gruppen A und B spielten Demonstrativa eine Rolle, bei den älteren Kindern wurde Referenz gelegentlich mit definiten Nominalphrasen gewechselt.

Bezüglich der Referenzerhaltung in den Wiederholungen kann gesagt werden, dass weniger linguistische Möglichkeiten hierfür ausgenützt wurden. In allen Alters-gruppen wurden hauptsächlich Proformen zur Referenzerhaltung verwendet. In den beiden jüngsten Gruppen spielten – wie beim Referenzwechsel – ebenso Demonstra-tiva eine wichtige Rolle, während diese bei den Kindern der älteren Gruppen noch am ehesten von definiten Formen übernommen wurden.

5. Zusammenfassung & Diskussion

Wie aus den Daten hervorgeht, wurde die Referenz in den beiden Geschichten unter-schiedlich eingeführt und gewechselt. Während Aktanten in der Luftballongeschich-te, in der alle drei maskulinen Aktanten bereits im ersten Bild erkennbar sind, eher indefinit und definit eingeführt wurden, wurde das Mädchen in der Alptraumge-schichte großteils pronominal eingeführt. Daraus wird geschlussfolgert, dass die Aktanteneinführung kontextabhängig erfolgt. Die Differenzierung der maskulinen Aktanten in der Luftballongeschichte kann nicht durch Proformen erfolgen, somit müssen indefinite oder zumindest definite Nominalphrasen verwendet werden. Wür-den die drei Protagonisten pronominal eingeführt werden, würde sich das Verständ-nis erst durch die gemeinsame Bildvorlage ergeben. In der Alptraumgeschichte “ge-nügt” quasi eine pronominale Einführung, da sowohl für das Kind als auch für den Interviewer klar ersichtlich ist, wer gemeint ist.

Elisabeth Strutzmann et al. ______________________________________________________________________

66

Die Referenz wurde in beiden Geschichten pronominal erhalten, das heißt, sie wird nicht explizit vollzogen und deshalb ist die Geschichte wieder nur durch die ge-meinsame Bildvorlage verständlich.

Referenz wurde in der Luftballongeschichte pronominal (also standardsprachlich inkorrekt) gewechselt, während in der Alptraumgeschichte die Referenzwechsel mehrheitlich definit (also korrekt) erfolgten.

Abb. 8: Zusammenfassender Vergleich Luftballongeschichte Alptraumgeschichte

Aktanteneinführung indefinit, definit pronominal, (definit)

Referenzerhaltung pronominal pronominal

Referenzwechsel pronominal definit, (pronominal)

Somit geht zusammenfassend hervor, dass die Bildvorlage eine wichtige Rolle bei der Wahl der Aktanten spielt. Kinder erzählen Geschichten sehr kontextabhängig, und erst ab 05;06 werden die Mehrheit der Aktanten literat korrekt verwendet. So geht nun hervor, dass Aktanten eine Art der Kohäsion darstellen, welche stark orat ge-prägt ist, jedoch lassen sich Unterschiede beim Alter, bei den Haupt- beziehungsweise Nebenaktanten und beim erstmaligen Erzählen versus einer Wiederholung finden.

6. Bibliographie

Bamberg, Michael (1987). The Acquisition of Narratives. Learning to Use Language. Berlin, New York, Amsterdam: Mouton de Gruyter.

Becker, Tabea (2001). Kinder lernen erzählen: zur Entwicklung der narrativen Fähig-keiten von Kindern unter Berücksichtigung der Erzählform. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren.

Bobrow, Daniel & Collins, Allan (Hrsg.) (1975). Representation and Understanding. Studies in Cognitive Science. London: Academic Press.

Boueke, Dietrich & Schülein, Frieder & Büscher, Hartmut & Terhorst, Evamaria & Wolf, Dagmar (1995). Wie Kinder erzählen. Untersuchungen zur Erzähltheorie und zur Entwicklung narrativer Fähigkeiten. München: Wilhelm Fink Verlag.

Boueke, Dietrich & Schülein, Frieder (1991). Kindliches Erzählen als Realisierung eines narrativen Schemas. In Hans-Heino Ewers (ed.), Kindliches Erzählen - Er-zählen für Kinder. Erzählerwerb, Erzählwirklichkeit und erzählende Kinderlite-

ratur. Weinheim/Basel: Beltz Verlag, pp. 13-41. Cutting, Joan (2002). Pragmatics and Discourse. A resource book for students. Lon-

don, New York: Routledge. Ehlich, Konrad & Wagner, Klaus (eds.) (1989). Erzähl-Erwerb. Bern: Peter Lang Ver-

lag. Ewers, Hans-Heino (ed.) (1991). Kindliches Erzählen – Erzählen für Kinder. Erzähl-

erwerb, Erzählwirklichkeit und erzählende Kinderliteratur. Weinheim, Basel: Beltz Verlag,

Glück, Helmut (2005). Metzler Lexikon Sprache. Stuttgart: Metzler [3. Auflage]

Aktantenreferenz in Erzählungen 3- bis 6-jähriger Kinder ______________________________________________________________________

67

Grünberger, Nina (2009). Aktanteneinführung und -referenz in Erzählungen 3- bis 6-jähriger Kinder. Diplomarbeit. Universität Graz.

Ihwe, Jens (Hrsg.) (1973). Literaturwissenschaft und Linguistik Band 2. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag GmbH.

Karmiloff-Smith, Annette (1985). Language and cognitive processes from a develop-mental perspective. In Tyler et al (eds.), Language and cognitive processes. Utrecht: VNU Science Press (Vol. 1., No. 1.), pp. 61-85.

Meibauer, Jörg (2001). Pragmatik: eine Einführung. Tübingen: Stauffenburg-Verlag. [2. Auflage]

Searle, John (1971). Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Strutzmann, Elisabeth & Vollmann, Ralf & Grünberger, Nina & Bartl, Katrin & Marschik, Peter B. (2010). Aktanteneinführung und -referenz in Erzählungen 3-bis 6-jähriger Kinder. Poster at ISES6. Rostock: 11.-13.03.2010.

Szakmary, Corinna (2002). Personenreferenz und Textplanung: eine textlinguistische Untersuchung über den Einfluss von Textplanungsprozessen auf die sprachliche

Realisierung von Personenreferenz. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag. Terhorst, Evamaria (1995). Textverstehen bei Kindern: zur Entwicklung von Kohä-

renz und Referenz. Opladen: Westdeutscher Verlag Vater, Heinz (2001). Einführung in die Textlinguistik. München: Wilhelm Fink Ver-

lag. [3. Auflage] Vater, Heinz (2005). Referenz-Linguistik. München: Wilhelm Fink Verlag. Kontakt: Mag. Elisabeth Strutzmann

Projekt “Wie Kinder erzählen” Institut für Sprachwissenschaft, Universität Graz [email protected]

Grazer Linguistische Studien 75 (Frühjahr 2011); S. 69-89

Protoliterate Strukturen bei Kindergar-tenkindern mit Migrationshintergrund

Katharina Schwabl* & Ralf Vollmann* & Katharina Wind* Karl-Franzens Universität Graz

1. Einleitung

Diese Studie beleuchtet die Probleme von Kindern mit Migrationshintergrund im Um-gang mit Schriftsprache aus dem Blickwinkel eines kompetenten Umgangs mit sprachlicher Variation.

Ausgehend von der Beobachtung, dass Kinder mit Migrationshintergrund im schriftsprachlichen Bereich im Vergleich zu ihren österreichischen Altersgenossen häufig schlechter abschneiden, während sie alltagssprachliche Bereiche weitgehend problemlos meistern, vermuten wir, dass die Annahme von unzureichenden Deutsch-kenntnissen im Allgemeinen diese Situation nicht zufriedenstellend erklären kann. Zielführender erscheint uns deshalb eine Konstruktion der Problematik, wie sie Maas 2007 vornimmt. Er findet die Wurzel des Problems in fehlender Kompetenz im Um-gang mit dem schriftsprachlichen Register, zu dem Kinder mit Migrationshintergrund aus verschiedenen Gründen nicht in dem Ausmaß Zugang haben, wie es für die Aus-bildung der besagten Kompetenz notwendig wäre.

Der Erwerb der Schriftsprache stellt für Kinder in der Regel einen kritischen Punkt in ihrer sprachlichen Entwicklung dar, der nicht spontan gemeistert wird und deshalb im Normalfall mit dem Beginn der formalen Schulbildung zusammenfällt (vgl. Maas 2007/II: 61). In neueren Arbeiten zum Schriftspracherwerb wird jedoch häufig betont, dass ein grundlegender Teil dieser Entwicklung bereits vor der Ein-schulung und somit vor dem erfolgt, was als eigentlicher Schriftspracherwerb begrif-fen wird. In der englischsprachigen Literatur ist hierfür der Begriff ”emergent lite-racy” gebräuchlich (Pontecorvo 1994: 333). Da wir uns in dieser Arbeit jedoch weit-gehend auf Maas beziehen, wollen wir seinen Terminus “protoliterate Phase” bzw. “protoliterates Wissen” weiterführen (Maas 2007/II: 94). Das protoliterate Wissen von Kindern wurde als starker Indikator für einen späteren Bildungserfolg erkannt (vgl. Maas 2007/II: 61), wodurch auch die beobachteten schlechtere Schulerfolge von Kin-dern mit Migrationshintergrund (vgl. Herzog-Punzenberger & Unterwurzacher 2009) erklärt würden.

Unser Schulsystem setzt laut Maas nun ebendiese Kenntnisse bei Schulanfän-gern voraus, was jene in eine benachteiligte Position rückt, die sie nicht mitbringen (vgl. Maas 2007/II: 80f). Das betrifft Kinder aus sogenannten “bildungsfernen” Eltern-häusern und in noch stärkerem Ausmaß Kinder mit Migrationshintergrund, bei denen das Zusammenspiel mehrerer Faktoren ungünstige Bedingungen für die besagte Ent-wicklung bewirkt. Auch Verhoeven 1994 erwähnt diese Diskrepanz zwischen erwar-

Katharina Schwabl et al. ______________________________________________________________________

70

tetem und tatsächlich mitgebrachtem sprachlichen Wissen dieser Kinder und den da-raus folgenden Maßnahmen als problematisch:

In many cases there is a mismatch between the linguistic abilities ethnic mino-

rity children bring to the classroom and the language and literacy curriculum

at school. (Verhoeven 1994: 224)

Die Probleme, die sich bei Schuleintritt und vor allem noch später manifestieren, und eventuelle unpassende Maßnahmen darauf führen uns aber schon einen Schritt wei-ter, als wir hier gehen wollen. Diese Arbeit behandelt das protoliterate Wissen von Kindern mit Migrationshintergrund im Kindergartenalter und stellt den Versuch dar, die Beobachtungen von Maas in einer quantitativen Analyse festgemacht an ausge-wählten sprachlichen Strukturen zu überprüfen.

2. Schriftsprachliche Strukturen

2.2. Sprachliche Variation: Die Begriffe orat und literat

Zur Klärung des Begriffs des protoliteraten Wissens nach Maas 2007 soll das vorlie-gende Kapitel dienen, in dem die strukturellen Eigenschaften der gesprochenen und der Schriftsprache aufbereitet werden.

Bekanntlich ist, was man unter einer Sprachbezeichnung wie ”Deutsch” subsu-miert, nicht formal homogen, sondern vielfach situativ-funktional bedingter Variation unterworfen, die um so größer ist, je differenzierter die Domänen sind, die eine Sprache abdeckt. Ein solcher funktionaler Blickwinkel ist auch in der Betrachtung von Sprachstrukturen bei Maas grundlegend:

[…] man wird Sprachstruktur immer bestimmen müssen in Hinblick auf das,

was mit ihr geleistet wird, oder besser noch: geleistet werden kann. Sprach-

strukturen sind der Ausdruck von habitualisierten Problemlösungen, Sedimen-

tierungen dessen, was gewissermaßen als Rückkoppelung aus sprachlich be-

wältigten Aufgaben zustande kommt […] (Maas 2008b: 3-4)

Die Verwendung einer Sprache in schriftlichen Kontexten ist demnach ebenfalls eine Domäne, mit der eine bestimmte Sprachform verknüpft ist, wobei die neuere Literatur bei der Beschreibung der betreffenden formalen Unterschiede zumeist besonderes Augenmerk auf die grammatische und Diskursebene legt (vgl. Chafe 1982; Schwitalla 1997).

Für die Behandlung von gesprochener und Schriftsprache scheint es von Nutzen zu sein, von typisch gesprochenen und typisch geschriebenen Sprachformen zu spre-chen. Für diese Konzepte stehen auch die von Maas eingeführten Begriffe orat und literat (Maas 2007/II: 46ff): Orat bezeichnet, wie der Name schon andeutet, die un-markierten Strukturen des mündlichen Diskurses, während literat jene Strukturen be-trifft, die unmarkierterweise in schriftsprachlichen Kontexten zu finden sind. Dass die strukturelle Seite vom Medium (Sprechen, Schrift) trennbar ist, wird in der Be-schreibung von gesprochener Sprache und Schriftsprache vielerorts als grundlegend

Protoliterate Strukturen bei Kindergartenkindern mit Migrationshintergrund ______________________________________________________________________

71

betrachtet (vgl. Maas 2007; Meyer 1993; Scinto 1986). Als Beispiele für diese Trenn-barkeit werden gern persönliche Briefe und akademische Vorträge herangezogen. Erstere sind zwar geschrieben, weisen jedoch aufgrund ihrer primär kommunikativen Funktion eine Vielzahl linguistischer Merkmale auf, die als typisch orat zu klassifizie-ren sind, wohingegen akademische Vorträge, obwohl gesprochen, weitgehend literat strukturiert sind, was wiederum damit in Einklang steht, dass literate Strukturen auf wissensstrukturierende Zwecke zugeschnitten sind (vgl. Maas 2007: 47f). Die Einsicht, dass orat-mündlich und literat-schriftlich nur unmarkierte, aber keinesfalls notwendi-ge Paare darstellen, ist auch für diese Arbeit von besonderer Wichtigkeit, da das be-sagte protoliterate Wissen – zumal es Vorschulkinder betrifft, die noch nicht mit dem Medium Schrift umzugehen gelernt haben – nur die strukturelle Seite der Schriftlich-keit umfassen kann.

Wir können also zusammenfassen: Die Begriffe orat und literat betreffen die prototypischen Strukturen gesprochener und geschriebener Sprache; protoliterates Wissen ist das Wissen über diese Registervariation im Vorschulalter, das erlangt wird, bevor die ”materielle Seite” der Schrift (Maas 2007/II: 46) gemeistert wird.

2.2. Komplexe Strukturen

Der Umgang mit den Strukturen der Schriftsprache ist schwerer zu meistern als der Erwerb der unmarkierten Sprachformen des gesprochenen Sprachgebrauchs, da erste-re als komplexer1 zu betrachten sind.

Um zu klären, was Komplexität in diesem Zusammenhang bedeutet, ist es hilf-reich die Bedingungen der schriftlichen Sprachproduktion genauer unter die Lupe zu nehmen (vgl. Chafe 1982: 35). Schrift begünstigt und verlangt aufgrund ihrer Eigen-schaften komplexere Strukturen als die gesprochene Sprache. In der Folge werden wir nur auf zwei davon näher eingehen.

(a) Der Wegfall des zeitlichen Stresses bei der Sprachproduktion (vgl. Maas 2007/II: 52): Als ein über den Moment hinaus präsentes sprachliches Signal erlöst die Schrift Produzent wie Rezipient von jeglichem zeitlichem Stress. Planung und Über-arbeitung (bzw. mehrmaliges Lesen) sind möglich (vgl. Chafe 1994: 43); das Kurz-zeitgedächtnis kann der Form sprachlicher Äußerungen keine Schranken mehr auf-erlegen. Chafe stellt sich die Frage, was mit den freigewordenen kognitiven Ressour-cen geschieht, und findet darauf folgende Antwort:

The result is that we have time to integrate a succession of ideas into a single

linguistic whole in a way that is not available in speaking […]. I will say that

written language tends to have an ‘integrated’ quality which contrasts with the

fragmented quality of spoken language. (Chafe 1982: 37-38)

1 Maas distanziert sich von einem wertenden Gebrauch des Begriffs Komplexität (vgl. Maas 2008b: 22); er bezieht sich immer auf die strukturellen Eigenschaften der Sprache. Weniger komplexe Sprachstrukturen haben in seiner funktionalen Betrachtung ebenfalls ihren Platz in gegebenen Kontexten.

Katharina Schwabl et al. ______________________________________________________________________

72

Ähnlich beschreibt auch Maas, dass orate Strukturen im Sinne aller Gesprächsteilneh-mer nicht nur kurz gehalten sind, sondern vor allem auch möglichst wenig Informa-tion auf einmal transportieren (vgl. Maas 2007/II: 52ff). Meist wird nur eine neue In-formation pro Intonationseinheit geliefert, oft nur ein Referent lexikalisch explizit ge-macht (vgl. Chafe 1994: 65ff). Die Organisation der Äußerungen ist wenig komplex, der Diskurs ist weitgehend durch einfache Sätze bestimmt (vgl. Chafe 1994: 65; Maas 2007/II: 55), die häufig unverknüpft bleiben oder nur durch koordinierende Kon-junktionen in allgemeiner Funktion aneinandergereiht werden (vgl. Chafe 1982: 38; Schwitalla 1997: 107). Literate Äußerungen zeigen hingegen eine “Komprimierung des Inhalts” (Maas 2007: II/54); häufig sind mehrere Propositionen in einem Satz ver-eint (vgl. Maas 2008b: 22; Chafe 1982: 44). Typisch sind jegliche grammatische Mittel zur Informationsverdichtung, wie beispielsweise Relativsätze (Chafe 1982: 44), parti-zipiale und konverbiale Prädikation (Maas 2007/II: 54), attributive Adjektive (Chafe 1982: 40; Maas 2007/II: 54) und Nominalisierungen (Chafe 1982: 39f).

(b) Der Wegfall des außersprachlichen Kontextes: Für diese Arbeit von besonde-rer Bedeutung ist die Desituiertheit oder Dekontextualisiertheit schriftlicher Texte. Im Gegensatz zur gesprochenen Sprache existieren schriftliche Texte losgelöst von einer konkreten Situation, weshalb nicht die Möglichkeit besteht, sich auf Informa-tion außerhalb des Textes zu stützen (vgl. Scinto 1986: 57), weder auf Gegebenheiten der Äußerungssituation, noch auf Wissen und Äußerungen, die ein konkretes Gegen-über in den Diskurs einbringen kann. Der gesamte Inhalt muss im Text selbst ausge-drückt werden um für ein im idealtypischen Fall “universales Gegenüber” (Maas 2007/II: 57) in jeder beliebigen Situation verständlich zu sein. Strukturell manifestiert sich die Kontextabhängigkeit gesprochener Sprache in ihrer Reduziertheit und Unex-plizitheit, während ein geschriebener Text – außerhalb jedes situativen Kontextes stehend – alle Referenten und deren Beziehung zueinander sprachlich explizit ma-chen muss.

Als akustisches Signal stützt sich die gesprochene Sprache außerdem auf die Prosodie als paraverbale Informationsquelle in der Diskursgliederung und der Mar-kierung des Stellenwerts von Information im Diskurs. Deren Wegfall wird in ge-schriebener Sprache – wenn auch unzureichend – durch andere Mittel zu kompensie-ren versucht (vgl. Chafe 1994: 43). Eine mit ihrer Situiertheit zusammenhängende Ei-genschaft gesprochener Sprache ist die Interaktivität orater Sprachformen bedingt durch die Anwesenheit eines konkreten, anwesenden Empfängers (vgl. Scinto 1986: 60). Dialogische Strukturierung (Scinto 1986: 60), diskursregulierende Partikel (Chafe 1994: 64), deiktische Referenz auf Gesprächsteilnehmer (Biber 1988: 57), Ausdruck des mentalen Zustandes des Sprechers (Biber 1988: 131), etc. sind die sprachliche Refle-xion dieser Interaktivität, und deshalb in literaten Strukturen typischerweise nicht anzutreffen sind, wo die Diskurskontrolle nur beim Produzenten liegt.

Literate Strukturen sind also als komplexer zu betrachten, da sie mehr sprachli-che Information enthalten und diese in komplexerer und expliziterer Weise verknü-pfen als es in oraten Kontexten üblich ist. Der Zusammenhang mit dem Medium Schrift könnte hier folgendermaßen zusammengefasst werden: Durch den Wegfall des außersprachlichen Kontexts beim Schreiben ist diese Komplexität notwendig, da die gesamte Information aus dem Text selbst kommen muss; durch den Wegfall des

Protoliterate Strukturen bei Kindergartenkindern mit Migrationshintergrund ______________________________________________________________________

73

zeitlichen Drucks wird sie möglich, weil Äußerungen geplant und überarbeitet wer-den können.

2.3. Sprachausbau

An dieser Stelle soll kurz auf Maas’ Konzept des Sprachausbaus eingegangen werden, da es in der Folge für das Verständnis der Problematik in Zusammenhang mit Migra-tionsverhältnissen von Nutzen sein wird.

Sprachausbau bedeutet die strukturelle Entfaltung einer Sprache, sowohl in einer diachronen Linie, als auch in der Betrachtung der ontogenetischen Sprachentwick-lung als fortlaufende Erschließung von immer komplexeren Sprachstrukturen (vgl. Maas 2008b).

2.3.1. Diachron

Ausgangspunkt für das Verständnis dieses Begriffs muss die bereits angedeutete Er-kenntnis sein, dass (menschliche) Kommunikation in bestimmten Kontexten extrem reduzierten Gebrauch von Sprache macht, ja sie sogar völlig aussparen und trotzdem funktionieren kann (vgl. Bühler 1999: 154ff). Bühler spricht in diesem Zusammenhang von empraktischem Sprechen (Bühler 1999: 155). Der Terminus deutet an, dass Spra-che in solchen Fällen in eine soziale Praxis eingebunden ist und nicht für sich selbst stehen muss. Kontextfreiere Anwendungen von Sprache verlangen dieser in struktu-reller Hinsicht mehr ab. Als kontextfreier sind bereits Situationen zu verstehen, in de-nen ein zu vermittelnder Inhalt nicht klar aus der betreffenden Situation hervorgeht (vgl. Maas, persönlicher Kommentar); das potenziert sich aber in der völligen Losge-löstheit schriftlicher Texte. Für schriftliche Funktionen sind komplexere (literatere) Strukturen erforderlich, wie sie auch entwickelt werden, wenn eine Sprache ver-schriftlicht wird.

Die logische Folge einer solchen Sichtweise ist, dass Sprachen, die als Schrift-sprachen genutzt werden, als strukturell ausgebaut zu betrachten sind, was für nicht verschriftlichte Sprachen nicht gilt. Die Idee wird hier stark vereinfacht wiedergege-ben, denn orat und literat stellen keine absoluten Werte dar, sondern sind vielmehr idealtypische Endpunkte eines Registerkontinuums, zwischen denen es eine Vielzahl möglicher Abstufungen gibt (vgl. Biber 1988: 22). Auch Sprachen, die nicht verschrift-licht sind, können ein kontextfreieres (literateres – wenn man so will) Register auf-weisen, als die Alltagskonversation (vgl. Chafe 1982: 51f.). Durch die Einführung der Schrift werden literate Strukturen aber in größerem Ausmaß benötigt und entwickelt. Die Registerdifferenzierung ist in solchen Sprachen also stärker ausgebildet, als in nicht verschriftlichten.

Katharina Schwabl et al. ______________________________________________________________________

74

2.3.2. Ontogenetisch

Der gesamte Spracherwerb kann insofern als Sprachausbau betrachtet werden, als er auf die Entwicklung immer dezentrierterer2 Strukturen ausgerichtet ist. Die Sprache des Kindes bleibt zunächst stark abhängig von bestimmten situativen Kontexten und der aktiven Unterstützung einer Bezugsperson. Der Beginn allen Bedeutens ist nach Annahme mancher Spracherwerbsforscher in deiktischem Verhalten zu suchen (vgl. Lyons 1979), das bekanntlich nicht ohne Einbettung in einen situativen Kontext aus-kommt. Auch pivot-schemas (vgl. Tomasello 2003: 115) – schreibt man ihnen nun ru-dimentären strukturellen Charakter zu oder nicht – sind für ihre Interpretation in ho-hem Maße abhängig vom Kontext der Sprechsituation. Mit fortschreitendem Sprach-erwerb ist jedoch ein Zugewinn an Autonomie verbunden, der im Erwerb literater Strukturen seinen Höhepunkt findet:

In dem Maße, wie sich das Kind die Ressourcen der (Erwachsenen-) Sprache

zueigen macht, hat es die Möglichkeit, zum autonomen Akteur zu werden. Und

auch hier ist dann wieder der Zugang zur literaten Kultur (vorausgesetzt, die-

ser ist Bestandteil der sozialen Umgebung) eine Potenzierung der so angeeig-

neten Ressourcen zur symbolischen Verfügbarmachung der Welt. (Maas

2007/II: 9)

Unser Verständnis des Spracherwerbs schließt hier an neuere kognitivistische Ansä-tze an, die Sprache als nichts grundlegend Anderes betrachten als andere, generellere kognitive Strukturen (vgl. Tomasello 2003: 3). Dabei nehmen wir mit Maas an, dass die kommunikative Einbettung von Sprache unter weitgehender Aussparung von Struktur allgemeinere kognitive Strukturen zur Grundlage hat, als dezentriertere Sprachstrukturen, denen auf höherer kognitiver Ebene spezifischere Strukturen zu-grunde liegen (vgl. Maas 2007/II: 24). Das steht im Einklang mit Karmiloff-Smiths neuro-konstruktivistischer Herangehensweise, die ebenfalls eine stärkere Spezialisie-rung und auch Modularität kognitiver Systeme auf höherer Ebene annimmt (vgl. Kar-miloff-Smith 2006). Die Errichtung des Sprachsystems geht demzufolge diesen Weg: Sie nutzt zunächst allgemeine kognitive Grundstrukturen des Menschen, um darauf sukzessive immer komplexere, spezifischere aufzubauen (vgl. Maas 2007/II: 24ff.).

Ebenso wie für die diachrone Sprachentwicklung gilt auch hier, dass Sprachaus-bau nicht an das Medium Schrift – konkret: an den Schriftspracherwerb – gebunden ist. Die Entwicklung dezentrierter Sprachstrukturen beginnt schon davor und kann schon früh einen gewissen Grad an Literatheit erreichen, wie die erwähnte protolite-rate Phase beweist. Durch die Verwendung der Schrift wird diese Entwicklung jedoch stark beflügelt (vgl. Maas 2007/II: 48), da die Aufmerksamkeit auf die sprachliche Form gelenkt wird.

Grundlegend für das Verständnis der mangelnden schriftsprachlichen Kompe-tenz bestimmter Schüler ist die Einsicht, dass eine Sprache in einem ihren funktiona-len Anforderungen entsprechendem Ausmaß ausgebaut wird. Das gilt für bestimmte

2 Maas verwendet das Attribut “dezentriert” als Gegenpol zu Piagets “egozentrischer” Sprache. Idealtypische literate Strukturen sind maximal dezentriert.

Protoliterate Strukturen bei Kindergartenkindern mit Migrationshintergrund ______________________________________________________________________

75

Sprachen ebenso wie für die individuelle Sprachkompetenz des Einzelnen. Wer in sei-ner Sprache nur wenige und informelle Domänen zu bewältigen hat, sieht sich nicht mit der Notwendigkeit konfrontiert, komplexe Sprachstrukturen zu verwenden und entwickeln (vgl. Maas 2007/II: 50ff.).

2.4. Qualitative Analyse eines Beispiels

Die folgende qualitative Analyse eines Ausschnitts einer Erzählung soll dazu dienen, die Unterscheidung orat-literat an konkreten Beispielen zu verdeutlichen. Die folgen-de Passage wurde einer Erzählung eines monolingualen, österreichischen Kindes (06;04) entnommen. Die betreffende Erzählung entstand spontan in einer kommuni-kativen Situation, weshalb sie als gutes Beispiel für eine orate Erzählsituation dienen kann. Im gesamten Diskurs ging es um eine Rettungsaktion für einen Vogel, die von der Mutter des Mädchens durchgeführt und von allerhand Publikum begleitet wurde.

In einer kommunikativen Situation ist diese Erzählung als vollständig funktional zu betrachten. Für schriftliche Zwecke müsste man jedoch noch einige Änderungen am Text vornehmen (Maas spricht von literatem Editieren oder Umbau; Maas 2007/II: 62).

Bsp.: D01F01

(1) F01 und // dann hat meine Mama meinen Papa angerufen

uːnth // d̥a ... d̥ɑn hɔt maɛ ̯ˈma:mɐ maɛn̯ papɐ.ɑɔŋ̯gʁʊɐf̯ɱ̩

(2) F01 und hat der Papa gesagt (ʊn) hɔt d̥ɑ ˈpapɐ ʦɔk (3) F01 weil er arbeiten war vaɭ.ɐ.ˈavaɛt̯n̩ v̥ɔɐ ̯(4) F01 wir sollten (ihn = den Vogel)

auf’s Dach raufsetzen mɪɐ ̯suɭtn̩ am ˈd̥ax aɔf̯(ɪ)sɛɪʦ̯n̩

(5) F01 da sind wir am (=auf den) Dach-boden alle gegangen

dɔ samɐ.am ˈd̥axbo:.n ɔɭɛ ̈gɑɔŋ̯ɐn

(6) F01 auf unseren ɑf ˈuːnsɐn (7) F01 und dann ist die Mama durchs

ganz kleine Fensterl durchgekra-xelt

ʊn thɑɔn̯ is d̥i ˈmamɐ d̥ʊɐx̯.s g̊ɑɔ̯n̯ʦ kʎa:nɛ¨ ˈfɜın̯stɐl dʊɐxkȐakslt̩

(8) F01 alle haben schon geschaut ɔɭɛ̈ hɑm ʃɔ ˈʧɑɔt̯ (9) F01 mit dem Gucker sind sie hinauf mi:.n ˈg̊ukɐ sa:ns ɑɔ̯f̯ı (10) F01 Manche sind mit dem Handy

schon gestanden mɑɔ̯n̯çɛ ̈sa:n mi:.n ˈhɛnd̥ı ʃɑ g̊ʃtɑɔn̯d̥n̩

(11) F01 unten untn̩

Beispiele für das, was Chafe mit ‘fragmenthafter Charakter gesprochener Sprache’ be-zeichnet, finden wir in 6 und 11. Hier werden lexikalische Inhalte nicht grammatisch in einen Satz integriert, sondern stehen als Nachtrag zu einer vorhergehenden Äuße-rung (und auch prosodisch abgesetzt von dieser, was die Transkription in einer neuen Zeile verdeutlichen soll), wohl weil in der Planung der Äußerung diese Menge an lexikalischer Information nicht gemeistert wurde. In einem literaten Kontext wären diese Einheiten in den Satz zu integrieren.

Katharina Schwabl et al. ______________________________________________________________________

76

In 2 weist eine deklarative Äußerung Verberststellung auf, was laut Schwitalla ein typisches Phänomen im gesprochenen Deutsch ist, das gehäuft in Erzählpassagen anzutreffen ist. Er vermutet, dass hier der Wegfall eines satzinitialen, kohärenzstif-tenden Elements in dieser Satzstellung resultiert und den Effekt größerer kontex-tueller Verbundenheit bewirkt (vgl. Schwitalla 1997: 72f). Was in gesprochener Spra-che durchaus üblich und deshalb unauffällig ist, wäre jedoch in schriftlichen Kon-texten nicht zulässig (vgl. Schwitalla 1997: 73). In einem solchen Fall müsste die normgrammatische Verbzweitstellung deutscher Deklarativsätze erfüllt werden.

Ebenfalls aus schriftsprachlicher Sicht disfunktional sowie auch unzulässig sind elliptische Strukturen, wie in 9, wo eine Äußerung kein finites Verb aufweist. Literate Strukturen verlangen vollständige Sätze, die, als “geschlossenes und wohlbesetztes Symbolfeld” im Sinne Bühlers (Bühler 1999: 366), unabhängig des situativen Kontex-tes nur aus sich selbst heraus interpretierbar sind.

Über die funktionalen Anforderungen hinaus sind mit Schriftsprache auch im-mer normative3 Vorgaben verknüpft. Auf dieses Fallbeispiel bezogen wäre zu erwäh-nen, dass die schriftsprachliche Erzählzeit eigentlich Präteritum ist (während Perfekt im österreichischen Deutsch die unmarkierte Wahl für gesprochene Erzählungen dar-stellt), und gewisse Lexeme als typisch orat zu betrachten sind und deshalb durch ad-äquate Ausdrücke zu ersetzen wären (durchkraxeln > durchklettern, Gucker > Fern-glas).

Dass schon Vorschulkinder ein gewisses Wissen über diese Registervariation er-werben können, wird durch einschlägige Studien bestätigt. Die Frage ist somit nicht, ob literate Strukturen in Erzählungen von Vorschulkindern auftreten können, son-dern welcher Grad an Literatheit erwartbar ist. Fest steht jedenfalls, dass der Zugang zu ihnen gewährleistet sein muss; das bedeutet, dass literate Strukturen Teil des sprachlichen Inputs eines Kindes sein müssen. So kann die Registervariation im Be-zug auf das orat-literat Kontinuum bis zu einem gewissen Grad vollzogen werden. Das Auftreten gewisser Strukturen, die als typisch literat beschrieben werden, dürfte dennoch unwahrscheinlich sein, zumal diese – wohl aufgrund ihrer Komplexität und des Umstandes, dass sie primär in Textsorten auftreten, zu denen Kinder keinen Zugang haben – im Vorschulalter noch nicht erworben sind. Beispielsweise erwähnt Berman, dass es in diesem Alter noch äußerst unüblich ist, Vorder- und Hintergrund-information syntaktisch in Haupt- und Nebensätze zu verpacken (vgl. Berman 1997: 64).

3 Die Trennung von funktionaler und normativer Ebene der Sprachstrukturen ist bei Maas grundlegend für eine systematische Betrachtung des Sprachausbaus (vgl. Maas 2008b: 43).

Protoliterate Strukturen bei Kindergartenkindern mit Migrationshintergrund ______________________________________________________________________

77

3. Die Migrationsproblematik

3.1. Sprachliche Verhältnisse in westeuropäischen Natio-

nalstaaten

Die einsprachigen Verhältnisse westeuropäischer Nationalstaaten müssen aus globa-ler Perspektive als Sonderfall betrachtet werden. Der Fall, dass alle Register einer Sprechergemeinschaft von mehr oder weniger nahen Varietäten ein und derselben Sprache abgedeckt werden ist eine eher neue Errungenschaft, die mit der Etablierung nationalstaatlicher Verhältnisse einherging (vgl. Maas 2008b: 7). Volkssprachen wur-den in den Rang von Schriftsprachen und Sprachen der Staatsführung erhoben, wo-durch diese plötzlich nicht mehr fremd waren, sondern von der eigenen im familiären Umfeld gesprochenen Varietät aus erreichbar wurden (vgl. Maas 2007/II: 83). Diese Umordnung sprachlicher Verhältnisse ebnete die Bahn für eine Entwicklung, die Maas mit “Demotisierung der Schriftkultur” bezeichnet (vgl. Maas 2007/II: 81ff.) – das Durchsickern der Schriftkultur bis in die alltagssprachlichen Bereiche.

Demgegenüber sind die Verhältnisse in der Mehrheit der Gesellschaften dieser Welt nach wie vor durch Mehrsprachigkeit bestimmt (vgl. Maas 2008b: 7; Millar 2005: 18). Die Sprache des intimen, familiären Bereichs ist häufig eine ganz andere als jene des formellen und schriftsprachlichen Registers (wenn vorhanden), wodurch die Schrift oftmals nur einem kleinen, “professionellen” Kreis vorbehalten bleibt (vgl. Maas 2007/II: 84). Solche Verhältnisse herrschen oft auch in den Herkunftsgesellschaf-ten von Migranten vor.

Bei näherem Hinsehen ist jedoch selbst die Einsprachigkeit westeuropäischer Nationalstaaten wohl nur eine idealisierte Vorstellung (vgl. Millar 2005: 18f). Die Er-hebung einer Volkssprache als Schriftsprache machte diese einerseits einer Mehrheit der Bürger zugänglich, doch schloss gleichzeitig Angehörige autochtoner wie zuge-wanderter Minderheiten davon aus; man könnte sogar sagen, sie machte die Entste-hung von sprachlichen Minderheiten, wie wir sie heute kennen, erst möglich (vgl. Maas 2007/I: 89). Der Alltag von Angehörigen solcher Minderheiten ist trotz offiziel-ler Einsprachigkeit durch die Verwendung mehr als einer Sprache bestimmt. Mehr-sprachige Verhältnisse, wie sie als Folge von Zuwanderung entstehen, werden hier nun näher in den Blick genommen.

3.2. Soziolinguistische Einordnung literater Strukturen:

Das Problem des Zugangs

Wenn also alle funktionalen Domänen von Varietäten einer Sprache abgedeckt wer-den, wie es in westeuropäischen Nationalstaaten zumeist der Fall ist, liegt eine breite sprachliche Variation in der betreffenden Sprache vor, die im Zuge des Spracherwerbs angeeignet werden sollte, da die Beherrschung dieser immer neue Möglichkeiten des sprachlichen Handelns erschließt. Da der Zugang zur Schriftsprache grundlegend für gesellschaftliche Partizipation ist, sollte dieser durch die Institution Schule für alle gleichermaßen gesichert sein. Die Schulerfolge von Kindern mit Migrationshinter-

Katharina Schwabl et al. ______________________________________________________________________

78

grund ausgehend von schriftsprachlichen Misserfolgen zeugen jedoch gerade nicht von Chancengleichheit in diesem Bereich.

Da orate Strukturen dem intimen und informellen Register zuzuordnen sind, ge-hen diese den dem formellen Register zugehörigen literaten Strukturen in der ontoge-netischen Sprachentwicklung voraus. Literate Strukturen werden jedoch als natürli-che Fortsetzung des sprachlichen Wissens erworben, das sich Kinder bis dahin im oraten, kommunikativen Bereich angeeignet haben, wenn die Bedingungen dafür ge-geben sind. Ein fruchtbarer Boden für eine solche literate Entwicklung ist ein familiä-res Umfeld, in dem Schriftsprache eine Rolle spielt und durch Praktiken wie Ge-schichten erzählen und Vorlesen Einzug in die sprachliche Welt des Kindes findet (vgl. Pontecorvo 1994: 343). Sulzby &Teale 1991 identifiziert 4 Faktoren des familiären Umfelds, die starken Einfluss auf einen späteren Erfolg im Umgang mit Schriftspra-che zu haben scheinen: (1) die Bandbreite schriftlichen Materials im familiären Um-feld, (2) die Zugänglichkeit schriftlichen Materials im Allgemeinen, (3) die Häufigkeit, in der dieses mit Kindern geteilt wird und (4) die responsiveness der Eltern (vgl. Sulz-by & Teale 1991; z.n. Verhoeven 1997: 227). Wo eine literate Umgebung vorliegt wur-de eine protoliterate Phase bei Kindern bereits ab 4 Jahren beobachtet (vgl. Pontecor-vo 1994: 333). Durch die Erreichbarkeit des formellen Registers und die Selbstver-ständlichkeit des Umgangs mit Schriftlichkeit in unserer Gesellschaft ist diese Ent-wicklung weitgehend erwartbar und wird in unserem Schulsystem auch unbewusst vorausgesetzt, was jenen Kindern zum Verhängnis wird, die diese Phase nicht durch-laufen haben. Betroffen sind alle, die aus verschiedenen Gründen nicht oder nur in unzureichendem Ausmaß Zugang zur Schriftkultur haben, wie beispielsweise Kinder aus sogenannten “bildungsfernen Elternhäusern”, aber mehr noch solche, wo die be-sagte Bildungsferne mit einer sprachlichen Minderheitssituation korreliert, wie es ins-besondere bei Kindern mit Migrationshintergrund häufig der Fall ist. Die Situation dieser letztgenannten soll nun in aller Kürze umrissen werden.

Der erwähnte erschwerte Zugang zur Schriftkultur ergibt sich für Kinder mit Migrationshintergrund aus dem Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Eingangs soll er-wähnt werden, dass der Erwerb der Schriftlichkeit an sich, wie bereits oben festgehal-ten, für Kinder in der Regel einen Bruch in der Sprachentwicklung darstellt. Wenn Kinder erst mit dem Schuleintritt mit der Sprache der Mehrheitsgesellschaft in Kon-takt kommen, fallen der Zweitspracherwerb und die besagte kritische Phase zusam-men, weshalb in diesen Fällen der Schriftspracherwerb naturgemäß mit größeren Schwierigkeiten verbunden ist (vgl. Verhoeven 1994: 10). Auch Maas erwähnt, dass eine Konstellation, wo Schriftsprache von einer der Familiensprache verwandten Va-rietät abgedeckt wird, deren Erreichbarkeit erleichtert, da der Sprecher in der Lage ist, zwischen verwandten Varietäten schnell Regelhaftigkeiten zu entdecken (vgl. Maas 2007/I: 27). Dass Schriftlichkeit in einer anderen Sprache gemeistert werden muss, kann jedoch nicht die alleinige Ursache für die beobachteten Misserfolge sein. Maas berichtet über vietnamesische Kinder in Deutschland, die, obwohl ihre Sprache sehr große typologische Distanz zum Deutschen aufweist, durch außerordentlich gute Schulerfolge auffallen (vgl. Maas 2007/II: 81). Wir können also festhalten, dass der Umstand, dass der Schriftspracherwerb in einer anderen Sprache erfolgen muss, zwar problematisch sein kann, ihm jedoch nicht allzu viel Bedeutung beigemessen werden

Protoliterate Strukturen bei Kindergartenkindern mit Migrationshintergrund ______________________________________________________________________

79

sollte. Ob dieser Umstand erschwerend wirkt, hängt wohl davon ab, ob andere nach-teilige Faktoren hinzukommen. In dieses Bild fügt sich die Beobachtung, dass Bilin-gualismus im Allgemeinen in manchen Fällen positiv in anderen aber negativ auf die intellektuelle Entwicklung eines Kindes zu wirken scheint, je nachdem mit welchen soziolinguistischen und -ökonomischen Bedingungen er zusammenfällt (vgl. Fishman 1965: 237).

Viel einflussreicher als sprachliche Distanz scheint die Situation, dass Kindern aus Migrationsverhältnissen oftmals kein Zugang zu einem formellen Register (egal in welcher Sprache) möglich ist, in welchem schriftsprachliche Strukturen anzusie-deln sind (Maas 2007/I: 49f). Die Nutzung der Familiensprachen, Minderheitenspra-chen ohne jeglichen offiziellen Status, bleibt auf das intime und allenfalls informelle Register beschränkt. Eine nicht unerhebliche Anzahl von Migranten entstammt be-reits Minderheitsgesellschaften ihrer Herkunftsländer (vgl. Brizić 2006: 35). Unter Umständen sprechen die Migranten in ihrem familiären Umfeld sogar Sprachen, die überhaupt kein formelles Register aufweisen (vgl. Maas 2007/I: 30; am Beispiel ma-rokkanischer Berber), weshalb sie nicht als ausgebaute Sprachen zu betrachten sind. Es wäre demnach für das Kind gar nicht möglich, den Sprachausbau in seiner L1 zu vollziehen. In Zusammenhang mit sprachlich heterogenen Verhältnissen ist Brizić 2006 zu erwähnen, die bemerkt, dass das sprachliche Wissen eines Kindes immer aus allen zur Verfügung stehenden Sprachen besteht und auch so beschrieben werden muss.

Ausschlaggebend scheint auch die häufige Zugehörigkeit zu einer niederen so-zialen Schicht zu sein (vgl. Maas 2007/II: 97), die, wie vielerorts erwähnt wird, Kinder nicht mit denselben sprachlichen Voraussetzungen ausstattet, wie sie Kinder der Mit-telschicht üblicherweise erwerben. Maas schlägt in diesem Zusammenhang vor, Bern-steins Konzeption des restringierten und elaborierten Codes neu aufzurollen und ihre vermeintliche politische Inkorrektheit zu überdenken: Der Sprache der Unterschicht haftet an sich kein Defizit an, denn sie ist auf kommunikative Bereiche kalibriert und dort funktional. Als problematisch zu betrachten ist die eingeschränkte Möglichkeit der Registervariation solcher Gruppen. Das ist es, worauf sich restringiert in diesem Zusammenhang beziehen soll. Das Problem der unteren sozialen Schichten ist, wie Maas vermutet, nicht unbedingt, dass sie zuwenig sprachliche Ressourcen mitbräch-ten, sondern die fehlende Selbstverständlichkeit mit sprachlicher Variation umzuge-hen (vgl. Maas 2007/II: 98). Gerade bei Kindern mit Migrationshintergrund, die in sprachlich heterogenen Verhältnissen aufwachsen, blieben, wie er meint, vielerlei Ressourcen jedoch ungeachtet und ungenutzt (vgl. Maas 2007/II: 136; vgl. auch Brizić 2006).

Oft wird postuliert, Kinder mit Migrationshintergrund würden schon in ihrer oder ihren Muttersprachen über unzureichende Ressourcen verfügen, wobei durchaus nicht nur das Fehlen schriftnaher Varietäten gemeint ist (vgl. Brizić 2006). Diese im allgemeineren dürftigen Sprachkenntnisse dürften jedoch folgenden Zusammenhang mit unserer Problematik aufweisen: Einfachere Sprachstrukturen bilden das Funda-ment für den Aufbau komplexerer Strukturen (vgl. Maas 2007/II: 47). Wo das Funda-ment jedoch schon lückenhaft ist, kann nur schwer etwas darauf errichtet werden. Brizić findet als folgenschwerste Ursache für solche unzureichende Kompetenz in der

Katharina Schwabl et al. ______________________________________________________________________

80

Sprachbiographie vieler Migrantenfamilien einen Wechsel zu einer Mehrheitssprache, wodurch schon in der Generation der Eltern viel Sprachkapital verloren ging (Brizić 2006: 36ff). Allgemeiner ausgedrückt liegt in Migrationsverhältnissen wohl häufig das Problem des unzureichenden sprachlichen Inputs vor, das sich nicht zuletzt durch das Abgeschnitten-Sein von einer Sprechergemeinschaft ergibt.

Als problematisch werden mancherorts auch kulturelle Einstellungen gegenüber Schule und Schriftsprache genannt, die nicht deckungsgleich mit denen der Einwan-derungsgesellschaft sind (vgl. Maas 2007/II: 84). Aber auch in diesem Zusammenhang erwähnt Maas, dass es vor allem die Selbstverständlichkeit des Umgangs mit schriftli-chen Texten ist, die die Problematik ausmacht. Mangelnde Motivation und Interesse am Erwerb dieser Kenntnisse scheinen nicht vorzuliegen (vgl. Brizić 2006: 5).

Zusammenfassend stellen sprachliche und kulturelle Distanz sicher erschweren-de Faktoren dar, sind jedoch nicht als hauptverantwortlich für den schulischen Miss-erfolg von Kindern mit Migrationshintergrund zu betrachten. Ausschlaggebend ist wohl, welche sprachlichen Ressourcen ein Kind bei Schuleintritt mitbringt und was in der Folge daraus gemacht wird.

4. Studie

4.1. Material und Methode

Die vorliegende Studie stützt sich auf Daten aus einem ursprünglich umfangreicheren Corpus, das im Frühjahr 2008 in Kooperation mit der Fachabteilung 6E des Land Steiermark erhoben wurde. Der ursprüngliche Zweck der Daten war die Durchfüh-rung qualitativer Analysen im Bezug auf vorschulisches schriftsprachliches Wissen von Kindern mit Migrationshintergrund. Dementsprechend ist das Datenmaterial sehr heterogen. Das Ausgangsmaterial umfasst 22 Kinder mit Migrationshintergrund und auch einige monolinguale, österreichische Peers und enthält Erzählungen sowie spontansprachliche Daten. Die Transkriptionen wurden in einer Datenbank zusam-mengeführt. Für eine quantitative Studie wie die vorliegende sind sie aufgrund der erwähnten Heterogenität nicht vollständig geeignet, weshalb wir selektiv vorgehen mussten.

Für unsere quantitative Studie wurden schließlich Daten von 15 Kindern ausge-wählt, da diese eine relativ große Vergleichbarkeit gewährleisten konnten. Es handelt sich dabei ausschließlich um Kinder mit Migrationshintergrund (wobei sich dieser wiederum sehr unterschiedlich gestaltet), die den Altersbereich 03;08 – 06;09 abdecken; also beginnend in einem Alter, in dem noch kaum protoliterates Wissen zu erwarten ist, bis hin zu einem Alter, in dem es unbedingt erwartbar wäre, gesetzt den Fall, die Kinder hatten Zugang zu literaten Strukturen. Eine Einteilung in Altersgruppen wäre wünschenswert gewesen, aber die Zusammenfassung zu vergleichbaren Gruppen mit einer zahlenmäßig sinnvollen Verteilung erwies sich als zu schwierig.

Die zentrale methodische Frage war, wie man bei Kindern, die noch nicht schrei-ben gelernt haben schriftsprachliche Strukturen elizitieren kann. Es galt eine Situa-

Protoliterate Strukturen bei Kindergartenkindern mit Migrationshintergrund ______________________________________________________________________

81

tion zu schaffen, die für das Kind als eine erkennbar war, die literate Strukturen ver-langte. Hierfür erprobten wir zunächst 2 Methoden: Methode 1: Gespieltes Vorlesen: Hierbei wurden die Kinder gebeten, ein Buch in die Hand zu nehmen und einem oder mehreren Hörern “vorzulesen”. Methode 2 orientierte sich an einer Vorgehensweise, die schon anderorts zur Anwendung kam (vgl. Pontecorvo & Zucchermaglio 1989; Maas 2008). Hierbei wurde das Kind gebeten eine Geschichte zunächst einem Gegen-über zu erzählen und anschließend zum Aufschreiben zu diktieren. Wie Maas be-richtet, hat das Vorliegen einer literaten Situation bei manchen Kindern die Folge, dass die Person, die ursprünglich das Gegenüber war, dem eine Geschichte erzählt wurde, nun plötzlich nur mehr die Funktion des Schreibers, sozusagen des Mediums einnahm, durch das der Text artikuliert wurde (vgl. Maas 2007/II: 95-96). Inwieweit Vorschulkinder fallweise bereits in der Lage sind, sich Bedingungen und Beschrän-kungen des Schreibens bewusst auseinanderzusetzen, zeigen Pontecorvo & Zuccher-maglio 1989 indem sie auch den Prozess des Diktierens und nicht nur das Produkt in ihre Analysen mit einbeziehen.

Methode 1 erwies sich – obgleich diese Situation manchmal spontan unter den Kindern zu beobachten war – vor allem im Fall der Kinder mit Migrationshinter-grund als weniger fruchtbar. Das ist möglicherweise auf die Verwendung des Stich-wortes “Lesen” in Kombination mit dem Vorliegen einer vermuteten Testsituation zu-rückzuführen, die uns häufig anstatt des erhofften Ergebnisses nur die Antwort “das kann ich ja nicht” einbrachte. Die in dieser Studie verwendeten Daten stammen des-halb ausschließlich aus Situationen, in denen Methode 2 angewandt wurde, die bes-sere Ergebnisse zeigte, weil möglicherweise das mündliche Erzählen zunächst auch den Effekt hatte die Scheu vor der Situation abzubauen. Diese Methode hat außerdem den Vorteil, dass wir hierbei zwei Erzählungen erhalten, von denen eine in einer un-markierten, kommunikativen Situation entstand, in der sich tendenziell orate Struk-turen erwarten ließen, wohingegen der zweite Text in einer als literat definierten Situation entstand und deshalb literatere Strukturen aufweisen sollte, sofern das Kind über diese Registervariation Kontrolle hat. Wir werden in der Folge auf diese beiden Erzähldurchläufe mit den Etiketten orat und literat verweisen und uns damit auf die definierte Situation beziehen. Die beiden Erzählungen wurden also in der Folge gegenübergestellt um zu ermitteln, ob sich hier quantitativ feststellbare Unterschiede im Bezug auf bestimmte Merkmale, die wir als orat bzw. literat definierten, ergaben. Die ausgewählten Strukturen sind in der Folge unter 4.2. aufgelistet.

Da diese unter anderem Satzstellung und syntaktische Vollständigkeit von Äu-ßerungen betreffen, wurden nur Äußerungen gewertet, die Aussagesätzen entspre-chen. Imperative und Fragen (sofern sie vorkamen), die Wiedergabe direkter Rede (u.U. stark gesprochensprachlich in ihrer Struktur) und ähnliches wurden aus der Analyse genommen. Somit ergab sich am Ende Datenmaterial bestehend aus 1248 Äußerungen, davon 1096 narrative und 152 spontansprachliche. Innerhalb der narrativen Passagen entfallen 508 auf die orate Erzählsituation, 588 wurden in der literaten Situation geäußert.

Katharina Schwabl et al. ______________________________________________________________________

82

4.2. Ausgewählte Strukturen

In Berücksichtigung der Daten entschieden wir uns eine Auswahl von Strukturen unter die Lupe zu nehmen. Zum Teil handelt es sich dabei um Strukturen, die klar dem oraten Bereich zuzuordnen sind und in einer literaten Situation vermieden und durch andere ersetzt werden sollten (z.B. die Linksherausstellung), zum Teil handelt es sich auch um Strukturen, die zwar in beiden Kontexten zulässig, aber in einem davon in höherer Frequenz anzutreffen sein sollten (z.B. Subordination).

Parataktisch vs. hypotaktisch: Häufig wird gesprochener Sprache ein stark para-taktischer Charakter zugesprochen, während hypotaktische Organisation als typisch literat betrachtet wird. Das soll nicht heißen, dass parataktische Verknüpfung der Schriftsprache fremd ist und syntaktisch abhängige Sätze in gesprochener Sprache nicht vorkommen. Hier wird nur eine Tendenz ausgedrückt. Anhand der folgenden Merkmale versuchten wir zu überprüfen, ob sich diese auch in den Erzählungen der Kinder wiederfindet.

- Häufigkeit der Satzeinleitung durch und – nach Chafe (1982: 38) die unmar-kierte Äußerungsverknüpfung in gesprochener Sprache

- Häufigkeit der Subordination

Elliptische Äußerungen vs. vollständige Sätze: Elliptische Äußerungen sind in oraten Strukturen stark vertreten, da vieles bereits aus dem Kontext der Gesprächssituation klar hervorgeht und syntaktisch vollständige Äußerungen geradezu redundant wä-ren, weshalb elliptisch auch in diesem Zusammenhang eher ökonomisch, nicht aber als unvollständig im Sinne von fehlerhaft zu betrachten ist (vgl. Bühler 1999: 88). Da wir es hier mit Kindern zu tun haben, die der Mehrheitssprache erst kurze Zeit ausge-setzt waren und demnach naturgemäß nicht muttersprachliche Kontrolle über die Strukturen dieser Sprache erlangen konnten, mussten wir die Definition von ellip-tisch an diese Gegebenheiten anpassen. Als vollständig wurden Äußerungen gewer-tet, in denen ein Verb plus die obligatorischen Argumente ausgedrückt waren, als elliptisch Äußerungen, denen einer dieser Bestandteile fehlte. Das Weglassen von Artikeln und ähnliches wurde nicht als elliptisch gewertet, da die Gefahr zu groß war, dass Schwierigkeiten im Umgang mit dem fremden Sprachsystem dafür verant-wortlich waren.

Verberststellung in Deklarativsätzen (V1) vs. Verbzweitstellung in Deklarativsä-tzen (V2): V1 ist, wie bereits erwähnt, ein typisches Phänomen des gesprochenen Deutsch (vgl. Schwitalla 1997: 72f), was das folgende Beispiel aus einer Erzählung eines Kindes im Alter 06;04 illustrieren soll: (12) Sind wir alle auf den Dachboden hinaufgegangen. Ist die Mama durchs Dachbodenfenster / (ge)klettert. (D02F01)

Fragmenthaft vs. syntaktisch integriert: Hier haben wir zwei strukturelle Phänomene ausgewählt, die im Corpus immer wieder auftraten und für den fragmenthaften Cha-rakter gesprochener Sprache stehen können. Es handelt sich dabei um Äußerungen, bei denen eine Konstituente/ein Inhalt nicht syntaktisch in einen Satz integriert wur-de, sondern außerhalb dieses steht, also voran- oder nachgestellt, wobei manchmal

Protoliterate Strukturen bei Kindergartenkindern mit Migrationshintergrund ______________________________________________________________________

83

auf den betreffenden Inhalt zusätzlich durch einen Stellvertreter innerhalb des Satzes referiert werden kann. Solchen Anordnungen liegt die Funktion der Inhaltsaufteilung zugrunde. In gesprochener Sprache wird (vor allem neue) Information möglichst nicht am Stück, sondern in Brocken geliefert (vgl. Chafe 1994: 65ff; Schwitalla 1997: 81f), wobei Proformen als tendenziell inhaltsleere Elemente in Äußerungen eine große Rolle spielen und Referenten oft erst schrittweise lexikalisch präzisiert werden (vgl. Schwitalla 1997: 81f). Solche Strukturen sollten in einer literaten Situation ebenfalls vermieden werden und die betreffenden Konstituenten in Sätze integriert werden.

Linksherausstellung (Schwitalla 1997: 76ff): Hier wird eine thematische Konsti-tuente vorangestellt, der ein stellvertretendes Element im Folgesatz entspricht. (13) Aber der Frosch, der ist schneller. (CW01)

Rechtsversetzung/Nachtrag (Schwitalla 1997: 80f): Hier wird eine Konstituente belie-biger Art nachgereicht und ist prosodisch abgesetzt von der Restäußerung. Sie kann, muss aber nicht, durch ein stellvertretendes Element in den vorhergehenden Satz in-tegriert sein. (14) Dann machten sie Sorgen, die großen Polizeiautos. (D01M01)

4.3. Ergebnisse

4.3.1. Orat vs. literat

Die Ergebnisse zeigen über weite Strecken ein sehr einheitliches Bild. Auf Ebene der Satzverknüpfung zeigt sich, dass Satzeinleitungen durch und mit

großer Häufigkeit erfolgen. Rund 45% aller narrativen Äußerungen der Kinder in die-sem Corpus werden auf diese Weise eingeleitet. Im Bezug auf unsere Fragestellung ist für uns jedoch vor allem von Bedeutung, dass sich zwischen orater und literater Er-zählung kein erwähnenswerter Unterschied zeigt.

Subordination spielt im Gegensatz dazu im gesamten Corpus eine sehr unterge-ordnete Rolle und ist nur an rund 2-3% aller narrativen Äußerungen der Kinder beob-achtbar.

Abb. 1: Ergebnisse des Vergleichs orat/literat in Prozent.

Katharina Schwabl et al. ______________________________________________________________________

84

Mehr als ein Drittel aller Äußerungen (34,78%) der Kinder musste auch in unserer engen Definition als elliptisch bewertet werden, in narrativen Kontexten immerhin auch 33,58%. Interessant ist hier wiederum, dass diese Häufigkeit im literaten Teil nicht abnimmt sondern nahezu identisch bleibt (34,65% vs. 32,65%). Die Anforderung, in einer literaten Situation vollständige Sätze zu produzieren, scheint also bei ober-flächlicher Betrachtung häufig nicht erfüllt worden zu sein. Inwieweit hierbei Inter-ferenzen aus einer L1, in der anaphorische Pronomina in Subjektsposition nicht aus-gedrückt werden, eine Rolle spielen, müsste in einer weiteren Studie überprüft wer-den.

V1 in Deklarativsätzen tritt hier mit einer Häufigkeit von 3,44% an narrativen Äußerungen auf, wobei auch hier die nahezu identische Häufigkeit in beiden Erzähl-situationen ins Auge fällt. Die in schriftlichen Kontexten unzulässige Satzstellung wurde in der zweiten Erzählung also auch nicht weniger häufig gewählt.

Zum Grad der syntaktischen Integration muss zunächst gesagt werden, dass die ermittelte Anzahl der Fälle im gesamten Corpus vernachlässigenswert klein ist und deshalb zumindest im Falle der Linksherausstellung kein aussagekräftiges Ergebnis zeigen kann. Rechtsversetzungen, die in den Erzählungen der Kinder etwas häufiger auftreten, fügen sich in das bisher entstandene Bild, indem sie wiederum mit annä-hernd gleicher Häufigkeit in der oraten wie in der literaten Situation auftreten (4,51% vs. 4,54%).

Wenn wir konkrete Erzählpassagen auf strukturelle Unterschiede untersuchen, sind allfällige Änderungen, die im zweiten Erzähldurchlauf ins Auge fallen, nicht zwingend als literater Umbau zu betrachten, sondern häufig auch einfach durch grö-ßere Geplantheit erklärbar. Oft wirkt der Diskurs im zweiten Durchlauf einfach ge-ordneter, kompakter, prägnanter, durch weniger Abbrüche, Neustarts und Wiederho-lungen zerrissen. Zwar ist auch größere Geplantheit ein Merkmal literater Texte, je-doch müssen wir uns in diesem Fall fragen, ob die Kinder tatsächlich auf das Vorlie-gen einer literat definierten Situation reagierten, oder schlichtweg deshalb geplantere Strukturen lieferten, weil sie die Geschichte zuvor schon einmal erzählt hatten. Letz-teres erscheint wahrscheinlicher, zumal ansonsten meist keine Anzeichen für ein Ein-gehen auf die literate Situation ersichtlich sind.

Im Gesamtcorpus finden sich nur wenige Stellen, die wir als tatsächlich literat betrachten, d.h. Äußerungen, bei denen wir vermuten, dass ihre Form so und nicht anders gewählt wurde, weil das Kind den Anforderungen einer literaten Situation entsprechen wollte. Als mögliches Beispiel für eine Reaktion auf die literate Situation erscheint uns folgendes, da es ungleich komplexer ist, als die zuvor produzierten Strukturen. (15) der Bub geht / ah der Bub geht auf den Frosch [zu] äh / um ihn zu fangen, wo seht ein Frosch auf den Meer, auf den Blatt. (CW10)

Protoliterate Strukturen bei Kindergartenkindern mit Migrationshintergrund ______________________________________________________________________

85

4.3.2. Narrativ vs. Spontansprache

Eine zweite Zählung basiert auf der Beobachtung, dass die Erzählung an sich schon eine literatere Textsorte darstellen als die unmarkierte Konversation, da hier ein Spre-cher einen autonomen Text produzieren muss, der sich nicht in gleichem Maß auf kontextuelle Hilfen stützen kann. Da die quantitative Analyse der beiden Erzähl-durchläufe keine strukturellen Unterschiede sichtbar machte, sollte nun hier überprüft werden, ob diese weniger spezifische sprachliche Variation zwischen Spontansprache und Erzählung (egal in welcher Situation) anhand der von uns gewählten Parameter Unterschiede sichtbar werden konnte. In Äußerungen der unmarkierten Konversa-tion, welche als die orate Situation schlechthin zu betrachten ist, sind maximal orate Strukturen erwartbar. Erzählungen sind in der Regel relativ dazu literater strukturiert (vgl. Pontecorvo 1994: 343); innerhalb des Etiketts ”narrativ” ist aber wohl eine recht breite Variation möglich – vom konversationellen Erzählen unter Mithilfe eines Gegenübers bis hin zu lesbaren Texten findet man sich auf unterschiedlichen Punkten eines imaginären Orat-Literat-Kontinuums wieder.

Die Ergebnisse erwiesen sich als abwechslungsreicher als in der vorhergehenden Analyse und fallweise auch unerwartet, weshalb sie an mancher Stelle erst noch einer Interpretation bedürfen.

Auf Ebene der Satzverknüpfung zeigt sich zunächst, dass Satzeinleitungen mit und in der Spontansprache deutlich seltener anzutreffen sind, als in den Erzählpassa-gen. Da man, wie bereits erwähnt, und als den oraten Äußerungsverknüpfer schlechthin betrachtet, liegt dieses Ergebnis quer zu unseren Erwartungen. Bei nähe-rem Betrachten erklärt sich das Ganze jedoch durch eine alterstypische Besonderheit, die beispielsweise bei Berman 1997 erwähnt wird. Kinder im Vorschulalter neigen zu einer sehr sequentiellen und monotonen Satzeinleitung durch und oder und dann, wenn sie erzählen, da sie noch nicht gelernt haben ihren Diskurs auf globaler Ebene hierarchisch zu organisieren. Diese Kompetenz wird erst zu einem späteren Zeitpunkt im Spracherwerb erlernt (vgl. Berman 1997: 73).

Abb. 2: Ergebnisse des Vergleichs Spontansprache/Erzählung in Prozent.

Katharina Schwabl et al. ______________________________________________________________________

86

Subordination wurde oben zunächst als etwas typisch Literates eingeordnet, ist aber wider Erwarten in den spontansprachlichen Äußerungen häufiger anzutreffen als in narrativen Passagen. Hier könnte diese zunächst verwirrende Konstellation geklärt werden, wenn man die Art der Subordination in die Betrachtung mit einbezieht. Der größte Anteil der subordinierten Propositionen kann als Komplementsätze klassifi-ziert werden (wie z.B. ich weiß nicht, was das ist.). Dieser Typ von Nebensätzen ist erstens auch in der gesprochenen Sprache durchaus häufig (vgl. Biber 1988: 144; Schwitalla 1997: 96), zumal ihnen oft eine affektive Funktion zugrunde liegt (vgl. Biber 1995: 144f), und wird zweitens von Kindern bereits zu einem frühen Zeitpunkt im Spracherwerb gemeistert (Tomasello 2003: 250ff). Was strukturell als komplexer Satz anmutet, ist laut Tomasello wenigstens im englischen Spracherwerb – solange solche Konstruktionen immer mit der 1. Person Sg. aufzutreten pflegen – im Sinne der kognitiven Verarbeitung noch gar nicht als solche zu betrachten, sondern eher als konventionalisierte Marker für Satzmodalität (Tomasello 2003: 247). Hier zeigt sich, dass die Zuordnung von Subordination zum literaten Register so pauschal nicht halt-bar ist, sondern tiefer greifender Analysen bedarf. Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass die Anzahl der spontansprachlichen subordinierten Äußerungen viel zu klein ist, um daraus Aussagekräftiges abzuleiten.

Auch ist die Frequenz von V1 in Deklarativsätzen in narrativen Äußerungen – wenn auch in vernachlässigenswertem Ausmaß – höher als in spontansprachlichen (4,08% vs. 3,44%). Nach näherer Betrachtung der betreffenden Äußerungen würden wir jedoch dieses strukturellen Parameter aus folgendem Grund ohnehin nicht als aussagekräftig betrachten: V1 in Deklarativsätzen könnte (gerade in Erzählungen) durch häufiges Weglassen initialer Subjekts- (oder Topik-)pronomina entstehen, wel-ches wiederum durch Interferenzen aus der L1 der Kinder bedingt sein könnte (Rumä-nisch, Türkisch etc.). Es wäre zu kontrollieren, ob V1 häufig mit Ellipsen korreliert. Bei Kindern mit so unterschiedlichem muttersprachlichem Hintergrund ist aber na-türlich ohnehin schwer zu kontrollieren, inwieweit hier die Strukturen der Mutter-sprache Einfluss nahmen. Der Parameter mag deshalb bei österreichischen Kindern geeignet sein, um auf den Grad der Oratheit bzw. Literatheit einer Erzählung zu schließen, im Falle der Migrantenkinder sind die Bedingungen jedoch zu undurch-sichtig.

Ein Ergebnis, das schlussendlich die Erwartungshaltung befriedigt ist das deut-lich seltenere Auftreten elliptischer Äußerungen in narrativen Passagen. 47,69% der spontansprachlichen Äußerungen wurden von uns als elliptisch klassifiziert, der Un-terschied beläuft sich somit auf rund 10%.

Als problematischer erweisen sich wiederum die Ergebnisse bezüglich der frag-menthaften Strukturen. Zu erwarten wäre ein deutlich höheres Auftreten solcher Phänomene in der Spontansprache; das Gegenteil ist jedoch der Fall. Die Linkshe-rausstellung ist dort überhaupt nicht zu finden, Rechtsversetzungen nur in deutlich niedrigerer Frequenz als in den Erzählpassagen (1,36% vs. 4,52%). Zwei Interpretatio-nen scheinen uns in diesem Zusammenhang greifbar: Zum einen ist die Anzahl spon-tansprachlicher Äußerungen, die wir in der Zählung berücksichtigen konnten gerin-ger, als die der narrativen Äußerungen, worunter möglicherweise die Vergleichbar-keit leidet, zum anderen könnte es an Schwierigkeiten im Umgang mit den betreffen-

Protoliterate Strukturen bei Kindergartenkindern mit Migrationshintergrund ______________________________________________________________________

87

den Satzstrukturen liegen. Erzählungen erfordern zwangsläufig eine höhere Inhalts-dichte als sie in unmarkierter Konversation üblich ist, da, was erzählt wird, nicht dem unmittelbaren Hier und Jetzt entspringt (vgl. Biber 1995: 152). Die unmarkierte Kon-versation, deren Referenten häufig bekannt oder gegeben sind, greift demgegenüber in stärkerem Ausmaß auf inhaltsleichte Elemente (Pronomina, Deiktika) zurück. Die beobachteten strukturellen Diskontinuitäten könnten also auch einfach Schwierig-keiten in der Integration von mehr lexikalischer Information in Sätze widerspiegeln.

5. Diskussion und Ausblick

Die Ergebnisse unserer quantitativen Analyse legen folgende Schlüsse nahe, die je-doch aufgrund mehrerer Faktoren, die später noch ausführlicher besprochen werden, mit großer Vorsicht zu genießen sind.

Die Strukturen in den Erzählungen der betreffenden Kinder lassen keinen Rück-schluss auf das Vorhandensein von protoliteratem Wissen zu. Es ist geradezu auffäl-lig, wie identisch die Ergebnisse für beide Erzähldurchläufe sind. Bei Gegenüberstel-lung konkreter Erzählungen zeigen sich zwar gelegentlich Unterschiede, die jedoch genausogut auf den Faktor größerer Geplantheit im zweiten Text zurückzuführen sind. Das Vorliegen einer eindeutig als literat definierten Situation scheint im Bezug auf die überprüften Strukturen keinen (oder nur in den seltensten Fällen) Einfluss ge-habt zu haben.

Die Ergebnisse der zweiten Analyse spiegeln wohl eher allgemeinere als protoli-terate Kompetenzen der Kinder wider. Kompetentes Erzählen wird aber in der Litera-tur zum späteren Spracherwerb als wichtige Vorläuferfähigkeit für Literalität betrach-tet (Pontecorvo 1994: 342). In unserem Corpus deutet sich die Tendenz an, dass die Kinder in narrativen Texten mehr Information verpacken (die sie jedoch nicht immer durch entsprechende syntaktische Strukturen integrieren können) und ein größeres Bestreben nach syntaktischer Vollständigkeit vorhanden ist.

Die Studie ist jedoch in mehrerlei Hinsicht als problematisch zu betrachten. Da die vorliegende Studie auf sehr heterogenem Datenmaterial basiert, das ursprünglich anderen Zwecken (nämlich qualitativen Analysen) zugedacht war, sind einige Ungenauigkeiten zu bemängeln. Wir betrachten deshalb diese Arbeit als eine Vor-studie, die in der Folge mit verbessertem Datenmaterial wiederholt werden soll. Ge-plant ist also eine erneute Datenerhebung, in der folgende in der einschlägigen Lite-ratur als wichtig erachtete Faktoren kontrolliert werden sollten: Sozio-ökonomischer Status (Bildungsstand) der Familien, Herkunftsgesellschaft, L1 der Kinder, Alter und Dauer des Kontakts mit der Mehrheitssprache, Vielfältigkeit des sprachlichen Inputs (Zugänglichkeit zu Medien, Schriftmaterial, Anschluss an eine Sprechergemein-schaft). Zudem wäre aufgrund des häufig als besonders stark erachteten Einflusses der sozialen Schicht eine diesbezüglich vergleichbare Gruppe österreichischer Kinder wünschenswert. Da uns der Einfluss der Herkunftsgesellschaft besonders interessie-ren würde, ist geplant, die fortführenden Studie auf zwei Gruppen zu beschränken.

Katharina Schwabl et al. ______________________________________________________________________

88

6. Bibliographie

Berman, Ruth (1997). Preschool knowledge of language: What five year olds know about language structure and language use. In Clotilde Pontecorvo (ed.), Studies in written language and literature Vol. 6. Amsterdam, Philadelphia: John Benja-mins, pp. 61-76

Biber, Douglas (1988). Variation across speech and writing. Cambridge: Cambridge University Press.

Biber, Douglas (1995). Dimensions of register variation. Cambridge: Cambridge Uni-versity Press.

Brizić, Katharina (2006). Das geheime Leben der Sprachen: Eine unentdeckte migran-tische Bildungsressource, Kurswechsel, 2/2006, 32-43.

Bühler, Karl (1999). Sprachtheorie. Stuttgart: Lucius & Lucius. (Ersterscheinung 1934) Chafe, Wallace (1982). Integration and Involvement in Speaking, writing and litera-

ture. In Deborah Tannen (ed.), Spoken and written language: Exploring orality and literacy. Norwood, New Jersey: Ablex, pp. 35-53.

Chafe, Wallace (1994). Discourse, consciousness and time: The flow and displacement of conscious experience in speaking and writing. Chicago: The University of Chi-cago Press.

Fishman, Joshua A. (1965): Bilingualism, intelligence and language learning. Modern Language Journal, vol. 49, number 4, 228-237.

Herzog-Punzenbacher, Barbara & Unterwurzacher, Anne (2009). Migration – Inter-kulturalität – Mehrsprachigkeit: Erste Befunde für das österreichische Bildungs-wesen. In Werner Specht (ed.), Nationaler Bildungsbericht Österreich 2009, Band 2: Fokussierte Analysen bildungspolitischer Schwerpunktthemen. Graz: Leykam.

Karmiloff-Smith, Annette (2006). The tortuous route from genes to behavior: A neuroconstructivist approach. Cognitive, Affective, and Behavioral Neuroscience, 6, 9-17.

Lyons, John (1979). Deixis and anaphora. In Terry Myers (ed.), The development of conversation and discourse. Edinburgh: Edinburgh University Press, pp. 88-103.

Maas, Utz (2007) (=2008). Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft: Die schriftkulturelle Dimension.

Online-Manuskript ms. http://zentrum.virtuos.uni-osnabrueck.de/utz.maas/Main/ Skripten (November 2007). Maas, Utz (2008a). Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft: Die schrift-

kulturelle Dimension. Osnabrück: Universitätsverlag. (= IMIS Schriften 15) Maas, Utz (2008b). Können Sprachen einfach sein? Grazer Linguistische Studien, 69,

1-44. Meyer, Paul Georg. 1993. The Loneliness of the Long-Distance Writer: On the Prag-

matics of Written Communication. In Robert J. Scholes (ed.), Literacy and Lan-guage Analysis. Hillsdale, New Jersey: Lawrence Erlbaum, pp. 181-197.

Millar, Robert McColl (2005). Language, Nation and Power: An introduction. Houndsmill et al.: Palgrave McMillan.

Protoliterate Strukturen bei Kindergartenkindern mit Migrationshintergrund ______________________________________________________________________

89

Pontecorvo, Clotilde (1994). Emergent literacy and education. In Ludo Verhoeven (ed.), Functional literacy: Theoretical issues and educational implications. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins, pp. 333-348.

Pontecorvo, Clotilde & Zucchermaglio, Cristina (1989). From oral to written langauge: Preschool children dictating stories. Journal of Reading Behaviour, 21(2), 109-126.

Scinto, Leonard F. M. (1986). Written Language and Psychological Development. Or-lando, Florida: Academic Press.

Schwitalla, Johannes (1997). Gesprochenes Deutsch. Berlin: Erich Schmidt. (= Grund-lagen der Germanistik 33)

Sulzby Elizabeth & Teale, William H. (1991). Emergent literacy. In R. Barr et. al. (eds.), Handbook of Reading Research vol. 2. New York: Longman.

Tomasello, Michael (2003). Constructing a language: A usage-based theory of lan-guage acquisition. Cambridge et al.: Harvard University Press.

Verhoeven, Ludo (1994). Modelling and Promoting Functional Literacy. In Ludo Ver-hoeven (ed.), Functional Literacy: Theoretical Issues and Educational Implica-tions. Amsterdam: John Benjamins, pp. 3-33.

Verhoeven, Ludo (1997). The acquisition of literacy by immigrant children. In Clotilde Pontecorvo (ed.), Writing development. Amsterdam: John Benjamins, pp. 219-239.

Kontakt: Mag. Katharina Schwabl

Institut für Sprachwissenschaft, Universität Graz [email protected]

Grazer Linguistische Studien 75 (Frühjahr 2011); S. 91-107

Der Zusammenhang von pragmatischen und narrativen Kompetenzen bei einem Mädchen mit Rett Syndrom.

Sonja Hepflinger*# & Ralf Vollmann* & Christa Einspieler* &

Katrin Bartl*# & Peter B. Marschik

#

* Karl-Franzens Universität Graz # Medizinische Universität Graz

1. Einleitung

1.1. Das Rett Syndrom

Das Rett Syndrom, eine tiefgreifende, neurologische Entwicklungsstörung, wurde erstmals vom österreichischen Kinderneurologen Andreas Rett 1966 beschrieben. Vor allem Mutationen am MECP2-Gen gelten als ursächlich (Amir et al. 1999). Es sind jedoch sowohl Frauen und Mädchen, die am Rett Syndrom erkrankt sind ohne eine Mutation aufzuweisen bekannt, als auch Personen mit Mutation, die keine Symptome des Rett Syndroms aufweisen. Deshalb ist das Rett Syndrom vorwiegend eine klinische Diagnose (Kerr et al. 2001, Shabazian & Zoghbi 2001, Hagberg et al. 2002, Miltenberger-Miltenyi & Laccone 2003). Diese erfolgt meist erst recht spät, und ist bis zum Kleinkindalter häufig unklar. Ein unauffälliger Verlauf in den ersten Lebens-monaten war bis vor kurzem eines der Definitionskriterien für Rett Syndrom. Es zeigte sich jedoch, dass es bereits in dieser ersten Phase Verhaltensauffälligkeiten und daher frühe Anzeichen gibt, die aber nicht konsistent vorhanden sein müssen (Ein-spieler et al. 2005a, b, Marschik et al. 2009, 2010a). Der Phänotyp des Rett Syndroms ist breit gefächert: schwere Formen des Syndroms bedeuten Sprachunfähigkeit und schwere motorische Störungen, während Patientinnen mit milderen Verläufen durch-aus sprechen und/oder gehen können. Die ‘Preserved Speech Variant’ (PSV) ist eine Rett Variante, bei der die sprachlichen Fähigkeiten im Vergleich zu anderen Rett Va-rianten gut ausgebildet sind (Hagberg 1995, Kerr et al. 2006).

Der Krankheitsverlauf bei allen Phänotypen wird phasenartig beschrieben, wo-bei einer scheinbar ersten unauffälligen Entwicklungsphase bis ca. 01;00 eine Phase der Stagnation folgt, in der sich die Entwicklung verlangsamt und schließlich bereits erworbene Fähigkeiten verlorengehen können. Auch die Kommunikation und Spra-che sind davon betroffen. Gleichzeitig macht sich eine Zunahme von Handstereo-typien bemerkbar; funktionelle Handbewegungen gehen verloren; soziales Verhalten stagniert; autistische Verhaltensweisen treten auf (Rett 1966, Hagberg et al. 1983). Üblicherweise sind jedoch nicht alle Fähigkeiten von der Regression gleichermaßen betroffen, einige Funktionen können im Vergleich zu anderen besser erhalten bleiben

Sonja Hepflinger et al. ______________________________________________________________________

92

(Larsson et al. 2005). Danach kommt es zu einer relativen Stabilisierung der Fähig-keiten und zum Teil erfolgt eine Phase der Regeneration, in der das Interesse an der Umgebung wieder steigt und sich das soziale Verhalten verbessert. Kognitive Beein-trächtigung, verschiedene motorische Fehlfunktionen und kommunikative, sprach-liche Probleme bis hin zur Unfähigkeit zu sprechen bleiben jedoch erhalten (Leonard et al. 2001).

Die Preserved Speech Variante ist für die Linguistik in Hinblick auf die Sprach-entwicklung von besonderem Interesse, da nicht nur bereits erworbene sprachliche Fähigkeiten wieder verloren gehen oder stagnieren, sondern in einem recht spätem Alter wieder Fortschritte in der kommunikativen Entwicklung folgen (Kerr et al. 2006, Marschik et al. 2009, 2010a). Man weiß bis jetzt wenig über die Entwicklung in der Prä-Regression; noch weniger ist bekannt, wie die Sprachentwicklung später ver-läuft. Lexikongröße, auffällige Prosodie und morphologisch-syntaktische Auffällig-keiten werden am häufigsten beschrieben (vgl. Marschik 2010b). Über die Qualität der wiedererlernten Fähigkeiten und den Zusammenhang einzelner Funktionen, die die sprachliche Entwicklung ausmachen, gibt es wenig wissenschaftliche Befunde. Wir hatten die einmalige Möglichkeit, ein Mädchen mit der Preserved Speech Variante, von dem wir auch die Sprachentwicklung aus der Prä-Regressionsphase kennen, im Alter von 10 und 11 Jahren wieder zu untersuchen. Ziel dieser Untersuchung war es, eine qualitative Analyse ihrer Sprachfähigkeiten durchzuführen und die Kontinuität oder Diskontinuität von Prä-Regression über Regression bis hin zur späteren sprach-lichen Entwicklung zu verfolgen. Unseres Wissens ist unsere Studie die erste, die Erzählungen und Spontansprache eines Mädchens mit der Preserved Speech Variante des Rett Syndroms untersucht. Die vorliegende Arbeit analysiert die narrativen und sozio-pragmatischen Fähigkeiten des Mädchens.

1.2. Untersuchung von narrativen Kompetenzen

Erzählungen sind Schilderungen von Ereignissen, die miteinander in Zusammenhang stehen und (im Normalfall) in der Vergangenheit liegen, d.h., der Zeitpunkt von Er-eignis und die Erzählzeit sind verschieden, wodurch sich auch kein situativer und räumlicher Kontext ergibt. Deshalb sind spezielle narrative Kompetenzen oder Erzählfähigkeiten nötig, um Ereignisse kontextunabhängig wiedergeben zu können. Nach Labov & Waletzky 1967 sind Erzählungen in narrativen Grundkategorien aufgebaut: Aufbau der Handlung (Komplikation), Auflösung der Komplikation, und Evaluation, d.h., die Verknüpfung und Darstellung von Seiten des Erzählers selbst. Erzählungen bestehen demnach aus zwei Komponenten – einerseits die Wiedergabe der Ereignisse an sich, Kontextualisierungen (Aktanteneinführung, Festlegung von Ort und Zeit), andererseits die Evaluation des Erzählers, die verdeutlichen soll, wa-rum das Ganze erzählt wird. Da keine zeitliche (und räumliche) Übereinstimmung zwischen Ereignis und Erzählzeit besteht, muss es dennoch einen Bezug zwischen ihnen und zu den Gesprächspartnern geben, wodurch die Erzählung motiviert wird. Quasthoff (1980: 33ff.) kritisiert allerdings die oftmals unklare Unterscheidung zwi-schen der eigentlichen Ereignis-Erzählung und Evaluation, wobei Evaluation schwie-rig zu untersuchen ist. Gerade Evaluation von Geschichten ist aber ein wichtiges

Pragmatische und narrative Kompetenzen bei Rett ______________________________________________________________________

93

Zeichen für pragmatische Kompetenz, die eine Grundvoraussetzung für narrative Fähigkeiten ist. Quasthoff definiert Evaluation im ersten Schritt als “[...] eine Relation zwischen dem sprachlichen Zeichen und der Relation der Einstellung zwischen dem Sprecher und dem Bezeichneten” (Quasthoff 1980: 35). Damit führt sie einen Wert-begriff in die Bestimmung ein, der sich sowohl auf Teile der Geschichte zum Zeit-punkt der Ereignisse (G-Evaluation), aber auch auf Teile der Erzählung zum Zeit-punkt des Erzählens selbst (E-Evaluation) beziehen kann (Quasthoff 1980: 38). In bei-den Fällen haben wir es mit einem sozial-pragmatischen Hintergrund des Sprechers zu tun. Bamberg & Damrad-Frye 1991 beschreiben als sprachliche Mittel für Eva-luation die Wiedergabe der Gefühle der Protagonisten, direkte und indirekte Rede, Heckenausdrücke, Negationen und kausale Verbindungen. Besonders die Wiedergabe der mentalen Zustände von Protagonisten erfordert ein differenziertes Bild über die Wahrnehmung unterschiedlicher Teilnehmer und kann als Teil pragmatisch-sozialer Fähigkeit gesehen werden. Heckenausdrücke werden verwendet, um die eigene Be-ziehung zum Wahrheitsgehalt der Aussagen festzulegen, was ebenfalls eine wichtige pragmatische Fähigkeit ist und auch auf einer Einschätzung des Gegenübers und der Situation basiert, da sie zwangsweise eine bestimmte (oftmals ‘angemessene’) Haltung zu den Ereignissen erfordert. Im Vergleich zu den anderen Erzählbestand-teilen variiert die Evaluation genauso wie die Personalisierung von Ereignissen indi-viduell, und ist – besonders im Fall von als eher ‘spontan’ einzustufenden Erzählun-gen – ein äußerst unbeständiger und kontextintensiver Faktor. Erforderlich hierfür ist deshalb, mehr als das steoreotype Wissen, wie eine Erzählung aufgebaut sein könnte.

Norrick (2000: 2, 10f) macht darauf aufmerksam, dass interviewbasierte Ge-schichten (wie bei Labov & Waletzky 1967) und gewöhnliches Geschichtenerzählen ebenso unterschieden werden müssen wie spontane von elizitierten Erzählungen, und dass genauso auch der Zweck einer Erzählung berücksichtigt werden muss. In Ge-sprächen ist die Art der Interaktion zu betrachten, der Unterschied zwischen einmali-gen, wiederholten oder oft erzählten Geschichten ebenfalls. Was die Funktion von Er-zählungen betrifft, unterscheidet Quasthoff (1980: 146ff.) zwischen primär sprecher-orientierten Funktionen (zur psychischen oder kommunikativen Entlastung oder Selbstdarstellung), primär hörer-orientierten Funktionen (Informationsweitergabe, Belustigung und Unterhaltung) oder primär kontext-orientierten Funktionen (Beleg-, und Erklärungsfunktion). Auch in diesem Fall sind pragmatische Fähigkeiten und Be-rücksichtigung des Kontexts wichtiger Bestandteil der Erzählungen.

Um Kompetenzen zu erwerben, solche Erzählungen selbst zu produzieren, bedarf es vieler unterschiedlicher Fähigkeiten. Einerseits muss das Wissen um diese Erzähl-strukturen bestehen, andererseits auch die sprachlichen Fertigkeiten, mit Hilfe derer diese Strukturen verbal oder schriftlich abgebildet werden. Textkohärenz (inhaltlicher Zusammenhang) und Textkohäsion (formaler Zusammenhang) werden mit sprach-lichen Mitteln gebildet (‘7 Kritierien der Textualität’, vgl. de Beaugrande & Dressler 1981). Neben der Intention des Erzählers, anderen eigenes Wissen mitzuteilen oder Erlebnisse zu schildern, ist ausreichend Weltwissen vonnöten, um verschiedene Ereignisse passend miteinander zu verknüpfen. Weiters sind Kompetenzen zur sprachlichen und sozialen Interaktion nötig, um den Zuhörer zu berücksichtigen und dessen Weltwissen vorauszusehen und in die Erzählung einzubeziehen, da sonst An-

Sonja Hepflinger et al. ______________________________________________________________________

94

gemessenheit und Informativität nicht gegeben sind (vgl. de Beaugrande & Dressler 1981). In diesem Sinne sind soziale und pragmatische Fähigkeiten grundlegende Vor-aussetzungen, um Erzählfähigkeiten zu erwerben, auszubauen und anzuwenden. Im Laufe der Entwicklung müssen Kinder schließlich auch das Wissen erwerben, dass es verschiedene Spachregister gibt, und sie müssen diese adäquat einsetzen. Literate Stile unterscheiden sich von oraten Stilen in der Losgelöstheit der Erzählungen vom Kontext und dem Gesprächspartner, was eine völlig neue Dimension in den Sprachre-gistern eröffnet (vgl. Chafe 1994, Maas 2008). Solche Kompetenzen werden schritt-weise erworben und in der Volksschule bewusst gelehrt.

Für Kinder im frühen Spracherwerb ist ein kooperativer Interaktionspartner un-erlässlich, zuerst muss sich dementsprechend die Gesprächskompetenz in der direkten Interaktion entwickeln. Hier sind zu Anfang verschiedene pragmatische Fähigkeiten des Kindes gefragt, und zwar von frühester Kindheit an. Ein erster wichtiger Schritt ist der Erwerb von ‘Joint Attention’ (vgl. Eilan 2005: 4f., Sabbagh & Baldwin 2005: 165ff.). Erst darauf aufbauend ist kommunikative Interaktion möglich, und erst darauf aufbauend können sich Kinder im Zuge gelungener Interaktion Fertigkeiten an-eignen, die es ihnen ermöglichen, kontextunabhängige Informationen wiederzugeben, zum Beispiel Erlebnisse zu erzählen. Nach und nach sollten sich Kinder, aufbauend auf ihre sprachlichen (formalen und pragmatischen) Fähigkeiten, auch in dieser Domäne des Sprachgebrauchs weiterentwickeln, bis sie schließlich in der Schule so-gar unterschiedliche schriftliche Textsorten erlernen. Logischerweise kann dies nicht geschehen, wenn die Vorläuferfertigkeiten nicht vorhanden sind. Deshalb ist pragma-tisches Verständnis ein äußerst wichtiger Faktor bei der Sprachentwicklung und der Entwicklung von Erzählkompetenzen bei Kindern.

Grob unterteilt wird ‘Joint Attention’ ca. ab dem Alter von 12 Monaten durch Bestreben der Bezugspersonen erworben und laufend ausgebaut. Man geht davon aus, dass Kinder schon ab dem Alter von ca. 24 Monaten berücksichtigen, mit wem sie kommunizieren; mit 4 Jahren machen sie einen Unterschied beim Gespräch mit Erwachsenen und Kindern und mit 6 Jahren sollten sie pragmatisch Grundlegendes gelernt haben (vgl. Clark 2006). Was Erzählungen betrifft, wird bei 3-Jährigen noch kein Wissen über narrative Strukturen angenommen, bei 5-Jährigen werden bereits Sätze verkettet, jedoch nur teilweise narrative Segmente konstruiert, ab diesem Alter werden jedoch Ablauf und Problem/Auflösung bei den Bildergeschichten erkannt, danach werden diese Fähigkeiten weiter ausgebaut, 9-Jährige haben bereits ein gutes Verständnis über narrative Strukturen (vgl. Berman & Slobin 1994).

2. Methode

Ein Mädchen mit der Preserved Speech Variante (oder auch Zappella Variante (Z-Rett)) des Rett Syndroms und einer MECP2-Mutation (Marschik et al. 2009) wurde im Alter von 10 und 11 Jahren in Hinblick auf pragmatische und narrative Fähigkeiten untersucht. Das Mädchen wurde im Alter von 3 Jahren klinisch als Rett Syndrom dia-gnostiziert; etwa ein Jahr später wurde die Diagnose durch die genetische Unter-suchung bestätigt. Hinsichtlich ihres motorischen und kommunikativen Entwick-lungsverlaufs wurde die deutschsprachige Patientin bereits von Kindheit an unter-

Pragmatische und narrative Kompetenzen bei Rett ______________________________________________________________________

95

sucht (Marschik et al. 2009). Datengrundlage für diese Arbeit bilden spontanspra-chliche Aufnahmen und Aufnahmen von Erzählungen anhand von Bildergeschichten. Dabei handelt es sich um vier vierteilige Bildergeschichten (Ballon-Geschichte, Alp-traum-Geschichte, Hasen-Karotten-Geschichte, Katzen-Geschichte) und Einzelbildern (aus dem Projekt “Narratives in Communicative Development Inventories“ und Kauschke und Siegmüller 2009, vgl. Vollmann et al. 2011) und einem Kinderbuch ('Mein liebster Teddy', Muller 2001). Alle Daten wurden orthographisch und phono-logisch transkribiert und in Bezug auf pragmatische und narrative Fähigkeiten qualitativ untersucht. Spontansprachliche Aufnahmen und Erzählungen anhand der Bildergeschichten wurden gesondert analysiert und miteinander verglichen.

3. Untersuchungsergebnisse

3.1. Spontansprache

Zuerst wurden spontansprachliche Aufnahmen direkter Kommunikation untersucht. Die dialogischen Sequenzen fanden in gewohnter Umgebung für die Patientin (VP) statt, die zwei Kommunikationspartner (SPK1, SPK2) waren ihr bereits bekannt. So-wohl grundlegende pragmatische als auch narrative Kompetenzen wurden analysiert.

3.1.1. Pragmatische Kompetenzen

Feedback geben und Feedback verstehen

Das Mädchen war grundsätzlich in der Lage, Feedback zu verstehen und selbst zu ge-ben, d.h., Verständnis über leere Floskeln und die Verwendung von Wiederholungen waren vorhanden, was ihr Verhalten in kurzen Gesprächen einigermaßen unauffällig erscheinen ließ. (1a) VP Gestern bin ich Roller gefahren. SPK1 Roller bist gefahren? VP Ja. Und dann bin ich hingefallen. (1b) VP Die sind jetzt auch in meinem Bauch. SPK1 Sind im Bauch drinnen. VP Hab ich alle aufgegessen. (1c) SPK2 Habts auch was gegessen? Oder habts erst mal welche

gefunden? Erste Frage. VP Ja. SPK2 Ja. VP Mhm.

Angemessene Antworten auf Fragen

Auf Entscheidungsfragen antwortete sie immer angemessen, sie hielt das Gespräch danach von sich aus aber nur schwer am Laufen.

Sonja Hepflinger et al. ______________________________________________________________________

96

(2a) SPK2 Kennst du den Tobias1 auch?

VP Ja SPK2 Ja? VP Der war öfter schon bei uns. (2b) SPK2 Und der ist so alt wie deine Schwester? VP Ja.

Auch auf Ergänzungsfragen antwortete sie stets angemessen. (3a) SPK2 Wo warst du gestern? VP Im Restaurant. (3b) VP Ich hab da nur was raufgeschreibt. SPK1 Was denn? VP Buchstaben.

Verständnis von Implikaturen

Indirekte Sprechakte und subtile Andeutungen verstand sie und reagierte prag-matisch adäquat. (4a) SPK2 Jetzt hab ich vergessen, wie deine Schwester heißt. VP Susanne.

Berücksichtigung des Gesprächspartners und dessen Wissen

Sehr selten berücksichtigte sie den Wissensstand des anderen bei ihren Äußerungen oder fragte sogar nach. (5a) VP Da Matzi is nimmer mein Freund. Da Gerhard is nimmer

mein Freund. Da Gerhard. Kennst du den? SPK1 Nein kenn ich nicht, den Gerhard. VP Da Ger… Gerhard. Von Schule.

Aufrechterhalten des Topik und Sprecherwechsel

Einmal in allen Beispielen hielt sie das Topik über längere Zeit selbstständig aufrecht, obwohl ihre Gesprächspartner dazu nichts beitrugen. In allen anderen Fällen zeigte sie nur wenige Sequenzen oder einen Satz lang Interesse an einem Topik. (6a) VP erzählt vom Zoo (die Gesprächspartner unterhalten sich

währenddessen untereinander)

VP da waren Elefanten [...] VP Eisbären [...] VP eine Ente [...] VP Affen [...] VP Robben [...]

1 Aus Datenschutzgründen wurden die Namen geändert.

Pragmatische und narrative Kompetenzen bei Rett ______________________________________________________________________

97

Gespräch initiieren

Sehr oft initiierte sie eine Interaktion selbst, meist nach einer Pause, in der niemand mit ihr sprach. In Beispiel (7a) wartete sie nach dem ersten "Ich", bis sie genügend Aufmerksamkeit erhalten hatte, bevor sie mit ihrer Information begann. Allerdings konnte sie das Gespräch danach von sich aus nicht aufrechterhalten; selbst mit einem kooperativen Gesprächspartner wechselte sie das Topik in den meisten Fällen sehr schnell wieder. Außerdem war in keiner der Gesprächssequenzen ersichtlich, warum sie ein bestimmtes Thema wählte, da sie keinerlei persönliche Wertung oder Evaluationen einbrachte. (7a) -Pause- VP Ich […] VP Ich geh nachher schwimmen. (7b) -Pause- VP Gestern bin ich Roller gefahren. SPK1 Roller bist gefahren? VP Ja.

Kontext und Deixis

In der direkten Kommunikation machte sie scheinbar Gebrauch von deiktischen Be-griffen und bezog die Umgebung mit ein. Allerdings passte sie ihr nonverbales Verhalten, wie Mimik und Gestik, nicht dem Inhalt ihrer Aussagen an. Häufig begann sie ihre Aussagen mit "Guck mal!", ohne dem Gesprächspartner dabei etwas zu zeigen oder Blickkontakt aufzunehmen.

Fragen stellen

Selten stellte sie Fragen, um sich über den Wissensstand des anderen zu vergewis-sern. Ein Großteil ihrer Kommunikation bestand aus Antworten oder kurzen Sätzen, deren Bezug zum Kontext nicht immer ersichtlich waren. Fragen stellte sie weder, um sich selbst Informationen zu verschaffen, noch um auf den Gesprächspartner einzuge-hen. Einschätzung des Gesprächspartners oder Interesse an ihm und der Umgebung schien im Großen und Ganzen sehr unausgeprägt zu sein. Bei kurzen Sequenzen ist dies jedoch nicht auffällig.

3.1.2. Narrative Kompetenz

Geschichte erkennen

Bei den narrativen Kompetenzen machte sich ein geringer Unterschied zwischen Bil-dergeschichten und selbst gewählten Erzählungen bemerkbar (vgl. Norrick 2000). Dies lässt sich dadurch erklären, dass sie die Bildergeschichten nicht als zusammen-hängend erkannte. Die hauptsächlichen Funktionen ihrer Erzählungen waren spre-cher-orientiert (Selbstdarstellung), als auch hörer-orientiert (Informationsweitergabe) (vgl. Quasthoff 1980). Aber selbst für diese Intentionen bleiben einige Fragen offen.

Sonja Hepflinger et al. ______________________________________________________________________

98

Evaluationen in Quasthoffs Sinne waren kaum zu finden, weder Werturteile über die Ereignisse, noch über die Erzählungen im konkreten Gespräch an sich. Weitere Er-zählfunktionen schienen ebenfalls weitgehend zu fehlen, was auf eine grundlegende mangelnde pragmatisch-kommunikative Fähigkeit schließen lässt. Interessanterweise wies sie in kurzen Gesprächssequenzen trotzdem kaum Auffälligkeiten auf, was zeigt, dass sie ihr pragmatisches Defizit in kurzen Gesprächen zu kompensieren gelernt hat.

Zeitliche Abfolge

Zeitliche Abfolge der Ereignisse verknüpfte sie mit "und dann"-Konstruktionen. (8a) VP Die tut noch ein bissi spielen und dann kommt sie. (8b) VP Gestern bin ich Roller gefahren. SPK1 Roller bist gefahren? VP Ja. Und dann bin ich hingefallen.

Kausalzusammenhänge

Kausalzusammenhänge erstellte sie ebenfalls unauffällig mit "weil-"-Sätzen, wobei sie die Sätze syntaktisch koordinierte (Österreichisches Deutsch). (9a) SPK1 Mit der Susanne? VP Ja. VP Weil die kommt. SPK1 Ja. VP Weil die is noch beim Tobias.

Tempus

Der Tempusgebraucht erfolgte stets angepasst an den Zeitpunkt eines Ereignisses und war unauffällig. Morphologisch gesehen bereiteten ihr unregelmäßige Verben allerdings Probleme. (10a) VP Der war öfter schon bei uns. (10b) VP Aber ich wollte eine Suppe essen. (10c) VP Ich geh nachher schwimmen. (10d) VP Ich hab da nur was raufgeschreibt. (10e) VP Gestern bin ich Roller gefahren.

Kohärenz

Semantischen Zusammenhang konnte sie zwar herstellen, allerdings waren die Kommunikationsakte zu einem Thema auch bei den Erzählungen sehr kurz. (11a) VP Die sind jetzt auch in meinem Bauch. SPK1 Sind im Bauch drinnen? VP Hab ich alle aufgegessen.

Pragmatische und narrative Kompetenzen bei Rett ______________________________________________________________________

99

Kohäsion

Auch syntaktisch konnte sie Zusammenhänge deutlich machen, indem sie Aktanten durch die passenden Pronomina ersetzte. Auftretende Demonstrativpronomina waren ihrer dialektalen Variante angepasst unauffällig. (12a) VP Oma ist mitn Auto. Sie ist mitn Flughafn gekommen. (12b) SPK1 Mit der Susanne? VP Ja. Weil die kommt [...] Weil die ist noch beim Tobias. [...]

Die tut noch ein bissi spielen. Und dann kommt sie.

Satztypen

Am häufigsten waren einfache, unkomplexe Aussagesätze, selten bildete sie auch Fragesätze. Sowohl Koordination als auch Subordination traten in den Aufnahmen auf (Subordination trat jedoch nur funktional gesehen auf, vgl. Cristofaro 2003). Bei einfachen Antworten wählte sie stets die Wörter, die die geöffneten syntaktischen Slots einer Frage richtig ergänzten. Ebenfalls unauffällig war, dass sie pro prosodi-scher Einheit genau eine Informationseinheit vermittelte (vgl. Chafe 1994).

Aktanteneinführung

Einführung der Aktanten stellte dagegen ein Problem dar. Grundsätzlich führte sie alle Aktanten definit, meistens mit Demonstrativa, ein, bzw. mit Eigennamen. Nur ein einziges Mal in dem Set fragte sie nach, ob die Person dem Gesprächspartner überhaupt bekannt war. Ebenfalls nur ein Mal ("mit meiner Schwester") führte sie einen Aktanten mit einer spezifischen Beschreibung und für den Gesprächspartner verständlich ein (vgl. Beaugrande & Dressler 1981; Lakoff 1968), allerdings interes-santerweise genau in dem Fall, wo der Aktant dem Gesprächspartner ohnehin be-kannt war. Das weist wiederum auf ein Defizit in der Berücksichtigung des Wissens des Interaktionspartners und fehlende Sprecher-Orientierung hin. (13a) VP Da Gerhard is nimmer mein Freund. Da Gerhard. Kennst

du den? (13b) VP Die… die kämpfen immer mit mir in der Schule. SPK1 Die, die anderen Kinder? VP Ja. (13c) VP Mit meiner Schwester. SPK1 Mit deiner Schwester? VP Ja. SPK1 Mit der Susanne? VP Ja.

Sonja Hepflinger et al. ______________________________________________________________________

100

3.2. Erzählset

Für die Aufnahmen von Erzählungen aufgrund von Bildergeschichten wurden folgende Geschichten verwendet:

• Ballon-Geschichte (S1) • Alptraum-Geschichte (S2) • Hasen-Karotten-Geschichte (S3) • Katzen-Geschichte (S4) • Pferde-Bild (S5)

Bei den Beispielen wird rechts jeweils angegeben, um welche Bildergeschichte es sich handelt. Bedingt durch das unterschiedliche Setting und die kognitive Anforderung, Bilder miteinander zu verknüpfen, wurden bei den Erzählungen kaum narrative Funktionen ersichtlich.

3.2.1. Pragmatische Kompetenzen

Grundlegende pragmatische Kompetenzen bzw. Gesprächskompetenzen sind in die-sem Fall nicht relevant, da das Setting keine Interaktion bei der Untersuchung vor-sieht. Da dies mit ihr kaum möglich ist, gibt SPK1 jedoch Feedback.

3.2.2. Narrative Kompetenzen

Geschichte erkennen

Sie erkannte keine der fünf gezeigten Geschichten, sondern beschränkte sich auf reine Bildbeschreibungen. Das entspricht in etwa dem Verhalten sprachlich unauffälliger 3-jähriger Kinder, die noch kein Wissen über narrative Strukturen haben (Berman & Slobin 1994). Allerdings baute sie auch keine Personalisierungen ein, was laut Ber-man & Slobin 1994 bei 3-Jährigen zu erwarten wäre. Ihre Darstellungen gingen über vage, unpersönliche Bildbeschreibungen in kurzen Einzelsätzen nicht hinaus. (14a) VP Da weint die. S2 VP Teddybär hat sie. SPK1 Mhm. VP Und die schläft.

Es folg ein kurzer Vergleich mit typischen Geschichten anderer Altersgruppen, links ein Junge mit 3 Jahren und 7 Monaten (M10), rechts ein Junge mit 5 Jahren und 8 Mo-naten (M54), zwei Kinder aus dem Projekt Projekt “Narratives in Communicative Development Inventories“:

Pragmatische und narrative Kompetenzen bei Rett ______________________________________________________________________

101

(15a) 03;07 (Geschichte das 2. Mal erzählt)

05;08

M10 Da ist die drinnen. M54 Da will sie gerade schlafen gehen.

M10 Und da weint sie. M54 Dann träumt sie. Und hat einen Alptraum.

M10 Und dann holt sie den Bär. M54 Dann kauft die Mama ihr einen Teddy.

M10 Und dann schlaft sie. M54 Und dann kann sie besser schlafen.

Ihre Erzählung ähnelt dem Kind M10, das jedoch die zeitliche Abfolge der Bilder er-kannte und diese durch „und dann“-Verbindungen deutlich machte. Das Kind M54 verwendete ebenfalls einfache „dann“-Verknüpfungen zwischen den Ereignissen, bildete jedoch auch stärkeren inhaltlichen Zusammenhang, wie zum Beispiel durch den Komparativ „besser“. Das untersuchte Mädchen dagegen bildete keine inhaltli-chen Zusammenhänge; bei der Beschreibung des letzen Bildes führte sie die Protago-nistin mit dem Demonstrativpronomen „die“ sogar neu ein.

Zeitliche Abfolge

Auch zeitliche Abfolge, die bei M10 deutlich wurde und ihren eigenen freien Erzäh-lungen ebenfalls unauffällig mit "und dann" markiert wurden, fehlten in den Bilder-geschichten. (16a) VP Da geht er. Versteckt es. S1 SPK1 Versteckt er sich, aha. VP Da geht er mit den Luf-. Und da steigt er sie. Fertig.

Kausalzusammenhänge

Ein Mal markierte sie einen Kausalzusammenhang mit einer weil-Subordination. In diesem Fall hatte sie davor mithilfe des Interviewers die Geschichte verstanden. (17a) VP Und die Mutter die schimpft, S4 VP weil die, weil die Katze das putt gemacht hat.

Tempus

Erzähltempus bei den Bildergeschichten war ausschließlich Präsens. (18a) VP Da geht er. S1 VP Versteckt es. (18b) VP Da geht er in die Schule. S1 (18c) VP Da weint die. S2

Sonja Hepflinger et al. ______________________________________________________________________

102

Kohärenz und Kohäsion

Inhaltlicher und formaler Zusammenhang wurde von ihr nicht erstellt, da sie nur einzelne Bildbeschreibungen ablieferte.

Satztypen

Abgesehen von einer Subordination benutzte sie nur einfache Aussagesätze um die Bilder zu beschreiben. Auf Fragen antwortete sie stets nur mit der erfragten Phrase, wie auch in den spontansprachlichen Beispielen. Das zeigt ihr syntaktisches Wissen, das sie geschickt einsetzt, um als unauffälliger Gesprächsteilnehmer zu erscheinen, obwohl ihr offensichtlich das Wissen um Gesprächsfunktionen und soziale Bindun-gen fehlt.

Aktanteneinführung

Aktanten führte sie stets definit (19a, 19b) ein, nur auf Nachfrage indefinit (19c, 19d). (19a) VP Da weint die. S2 (19b) VP Der Hase esst Karotten. S3 (19c) SPK1 Schau mal, was is'n da? S4 VP Eine Katze. (19d) SPK1 Kannst mir sagen, was du da oben siehst? S5 VP Ein Null. [...] Ein Mann. Da auch ein Mann. Da ein Pferd.

4. Diskussion

Besonders bei der Untersuchung von Entwicklungsstörungen ist es wichtig, nicht nur aktuelle Kompetenzen zu untersuchen, sondern auch Vorläuferfertigkeiten und den Entwicklungsverlauf zu betrachten. Symptome verändern sich im Laufe der Entwick-lung und des Krankheitsverlaufs und können sich sowohl aus anderen Symptomen heraus entwickeln, als auch zu weiteren führen (Wass & Karmiloff-Smith 2010). Es ist zwar theoretisch möglich, einfach bestimmte Kompetenzen von auffälligen Kindern mit denen anderer oder jüngerer Kinder zu vergleichen und dadurch ein "Entwick-lungsalter" festzulegen, damit werden jedoch viele Faktoren und Zusammenhänge von Ursache und Wirkung außer Acht gelassen. Bei der Untersuchung von narrativen Kompetenzen und pragmatischen Vorläuferfertigkeiten wird ein weites zusammen-hängendes Feld von sprachlichen – formalen und pragmatischen – Fähigkeiten be-rührt, das nicht ohne Weiteres in Einzelteile zergliedert werden kann. Narrative Fä-higkeiten werfen Licht auf die kommunikative Entwicklung (Norbury & Bishop 2003), da sie viele bereits entwickelte Funktionen benötigen. Dazu gehören eine ge-wisse Lexikongröße, formale linguistische Fähigkeiten wie phonologische, morpho-logische und syntaktische Fertigkeiten, soziale Fertigkeiten, kognitive Fertigkeiten und pragmatische Fähigkeiten (Leononen et al. 2000, Botting 2002, Norbury & Bishop 2003, Kay-Raining Bird et al. 2008). Deshalb sind nicht nur die narrativen Defizite von Interesse, sondern vor allem die Ursachen dafür und die zugrundeliegenden

Pragmatische und narrative Kompetenzen bei Rett ______________________________________________________________________

103

Fähigkeiten, die sich in einer dynamischen Entwicklung verändern und gegenseitig beeinflussen. Ähnliche Muster müssen nicht das Resultat gleicher Entwicklungsver-läufe sein (Wass & Karmiloff-Smith 2010). Die Entwicklung eines Kindes ist in jeder Hinsicht – also sprachlich, kognitiv, neuronal, sozial, etc. – ein Zusammenspiel von vielen Faktoren, und die spezielle Entwicklung von gewissen Funktionen, wie die Entwicklung von narrativen Kompetenzen, sind genauso in einem dynamischen Kon-tinuum begriffen.

Das untersuchte Mädchen entwickelte eine Lexikongröße vergleichbar mit der eines Kindes im Vorschulalter (Marschik et al. 2010b), und zeigte in den untersuchten Aufnahmen ein breites Set an syntaktischen und auch morphologischen Fähigkeiten. So waren ihre Sätze syntaktisch korrekt, morphologisch bereiteten ihr nur unregelmä-ßige Flexionsformen Probleme. Ihre pragmatischen Fähigkeiten waren in den spon-tanen Gesprächssequenzen teilweise ebenfalls gut zu sehen. So hatte sie kein Problem mit dem Verständnis von Feedback, Implikaturen und dem Verständnis von indirek-ten Sprechakten. Sie gab sogar selbst Feedback, initiierte Gespräche und wartete mit ihren Äußerungen bis sie angemessen Aufmerksamkeit erhielt. Auf Fragen antworte-te sie stets unauffällig. Diese Fähigkeiten in Verbindung mit dem formalen sprachli-chen Wissen und ihrem Wortschatz waren ausreichend, um an kurzen Gesprächen er-folgreich teilzunehmen. Bei genauerer Betrachtung mangelte es ihr jedoch an der Fä-higkeit, ein Topik aufrechtzuerhalten und auf den Gesprächspartner einzugehen. Kommunikative Äußerungen wie „Guck mal!“ schienen eher eingelernt als spontan sozial motiviert zu sein, da sie ihr nonverbales Verhalten damit nicht in Einklang brachte und auch keinen Augenkontakt aufbaute. Sie produzierte in den Aufnahmen keinen indirekten Sprechakt und gab nie ihre Einstellung zu dem Gesagten preis.

Bei Erzählungen aus ihrem Alltag war sie außerdem erfolgreich im Bilden der zeitlichen und kausalen Zusammenhänge. Auffälligkeiten zeigten sich jedoch bei der Aktanteneinführung und der fehlenden Evaluation; das Wissen des Gesprächspart-ners wurde von ihr nicht berücksichtigt. Diese Defizite in Verbindung mit ihrer Unfä-higkeit, längere Zeit ein Thema zu verfolgen, führten zu deutlicheren Einschränkun-gen bei den Erzählungen im Vergleich zu den dialogischen Situationen. Außerdem konnte sie beim Betrachten der Bildergeschichten keinen Zusammenhang herstellen und lieferte nur einzelne Bildbeschreibungen, weshalb keine narrative Fähigkeiten wurden aus diesen Daten ersichtlich wurden. Ihr narratives Verhalten entspricht da-bei in etwa dem von 3-Jährigen, doch selbst ihre Bildbeschreibungen enthalten kei-nerlei personalisierte Information, was laut Slobin & Waletzky 1994 bei 3-Jährigen zu erwarten wäre. Trotzdem scheint sie die kognitiven Fähigkeiten zum Erstellen eines textuellen Zusammenhangs zwischen zwei Bildern zu besitzen, da sie bei der Katzen-Geschichte den Kausalzusammenhang erklärte (siehe 3.2.2).

Es scheint, dass das untersuchte Mädchen in kurzen Dialogen relativ erfolgreich ist, da sie ihre Gesprächskompetenzen auf gelernten Strategien und syntaktischem Wissen aufbaut, nicht jedoch auf sozio-pragmatischen Funktionen und der Bezugnah-me auf den Gesprächspartner. Dies zeigt sich auch dadurch, dass sie ihr Verhalten dem sprachlichen Inhalt nicht anpasst und alle sozialen und personalisierenden Mar-ker in ihren Texten fehlen. In kurzen Gesprächssequenzen wirkt sie durch diese Stra-tegien zwar relativ unauffällig, sie scheitert jedoch bei geringen Veränderungen des

Sonja Hepflinger et al. ______________________________________________________________________

104

Settings. Probleme bei den Erzählungen scheinen vor allem auf die geänderten prag-matischen Anforderungen und die fehlende Rücksichtnahme auf den Gesprächspart-ner zurückzuführen sein.

Die für das Rett Syndrom typische Regressionsphase und der Verlust von sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten bedeuten zusätzlich zu den kognitiven und motorischen Einschränkungen einen sehr stark verlangsamten oder gar um Jahre verspäteten Spracherwerb, falls Sprache überhaupt wieder erworben wird. Die ex-pressiven sprachlichen Fähigkeiten des untersuchten Mädchens sind im Vergleich zu anderen beschriebenen Patientinnen gut entwickelt (vgl. Dahlgren Sandberg et al. 2000, Uchino et al. 2001, Cass et al. 2003). Für die Herausbildung narrativer Fähigkei-ten reichte dies jedoch nicht. Ein Defizit der sozio-pragmatischen Fertigkeiten kann als eine Ursache dafür angenommen werden, aber narrative Fähigkeiten beruhen auf einer komplexen Entwicklung und sind auch bei 'gesunden' Kindern mit verspätetem Spacherwerb häufig persistent (Miniscalco et al. 2007).

Diese Studie bezieht sich nur auf eine Patientin und ihre Ergebnisse können nicht auf die Zappella Variante des Rett Syndroms generalisiert werden. Inwiefern die frühe sprachliche Entwicklung, der mögliche Erhalt von manchen kommunikativen Funktionen während der Regression und auch die spätere Entwicklung zusammen-hängen, muss Gegenstand weiterer Untersuchungen sein. Nur durch die Untersu-chung von Entwicklungsverläufen ist es möglich, Aufschluss über die vielen subtilen Zusammenhänge in der Entwicklung zu erhalten.

5. Bibliographie

Armstrong, Dawna D. (2005). Neuropathology of Rett syndrome. Journal of Child

Neurology, 20, 747-53. Bamberg, Michael & Damrad-Frye, Robin (1991). On the ability to provide evaluative

comments: further explorations of children's narrative competencies. Journal of Child Language, 18, 689-710.

Beaugrande, Robert-Alain de & Dressler, Wolfgang U. (1981). Einführung in die Textlinguistik. Tübingen: Niemeyer.

Berman, Ruth A. & Slobin, Dan I. (1994). Relating events in narrative: a cross-linguistic development study. Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum.

Botting, Nicola (2002). Narrative as a tool for the assessment of linguistic and prag-matic impairments. Child Language Teaching and Therapy, 18, 1-21.

Cass, Hilary & Reilly, Sheena & Owen, Lucy & Wisbeach, Alison & Weekes, Lyn & Slonims, Vicky & Wigram, Tony & Charman, Tony (2003). Findings from a multi-disciplinary clinical case series of females with Rett syndrome. Developmental

Medicine & Child Neurology, 45, 325-337. Chafe, Wallace (1994). Discourse, consciousness, and time. The flow and displace-

ment of conscious experience in speaking and writing. Chicago: Chicago Univer-sity Press.

Clark, Eve V. (2006). Pragmatics and Language Acquisition. In Laurence R. Horn & Gregory Ward (eds.), The Handbook of Pragmatics. Oxford, UK: Blackwell Publi-shing, pp. 562-577.

Pragmatische und narrative Kompetenzen bei Rett ______________________________________________________________________

105

Cristofaro, Sonia (2003). Subordination. Oxford: Oxford University Press. Dahlgren Sandberg, Annika & Ehlers, Stephan & Hagberg, Bengt & Gillberg,

Christopher (2000). The Rett syndrome complex: communicative functions in relation to developmental level. Autism: The International Journal of Research and Practice, 4, 249-267.

Eilan, Naomi (2005). Joint Attention, Communication and Mind. In Naomi Eilan & Christoph Hoerl & Teresa McCormack & Johannes Roessler (eds.), Joint Atten-

tion: Communication and other Minds. Issues in Philosophy and Psychology. New York: Oxford University Press, pp. 1-33.

Einspieler, Christa & Kerr, Alison M. & Prechtl, Heinz F.R. (2005a). Abnormal general movements in girls with Rett disorder: The first four months of life. Brain & De-

velopment, 27, 8-13. Einspieler, Christa & Kerr, Alison M. & Prechtl, Heinz F.R. (2005b). Is the early deve-

lopment of females with Rett disorder really normal? Developmental Medicine &

Child Neurology, 47, 20. Hagberg, Bengt (1995). Clinical delineation of Rett syndrome variants. Neuro-pedia-

trics, 26, 62. Hagberg, Bengt & Aicardi, Jean & Dias, Karin & Ramos, Ovidio (1983). A progressive

syndrome of autism, dementia, and loss of purposeful hand use in girls: Rett syn-drome: a report of 35 cases. Annals of Neurology, 14, 471-479.

Kauschke, Christina & Siegmüller, Julia (2002). Patholinguistische Diagnostik bei

Sprachentwicklungsstörungen. München: Urban & Fischer Verlag. Kay-Raining Bird, Elizabeth & Cleave, Patricia L. & White, Denise & Pike, Heather &

Helmkay, April (2008). Written and oral narratives of children and adolescents with Down syndrome. Journal of Speech, Language, and Hearing Research, 51, 436-450.

Kerr, Alison M. & Archer, Hayley L. & Evans, Julie C. & Gibbon, Fiona (2006). People with MECP2 mutation positive Rett disorder who converse. Journal of

Intellectual Disability Research, 50, 386-394. Labov, William & Waletzky, Joshua (1967). Narrative analysis. In June Helm (ed.), Es-

says on the Verbal and Visual Arts. Seattle: U. of Washington Press, pp. 12-44. Lakoff, George (1968). Pronouns and Reference. Bloomington: Indiana University

Linguistics Club. Larsson, Gunilla & Lindström, Britta & Engerström, Ingegerd Witt (2005). Rett syn-

drome from a family perspective: The Swedish Rett Center survey. Brain & Deve-

lopment, 27, 14-19. Leinonen, Eva & Letts, Carolyn & Smith, Benita R. (2000). Children's Pragmatic

Communication Difficulties: Narratives and Story Telling. London: Whurr. Leonard, Helen & Fyfe, Susan & Leonard, Seonaid & Msall, Michael (2001).

Functional status, medical impairments, and rehabilitation resources in 84 females with Rett syndrome: a snapshot across the world from the parental perspective. Disability & Rehabilitation, 23, 107-117.

Maas, Utz (2008). Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft. Die schrift-

kulturelle Dimension. Göttingen: Universitätsverlag Osnabrück.

Sonja Hepflinger et al. ______________________________________________________________________

106

Marschik, Peter B. & Einspieler, Christa & Vollmann, Ralf (2006). The Rett syndrome complex: communicative abilities in classical Rett syndrome and preserved speech variant. Grazer Linguistische Studien, 65, 41-51.

Marschik, Peter B. & Einspieler, Christa & Oberle, Andreas & Laccone, Franco & Prechtl, Heinz F.R. (2009). Case report: retracing atypical development: a preserved speech variant of Rett syndrome. Journal of Autism and Developmental

Disorders, 39, 958-961. Marschik, Peter B. & Lanator, Ines & Freilinger, Michael & Prechtl, Heinz F.R. &

Einspieler, Christa (2010a). Funktionelle Hirnentwicklung beim Rett Syndrom: frühe Auffälligkeiten und funktionsdiagnostische Besonderheiten. Klinische

Neurophysiologie, 41, 1-5. Marschik, Peter B. & Vollmann, Ralf & Hepflinger, Sonja & Bartl, Katrin & Strutz-

mann, Elisabeth & Einspieler, Christa (2010b). Rett Syndrom: Aspekte einer atypischen Entwicklung der Kommunikation. LOGOS interdisziplinär, 18/5, 318-327.

Miltenberger-Miltenyi, Gabriel & Laccone, Franco (2003). Mutations and polymor-phisms in the human methyl CpG-binding protein MECP2. Human Mutation, 22, 107-115.

Miniscalco, Carmela & Hagberg, Bibbi & Kadesjö, Björn & Westerlund, Monica & Gillberg, Christopher (2007). Narrative skills, cognitive profiles and neuropsychia-tric disorders in 7-8-year-old children with late developing language. Internatio-nal Journal of Language and Communication Disorders, 42, 665-681.

Muller, Gerda (2001). Mein liebster Teddy. Ravensburg: Ravensburger. Norbury, Courtenay F. & Bishop, Dorothy V. M. (2003). Narrative skills of children

with communication impairments. International Journal of Language and Com-

munication Disorders, 38, 287-313. Norrick, Neal R. (2000). Conversational Narrative. Storytelling in Everyday Talk.

Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins. Quasthoff, Uta (1980). Erzählen in Gesprächen. Tübingen: Narr. Rett, Andreas (1966). Über ein eigenartiges hirnatrophisches Syndrom bei Hyper-

ammonämie im Kindsalter. Wiener Medizinische Wochenschrift, 116, 723-726. Sabbagh, Mark A. & Baldwin, Dare (2005). Understanding the role of communication

intentions in word learning. In Naomi Eilan & Christoph Hoerl & Teresa McCor-mack & Johannes Roessler (eds.), Joint Attention: Communication and other

Minds. Issues in Philosophy and Psychology. New York: Oxford University Press, pp. 165-184.

Shahbazian, Mona D. & Zoghbi, Huda Y. (2001). Molecular genetics of Rett syndrome and clinical spectrum of MECP2 mutations. Current Opinion in Neurology, 14, 171-176.

Uchino, June & Michiyo Suzuki, Michiyo & Hoshino, Kyoko & Nomura, Yoshiko & Segawa, Masaya (2001). Development of language in Rett syndrome. Brain &

Development, 23, 233-235. Vollmann, Ralf & Bartl, Katrin & Strutzmann, Elisabeth & Hepflinger, Sonja &

Schwabl, Katharina & Marschik, Peter B. (2011). Erzählungen von Vorschul-kindern: Hintergrund und Methodologie. Grazer Linguistische Studien, 75, 7-24.

Pragmatische und narrative Kompetenzen bei Rett ______________________________________________________________________

107

Wass, Sam & Karmiloff-Smith, Annette (2010). The missing developmental dimension in the network perspective. Behavioral and Brain Sciences, 33, 175-276.

Kontakt: Mag. Sonja Hepflinger

Institut für Sprachwissenschaft, Universität Graz Institut für Physiologie, Medizinische Universität Graz [email protected]

Grazer Linguistische Studien 75 (Frühjahr 2011); S. 109-144

Erzählkompetenz von Kindern mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung1

Elisabeth Swoboda Familien und Generationen, Salzburg

Zusammenfassung. Der Narrationserwerb von Kindern wird im Rahmen eines interdisziplinären Ansatzes diskutiert. Für die interaktive Alltagskommunikation, zu der auch Narrationen zählen, sind spezifisch sprachliche und allgemeine kognitive Aspekte, wie die Entwicklung einer Theory of Mind von Bedeutung. In der vorliegenden Arbeit werden die Reproduktionen einer kurzen Erzählung analysiert, wobei primär die Verwendung kohäsiver Elemente und das quantitative Ausmaß des Hörer-Scaffolding interessieren. Kinder mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung (SSES) unterscheiden sich in ihren Leistungen sowohl in formalsprachlichen Moda-litäten, als auch im pragmalinguistischen, narrativen Bereich von Kindern mit einem unauffälligen Spracherwerb. Speziell die Repräsentation kohäsiver Mittel bereitet SSES-Kindern Probleme und sie benötigen teils intensive dialogische Unterstützung bei der Wiedergabe der Erzählung.

Abstract. This paper concerns problems appearing in the oral narrative abilities of children with specific language impairment (SLI). The data of SLI-children and normally developing children, retelling a short story are analyzed. SLI-children show lower competence in the representation of linguistic and narrative structure than normally developing children. Especially the production of cohäsive elements is more difficult for them and some need intensive scaffolding of an adult to retell the story.

1. Narrationserwerb von Kindern

In Narrationsmodellen mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung werden Formen und Funktionen von Erzählungen beschrieben (u.a. Bamberg 1987, 1997; Bamberg & Reilly 1996; Boueke & Klein 1983; Boueke et al. 1995; Hausendorf & Quasthoff 1996; Labov & Waletzky 1967, 1973; Knobloch 2001; Quasthoff 1983, 1995, 2001; Quasthoff & Katz-Bernstein 2007).

In der vorliegenden Arbeit liegt der Schwerpunkt auf Erzählungen von Kindern mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung (SSES) im Alter zwischen fünfeinhalb und sechseinhalb Jahren. Für diese Erwerbsphase ist ein Modell notwendig, welches den interaktiven Charakter und die Alltäglichkeit (Hausendorf & Quasthoff 1996,

1 Im vorliegenden Artikel wird an Stelle der im deutschen Sprachraum üblichen Bezeichnung Spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES) Spezifische Spracherwerbsstörung verwendet. Der Terminus orientiert sich meines Erachtens exakter an der Standardbezeichnung Spracherwerb.

Elisabeth Swoboda ______________________________________________________________________

110

Quasthoff 2001) hervorhebt. Je jünger Kinder sind, desto mehr sind sie auf dialogische Rahmenbedingungen angewiesen. Dennoch müssen spezifische Strukturen einer Erzählung berücksichtigt werden, um sie beispielsweise von einem Bericht, oder einem Diskurstext abgrenzen zu können.

Boueke et al. (1995) plädieren für ein kognitives Entwicklungsmodell narrativer Fähigkeiten mit vier Ebenen. Im Fokus steht der kommunikative Charakter. Jede Ebe-ne repräsentiert eine Entwicklungsstufe. Kinder beginnen mit der Aufzählung von Einzelereignissen und führen dann eine Zeitkomponente (dann…, dann und dann ...) ein. Auf der nächsten Ebene erfährt die Erzählung eine gewisse Linearität. Ort, Zeit und Aktanten können eindeutig strukturiert werden, so dass der Hörer den Zusam-menhang einer Erzählung ohne Nachfragen erfassen kann. In dieser Phase sind Kin-der fähig, wenigstens einen Aktanten konstant in die Erzählung einzubauen und eine kausale Handlungsabfolge zu beschreiben, womit eine Kohärenz des Textes vs. einer Abfolge von Sätzen möglich ist. Die einzelnen Episoden einer Erzählung werden ein-deutig markiert (und dann hat er…). Im weiteren Verlauf wird bereits einen Kontrast eingeführt, um der Erzählung Dynamik zu verleihen (doch plötzlich…). Die letzte Stu-fe ist gekennzeichnet durch eine durchgängige Handlungslogik und eine bewusste af-fektive Einbeziehung des Hörers.

Berman & Slobin (1994) sind der Ansicht, dass Kinder erst im vierten Lebensjahr mit elementaren Erzählungen beginnen. Dabei geht es vorwiegend um die Beschrei-bung von Handlungen, weniger über Emotionen, Gedanken, Wünsche anderer Perso-nen (Nelson 2005). Diese Aspekte werden erst im sechsten Lebensjahr berücksichtigt, wenn Motivationen, Gedanken, Überzeugungen anderer Menschen in die eigenen Erzählungen integriert werden.

Die Grammatik des Erzählens ist ebenso wie die Grammatik von Sätzen und Texten von einer kognitiven Reife abhängig. Narrationen verlangen differenzierte kommunikative Verhaltensweisen und Erzählschemata.

Die Planung narrativer Strukturen erwerben Kinder nach und nach. Auch in die-sem Bereich kann, wie im formalen Spracherwerb, von einer Prädisposition ausge-gangen werden. Kinder beginnen im zweiten Lebensjahr mit dem Verbalisieren von Wahrnehmungen und Skripts. Sie müssen das begriffliche Denken des Kleinkindalters überwinden, um Personen, Handlungen, Objekte explizit in ihre Erzählung einführen zu können. Kohärente Strukturen, wie einzelne Handlungssequenzen aus anderen resultieren zu lassen und Begründungen dafür zu finden, tragen wesentlich zum Gelingen einer Erzählung bei. In Kontexten, in denen Sprecher und Hörer kein ge-meinsames Wissen teilen, regelt zudem die Kohärenz die Informationsweitergabe. Kinder setzen zunehmend indefinite Determinierer, Partizip Perfekt, adverbiale Zeit-Raumbestimmungen ein, um Zeit und Ort zu markieren und unbekannte Referenten einzuführen. Kohäsion und Kohärenz scheinen jedoch Elemente zu sein, die einen differenzierteren kognitiven Entwicklungsstatus erfordern. Komplexe Episoden, wel-che in eines der Erzählschemata einzuordnen sind, gelingen erst im Schulalter.

Schu (1994: 61) zählt fünf Eigenschaften auf, welche das Erzählkonzept von La-bov & Waletzky (1967, 1973) für die Beschreibung kindlicher Narrationen als gut ge-eignet erscheinen lassen:

Erzählkompetenz von Kindern mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung ______________________________________________________________________

111

- Bewährtheit: Der Aspekt ist besonders für spontane Erzählungen effizient. Ereignisfolgen können so leichter strukturiert und beschrieben werden.

- Vergleichbarkeit: Erzählbegriffe sind vergleichbar und können immer wieder angewendet werden.

- Integrationsfähigkeit: Dieser Gesichtspunkt lässt sich in konversationsanalyti-sche Konzepte integrieren. Primär handelt es sich um Erzählen als interaktive Tätigkeit, bei der es um Sprecher- und Höreraktivitäten geht.

- Einfachheit und Hierarchisierung: Eine Erzählung enthält ein ungewöhnli-ches Ereignis. Die Minimalanforderung ist ein Teilsatz, eine Äußerung über einen außergewöhnlichen Sachverhalt. Der Handlungskomplikation unterge-ordnet sind andere Ereignisfolgen, welche ebenfalls in kommunikativen Äußerungen oder Sätzen repräsentiert sein können.

- Trennschärfe: Die Ungewöhnlichkeit differenziert Erzählungen von anderen diskursiven Formen, wie Beschreibungen und Informationen.

Kindliche Erzählungen weisen jedoch häufig keine idealtypische Erzählstruktur auf. Kinder verwenden Vorausgriffe und Rückblicke und halten zeitliche Abfolgen nicht konstant ein. Dialoge mit eingeflochtenen Bemerkungen, Erzählen von Ähnlichem oder Kontrastivem und thematische Wiederholungen sind zu beobachten.

Unterschiedliche Diskussionen werden auch über die Arten narrativer Textsor-ten geführt. Eine sehr komplexe Annahme stellen die sieben Kriterien der Textualität für einen kommunikativen Text von Beaugrande & Dressler (1981) dar. Labov & Wa-letzky (1967, 1973) dagegen sind der Ansicht, dass eine Erzählung schon aus einem monologischen Text mit mindestens zwei seriellen Sätzen bestehen kann. Für Becker (2001), Boueke et al. (1995), Labov & Waletzky (1967, 1973), Quasthoff (1996) sollten Narrationen zudem prominente Strukturelemente wie Kausalität und Komplikation beinhalten.

Für die Analyse von kindlichen Erzählungen müssen andere Äußerungseinhei-ten als Texte berücksichtigt werden. Als Erzählungen können alle verbalen Repräsen-tationen einer besonderen Begebenheit, oder mehrerer miteinander verknüpfter Er-eignisse aus der Vergangenheit definiert werden. Wobei der Stellenwert “besonders” für Kinder ein anderer ist als für Erwachsene.

Kindliche Erzählkompetenz ist meiner Meinung nach dann gegeben, wenn Kin-der

- über Ereignisse, Dinge, Personen sprechen können, die nicht unmittelbar vor-handen sind,

- über Sachverhalte erzählen, welche in möglichen Welten liegen, - die Perspektive ihres Gesprächspartners und sozial geteiltes Wissen berück-

sichtigen, - ein Wissen über die Planung, Organisation von Äußerungen und Erzählun-

gen erworben haben. Dazu zählen beispielsweise Erzählschema, Diskurssche-ma, Äußerungssequenzen, Rückmeldungen und Reparaturen.

Elisabeth Swoboda ______________________________________________________________________

112

1.1. Der Erwerb verbalkommunikativer Kompetenz

Die Diskussion des kindlichen Kommunikationserwerbs erfordert eine Integration von psycholinguistischen und entwicklungspsychologischen Modellen. Kommunika-tionserwerb ist ein komplexes Geschehen auf spezifisch sprachlicher, kognitiver, so-zioemotionaler und soziokultureller Ebene. Soziokulturelles Lernen und Spracher-werb interagieren nach Ansicht zahlreicher Autoren (u.a. Amsel & Byrnes 2002; An-dresen 2002; Bamberg 1987; Boueke 1983, 1995; Ehlich 1983, 1996; Ehlich & Rehbein 1979; Fludernik 2006; Ninio & Snow 1996; Nünning & Nünning 2002; Quasthoff 1983, 1995; Quasthoff & Katz-Bernstein 2007; Tomasello 1995, 2001, 2003). Clark (1996: 392) meint: “the language of language use is not the same as the language of language structure. For language use we must continue to study language in its extended sense.” Eisenbeiß (2002: 5) ist der Ansicht, dass es sich im Spracherwerb nicht aus-schließlich um spezifisch sprachliche Prinzipien handelt, sondern um generelle forma-le Prinzipien der menschlichen Kognition. Pinker (1996) nimmt eine Kooperation se-mantischer und syntaktischer Systeme an. Einzelne Grammatikmodule entwickeln sich bei Kindern nach einem biologisch festgelegten Plan, wobei funktionale Bereiche später als lexikalische erworben werden. Einige syntaktische, semantische und prag-matische Modalitäten kooperieren mit kognitiven Fertigkeiten und entwickeln sich erst zwischen dem fünften und zwölften Lebensjahr. Dieser Aspekt trifft meiner Mei-nung nach auf Erzählfähigkeiten zu.

Entwicklungspsychologische Aspekte sind für den Spracherwerbsprozess ebenso zu berücksichtigen wie Erkenntnisse der theoretischen Linguistik und spezifischen Spracherwerbsforschung. Dieser Ansatz scheint auch für narrative Fähigkeiten be-deutend, da Erzählen interdependente Leistungen zwischen sprachlichen und men-talen Repräsentationen erfordert. Der Erwerb pragmalinguistischer Fähigkeiten hängt mit anderen Erwerbsaufgaben des Kindes zusammen. Basale Form- und Funktions-strukturen werden von Kindern bereits früh in Beziehung gesetzt. Eine weitere Aus-differenzierung von Mappings formaler und funktionaler Strukturen in verschiedenen Kontexten ist für konversationelle und narrative Fähigkeiten wesentlich. Hier zeigt sich auch der Zusammenhang mit einer Theory of Mind (ToM). Origgi & Sperber (2000) meinen, dass kommunikative Fertigkeiten von alltagspsychologischen Fähig-keiten abhängig sind. Verbalkommunikative Kompetenz bedeutet, sich in unter-schiedlichen sozialen Situationen an Gesprächen aktiv als Sprecher und Hörer in ad-äquater Art und Weise beteiligen zu können. Dazu sind sprachliche Zeichen erforder-lich. Diese Zeichen müssen Sprecher und Hörer gleichermaßen zugänglich sein. Als Kommunikationspartner sind sie auf ein gemeinsames Verstehen angewiesen. Dieses Verstehen ist ein sozialkognitiver Prozess. Er resultiert aus der Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit anderen Personen und der Umwelt. Kinder wachsen in einer sozialen Welt auf und bilden früh Konzepte über die Gestaltung sozialer Interaktio-nen. Sie machen die Erfahrung, dass diese großteils von Sprache begleitet werden. Vorwiegend handelt es sich dabei um eine dialogische Kommunikationsrichtung, um face-to-face-Äußerungen. Kontext und Sprache bilden eine Einheit. Anfangs hängen Äußerungen von Kindern stark von dem jeweiligen Kontext ab. Innerhalb eines Kon-texts verstehen und äußern Kinder ihre kommunikativen Ziele. Eine entsprechende

Erzählkompetenz von Kindern mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung ______________________________________________________________________

113

Passung zwischen Information und Kontext ist Voraussetzung für ein Textverstehen. Hickmann (2003: 3) nimmt an, dass das Erfassen des propositionalen Gehalts (wer sagt was zu wem, wann und wo), Fokus, Kontextbezogenheit und der Zeitaspekt se-mantisch-pragmatisch determiniert sind. Daraus ergibt sich ein dynamischer Ent-wicklungsaspekt für den Spracherwerb. Hickmann (2000) erachtet die Kontextebene in Gesprächen für wesentlicher als die Satzebene. Erst später erfolgt eine Dekontex-tualisierung, die sprachlichen Äußerungen werden aus dem Kontext gelöst. Die Un-abhängigkeit sprachlicher Repräsentationen von der aktuellen Situation ist ein we-sentlicher Aspekt in Erzählungen. Mit dem Erwerb der ersten lexikalischen Wörter ist Kindern eine szenische Gestaltung möglich: ball (“Ich will den Ball”, “Gib mir den Ball” etc.). Mit fortschreitendem Lexikonerwerb und dem Aufbau morphosyntakti-scher Strukturen im zweiten Lebensjahr gelingen differenziertere verbale Interaktio-nen. In dieser Altersphase sind Erzählungen lediglich eine Repräsentation von isolier-tem Geschehen. Mit drei Jahren erschließen Kinder den Sinn aus einem Kontext he-raus und reagieren angepasst auf den Gesprächspartner. Sie sprechen über Vergange-nes und emotionale Zustände. Der Zugriff auf Skripts (bekannte Handlungsstruktu-ren) unterstützt sie dabei. Skriptwissen und Erfahrungssituationen unterstützen die mentale Planung und Verbalisierung von Handlungsabläufen. Formate, Skripts müs-sen erworben und internalisiert sein, um in Erzählungen darauf referieren zu können. Narrative Strukturen brauchen, wie Skripts, einen hierarchischen, chronologischen Ablauf. In Erzählungen können diese Abläufe flexibel gestaltet werden. Die Chrono-logie von Ereignissen ist ein wichtiger Faktor für die Diskurs-Steuerung. Der Hörer muss fähig sein, die Pläne und Ziele des Sprechers zu erfassen und zur eigenen Hand-lungsplanung im Gespräch zu nutzen. Gespräche mit Erwachsenen bilden die Grund-lage für den Erwerb von kommunikativen Praktiken: “Kommunikative Praktiken sind präformierte Verfahrensweisen, die gesellschaftlich zur Verfügung stehen, wenn be-stimmte rekurrente Ziele oder Zwecke kommunikativ realisiert werden sollen” (Fieh-ler et al. 2004: 99) und “... kommunizieren lernen impliziert Praktikenerwerb” (2004: 102). Kinder erwerben im Dialog mit einer Bezugsperson nicht nur Gesprächsstruktu-ren (Hausendorf 1995), sondern auch die Fähigkeit, eigene Perspektiven, eigene Be-dürfnisse oder Überzeugungen auszudrücken und auf die Bedürfnisse des Gesprächs-partners zu reagieren. Erwachsene Bezugspersonen sind prädisponiert, dem Kind emotionale und begriffliche Aspekte der soziokulturellen, physischen und psychi-schen Welt zu vermitteln. Dialogsituationen erleichtern den Wissenserwerb über den Aufbau der Organisationsstruktur einer Erzählung. Kinder sind beim Erzählen auf einen interaktiven Prozess mit Erwachsenen angewiesen. Je jünger ein Kind ist, desto mehr braucht es dabei die Unterstützung seines Gesprächspartners. Hausendorf & Quasthoff (1996: 91) bezeichnen Erzählen als alltagssprachliche Kommunikations-form. Gesprächsbeiträge in Form von Sätzen, Phrasen, Wörtern zu präsentieren, Sprecher- und Höreraktivität einzuhalten, Situation und Hintergrund eines Textes ex-plizit zu machen, wird Kindern von Erwachsenen vermittelt. Kinder sind dabei als Hörer aktiv beteiligt und lernen ihre Sprecherbeiträge zu steuern (Meibauer 2001). Diese Aktivität erfordert Einfühlungsvermögen und ein Verständnis für die mentalen Zustände des Sprechers. Eigene und fremde mentale Situationen zu berücksichtigen (Dunn & Brophy 2005; O’Neill 2005; Harris 2005) erfahren Kinder in Diskurssituatio-

Elisabeth Swoboda ______________________________________________________________________

114

nen mit Erwachsenen. Begriffs- und Handlungsstrukturen korrelieren mit Textstruk-turen und bilden die Basis für das Verständnis von Zusammenhängen. Gemeinsame Vorstellungen und Erfahrungen von Welt, so wie ein gemeinsames temporales, loka-les und thematisches Orientierungsskript sind dazu notwendig. Hintergrund- und Handlungswissen sind für Sprachrezeption und Sprachproduktion gleicher Maßen von Bedeutung. Sprachverstehen ist nicht ohne Wissen über die Diskurssituation möglich. Dieses Wissen setzt sich aus Erfahrungen, Kenntnissen über Objekte, Pro-zesse, Interdependenzen zusammen. Weltwissen und Alltagswissen bauen Kinder vor allem in sozialen Interaktionen mit ihren ersten Bezugspersonen auf. Alltagswissen und individuelles Erfahrungswissen bilden ein kognitives Konzept, ohne dem Text-verstehen nicht gelingt. Lückenhafte sprachliche Information an der Textoberfläche kann mittels Alltagswissen ausgeglichen werden. Interaktionen von Weltwissen, kog-nitivem und kommunikativem Wissen determinieren auch Narrationsfähigkeiten (Berman & Slobin 1994). Reale und fiktive Kontexte, in denen Erzählungen kon-struiert werden, müssen Kindern mental zugänglich sein und erfordern spezifische Sprach- und Kommunikationskompetenzen. Kintsch & van Dijk (1978) plädieren für ein Modell, welches sowohl Weltwissen, als auch kommunikatives Wissen impliziert. Für Ernst (2002: 20) beinhalten Gebrauchskontexte eine Abbildung realer Welt und individueller Lernerfahrungen. Beide Aspekte, Weltwissen und grammatisches Wis-sen (Sprachwissen, welches auf die Gebrauchskontexte referiert), bedingen sprachli-ches Verhalten. Mittels Sprachwissen kann auf unterschiedliche Kontexte in Zeit und Raum zugegriffen werden. Vorerst findet dies nur innerhalb der Perspektive “Hier und Jetzt” statt. Erst später gelingt eine für die Diskursfähigkeit notwendige Abstrak-tion von Sprechsituation und Diskursreferenz (Hickman 2003). Die Präsentation von fiktiven sprachlichen Handlungskontexten in Erzählungen erfordert ein Wissen über Formate und die Fähigkeit, diese aus dem Gedächtnis abzurufen. In bekannten Ereig-nisstrukturen können Abläufe einfacher mental geplant, Konzepte erstellt, durchge-führt und verbalisiert werden. Nach Hickmann (2000) müssen Kinder einen Bezug zwischen formalsprachlichen und sozialen Funktionen der Sprache herstellen. Lexika-lisch-semantische, pragmatische und morphosyntaktische Kompetenzen sind notwen-dig, um kohärent und verständlich erzählen zu können. Regelerwerb findet daher nicht nur in den Modalitäten Lexikon, Morphosyntax und Phonologie statt, sondern auch im pragmalinguistischen Bereich. Für die Repräsentation eines zusammenhän-genden Textes spielen vor allem Kohärenz und Kohäsion eine wichtige Rolle. Diese Aspekte erfordern eine entsprechende Passung zwischen sprachlichen und sozial-kog-nitiven Fähigkeiten. Kohärenz regelt die Informationsweitergabe in Kontexten, in de-nen Sprecher und Hörer nicht über ein gemeinsames Wissen verfügen. Wesentlich für Erzählungen ist die Fähigkeit, einzelne Handlungssequenzen aus anderen resultieren zu lassen und Argumentationen zu finden. Kohäsion, ein Element der Textoberfläche, bezieht sich auf die semantische und syntaktische Beziehung von Sätzen unter-einander. Als kohäsive Mittel nennen Linke, Nussbaumer & Portmann (2004) unter anderen die Wiederaufnahme von Textelementen durch Rekurrenz und Pro-Formen, weiters Ellipsen und Konnektive. Beaugrande und Dressler (1981) definieren Kohä-sion als semantisch-syntaktische Modalität, um das Sinnverstehen eines Textes durch Elemente wie Tempus, Relation und Aspekt zu ermöglichen. Für Kinder ist es schwie-

Erzählkompetenz von Kindern mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung ______________________________________________________________________

115

rig, nicht lediglich eine Abfolge von Sätzen zu präsentieren, sondern eine kausale Handlungsabfolge zu beschreiben. In der weiteren verbal-kommunikativen Entwick-lung werden immer differenziertere Mappings formaler und funktionaler Strukturen in unterschiedlichen Kontexten erworben. Besteht der Textaufbau anfangs aus einer Aneinanderreihung einzelner Äußerungen, können im Schulalter komplexe Narra-tionen präsentiert werden. Mit zunehmendem Alter erfassen Kinder, welche Infor-mationen sie in einer Erzählung geben müssen, um dem Hörer ein ausreichendes Textverstehen zu ermöglichen. Sie sind dabei auf die Interaktion mit einem erwachse-nen Hörer (Hausendorf & Quasthoff 1996) angewiesen. Erwachsene steuern einerseits die Erzählung mit Fragen, Interpretationen, Korrekturen und Textergänzungen, an-dererseits vermitteln sie die entsprechenden Modalitäten der Dialoggrammatik. Kin-der erkennen, welche Strukturen Inhalte und Pragmatik von Dialogen regeln. Sie können Referenzbezüge herstellen und Orientierung und Strukturierung von komple-xen Sachverhalten aufbauen.

Sprechen und Hören ist ein kollektiver Prozess. Die Einstellung des Sprechers determiniert Sätze, Phrasen und Wörter, wobei Äußerungen im Diskurs maßgeblicher sind als Sätze (Clark 1996). Dieser Aspekt ist besonders für Kinder relevant. An Stelle der Satzsegmentierung sollten Äußerungseinheiten wie Verbalphrasen, Nominal-phrasen, Präpositionalphrasen oder so genannte prosodische Einheiten (Selting 1995) berücksichtigt werden. Kinder repräsentieren im Diskurs häufig Ellipsen, eine Äuße-rungsform welche auch im mütterlichen Input zahlreich zu beobachten ist. Nach Zifonun et al. (1997) ermöglichen minimale Kommunikationseinheiten verbale Hand-lungen unter Berücksichtigung des illokutiven und propositionalen Charakters. Rath (1997) ersetzt den Satz als Einheit für gesprochene Sprache durch den Begriff Äuße-rungseinheit. Äußerungen bilden auch für Rehbein (2001) die Segmentierungsbasis von Diskursanalysen. Äußerungen müssen jedoch bestimmten Kriterien entsprechen, um als kommunikativ zu gelten. Eine Einteilung nach Sprecher-Hörer-Initiation soll erkennbar sein. Die Äußerungen müssen weiters an mindestens eine Person gerichtet sein. Es muss sich um eine abgrenzbare Einheit mit einem morphosyntaktischen, phonologischen und prosodischen Aufbau handeln. Fiehler et al. (2004: 204) bezeich-nen solche Analyseeinheiten als funktionale Einheiten: Funktionale Einheiten sind die kleinsten Bestandteile des Beitrags, denen eine solche (separate) Funktion zu-geschrieben werden kann. Für die Analyse sprachlicher Repräsentationen von Kin-dern ist die Segmentierungskategorie funktionale Einheit gut geeignet, da sowohl Sprechhandlungen, als auch andere Handlungen, die Kommunikations- und Formu-lierungsvorgänge strukturieren, enthalten sind. Der Begriff Äußerungen weicht je-doch von der Definition Meibauers (2001: 8) ab, der Äußerungen als geäußerte Sätze, welche durch Regeln der Grammatik bestimmt sind, bezeichnet. Meiner Meinung nach müssen Äußerungen von Kindern nicht immer zielgrammatischen Regeln ent-sprechen, um als Äußerung akzeptiert zu werden. Im Rahmen des internationalen Projekts CDI-III (Narratives in Communicative Development Inventories (Leitung Dale & Fenson) werden für die Narrations-Analyse Äußerungseinheiten, wie single word utterance, predicate only, multi-word phrase vorgeschlagen.

Elisabeth Swoboda ______________________________________________________________________

116

1.2. Interdependenzen zwischen der Entwicklung einer

Theory of Mind (ToM) und Narrationsfähigkeiten

Verbalkommunikative Fähigkeiten, zu denen Narrationen zählen, beinhalten einer-seits sprachspezifische, andererseits sozialkognitive (Carston 2002) und soziokulturel-le Aspekte. Zu den sozialkognitiven Kompetenzen zählen ToM-Fähigkeiten, welche für den pragmalinguistischen und narrativen Bereich von Bedeutung sind (O’Neill 2005). Cole & Mitchell (2000) sehen einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Spracherwerb und der Entwicklung einer ToM. Gemeinsam mit einer ToM ent-wickeln sich auch exekutive Fähigkeiten, mit deren Hilfe Gedanken und Handlungen kontrolliert und reflektiert werden können. Handlungsplanung, Impulskontrolle, Un-terdrückung nicht adäquater Reaktionen, Organisieren und flexible Gestaltung von Problemlösestrategien sind Prozesse dieser exekutiven Fähigkeiten (Sprung 1999). Eine ToM ist ein humanspezifischer Sozialisationsprozess, Astington & Baird (2005: 4) definieren wie folgt: “domain-specific, psychologically real structure, composed of an integrated set of mental-state concepts employed to explain and predict people’s actions and interactions ...”. Anderen Menschen und sich selbst Bewusstseinszustände wie Denken, Wissen, Intentionen, Gefühle, Überzeugungen und Wollen zuzuschrei-ben, ist eine wesentliche Fähigkeit für relevantes kommunikatives Handeln. Wechsel-seitige Annahmen von Menschen, das gegenseitige Verstehen von Handlungen, Denken und Sprechen sind für die Kommunikation von Bedeutung (Origgi & Sperber 2000). Das interdependente Verhältnis von sprachlichen Fähigkeiten und einer ToM wird auch in Erzählungen deutlich, wenn eine gedankliche Welt konstruiert und anderen repräsentiert wird. Diese Perspektivenübernahme, von Villiers (u.a. 2005) als Point of View bezeichnet, wird mittels verschiedener deiktischer Bezeichnungen (Personalpronomen: ich, du, räumlichen und zeitlichen Markierungen: hier, dort, jetzt, dann), oder mit mentalen Verben (glauben, wissen) ausgedrückt.

Auch Hickmann (2000, 2003) ist der Ansicht, dass kommunikative Kompetenz ToM-Fähigkeiten erfordert. Zwischen drei und fünf Jahren machen Kinder einen gro-ßen Entwicklungsschritt hinsichtlich der Erschließung der mentalen Welt. Das frühe Symbolspiel und die Entwicklung einer ToM spielen für den Aufbau mentaler Reprä-sentationen eine wichtige Rolle (Nieding 2001).

Kinder entwickeln ToM-Vorläuferfähigkeiten, wie beispielsweise die gemeinsa-me Aufmerksamkeit (joint attention, Tomasello, 1995), soziale Rückversicherung (so-cial referencing), das So-tun-als-ob-Spiel (pretend play) in den ersten zwei Lebensjah-ren. Mit vier Jahren lösen Kinder Aufgaben, welche das Verständnis für einen fal-schen Glauben einer Person betreffen, womit ein wichtiger Meilenstein in der ToM-Entwicklung erworben ist. Kinder lernen, dass Wahrnehmungen und Wissen indivi-duell sind und nicht der realen Welt entsprechen müssen, sondern fiktiv sein können. Kinder unter vier Jahren nehmen den Gesprächspartner zwar wahr, können sich je-doch gedanklich noch nicht in ihn hineinversetzen. Ab vier Jahren unterscheiden sie zwischen sich und anderen und können verschiedene Rollen übernehmen. Dies er-möglicht ihnen, sich in den Dialogpartner hineinzudenken und zu verstehen, dass er über individuelle Annahmen verfügt. Es gelingt Kindern vermehrt, auf einen Ge-sprächspartner adäquat zu reagieren, entsprechende Informationen zu geben und

Erzählkompetenz von Kindern mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung ______________________________________________________________________

117

Aktanten und Handlungen explizit einzuführen (Lewis 1994). Perspektivenübernah-me ist speziell für konversationelle Erzählungen, in denen die eigene Bewusstseins-rolle und die des Hörers berücksichtigt werden müssen, von Bedeutung. Auch der Aufbau eines kohärenten Strukturkonzepts benötigt eine Perspektivenübernahme. Sie ermöglicht, dass ein Sachverhalt ausgewählt, geordnet und ein Text aufgebaut wer-den kann. Die Perspektive des Sprechers kann die eigene sein, oder eine gewählte. Sie unterscheidet sich auch von der Perspektive des Hörers. Für Kinder sind diese Rollen-zuweisungen schwierig. Ab fünf Jahren gelingt es, mentale Situationsmodelle aufzu-bauen und affektive Handlungen zu reflektieren. Erst dann können Kinder Affekte als wesentliches dynamisches Element verbal in Erzählungen umsetzen. Auch der Zu-gang zu den von Kintsch & van Dijk (1978), Kintsch (1994), genannten Repräsenta-tionsebenen in Textverstehensprozessen, wie Sachverhalt des Textes, Propositionen, Textoberfläche ist erst in diesem Alter möglich. Zielstrukturen von Protagonisten stellen ein wesentliches Organisationselement für den Erwerb mentaler Situations-modelle im Kindesalter dar (Nieding 2001). Der Aufbau mentaler Repräsentationen spielt dabei eine wesentliche Rolle. Dieses kognitive Konzept steht nach Ansicht von Nieding (2001) in engem Zusammenhang mit Textverstehensprozessen. Kinder begin-nen Elemente, wie Aktanten, Objekte, zeitliche Abläufe, räumliche Strukturen, Ursa-chen, Ziele innerhalb von Formaten (Skripts) zu verstehen.

1.3. Erzählfähigkeit von Kindern mit einer spezifischen

Spracherwerbsstörung

Bei dem Syndrom SSES handelt es sich um ein äußerst heterogenes Erscheinungsbild. Eine SSES kann sich in allen sprachlichen Modalitäten manifestieren, oder auch nur einzelne sprachliche Bereiche betreffen. Zudem finden sich assoziative Auffälligkei-ten (neurologisch, kognitiv, motorisch, sozial), Wahrnehmungs- und Informationsver-arbeitungsdefizite auf mehreren Sinnesgebieten sind häufig zu beobachten.

Rice (2000, 2003) und Eisenbeiß (2005) nehmen wie zahlreiche andere Autoren an, dass SSES-Kinder primär Probleme mit Tempusmarkierungen und dem Erwerb der Subjekt-Verb-Kongruenz haben. Clahsen (2006: 19f.) vertritt speziell für Deutsch sprechende Kinder den agreement-deficit account (für Verben und Adjektive). Ursa-che für die mangelhafte Subjekt-Verb-Kongruenz sei, dass nicht alle Verben mit dem Merkmal +finit markiert sind. Kinder verwenden daher die Default-Form Infinitiv, oder auch Kongruenzmarkierungen, die zielgrammatisch nicht entsprechen.

SSES-Kindern weisen zudem häufig ein defizitäres produktives Lexikon (Roth-weiler 2001; Kauschke & Siegmüller 2006, 2009) auf. Sie verwenden weniger Funk-tionswörter (Präpositionen, Pro-Formen und Konnektoren) als sprachlich unauffällige Kinder.

Der Bereich der Pragmatik, in dem es um die Umsetzung sprachlichen Wissens in Form von Sprechakten, Texten, Dialogen und Erzählungen geht, wird von einigen Autoren (u.a. Bishop & Leonard 2000; Grimm 2000; van der Lely 1995) ebenfalls als auffällig beschrieben.

Bishop (2000) beschreibt Defizite in der Dialogfähigkeit. Rice et al. (1991) be-zeichnen SSES-Kinder generell als poor communicators. Grimm (1995) bemerkt, dass

Elisabeth Swoboda ______________________________________________________________________

118

die Repräsentation kohäsiver Diskursmerkmale (beispielsweise der pronominale Rückbezug) problematisch für SSES-Kinder ist, ebenso wie Informationen und Refe-renten zu benennen und die Raum-Zeit-Komponente zu markieren.

Die verbale Integration unter peers gelingt vielen SSES-Kindern nur schwer. Sie unterbrechen ihre Kommunikationspartner häufig und antworten nicht adäquat auf Fragen. Als Kompensationsstrategie repräsentieren sie Antworten in Form von Ge-genfragen, oder sie wiederholen Fragen. Ursachen für die Defizite im pragmatischen Bereich stehen vermutlich in Zusammenhang mit einer allgemeinen, familiär beding-ten Sprachschwäche der Kinder.

Van der Lely & Stollwerck (1996, 1997) äußern sich kontrovers und halten fest, dass eine SSES nicht mit pragmatischen Defiziten und Beeinträchtigungen im verba-len logischen Denken in Zusammenhang steht. Probleme in Bezug auf den Kohärenz-aspekt sind kaum zu beobachten. Die Autorinnen weisen allerdings auf Dissoziatio-nen in der syntaktischen und pragmatischen Entwicklung hin. Trotz schwacher syn-taktischer Leistungen weisen die Kinder gute Ergebnisse im pronominalen Rückbezug auf. Van der Lely & Stollwerck (1997) schließen daraus auf verschiedene kognitive Entwicklungen im Spracherwerb.

Katz-Bernstein & Schröder (2003) und Mc Cabe et al. (2008) sind der Ansicht, dass SSES-Kinder neben lexikalischen, morphosyntaktischen und phonologischen Problemen auch Verzögerungen im Erzählerwerb aufweisen. Besonders schwierig sei die Repräsentation eines zusammenhängenden Textes.

Ein eingeschränkter Pragmatik-Erwerb und eine mangelhafte Erzählfähigkeit beruhen einerseits auf morphosyntaktischen Problemen. Andererseits können redu-zierte verbale Interaktionsprozesse mit den Eltern und unter Peers negativen Einfluss auf die Kommunikationsfähigkeit haben. Die eingeschränkte sprachliche Kompetenz von SSES-Kindern zeigt sich häufig in einer geringeren Motivation verbal zu kommu-nizieren. Es fehlt den Kindern nicht an sozialen Fertigkeiten, sondern an formalen und funktionalen Sprachfähigkeiten.

2. Analyse der Erzählfähigkeiten

Die vorliegende Studie soll mögliche Unterschiede in den Erzählleistungen von sprachlich unauffälligen Kindern und Kindern mit einer spezifischen Spracherwerbs-störung aufzeigen. Die Analyse orientiert sich an den Kriterien kindlicher Erzählfä-higkeiten von Quasthoff (1983), Boueke et al. (1995) und den Strukturelementen von Labov & Waletzky (1973). Untersucht werden primär (a) das quantitative Ausmaß der Hörer-Unterstützung und (b) die Verwendung kohäsiver Elemente bei der Wieder-gabe der Erzählung.

Die gewonnenen Daten werden zusätzlich mit CDI-III (Narratives in Communi-cative Development Inventories, www.humaniora.sdu.dk/.../CDI-III/method.html) narrativ, textlinguistisch und syntaktisch analysiert. Es ergeben sich zwei Haupt- Fra-gestellungen:

- Brauchen SSES-Kinder eine intensivere Unterstützung des Hörers als sprach-lich unauffällige Kinder?

Erzählkompetenz von Kindern mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung ______________________________________________________________________

119

- Sind SSES-Kinder in der Lage kohäsive Mittel zu produzieren? In welcher Art und Weise unterscheiden sie sich dabei von der Gruppe der unauffälligen Kinder?

Weiters stellt sich die Frage, ob CDI-III generell oder nur für die vorgegebenen Bild-geschichten ein Instrumentarium zur Analyse narrativer Fähigkeiten darstellt.

Die Gesamtstichprobe besteht aus 18 monolingualen Kindern zwischen 05;06 und 06;06 Jahren. Neun Kinder (Alter: 05;06 bis 06;00) sind sprachlich unauffällig (UE) oder weisen eine phonetische Problematik, wie beispielsweise einen Sigmatismus interdentalis, auf. Neun Kinder (Alter 05;09 bis 06;06) haben eine SSES. Die SSES-Kinder sind durchschnittlich sechs Monate älter als die UE-Kinder. Bei SSES-Kindern und sprachlich unauffälligen Kindern kann per definitionem von einer vergleichbaren kognitiven Entwicklung ausgegangen werden. Als Definitionskriterium einer SSES wird eine Standardabweichung von mindestens SD=1.25 (Leonard 2003) bei rezepti-ven und/oder produktiven Leistungen in standardisierten Sprachtests angenommen. Alle Kinder waren bereits logopädisch untersucht (Testbatterie: Sprachentwicklungs-test für drei- bis fünfjährige Kinder (SETK 3-5, Grimm 2002), Aktiver Wortschatztest für drei- bis sechsjährige Kinder (AWST-R, Kiese-Himmel 2005), Psycholinguistische Analyse kindlicher Sprechstörungen (PLAKKS, Fox, A. 2004). Zur Überprüfung der nonverbalen Intelligenz wurde die Columbia Mental Maturity Scale (CMM, Bondy et al. 1975) eingesetzt. Der Test ist als Matrizentest konzipiert, bestehend aus 100 Items mit aufsteigendem Schwierigkeitsgrad. Die sozial-kognitive Fähigkeit zur Perspekti-venübernahme wird mit Item 6 “Glaube-Gefühl” (Swoboda 2006) in Anlehnung an den Belief-Emotion-Test aus dem Theory-of-Mind-Scaling (Wellman & Liu 2004) ge-testet. Item 6 erfordert eine Entscheidung, wie sich eine Person fühlt, wenn sie in einem falschen Glauben handelt.

Tab. 1: Stichprobe2; Legende: CMM T-Werte: unter 43: unterdurchschnittlich, 44 – 57:

durchschnittlich, über 58: überdurchschnittlich

N= 18 monolinguale Kinder Kinder Geschlecht Alter in Gruppen CMM T-Werte

in Gruppen ToM-Aufg. positiv gelöst

m w. 05;06-06;00 06;01-06;06 < 43 44–57 > 58 SSES 5 4 1 8 3 6 0 5

% 55,5 44,4 11,1 88,8 33,3 66,6 0,0 55,5 UE 4 5 8 1 0 5 4 7

% 44,4 55,5 88,8 11,1 0,0 55,5 44,4 77,7

Zur Überprüfung narrativer Fähigkeiten von SSES-Kindern wird die Reproduktion einer kurzen Erzählung analysiert. Die Wiedergabe eines bekannten Textes ist für SSES-Kinder sprachlich einfacher zu realisieren. Der Text ist narrativ strukturiert und besteht aus zwölf Sätzen. Das Erzähltempus ist Präteritum.

2 Auf Grund der kleinen Stichprobe werden lediglich Häufigkeitsauszählungen (%-Angabe, im Text gerundet) mit dem statistischen Programmpaket SPSS („Statistical Package for Social Sciences“) für PC (SPSS® Inc.) vorgenommen.

Elisabeth Swoboda ______________________________________________________________________

120

Tab. 2: Erzählung

Erzählung “Pauli und die Gespenster” (72 Wörter, 12 Sätze) Exposition 01 Es war einmal ein kleiner Bub. (Orientierung) 02 Er hieß Pauli. 03 Pauli ging im Wald spazieren. Komplikation 04 Plötzlich entdeckte er ein Schloss. Auflösung 05 Er klopfte an das große Tor. 06 Husch, da flog etwas Helles über seinen Kopf. 07 Es war ein kleines Gespenst. 08 "Willst du uns besuchen?", fragte es. 09 Im Schloss flatterten viele Gespenster herum. 10 Pauli und die Gespenster hatten viel Spaß miteinander. Resultat 11 "Pauli, aufstehen!", rief die Mama. 12 Da wusste er, dass alles nur ein Traum war.

Tab. 3: Erzählbeginn Erzählbeginn es, da war einmal nominale Einführung andere SSES 11,1% 44,4% 44,4% UE 77,7% 0,0% 22,2%

Ein überwiegender Prozentsatz (78%) der sprachlich unauffälligen Kinder (UE) be-ginnt die Nacherzählung mit einem Textsortensignal, während SSES-Kinder (zu 44%) entweder den Namen des Protagonisten wählen:

3

Bsp. 1a: Kind 1, w, SSES, 06;05

014 der pauli is zun schloss.

oder ohne Einführung in die Erzählung einsteigen, wie

Bsp. 1b: Kind 3, m, SSES 06;04

01 in wald spaziern gwesn. ### mm

Nur ein SSES-Kind verwendet die Phrase “es war einmal”. Fragen der Kinder, beispielsweise nach dem Namen des Protagonisten oder der

Lokalität werden spontan beantwortet. Eine Unterstützung erfolgt nur nach längeren Pausen ### in der Textwiedergabe. Dabei wird nach einem einheitlichen Modus vor-gegangen. Es werden lediglich Subjekt, Objekt oder Prädikat erfragt:

3 Nummer des Beispiels, Identitätsnummer des Kindes, Geschlecht w= weiblich, m= männlich, Sprachstatus, Alter. Die Namen der Kinder sind durch Zahlen anonymisiert. Altersangaben werden im Format Jahr/Monat notiert. 4 Die Äußerungen der Kinder sind fortlaufend nummeriert und werden in Kleinschreibung wiedergegeben. Es werden folgende Siglen verwendet: # kurze Pause, ## längere Pause, ### Pause von 3-5 sec., TL= Testleiterin

Erzählkompetenz von Kindern mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung ______________________________________________________________________

121

07 gspenst in wald ### 08 TL: was hat das Gespenst gemacht? 11 des spenst rufn ### 12 TL: was hat das Gespenst gerufen?

Die quantitativen Analysen in Bezug auf die Anzahl von Wörtern und die Anzahl von Äußerungen zeigen eindeutig Unterschiede zwischen den beiden Stichproben.

Abb. 1: Anzahl Wörter in Gruppen

SSES-Kinder verwenden in ihren Reproduktionen zu 78% nur 21 bis 40 Wörter, wäh-rend die Erzählungen der UE-Kinder in der überwiegenden Mehrheit zwischen 41 und 73 Wörter enthalten.

Auch die quantitative Analyse von Äußerungen bestätigt das Ergebnis von oben. Als Äußerung wird hier eine Kombination von zwei oder mehreren Wörtern definiert, wie: ‘in wald’; ‘weiß i ned’; ‘der heißt’; ‘er gehte’; ‘aber ein gspenst fliegt über kopf’.

Abb. 2: Äußerungen in Gruppen

Elisabeth Swoboda ______________________________________________________________________

122

Die UE-Kinder tätigen überwiegend doppelt so viele Äußerungen wie die SSES-Kin-

der. Noch deutlicher wird der Unterschied zwischen den beiden Stichproben in Bezug

auf die Produktion korrekter Syntaxstrukturen. Erwartungsgemäß zeigen die SSES-

Kinder in diesem Bereich sehr schwache Leistungen. Von den zwölf Sätzen der Er-

zählung werden von 67% der Kinder weniger als fünf Sätze syntaktisch korrekt gebil-

det.

Abb. 3: Korrekte Satzstruktur der Äußerungen

In Bezug auf eine eigenständige kanonische Reproduktion unterscheiden sich SSES-

und UE-Kinder nicht wesentlich (78% SSES, 89% UE). Der Text wird überwiegend in

der korrekten Reihenfolge reproduziert. Nicht analysiert werden hier thematische

Auslassungen oder das Zusammenfügen von zwei, oder mehreren Ereignissen der Er-

zählung.

2.1. Brauchen SSES-Kinder eine intensivere Unterstüt-

zung des Hörers als sprachlich unauffällige Kinder?

Die Fragen der Testleiterin (TL) werden als unterstützende Maßnahmen analysiert.

Scaffolding ist ausschließlich bei SSES-Kindern notwendig. Die sprachlich unauffälli-

gen Kinder verfügen über eigene Reparatur-Strategien, wenn längere Pausen in der

Reproduktion entstehen.

Erzählkompetenz von Kindern mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung ______________________________________________________________________

123

Abb. 4: Fragen der Testleiterin und semantisch korrekte Antworten der SSES-Kinder 3, 6, 8

Drei SSES-Kinder benötigen eine intensive Unterstützung der Testleiterin in Form von Fragen.

Bsp. 2: Kind 3, m., 06;04

01 in wald spaziern gwesn. ### 02 TL: wer ist im Wald spazieren gegangen? 03 a bua.#

Bsp. 3: Kind 6, w., 05;10

01 spaziern gangen. ### 02 TL: wer ist spazieren gegangen? 03 bub # in wald gangen. ### 04 TL: was hat der Bub gesehen? 05 spenst. ### 06 TL: was hat das Gespenst gemacht? 07 ### 08 TL: was hat das Gespenst den Pauli gefragt? 09 spenst aufgmacht. 10 andere spenster drin. ### 11 TL: was haben die Gespenster gemacht? 12 spielt. #

Bsp. 4: Kind 8, w., 06;01

01 weiß ned gschichte. ## 02 ein kleiner. ### 03 TL: wie heißt der Bub? 04 pauli. ### 05 TL: was hat der Pauli gemacht? 06 in wald gangen. ## 07 gspenst in wald. ###

Elisabeth Swoboda ______________________________________________________________________

124

08 TL: was hat das Gespenst gemacht? 09 weiß i ned. ###

Es wird auf eine Analyse sprachspezifischer und kognitiver Fähigkeiten dieser Kinder aus der logopädischen Untersuchung (vier bis sechs Monate vorher) zurückgegriffen. Dabei zeigt sich folgendes Profil:

Abb. 5: Leistungs-Profil SSES-Kinder 3, 6, 8

Id SSES-Kind Sprachspezifische Fähigkeiten Kognitive Fähigkeiten Untertests SETK 3-5 T-Werte 3 (06;04) Retest mit 05;09 CMM T-Wert 43 Satzgedächtnis: 35 Phonologisches Arbeitsgedächtnis: 39 Morphologische Regelbildung: 36 6 (05;10) Retest mit 05;08 CMM T-Wert 42 Satzgedächtnis: 33 Phonologisches Arbeitsgedächtnis: 35 Morphologische Regelbildung: 35 8 (06;01) Retest mit 05;10 CMM T-Wert 40 Satzgedächtnis: 28 Phonologisches Arbeitsgedächtnis: 31 Morphologische Regelbildung: 34

Die Leistungen im SETK 3-5 (Grimm 2002) liegen alle unter dem Altersdurchschnitt (T-Wert < 40: unterdurchschnittliche Leistung). Diese Ergebnisse sind repräsentativ für SSES-Kinder. Probleme bereitet die syntaktische und morphologische Ebene be-sonders dann, wenn grammatische Inhalte realisiert werden sollen, bei denen die Kin-der nicht auf eine semantische Unterstützung zugreifen können. Je geringer die Leis-tungen der SSES-Kinder in spezifisch sprachlichen Modalitäten sind, desto mehr Un-terstützung des Hörers ist notwendig.

In dieser Erzählform spielen spontane Fragen der Kinder kaum eine Rolle. Zwei SSES-Kinder erfragen den Namen des Protagonisten „Pauli“. Keines der UE-Kinder stellt eine Frage. Die UE-Kinder verfügen scheinbar über kompensatorische Fähigkei-ten, die Nacherzählung so flüssig wie möglich zu halten:

Beispiel 5: Kind 8, m., UE, 05;03

01 es war einmal ein bub. 02 der hieß. ## 03 der hieß Pauli.

Erzählkompetenz von Kindern mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung ______________________________________________________________________

125

2.2. Sind SSES-Kinder in der Lage, kohäsive Mittel zu

produzieren? In welcher Art und Weise unterscheiden sie sich dabei von der Gruppe der unauffälligen Kinder?

Bei der Analyse kohäsiver Mittel wird auf den Kohäsionsbegriff von Beaugrande & Dressler (1981: 3f.) zurückgegriffen. Kohäsion beruht demnach auf grammatischen Abhängigkeiten und betrifft die Textoberflächenstruktur. Die Verbindung einzelner Elemente eines Textes wird durch materielle Mittel, gemeint sind syntaktische Ele-mente, hergestellt. Die Verknüpfung findet daher auf der formalen Ebene statt. Für die vorliegende Fragestellung werden folgende Kohäsionsmittel analysiert:

1. Rekurrenz 2. Pro-Formen 3. Konnektoren 4. Tempus

ad 1) Rekurrenz

Wiederholungen von einzelnen Elementen kommen sowohl bei SSES- als auch bei UE-Kindern vor. Bei 33% der SSES-Kinder und 22% der UE-Kinder ist die Verwen-dung rekurrenter Formen zu beobachten. In den meisten Erzählungen erleichtert die partielle Rekurrenz das Anknüpfen an den vorhergegangenen Satz. Rekurrenz wird zum überwiegenden Teil als Pausenfüller eingesetzt.

Bsp. 6: Kind 18, w., UE, 05;02

01 es war einmal ein bub. 02 der hieß Pauli. 03 der Pauli ging in wald.

Bsp. 7: Kind 9, m., SSES, 05;11

06 aber ein gspenst fliegt über kopf. 07 dann macht das gspenst die tür auf.

Bsp. 8: Kind 17, m., UE, 05;03

01 es war einmal ein bub. 02 der hieß. ## 03 der hieß Pauli. 04 der Pauli ging in wald. 05 in wald. 06 und sah er ein schloss. ## 07 ein schloss. ##

Bsp. 9: Kind 15, m., UE, 05;06

01 da war mal ein bub. 02 der hat Pauli gheißen.

Elisabeth Swoboda ______________________________________________________________________

126

03 der is in wald gangen. ## 04 und dann. # 05 und dann. #

ad 2) Pro-Formen

Als Pro-Formen gelten hier Pronomen, Proadverbien und Proadjektive. Pro-Formen haben speziell in kindlichen Erzählungen einen deiktischen Charakter. Sie werden als Determinationselemente eingesetzt. Referenzbeziehungen als kohäsive Mittel können sich auf Personen, Objekte, räumliche und zeitliche Aspekte beziehen oder darauf verweisen. Nach Boueke et al. (1995) kennzeichnen Pro-Formen die Art und Weise der Ereignisdarstellung. Kinder erwerben die Fähigkeit, Ereignisse zu repräsentieren in vier Entwicklungsstufen:

- Isolierte Ereignisse: Kinder bezeichnen lediglich einzelne Ereignisse (inkohä-rent) in ihrer Erzählung. Sie verwenden zahlreiche deiktische Partikel, wie ‘da’.

- Lineare Verknüpfung: Ereignisse werden temporal strukturiert, wie ‘und da’ - Handlungslogisch strukturierter Text: In der Erzählung ist ein Ansatz von

Kohärenz gegeben. Ursachen von Ereignissen werden formuliert, handelnde Personen, lokale und temporale Strukturen werden eingeführt. Ein be-sonderes Ereignis, oder eine außergewöhnliche Handlung wird repräsentiert. Die Episode beinhaltet beispielsweise neue Aktanten, oder neue Ereignisse.

- Narrativ markierter und strukturierter Text: Dieser enthält ansatzweise die Elemente Abstract (Exposition), Komplikation und Auflösung.

Meist handelt es sich in den vorliegenden Nacherzählungen um anaphorische Reali-sierungen. Primär werden die Subklassen Personalpronomen und Demonstrativpro-nomen analysiert. Als Personalpronomen werden deiktisch oder possessiv gebrauchte Pronomen (‘ihr’, ‘sein’), oder Pronomen mit negierender Funktion (‘niemand’) notiert. In den Reproduktionen können folgende Personalpronomen: ‘ich’, ‘du’, ‘er’, ‘ihm’, ‘ihn’, ‘es’, ‘uns’, 3. Person Plural sie beobachtet werden. Folgendes SSES-Kind präsen-tiert kein einziges Personalpronomen:

Bsp. 10: Kind 4, w., SSES, 06;03

01 pauli is zun schloss. # 02 und in schloss einigehn. 03 komm die gspenster. 04 und macht das schloss auf. 05 dann sind da drinnen. 06 spielt mit die gspenster. # 07 die mama dann gutn morgn rufn

Bsp. 11: Kind 7, m., SSES, 06;06

01 es war einmal ein kleiner junge. 02 der heißt. ##

Erzählkompetenz von Kindern mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung ______________________________________________________________________

127

03 wie heißt er? 04 TL Pauli 05 er gehte.## 06 wohin. ## 07 und sah einmal. ## 08 ein schloss. ## 09 und klopfte daran. #

Bsp. 12: Kind 11, m., UE, 06;00

01 da war einmal ein kleiner bub in wald. 02 dann is er zu einem schloss gekommen. 03 und dann hat er angeklopft. (klopft auf den Tisch) 04 aber niemand machte ihm auf. 05 doch dann war über ihm eine weiße gstalt. 06 und die sagte. ## 07 hej! 08 willst du uns besuchen kommen? 09 und dann hatten sie noch eine lustige. ## gespensterstunde.

In Bezug auf die Verwendung von Personalpronomen zeigt sich ein deutlicher Unter-schied zwischen SSES- und UE-Kindern. Während 67% der SSES-Kinder keine Perso-nalpronomen und 22% nur zwischen einem und drei repräsentieren, werden von 89% der UE-Kinder mehr als vier Pronomen eingesetzt. SSES-Kinder haben generell Pro-bleme mit der Produktion von Personalpronomen, offensichtlich auch dann, wenn sie wie in diesem Erzählformat bereits vorgegeben sind.

Die definite Markierung mit den Demonstrativpronomen 'dieser', 'der', 'die', 'das' wird von der überwiegenden Mehrheit der SSES- und UE-Kinder für die Kennzeich-nung von vorher erwähnten Personen oder Objekten verwendet. Mehr als die Hälfte der SSES-Kinder (55%) setzt Demonstrativpronomen ein (67% der UE-Kinder).

Bsp. 13: Kind 12, w., UE, 05;07

01 es war einmal ein kleiner junge. # 02 der hieß pauli. 03 er ging in den tiefen wald.

Bsp. 14: Kind 18, w., UE, 05;02

07 da fliegt auf einmal ein gespenst drüber. 08 das fragte… 09 dann machte das gespenst die türe auf.

Bsp. 15: Kind 2, m., SSES, 05;11

06 dann kommt ein spenst. 07 dann lasst des pauli eini.

Die indefiniten Negationspronomen ‘niemand’ und ‘keiner’ werden von 22% SSES-Kindern und 44,4% UE-Kindern verwendet.

Elisabeth Swoboda ______________________________________________________________________

128

Bsp. 16: Kind 18, w., UE, 05;02

05 und dann klopfte er an. 06 aber da war keiner.

Bsp. 17: Kind 9, m., SSES, 05;11

04 der klopfte an. 05 und # und keiner macht die tür auf.

Bsp. 18: Kind 7, m., SSES, 06;06

09 und klopfte daran. # 10 und niemand tut ihn aber aufmachn.

Abb. 6: Zusammenfassung Rekurrenz, Pronomen

SSES UE Verwendung von Rekurrenz 33,3% 22,2% Personalpronomen Keines 66,6% 0 1-5 33,3% 55,5% Mehr als 5 0 44,4% Demonstrativpronomen Keines 44,4% 33,3% 1-5 55,5% 66,6%

ad 3) Konnektoren

Konnektoren besitzen eine pragmatische Relevanz. Nach Blühdorn (2008: 2) sind sie lexikalische Ausdrucksmittel für semantische Relationen. Sie verknüpfen sowohl ein-zelne Sätze, als auch Texte. Dabei erfüllen sie zwei Aspekte, einen syntaktisch-konjunktionalen und einen referenziell-adverbialen.

Wesentlich, speziell für kindersprachliche Äußerungen, erscheint die lexikalisch sehr geringe Eigenbedeutung von ‘und’ (Posner 1980). Auch Pasch (2003) spricht von einer semantisch offenen Klasse des Konnektors. Die Interpretationsmöglichkeiten er-leichtern die Analyse prominenter kindlicher Produktionen in Erzählungen, wie ‘und’, ‘und da’, ‘und dann’.

In den Nacherzählungen der Kinder finden sich die Konnektoren ‘und’; ‘dann’; ‘und dann’; ‘da’; ‘und da’ und die Kontrajunktionen ‘aber’, ‘doch’. Die Konnektoren werden hier wie folgt analysiert:

1. Die Markierung der narrativen (chronologischen) Ordnung mit ‘und’:

Bsp. 19: Kind 7, m., SSES, 06;06

07 und sah einmal. ## 08 ein schloss. ## 09 und klopfte daran. # 10 und niemand tut ihn aber aufmachn.

Erzählkompetenz von Kindern mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung ______________________________________________________________________

129

2. ‘Und’ in Kombination mit dem Adverb ‘dann’ als temporale Markierung ‘und dann’:

Bsp. 20: Kind 9, m., SSES, 05;11

05 und # und keiner macht die tür auf. 08 und dann # und dann warn noch viel andere spens. 09 und die viel spaß zsamm. 10 und dann rufte die mama# pauli!

3. In Kombination mit dem Adverb ‘da’: ‘und da’, wobei ‘da’ auf lokale, temporale, oder auf Handlungssituationen referiert. Die Verwendung von ‘da’, ‘und da’ ist teilweise ambig:

Bsp. 21: Kind 14, w., UE, 05;06

01 der is ins schloss gangen. ## 02 da warn ganz viele gspenster. 03 da hat die mama grufn.

4. Die Funktion von ‘und’ als Verbindungselement von Textteilen (Schelten-Cornish 2008).

Bsp. 22: Kind 4, w., SSES, 06;03

03 komm die gspenster. 04 und macht das schloss auf.

5. ‘Und’ als Koordinationsmodalität nebengeordneter Elemente.

Bsp. 23: Kind 13, w., UE, 05;07

09 und dann ham der pauli und die gspenster viel spaß ghabt.

6. ‘Und’ als Start-Suchinterjektion (vgl. ASPA: Aachener Spontansprachana-lyse)

Bsp. 24: Kind 9, m., SSES, 05;11

05 und # und keiner macht die tür auf. 11 und # und des war alles nur traum.

7. Das Adverb ‘dann’ als temporale Markierung.

Bsp. 25: Kind 17, m., UE, 05;03

09 aber keiner ist herausgekommen. 10 da fliegt auf einmal ein geist übern kopf. 14 dann rufte # rief die mama. 15 da wusste der Pauli, dass er nur geträumt hat.

Elisabeth Swoboda ______________________________________________________________________

130

8. Das Adverb ‘da’ mit lokaler, temporaler Bedeutung oder bezogen auf Handlungssituationen.

Bsp. 26: Kind 14, w., UE, 05;06

01 da war ein bub. 04 und da hat er a schloss gsehn. 05 da hat er anklopft.

‘Da’-Verknüpfungen sind häufig ambig. Die folgenden Beispiele zeigen neben der rein lokalen auch andere Lesarten:

Bsp. 27: Kind 10, w., UE, 05;06

01 der is ins schloss gangen. ## 02 da warn ganz viele gspenster. Lokale Bedeutung 03 da hat die mama grufn. Temporale Situierungsrelation, im Sinn von ‘dann’

Bsp. 28: Kind 5, m., SSES, 05;11

04 und neamdi hat aufgmacht. 05 da war a gspenst. Temporale Situierungsrelation, im Sinn von dann

Das Adverb ‘da’ und die Kombination ‘und da’ werden auf ‘dann’, ‘und dann’ über-generalisiert:

Bsp. 29: Kind 17, m., UE, 05;03

01 dann rufte # rief die mama. 02 da wusste der Pauli dass er nur geträumt hat.

Bsp. 30: Kind 14, w., UE, 05;06

01 da war ein bub. 02 der heißt Pauli. 03 und da is er in wald gwesn. 04 und da hat er a schloss gsehn. 05 da hat er anklopft.

Bsp. 31: Kind 10, w., UE, 05;06

01 der is ins schloss gangen. ## 02 da warn ganz viele gspenster. 03 da hat die mama grufn.

Die Konnektoren ‘dann’, ‘und dann’, ‘da’, ‘und da’ werden unter dem gemeinsamen Aspekt einer chronologisch-temporalen Markierung zusammengefasst:

Erzählkompetenz von Kindern mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung ______________________________________________________________________

131

Abb. 7: Chronologischer Aspekt von dann, und dann, da, und da

Chronologischer Aspekt 0 1-2 3-4 > 4 SSES 0 44,4% 55,5% 0 UE 11,1% 0 44,4% 44,4%

Die Mehrheit der SSES-Kinder (55%) und UE-Kinder (44%) markiert die chronolo-gisch-temporale Abfolge in der Nacherzählung mit drei bis vier der genannten Kon-nektoren. 44% der der UE-Kinder verwendet mehr als vier Konnektoren.

‘Da’ (‘und da’) wird nur selten zur räumlich-deiktischen Markierung verwendet.

Abb. 8: Räumlicher, deiktischer Aspekt 'da', 'und da'

Räumlicher, deiktischer Aspekt 1-2 SSES 33,3% UE 11,1%

Weniger als die Hälfte der SSES-Kinder (33%) (11% der UE-Kinder) setzt 'da', 'und da' maximal zweimal für eine lokale Markierung ein.

9. Die Kontrajunktionen ‘aber’, ‘doch’ verbinden zwei Hauptsätze. Die nächsten Beispiele zeigen eine korrekte Verwendung der beiden Kontra-junktionen:

Bsp. 32: Kind 17, m., UE, 05;03

09 aber keiner ist herausgekommen.

Bsp. 33: Kind 11, m., UE, 06;00

03 und dann hat er angeklopft. (klopft auf den Tisch) 04 aber niemand machte ihm auf. doch dann war über ihm eine weiße gstalt. 08 und dann hatten sie noch eine lustige.## 09 gespensterstunde. 10 aber das hat der bub nur geträumt. #

Ein SSES-Kind verwendet zwar die Kontrajunktion aber, jedoch semantisch nicht korrekt:

Bsp. 34: Kind 9, m., SSES, 05;11

05 und keiner macht die tür auf. 06 aber ein gspenst fliegt über kopf.

ad 4) Tempus

Tempus als Kohäsionsmittel spielt für die Reproduktion einer Erzählung eine unter-geordnete Rolle.

Elisabeth Swoboda ______________________________________________________________________

132

Abb. 9: Tempus

ausschließl. Tempuswechsel Präsens Perfekt Präteritum SSES 22,2% 11,1% 0,0% 66,6% UE 0,0% 11,1% 11,1% 77,7%

Tempuswechsel wird sowohl von 67% der SSES-Kinder, als auch von 78% der UE-Kinder bevorzugt. Nur ein UE-Kind verwendet durchgängig Präteritum.

Bsp. 35: Kind 4, w., SSES, 06;03

01 pauli is zun schloss. # 02 und in schloss einigehn. 03 komm die gspenster. 04 und macht das schloss auf. 05 dann sind da drinnen. 06 spielt mit die gspenster. # 07 die mama dann gutn morgn rufn.

Bsp. 36: Kind 14, w., UE, 05;06

01 da war ein bub. 02 der heißt Pauli. 03 und da is er in wald gwesn. 04 und da hat er a schloss gsehn. 05 da hat er anklopft. 06 und da fliegt a geist raus. 07 und da warn da viel geister. 08 und dann hams spaß ghabt. 09 und dann hat die mama grufn. 10 und dann hat er gwußt dass er nur tramt hat. 11 und dann aus.

Nur ein UE-Kind verwendet durchgängig Präteritum:

Bsp. 37: Kind 12, w., UE, 05;07

01 es war einmal ein kleiner junge. # 02 der hieß pauli. 03 er ging in den tiefen wald. 04 dann kam er zu einem schloss. 05 und dann klopfte er an ein tor. 06 da flog ein gespenst über ihm. 07 magst du uns besuchen kommen fragte es. # 08 und dann hatten sie viel spaß. 09 pauli aufstehn rief die mama! 10 da wusste der pauli, dass er nur geträumt hat.

Erzählkompetenz von Kindern mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung ______________________________________________________________________

133

3. Analyse mittels CDI-III (Narratives in Commu-

nicative Development Inventories)

Von Interesse ist, ob sich die Methode für die Untersuchung von drei vorgegebenen Bildgeschichten eignet, eine eigenständige Erzählung, oder wie im vorliegenden Fall eine Reproduktion, zu analysieren. Dazu werden zwei Bereiche aus dem CDI-III he-rausgegriffen, (a) Linguistic Structure, (b) Narrative Structure (Order of Telling, Story Structure)

3.1. Linguistic Structure

a) Single word utterance: 22% der SSES-Kinder verwenden einmal und 22% mehr als einmal eine Einwortäußerung.

b) Predicate only (verb or adjective): Ein SSES-Kind äußert einmal ausschließ-lich ein Prädikat, 22% mehrmals.

c) Multi-word-phrase (verb missing): 55% der SSES-Kinder und 22% der UE-Kinder präsentieren ein- bis zweimal Phrasen ohne Verb. Ein UE-Kind pro-duziert mehrere Äußerungen ohne Verb.

d) Single clause: Sätze mit Subjekt und Verb werden wie folgt von den Kindern geäußert:

Abb. 10: Äußerung eines einfachen Satzes

Anzahl der Sätze 1-4 5-8 mehr als 8 SSES 22,2% 44,4% 33,3% UE 11,1% 0 88,8%

Hier zeigt sich ein signifikanter Unterschied in den Leistungen der SSES- und UE-Kinder. Während die UE-Kinder überwiegend Sätze mit Subjekt und Prädikat bilden, sind nur 44% der SSES-Kinder in der Lage, bis zu acht einfachen Sätzen mit Subjekt und Prädikat zu repräsentieren. Ob es sich dabei um eine syntaktisch korrekte Struk-tur handelt, wird hier allerdings nicht analysiert.

e) Multi-clause-utterance-coordinate: Alle Kinder verwenden koordinierende Konjunktionen (und, und dann, dann ...) in Form von Temporaladverbien, welche den chronologischen Ablauf kennzeichnen.

f) Multi-clause-utterance-subordinate: Lediglich zwei SSES-Kinder repräsentie-ren den dass – Komplementsatz: “Da wusste er, dass alles nur ein Traum war”.

Bsp. 38: Kind 1, w. SSES, 06;05

07 dann weiß er dass a traum hat.

Bsp. 39: Kind 7, m. SSES, 06;06

16 dann weißt der pauli dass nur ein traum is.

Elisabeth Swoboda ______________________________________________________________________

134

3.2. Narrative Structure

a) Order of Telling: incomplete/incorrect

Der Inhalt der Geschichte wird von allen 18 Kindern in korrekter chronologischer Reihenfolge wiedergegeben. Die einzelnen thematischen Items präsentieren 88% der UE-Kinder komplett, während dies nur 33% der SSES-Kinder gelingt. Am häufigsten werden folgende Items ausgelassen: 05 Er klopfte an das große Tor. 09 Im Schloss flatterten viele kleine Gespenster herum. 12 Da wusste er, dass alles nur ein Traum war.

Die Items 06 Husch, da flog etwas Helles über seinen Kopf. 08 "Willst du uns besuchen?", fragte es. 09 Im Schloss flatterten viele kleine Gespenster herum

werden vielfach zusammengefasst, wie die nachstehenden Beispiele zeigen:

Bsp. 40: Kind 1, w. SSES, 06;05

Inkomplette Realisierung der thematischen Items 01 der pauli is zun schloss. 02 der merkt was helles is. 03 und des is a spenst. 04 dann hams die tür aufmacht. 05 und dann hams feier macht. 06 und dann ruft die Mama aufstehn. 07 dann weiß er dass a traum hat.

Beispiel 41: Kind 2, m. SSES, 05;11

01 der bub # wie heißt er? 02 TL: Pauli 03 pauli is in wald gangen. 04 da hat er a schloss sehn. 05 da kann er ned rein. 06 dann kommt ein spenst. 07 dann lasst des spenst pauli eini. 08 dann is a party. 09 und dann d'mama aufstehn rufn.

Diese Items zeigen die Probleme von SSES-Kindern im Bereich „Satzgedächtnis“. Die Konstruktion der Sätze überfordert die Merkfähigkeit der Kinder, sie weichen daher in ihrer Wiedergabe auf einfache Satzstrukturen aus (siehe Beispiele oben). Die Makrostruktur der Erzählung bleibt jedoch beim überwiegenden Teil der Kinder erhalten.

Erzählkompetenz von Kindern mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung ______________________________________________________________________

135

b) Story Structure: Orientation and Initiating Event, Problem and

Complication, Resolution

Wie komplett ist die Erzählstruktur? Können SSES-Kinder und UE-Kinder die Erzähl-Struktur: Exposition, Komplikation und Resultat einhalten? Gelingt es Kindern diese Aspekte in ihrer Reproduktion zu realisieren?

Tab. 11: Story structure

Komplette Struktur Exposition Komplikation Resultat SSES 44,4% 44,4% 33,3% UE 88,8% 99,9% 88,8%

Die Unterschiede zwischen SSES- und UE-Kindern sind deutlich. Weniger als die Hälfte der SSES-Kinder kann Exposition, Komplikation und Resultat berücksichtigen. Zudem ist die Aktanteneinführung im Gegensatz zu den UE-Kindern für die SSES-Kinder problematisch.

Bsp. 42: Kind 3, m. SSES, 06;04

01 in wald spaziern gwesn. ### mm 02 TL: wer ist im Wald spazieren gegangen? 03 a bua. # mm 04 a schloss gsehn. # 05 gar nix offen in schloss. 06 dann da bua spenst gsehn. 07 dann spielt mit spenster. # mm 08 und dann aufwacht und mama gruft.

4. Diskussion

Die vorliegende Arbeit untermauert die Ergebnisse anderer Studien (u.a. Bishop 2000; Katz-Bernstein & Schröder 2003; Mc Cabe et al. 2008; Rothweiler 2001; Schröder 2009). Das Leistungsprofil der SSES-Kinder weicht in Hinblick auf das Erwachsenen-Scaffolding, die pragmatischen und formalsprachlichen Fähigkeiten und die Vollstän-digkeit der Erzählstruktur von dem der sprachlich unauffälligen Kinder in quantita-tiver und qualitativer Hinsicht ab.

Die Ergebnisse werden für die zwei vorliegenden Stichproben diskutiert. Eine Generalisierung erscheint immer problematisch, da Diagnostik und Settings einzelner Studien sehr unterschiedlich sind. Es zeigen sich jedoch zahlreiche Zusammenhänge mit Ergebnissen aus anderen Studien zu sprachlich-kommunikativen Kompetenzen von SSES-Kindern.

Die quantitativen und qualitativen Analysen der Reproduktionen zeigen an-schaulich die interindividuelle Variabilität von Kindern in Bezug auf grammatische und pragmalinguistische Repräsentationen. Speziell die Leistungsdimensionen der SSES-Kinder dieser Stichprobe weisen eine große Streuung auf. Diese Ergebnisse stü-

Elisabeth Swoboda ______________________________________________________________________

136

tzen die Annahme von Sprache als einer Leistungsdisposition mit einer Ober- und Untergrenze (Rescorla & Carlson Lee 2000). Schaner-Wolles (1999) bemerkt zudem, dass Kinder im Spracherwerb Wahlmöglichkeiten (optionality) und Abwandlungen (variation) unterschiedlicher Repräsentationen sprachlicher Elemente (vgl. Swoboda 2002, 2006) verwenden.

Das Ergebnis der quantitativen Untersuchung der Äußerungen und die Produk-tion korrekter Satzstrukturen weist auf die morphosyntaktische Problematik von SSES-Kindern hin. Gegenüber den UE-Kindern ist nicht nur der syntaktisch-morpho-logische Bereich auffällig, auch die Wortanzahl ist stark reduziert. Diese Analyse ist allerdings wenig aussagekräftig und gibt keinen Aufschluss über die Qualität des Le-xikons. Inhalts- und Funktionswörter müssten herausgerechnet werden, um relevan-tere Daten für eine SSES-Diagnostik zu erhalten. Die Auswertung des Items Single Clause aus dem Bereich Linguistic Structure (CD-III) zeigt ebenfalls die schwachen Leistungsdimensionen der SSES-Kinder auf. Sie verwenden nur zu einem geringen Prozentsatz Sätze mit Subjekt und Verb.

Die Frage, ob SSES-Kinder eine intensivere Unterstützung des Hörers brauchen muss bejaht werden. In den Reproduktionen der SSES-Kinder wird deutlich, dass die Verwendung minimaler grammatischer Strukturen zu Verstehensproblemen beim Hö-rer führt. Eine dialogische Unterstützung ist besonders bei jenen SSES-Kindern not-wendig, die schwache Leistungen im SETK 3-5 aufweisen. Das Hörer- Scaffolding be-zieht sich bei diesen Kindern auf narrative Strukturen, den chronologischen Ablauf, Informationen über Figuren, Orte und Handlungen. Die grobe Abfolge der Erzählung kann eingehalten werden, auf Details gehen die Kinder nicht ein. Die Jobs (Hau-sendorf & Quasthoff 1996) in Bezug auf Inhalt, Form, Thema müssen großteils vom Hörer ausgeführt werden. Die Ergebnisse entsprechen denen von Katz-Bernstein & Schröder (2003). Schröder (2009: 320ff) hält fest, dass SSES-Kinder im Vergleich zu sprachlich parallelisierten jüngeren Kindern vermehrt Unterstützung des Zuhörers benötigen, jedoch das Scaffolding effektiver nutzen können. Wesentliche Inhalte einer Erzählung werden erfasst, differenzierte Darstellungen gelingen nur mit Hilfe des Hörers.

Eine bessere Nutzung interaktiver Strukturen könnte für höher entwickelte ToM-Fähigkeiten der älteren SSES-Kinder sprechen. Dieser Aspekt wird allerdings nicht von Schröder thematisiert.

In Erzählungen interagieren pragmatische, grammatische Strukturen und ToM-Fähigkeiten. Perspektivenübernahme und die Zuschreibung intentionaler Zustände sind dabei ein wichtiger Aspekt. Weinert (2000, 2004) betont, dass sich das interaktive Verhältnis zwischen Spracherwerb und kognitiver Entwicklung abhängig vom Ent-wicklungsalter sowohl in der Beeinflussungsrichtung als auch in der Art der Einfluss-nahme verändert. SSES-Kinder können ToM-Fähigkeiten im Kommunikationsbereich auf Grund der mangelhaften grammatischen und pragmalinguistischen Kompetenzen nicht adäquat nutzen. Informationen können daher nicht entsprechend an den Hörer vermittelt werden. Diese Beobachtung unterstützt Ergebnisse von McCabe & Bliss (2003). SSES-Kinder geben generell weniger Informationen in Erzählungen, ihr Text lässt dadurch häufig Zusammenhänge vermissen. Der Hörer ist gefordert, diese durch Fragen herzustellen. Dieses Ergebnis wird durch die Analyse mittels der Narrative

Erzählkompetenz von Kindern mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung ______________________________________________________________________

137

Structure (CD-III) untermauert. Die Bereiche Linguistic Structure & Narrative Struc-ture eignen sich besonders für eine erste Analyse der vorliegenden Reproduktionen.

Für die reduzierte Textwiedergabe sind morphosyntaktische Probleme und Merkfähigkeitsdefizite verantwortlich. Ob Störungen des Arbeitsgedächtnisses ur-sächlich für eine SSES verantwortlich gemacht werden können, oder parallel zu einer SSES auftreten, wird kontrovers diskutiert (Motsch 2004, Suchodoletz 2010). Generell erschwert der reduzierte Erwerb grammatischer und pragmalinguistischer Modalitä-ten SSES-Kindern Wahrnehmungen, Erfahrungen, Wissen kategorisieren und klassi-fizieren zu können. Es fehlt die Basis, metasprachliche und metakognitive Kompeten-zen aufzubauen, welche im Schulalter für differenzierte orale und schriftliche Erzähl-fähigkeiten notwendig sind.

Die UE-Kinder verfügen im Gegensatz zu den SSES-Kindern über kompensatori-sche und Reparatur-Mechanismen, um die Erzählung fortzusetzen. Offensichtlich haben sie mehr verbale Flexibilität, eine raschere Wortabrufgeschwindigkeit und ein differenzierteres Lexikon als die SSES-Kinder erworben.

Die Fähigkeit Kohäsionsmittel zu repräsentieren ist abhängig von der semanti-schen Klasse und der syntaktischen Eigenschaften der jeweiligen Elemente. Kontext-änderungen werden sowohl grammatisch, als auch pragmatisch markiert. Die SSES-Kinder weisen in beiden Bereichen Defizite auf. Schröder (2009) stellt fest, dass die Chronologie der Erzählungen von SSES-Kindern nur unvollständig repräsentiert wird. Das trifft zum Teil auch auf die SSES-Kinder der vorliegenden Stichprobe zu.

Situationsdeiktika, wie ‘da’, die Konjunktion ‘und’, oder Partikel wie ‘auch’ wer-den generell früh von Kindern verwendet. Differenziertere kohäsive Mittel, wie Re-kurrenz, Pro-Formen, Formen der Konnexion (Fabricius-Hansen 2000), hier die Kon-nektoren ‘und’, ‘da’, ‘dann’, oder Tempus verlangen grammatische Kompetenzen, über welche vor allem SSES-Kinder teils erst im Schulalter verfügen. Die SSES-Kinder referieren zwar mit Hilfe von Konnektoren auf Inhalte, jedoch weniger häufig semantisch korrekt als die UE-Kinder. Schröder (2009) findet auch quantitative Unter-schiede bei der Verwendung kohäsiver Satz-Vorfeld-Adverbien, was auf die SSES-Kinder der vorliegenden Studie nicht zutrifft.

Rekurrente Formen spielen in den Reproduktionen der UE- und SSES-Kinder eine untergeordnete Rolle, häufig wird Rekurrenz von beiden Gruppen als Pausenfül-ler eingesetzt. Bei den Pro-Formen zeigt sich, dass Personalpronomen deutlich weni-ger von den SSES-Kindern verwendet werden. Demonstrativpronomen produzieren sie hingegen häufiger als die UE-Kinder. Diese Wortkategorie wird von SSES-Kin-dern allgemein früh und stark übergeneralisierend genutzt. Teils ersetzen die Kinder Nomen durch ‘diese’, ‘dieser’, beispielsweise M., w., SSES, 05;04: “dann hab i diesn aufitan, dann des und dann fertig puzzle.”

In Anlehnung an Posner (1980), Pasch et al. (2003) und Blühdorn (2008, 2010) wird im vorliegenden Beitrag der Syntax-Semantik-Schnittstelle von Konnektoren besondere Bedeutung beigemessen. Zum überwiegenden Teil handelt es sich bei den Produktionen der Kinder um konnektive Elemente, welche den chronologischen, lo-kalen und temporalen Ablauf markieren. Die Unterspezifikation von Konnektoren, primär für ‘und’ kommt kindlichen Äußerungen dabei entgegen.

Am häufigsten verwenden die Kinder ‘und’:

Elisabeth Swoboda ______________________________________________________________________

138

- Im Satz-Vorfeld, parataktisch gebraucht, um situative Relationen (vgl.

Blühdorn 2008), wie eine temporale (‘und dann’), oder lokale Markierung ('und da') auszudrücken.

- Um ähnliche Sachverhalte (‘Pauli und die Gespenster’) zu kennzeichnen. - Koordinierend, um Textteile zu verbinden: “und dann ham der pauli und die

gspenster viel spaß ghabt.” - Im Sinn einer Start- oder Suchinterjektion (vgl. ASPA: Aachener Spontan-

sprach-Transkriptionsrichtlinien), oder auch als Füllwort (“und und der hat dann ...”).

SSES- und UE-Kinder präsentieren weiters gehäuft die Konnektoren ‘dann’ und ‘da’. ‘Dann’ und ‘da’ im Vorfeld strukturieren die narrative Ordnung. Auf ein abgeschlos-senes Ereignis folgt das nächste. Der parataktische Gebrauch vereinfacht den Kindern die Reproduktion des Textes. Die Konnektoren und die Kombination mit dem Kon-nektor ‘und’ (‘und dann’, ‘und da’, ‘dann’, ‘da’) werden als strukturierende Elemente eingesetzt, welche eine Linearität und Rhythmisierung der Repräsentation ermögli-chen und den Erzählablauf erleichtern.

Während ‘dann’ großteils korrekt als temporaler Ausdruck verwendet wird, fal-len bei ‘da’ zahlreiche ambige Repräsentationen auf. Nach Blühdorn (2008: 57) exis-tiert eine räumliche, zeitliche, epistemische oder deontische Lesart von ‘da’. Die Kin-der der beiden Stichproben übergeneralisieren ‘da’ (‘und da’) auf ‘dann’ (‘und dann’), so dass primär eine temporale Begrifflichkeit gegeben ist.

Eine untergeordnete Rolle in den Reproduktionen spielt Tempus als Kohäsions-mittel. Der Großteil der Kinder wechselt zwischen Präsens und Perfekt. Fazit der Analyse kohäsiver Mittel ist, dass die SSES-Kinder primär Probleme mit der Verwen-dung von Pro-Formen aufweisen. Konnektoren verwenden sie in quantitativer Hin-sicht annähernd gleich häufig wie die UE-Kinder, jedoch weniger häufig semantisch und pragmatisch korrekt.

Grundsätzlich kann die Analyse einer kurzen Erzählung für die Diagnostik von SSES-Kindern wertvolle Daten liefern. Nicht nur für narrative, sondern auch für for-malsprachliche und pragmalinguistische Aspekte können die gewonnenen Erkennt-nisse als Basis für die Ableitung therapeutischer Interventionen herangezogen wer-den.

5. Bibliographie

Amsel, Eric & Byrnes, James P. (2002). Language, literacy and cognitive development: the development and consequences of symbolic communication. Mahwah: Erl-baum.

Andresen, Helga (2002). Interaktion, Sprache & Spiel. Tübingen: Narr. Aachener Sprachanalyse (ASPA). Beurteilungsskala zur Einschätzung der Spontan-

sprache. Klinikum Aachen. Astington, Janet W. & Baird, Jodie A. (2005). Introduction: Why language matters. In

Janet W. Astington & Jodie A. Baird (eds.), Why language matters for theory of mind. Oxford: Oxford University Press, pp. 3-25.

Erzählkompetenz von Kindern mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung ______________________________________________________________________

139

Bamberg, Michael (1987). The acquisition of narratives: learning to use language. Berlin: de Gruyter.

Bamberg, Michael (1997). Narrative Development. Six Approaches. Mahwah: Erl-baum.

Bamberg, Michael, & Reilly, Judy (1996). Emotion, Narrative, and Affect: How Chil-dren Discover the Relationship Between What to Say and How to Say It. In Dan I. Slobin & Julie Gerhardt & Amy Kyratzis & Jiansheng Guo (eds.), Social Interac-tion, Social Context and Language. Essays in Honor of Susan Ervin-Tripp. Norwood: Erlbaum, pp. 329-342.

Beaugrande, Robert-Alain de & Dressler, Wolfgang U. (1981). Introduction to text linguistics. New York: Longman.

Becker, Tabea (2001). Kinder lernen erzählen. Zur Entwicklung der narrativen Fähigkeiten von Kindern unter der Berücksichtigung der Erzählform. Baltmanns-weiler: Schneider.

Berman, Ruth & Slobin, Dan I. (1994). Relating events in narrative: A crosslinguistic developmental study. Hillsdale: Erlbaum.

Bishop, Dorothy V. M. & Leonard, Laurence B. (2000). Speech and language impair-ments in children. Hove: Psychology Press.

Blühdorn, Hardarik (2008). Syntax und Semantik der Konnektoren. Online unter http://www.ids-mannheim.de/gra/texte/blu ueberblick.pdf (2009-09-10)

Blühdorn, Hardarik (2010). Semantische Unbestimmtheit bei Konnektoren. In Inge Pohl (ed.), Semantische Unbestimmtheit im Lexikon. Frankfurt: Lang, pp. 205-221.

Bondy, Curt & Cohen, Rudolf & Eggert, Dietrich & Lüer, Gerd (1975). Columbia Mental Maturity Scale (CMM). (Teil von TBGB). Weinheim. Beltz. [3. Auflage]

Boueke, Dietrich & Klein, Wolfgang (ed.) (1983). Untersuchungen zur Dialogfähigkeit von Kindern. Tübingen: Narr.

Boueke, Dietrich & Schülein, Frieder & Büscher, Hartmut & Terhorst, Evamaria & Wolf, Dagmar (1995). Wie Kinder erzählen. Untersuchungen zur Erzähltheorie und zur Entwicklung narrativer Fähigkeiten. München: Fink.

Carston, Robyn (2002). Thoughts and utterances. The pragmatics of explicit commu-nication. Oxford: Blackwell.

Clahsen, Harald (2006). Chomskyan syntactic theory and language disorders. Online unter http://www.essex.ac.uk/~harald/handbook06.pdf (2006-05-23).

Clark, Herbert H. (1996). Using Language. Cambridge: Cambridge University Press. Cole, Kristina & Mitchell, Peter (2000). Siblings in the development of executive

control and theory of mind. British Journal of Developmental Psychology, 18, 279-295.

Dunn, Judy & Brophy, Marcia (2005). Communication, relationships, and individual differences in children's understanding of mind. In Janet W. Astington & Jodie A. Baird (eds.), Why language matters for theory of mind. Oxford: Oxford University Press, pp. 50-69.

Ehlich, Konrad (1983). Alltägliches Erzählen. In Willy Sanders & Klaus Wegenast (eds.), Erzählen für Kinder. Begegnung zwischen Sprachwissenschaft und Theo-logie. Stuttgart: Kohlhammer, pp. 128-150.

Elisabeth Swoboda ______________________________________________________________________

140

Ehlich, Konrad (ed.) (1996). Kindliche Sprachentwicklung. Konzepte und Empirie. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Ehlich, Konrad & Rehbein, Jochen (1979). Sprachliche Handlungsmuster. In Soeffner, Hans-Georg (ed.), Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaf-ten. Stuttgart: Metzler, pp. 243-274.

Eisenbeiß, Sonja (2002). Merkmalsgesteuerter Grammatikerwerb. Eine Untersuchung zum Erwerb der Struktur und Flexion von Nominalphrasen. Unveröffentlichte Doktorarbeit. Universität Düsseldorf.

Online unter www.essex.ac.uk/~seisen/my%20dissertation.html (2005-01-06). Ernst, Peter (2002). Pragmalinguistik: Grundlagen-Anwendungen-Probleme. Berlin:

Gruyter. Fabricius-Hansen, Cathrine (2000): Formen der Konnexion. In Klaus Brinker & Gerd

Antos & Wolfgang Heinemann & Sven F. Sager (eds.), Text- und Gesprächs-linguistik: Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Bd. 1. Berlin & New York: de Gruyter, 331-343.

Fiehler, Reinhard & Barden, Birgit & Elstermann, Mechthild & Kraft, Barbara (2004). Eigenschaften gesprochener Sprache. Tübingen: Narr. (= Studien zur Deutschen Sprache)

Fludernik, Monika (2006). Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt: Wissenschaft-liche Buchgesellschaft.

Fox, Annette V. (2004). Psycholinguistische Analyse kindlicher Sprechstörungen (PLAKKS). Frankfurt: Harcourt Test Services.

Grimm, Hannelore (1995). Sprachentwicklung – allgemeintheoretisch und differen-tiell betrachtet. In Rolf Oerter & Leo Montada (eds.), Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz, Psychologie Verlags Union, pp. 705-757.

Grimm, Hannelore (2000). Entwicklungsdysphasie: Kinder mit spezifischer Sprachstö-rung. In Hannelore Grimm (ed.), Sprachentwicklung (pp. 603-640). Göttingen: Ho-grefe, pp. 603-640. (= Enzyklopädie der Psychologie, Bd. 3)

Grimm, Hannelore (2002). SETK 3-5. Sprachentwicklungstest für drei-bis fünfjährige Kinder (3;0-5;11). Diagnose von Sprachverarbeitungsfähigkeiten und auditiven Gedächtnisleistungen. Göttingen: Hogrefe.

Harris, Paul L. (2005). Conversation, pretense, and theory of mind. In Janet W. Astington & Jodie A. Baird (eds.), Why language matters for theory of mind. Oxford: Oxford University Press, pp. 70-83.

Hausendorf, Heiko (1995). Deixis and orality: Explaining games in face-to-face inter-action. In Uta Quasthoff (ed.), Aspects of oral communication. Berlin: de Gruyter, pp. 181-198.

Hausendorf, Heiko & Quasthoff, Uta M. (1996). Sprachentwicklung und Interaktion. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Hickmann, Maya (2000). Pragmatische Entwicklung. In Hannelore Grimm (ed.), Sprachentwicklung. Göttingen: Hogrefe, pp. 193-227. (= Enzyklopädie der Psycho-logie, Bd. 3)

Hickmann, Maya (2003). Children’s Discourse. Person, Space, and Time across Lan-guages. Cambridge: Cambridge University Press.

Erzählkompetenz von Kindern mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung ______________________________________________________________________

141

Kauschke, Christina & Siegmüller, Julia (2009). PDSS: Patholinguistische Diagnostik bei Sprachentwicklungsstörungen. München: Elsevier. [2. Auflage]

Kiese-Himmel, Christiane (2005). Aktiver Wortschatztest für 3 –6jährige Kinder. AWST-R. Göttingen: Beltz.

Katz-Bernstein, Nitza & Schröder, Anja (2003). “Ich erzähl dir was” Online unter http://old.csps-szh.ch/fileadmin/data/1_szhcsps/3_veranstaltungen/

Kongress2007/Katz-Bernstein.pdf (2009-07-10) Kintsch, Walter (1994). The psychology of discourse processing. In Morton A. Gerns-

bacher (ed.), Handbook of psycholinguistics. San Diego: Academic Press, pp. 721-739.

Kintsch, Walter & van Dijk, Teun (1978). Toward a model of text comprehension and production. Psychological Review, 85, 363-394.

Knobloch, Clemens (2001). Kritische Kontexte in der Entwicklung der kindlichen Symbol- und Erzählfähgkeit. In Hans D. Erlinger (ed.), Kinder und ihr Symbolver-ständnis. Theorien – Geschichten – Bilder. München: KoPäd, pp. 11-30.

Labov, William & Waletzky, Joshua (1967). Narrative analysis. In June Helm (ed.), Essays on the verbal and visual arts. Seattle: University of Washington Press, pp. 12-44.

Labov, William & Waletzky, Joshua (1973). Erzählanalyse. In Jens Ihwe (ed.), Litera-turwissenschaft und Linguistik. Bd.2. Frankfurt: Lang, pp. 78-126.

Leonard, Laurence B. (2003). Children with specific language impairment. In Yonata Levy & Jeannette C. Schaeffer (eds.), Language competence across population: to-wards a definition of specific language impairment. Hillsdale: Erlbaum, pp. 209-231.

Lewis, Charlie (1994). Episodes, events and narratives in the children’s understanding of mind. In Charlie Lewis & Peter Mitchell (eds.), Children’s early understanding of mind. Hillsdale: Erlbaum, pp. 457-478.

Linke, Angelika & Nussbaumer, Markus & Paul Portmann, Paul (2004). Studienbuch Linguistik. Tübingen: Niemeyer.

McCabe, Allyssa & Bliss, Lynn S. (2003). Patterns of narrative discourse. Boston: Pearson Education.

McCabe, Allyssa & Bliss, Lynn S. & Barra, Gabriela & Bennett, MariBeth (2008). Comparison of Personal Versus Fictional Narratives of Children With Language Impairment. American Journal of Speech-Language Pathology, 17, 194-206. Online unter ajslp.asha.org/cgi/content/full/17/2/194 (2009-07-10).

Meibauer, Jörg (2001). Pragmatik: Eine Einführung. Tübingen: Stauffenburg. Nelson, Katherine (2005). Language pathways into the community of minds. In Janet

W. Astington & Jodie A. Baird (eds.), Why language matters for theory of mind. Oxford: Oxford University Press, pp. 26-49.

Nünning, Ansgar & Nünning, Vera (eds.) (2002). Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: WVT.

O'Neill, Danielle K. (2005). Talking about "new" information: The given/new distinc-tion and children's developing theory of mind. In Janet W. Astington & Jodie A. Baird (eds.), Why language matters for theory of mind. Oxford: Oxford University Press, pp. 84-105.

Elisabeth Swoboda ______________________________________________________________________

142

Origgi, Gloria & Sperber, Dan (2000). Evolution, communication and the proper func-tion of language. In Peter Carruthers & Andrew Chamberlain (eds.), Evolution and the human mind. Language, modularity and social cognition. Cambridge: Cambridge University Press, pp. 140-169.

Origgi, Gloria & Sperber, Dan (2000). A pragmatic perspective on the evolution of language and languages.

Online unter http://www.interdisciplines.org/coevolution/papers/6 (2005-04-21). Pasch, Renate & Brauße, Ursula & Breindl, Eva & Waßner, Ulrich H. (2003). Hand-

buch der deutschen Konnektoren. Berlin: de Gruyter. Posner, Roland (1980). Semantics and pragmatics of sentence connectives in natural

language. In John R. Searle & Ferenc Kiefer & Manfred Bierwisch (eds.), Speech Act Theory and Pragmatics. Dordrecht: Reidel, pp. 169-203.

Quasthoff, Uta M. (1983). Kindliches Erzählen. In Dietrich Boueke & Wolfgang Klein (eds.), Untersuchungen zur Dialogfähigkeit von Kindern. Tübingen: Narr, pp. 45-75.

Quasthoff, Uta M. (ed.). (1995). Aspects of oral communication. Berlin: de Gruyter. Quasthoff, Uta M. (2001). Erzählen als interaktive Gesprächskultur. In Klaus Brinker

& Gerd Antos & Wolfgang Heinemann & Sven F. Sager (eds.), Text- und Ge-sprächslinguistik: Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Bd. 2. Berlin & New York: de Gruyter, pp. 1293-1309.

Quasthoff, Uta & Katz-Bernstein, Nitza (2007). Diskursfähigkeiten. In Manfred Grohnfeldt (ed.), Lexikon der Sprachtherapie. Stuttgart: Kohlhammer, pp. 72-75.

Rath, Rainer (1997). „Äußerungseinheit“ oder „möglicher Satz“? Deutsche Sprache, 25, 1-20.

Rescorla, Leslie & Eliza Carlson Lee, Eliza (2000). Language impairment in young children. In Thomas L. Layton & Elizabeth R. Crais & Linda R. Watson (eds.), Handbook of early language impairment in children: nature. Canada: Delmar, pp. 1-23.

Rehbein, Jochen (2001). Konzepte der Diskursanalyse. In Klaus Brinker & Gerd Antos & Wolfgang Heinemann & Sven F. Sager (eds.), Text- und Gesprächslinguistik: Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Bd. 2. Berlin & New York: de Gruyter, pp. 927-945.

Rice, Mabel L. (2000). Grammatical symptoms of specific language impairment. In Dorothy V.M. Bishop & Laurence B. Leonard (eds.), Speech and language impair-ments in children: Causes, characteristics, intervention and outcome. Sussex: Psychology Press, pp. 17-35.

Rice, Mabel L. (2003). A unified model of specific and general language delay: gram-matical tense as a clinical marker of unexpected variation. In Yonata Levy & Jeannette Schaeffer (eds.), Language competence across population: towards a de-finition of specific language impairment. Hillsdale: Erlbaum, pp. 63-95.

Rice, Mabel L. & Sell, Marie A. & Hadley, Pamela A. (1991). Social interaction of speech-and language-impaired children. Journal of Speech and Hearing Research, 34, 1299-1307.

Rothweiler, Monika (2001). Wortschatz und Störungen des lexikalischen Erwerbs bei spezifisch sprachentwicklungsgestörten Kindern. Heidelberg: Winter.

Erzählkompetenz von Kindern mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung ______________________________________________________________________

143

Schaner-Wolles, Chris (2000). Sprachentwicklung bei geistiger Retardierung: Wil-liams-Beuren-Syndrom und Down-Syndrom. In Hannelore Grimm (ed.), Sprach-entwicklung. Göttingen: Hogrefe, pp. 663-685. (= Enzyklopädie der Psychologie, Bd. 3)

Schelten-Cornish, Susan (2008). Förderung der kindlichen Erzählfähigkeit. Idstein: Schulz-Kirchner.

Schu, Josef (1994). Kinder als Erzähler. Erwachsene als Zuhörer. Frankfurt: Lang. Schröder, Anja (2009). Vergleichende Analyse interaktiver Erzählfähigkeiten bei

sechsjährigen Kindern mit einer sogenannten Spezifischen Sprachentwicklungs-störung und Kindern mit einem unauffälligen Spracherwerb. Unveröffentlichte Dissertation. Universität Dortmund.

Selting, Margret (1995). Der “mögliche Satz” als interaktiv relevante syntaktische Ka-tegorie. Linguistische Berichte, 158, 298-325.

Siegmüller, Julia & Kauschke, Christina (2006). Patholinguistische Therapie bei Sprachentwicklungsstörungen. München: Urban & Fischer.

Sprung, Manuel S. (1999). Theory of mind und kontrafaktisches Denken. Unveröffent-lichte Diplomarbeit. Naturwissenschaftliche Fakultät, Universität Salzburg.

Suchodoletz, Waldemar von (2010). Beitrag vom 27.06.2010, [email protected]

Swoboda, Elisabeth (2002). Spezifische Spracherwerbsstörung und Verblexikoner-werb: Eine empirische Studie zur Feststellung der Produktionsleistung von Kin-dern mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung in der Kategorie Partikelverben. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Universität Salzburg.

Swoboda, Elisabeth (2006). Die Bedeutung spezifisch sprachlicher Erwerbsaspekte für die Entwicklung einer Theory of Mind. Eine empirische Studie zur „language first-hypothesis“. Unveröffentlichte Dissertation. Universität Salzburg.

Tomasello, Michael (1995). The cultural origins of human cognition. Cambridge: Har-vard University Press.

Van der Lely, Heather K.J. (1995). Narrative discourse in grammatical specific lan-guage impaired children: A modular language deficit? Journal of Child Language, 24 (1997), 221-256.

Van der Lely, Heather K.J. & Lina Stollwerck, Lina (1996). A grammatical specific lan-guage impairment in children: an autosomal dominant inheritance? Brain and Language, 52, 484-504.

Van der Lely, Heather K.J. & Linda Stollwerck (1997). Binding theory and grammati-cal specific language impairment in children. Cognition, 62, 245-290.

Villiers, Jill G. de (2005). Can language acquisition give children a point of view? In Janet W. Astington & Jodie A. Baird (eds.), Why language matters for theory of mind. Oxford: Oxford University Press, pp. 186-219.

Weinert, Sabine (2000). Beziehungen zwischen Sprach-und Denkentwicklung. In Hannelore Grimm (ed.), Sprachentwicklung. Göttingen: Hogrefe, pp. 311-361. (= Enzyklopädie der Psychologie, Bd. 3)

Weinert, Sabine (2004). Wortschatzerwerb und kognitive Entwicklung. Sprache Stim-me Gehör, 28, 20-28.

Elisabeth Swoboda ______________________________________________________________________

144

Wellman, Henry M. & Liu, David (2004). Scaling of theory-of-mind tasks. Child De-velopment, 75, 523-541.

Zifonun, Gisela & Hoffmann, Ludger & Strecker, Bruno et al. (1997). Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bände. Berlin: de Gruyter.

Kontakt: Dr. Elisabeth Swoboda

Familien und Generationen Gstättengasse 10, 5020 Salzburg [email protected]

Grazer Linguistische Studien 75 (Frühjahr 2011); S. 145-164

“An einem schönen und sonnigen Tag ...” – Zur Gestaltung von Erzählanfängen und -abschlüssen in schulnahen Erzähl-situationen Monika Dannerer Universität Salzburg

1. Einleitung Ziel des vorliegenden Beitrages ist es zu zeigen, wie sich die Gestaltung von Erzähl-anfängen und -abschlüssen in schulnahen Erzählsituationen in der Sekundarstufe I und II entwickelt. Dazu werden zunächst ausgehend von in der Erzählerwerbsfor-schung verbreiteten Modellen aus einer funktionalen Perspektive heraus Erzählan-fang und -abschluss beschrieben (Kapitel 2.1). Danach werden die Spezifika des Er-zählens in schulischen Kontexten aufgezeigt und Vorgaben zur Gestaltung von Er-zählanfängen und -abschlüssen in Schulbüchern analysiert (Kapitel 2.2). In Kapitel 3 erfolgt die Beschreibung des Datenkorpus, Kapitel 4 ist der Entwicklung der Erzähl-anfänge gewidmet. Dabei wird erfasst, welche inhaltlichen Elemente in den Erzähl-anfängen und speziell auch im Vorfeld des ersten Satzes quantitativ eine Rolle spielen und welche Funktionen sie erfüllen. Der Einsatz von Routineformeln wird qualitativ und quantitativ am Beispiel von temporalen Referenzen analysiert. Kapitel 5 schließ-lich zeigt die quantitative Entwicklung in der inhaltlichen Gestaltung der Erzählab-schlüsse auf. Die Ergebnisse werden in Kapitel 6 zusammengefasst. Dabei werden die Auswirkungen der interaktionalen Entfunktionalisierung auf die Gestaltung schuli-scher Erzählungen ebenso diskutiert wie die Rolle der Routinen für den Erzählerwerb und die Tendenzen ihrer Überwindung.

2. Strukturiertheit und Funktionalität von Alltags-erzählungen und schulischen Erzählungen In der Erzählforschung gibt es zahlreiche Modelle und Beschreibungen der Erzähl-struktur. Exemplarisch sei an drei von ihnen erinnert, die auch in der Erzählerwerbs-forschung eine wichtige Rolle spielen. Ihnen ist gemeinsam, dass die Textsorte bzw. der Diskurstyp der Erzählung als in sich strukturierte Einheit aufgefasst wird, wobei gewisse Merkmale von Erzählungen offenbar übergreifend als wichtig angesehen werden.

Das sehr weit verbreitete Modell von Labov/Waletzky (1967/1997) unterscheidet für die Höhepunkterzählung die Elemente Orientierung, Komplikation, Evaluation,

Monika Dannerer ______________________________________________________________________

146

Lösung und Coda. Vielfach wurde diesem Modell vorgeworfen, dass es einen ein-zigen Typus des Erzählens – die Höhepunkterzählung –, der überdies nicht in natür-lichen Gesprächen beobachtet, sondern in einer Interviewsituation elizitiert wurde, unter Ausblendung der Interaktion gleichsam zur Norm erhebt (vgl. z.B. Holmes 1997). Auch wurde moniert, dass ein solches “Strukturmodell” dazu verleitet, Erzäh-lungen insgesamt daran zu messen und “Nicht-Übereinstimmung als ‚Abweichungen‘ zu klassifizieren” (Quasthoff 2001, 1301).

Das Modell von Boueke et al. (1995), die in ihrer Analyse kindlicher Erzählent-wicklung den kognitivistischen Story-Grammar-Ansatz aufgegriffen und kognitions-psychologisch weiter entwickelt haben, weist teilweise ähnliche Elemente auf: Am Beginn der Erzählung unterscheiden sie Ankündigung und Setting, nach der Kompli-kation folgen Abschluss und Coda. Die Evaluation ist ihrer Auffassung nach in der Erzählung (mehrfach) frei platzierbar.

Einen gänzlich anderen Blick auf die Erzählstruktur vertreten interaktionale An-sätze. Sie sehen nicht die Realisierung einer bestimmten Struktur als zentral an, son-dern die (kooperative) Ausführung bestimmter kommunikativer Handlungen, die interaktive Rekonstruktion des Handlungs- oder Ereignisablaufes (Gülich/Hausendorf 2000, 373).1 Da sie auch die kommunikative Einbettung in das fortlaufende Gespräch berücksichtigen, setzen sie dafür entsprechende Musterpositionen an: Hausen-dorf/Quasthoff (1996) etwa thematisieren die für die Erlangung des Rederechts zen-trale Darstellung von Inhaltsrelevanz. Darauf folgen die interaktiven Handlungen Thematisieren, Elaborieren/Dramatisieren und Abschließen sowie schließlich das Überleiten in die weitere Interaktion.

Betrachtet man das Erzählen aus einer funktionalen Perspektive, so erscheint es möglich, sowohl die Strukturierung als auch die Interaktion im Erzählen besser zu er-fassen; Gemeinsamkeiten wie auch ggf. blinde Flecken in den genannten Modellen treten aus diesem Blickwinkel deutlicher zutage. Folgende Funktionen müssen die sprachlichen Teilhandlungen der ErzählerInnen in der mündlichen Interaktion erfül-len:

a) Um eine Geschichte erzählen zu können, müssen potenzielle ErzählerInnen im Kommunikationsprozess wahrgenommen werden, d.h. sie müssen sich zu Beginn der Erzählung das Rederecht sichern. Dies gelingt durch die Betonung der Inhalts- und Formrelevanz (vgl. Hausendorf/Quasthoff 1996) bzw. mit einem Abstract, das das Interesse der InteraktionspartnerInnen weckt.

b) die Sicherung der Aufmerksamkeit gelingt nicht nur durch die Ankün-digung eines “erzählenswerten” Beitrags, sondern auch durch die Verdeut-lichung der Relevanz für die AdressatInnen – d.h. eine Erzählung ist nicht an sich “erzählenswert”, sondern sie ist es im Hinblick auf die AdressatInnen – sowie durch den Aufbau von Spannung. Dies erfolgt nicht nur am Anfang

1 Der Blick auf interaktives Erzählen lohnt auch für die Analyse von monologischen, schulna-hen Erzählungen, denn Probleme in der Realisierung von Bildgeschichten, sind teilweise der institutionellen Einbettung der Erzählungen geschuldet.

“An einem schönen und sonnigen Tag ...” ______________________________________________________________________

147

der Erzählung, sondern muss v.a. bei längeren Erzählungen laufend geleistet werden.

c) Um das Geschehen verstehbar zu machen, müssen ErzählerInnen die Kom-munikationspartnerInnen zu Beginn der Erzählung in die Erzählwelt ein-führen, d.h. weg von der Hier-Jetzt-Wir-Origo der Erzählsituation und hin auf die räumlichen, zeitlichen und personellen Bezugspunkte der erzählten Situation orientieren.

d) Um das Geschehen nachvollziehbar zu machen, sind sowohl eine gewisse chronologische Strukturierung als auch die Auswahl des “Wesentlichen” wichtig.

e) Um zu sichern, dass mit der Erzählung eine geteilte Interpretation der Wirk-lichkeit erreicht wird, werden ErzählerInnen immer wieder ihre Inter-pretation des Geschehens verdeutlichen – durch die Wortwahl, die Art des Erzählens, das z.B. darauf abzielt, entsprechende Emotionen auszulösen, oder auch durch eine explizite Evaluation bzw. Interpretation am Ende der Erzählung.

f) Um das Erzählen abschließen zu können, müssen ErzählerInnen (gemeinsam mit ihren KommunikationspartnerInnen) wieder zur Hier-Jetzt-Wir-Origo und zum weiteren turn-by-turn-talk zurückleiten.

Im Hinblick auf Anfang und Abschluss des Erzählens sind v.a. die Funktionen a), b), c), e) und f) von Bedeutung: Erzählende müssen sich anfangs Rederecht und Auf-merksamkeit sichern, und sie müssen die Origo der Erzählung etablieren. Abschlie-ßend müssen sie die Zielsetzung ihrer Erzählung noch einmal verdeutlichen und aus der Origo der Erzählung wieder hinausführen.

2.1. Funktionale Besonderheiten schulischen Erzählens und ihre Konsequenzen für die Erzählstruktur und die Entwicklung von Routinen

Die sechs Teilhandlungen, die für das interaktive (mündliche) Erzählen konstitutiv sind, sind im schulischen bzw. schulnahen Erzählen,2 das im Mittelpunkt des vorlie-genden Beitrags steht, nur teilweise relevant. Einige von ihnen sind nicht von den Er-zählenden selbst zu erbringen. Dies wirkt sich auf die Art schulischen Erzählens nachhaltig aus:

Die Sicherung des Rederechts und der Aufmerksamkeit (vgl. a und b) erfolgen häufig durch Handlungen der Lehrenden: Sie fordern SchülerInnen auf, etwas (Inter-essantes, Lustiges, Spannendes) zu erzählen. Beim mündlichen Erzählen wacht da-raufhin der/die Lehrende selbst über die Einhaltung des Rederechts. Der Aufbau von

2 Unter “schulnahem Erzählen” soll ein institutionell in den Rahmen der Schule eingebundenes und an schulische Erzähltraditionen anknüpfendes Erzählen verstanden werden, das jedoch nicht den schulischen Beurteilungs- und Leistungsanforderungen unterliegt. Konkret wurden die hier untersuchten Erzählungen in der Schule – jedoch nicht im sozialen Umfeld der Schulklasse – erhoben und wurden auch nicht den Lehrenden vorgelegt (s.u. Kapitel 3).

Monika Dannerer ______________________________________________________________________

148

Spannung ist nicht für die Aufrechterhaltung des Rederechts funktional, sondern le-diglich für die Bewertung der Erzählung. Die Verdeutlichung von Relevanz scheint im schulischen Erzählen keine oder kaum Berücksichtigung zu finden. Das Gesche-hen, das einer Bildgeschichte zugrundeliegt, ist gleichsam durch den Cartoonisten als “erzählenswert” definiert worden, die Aufgabenstellung ist relevant im schulischen Beurteilungskontext. Ob das Erzählte relevant für die AdressatInnen – Mitschü-lerInnen und/oder Lehrende – ist, spielt für die Erhaltung von Rederecht und Auf-merksamkeit zumeist keine Rolle.

Für das schriftliche Erzählen liegt ebenfalls eine “Erzählaufforderung”, d.h. eine Aufgabenstellung durch die Lehrenden vor, durch die sie sich üblicherweise gleich-zeitig verpflichten, die Erzählung – unabhängig von inhaltlicher Relevanz oder einem Lustgewinn durch Spannung – auch zu rezipieren. Während in Alltagssituationen ein langweiliger Roman zur Seite gelegt wird, d.h. seine LeserInnen “verliert”, sollte die Aufmerksamkeit der Lehrenden den SchülerInnen also unabhängig von der Qualität ihres Erzählens sicher sein.

Der Origo-Wechsel (vgl. c) ist demgegenüber sehr wohl eine Aufgabe, die von den ErzählerInnen auch im (mündlichen und schriftlichen) schulischen Erzählen zu erfüllen ist. Hier sind in den Schulbüchern entsprechende Anleitungen zu finden, wie z.B. im zweiten Band des Buches “Deutschstunde”:

Im Erzählanfang sollst du Folgendes klären: Wann und wo ereignete sich das

Erlebnis? Wer war daran beteiligt? Was ist noch wichtig zu wissen, damit die

Geschichte besser verstanden wird? (Pramper et al. 2005, Bd. 2, 14)

Im Fall von Bildgeschichten wurde allerdings bereits mehrfach festgestellt, dass den SchülerInnen der Vollzug des Origo-Wechsels häufig schwer fällt, da sie die Bildfolge unmittelbar vor Augen haben und dadurch versucht sind, die Origo der Erzählwelt nicht aufzubauen, sondern deiktisch auf das geteilte Bildwissen zu verweisen. Dies entspricht gleichsam der “natürlichen” Erzählsituation, in der auf geteilte Wissens-bestände deiktisch verwiesen werden kann. In der Schule wird jedoch auch vermittelt und trainiert, dass man von dieser Situation nicht auszugehen hat, sondern die Er-zählung so zu gestalten ist, als ob die Bilder nicht vorlägen, d.h. dass die Erzählung für die RezipientInnen auch ohne Kenntnis der Bilder verständlich sein muss.

Chronologisierung und Fokussierung auf für den Zweck der Erzählung wesent-liche Elemente (vgl. d) sind im schulischen Erzählen ebenfalls zu leisten. Während die Chronologisierung durch das Nacheinander der Bildfolge vorgegeben ist, ist es die Auswahl wesentlicher Aspekte der Erzählung nur zum Teil: Einerseits liegen wich-tige Ereignisse “zwischen” den Bildern, andererseits ist auch aus der bildlichen Infor-mation auszuwählen, sie ist zu gewichten und im Hinblick auf die Erzählabsicht zu funktionalisieren.

Die Sicherung einer geteilten Interpretation wird SchülerInnen dann ein Anlie-gen sein, wenn sie mit ihrer Erzählung auch ein persönliches Ziel – jenseits der Auf-gabenerfüllung – verfolgen (z.B. eine Geschichte zur Rechtfertigung für ihr Zuspät-kommen). Ansonsten ist auch dieses Element eines, das von den SchülerInnen zwar eingefordert wird, das jedoch nicht funktional sondern nur formal eingeübt wird.

“An einem schönen und sonnigen Tag ...” ______________________________________________________________________

149

Die Rückführung in die Origo der Erzählsituation (vgl. f) wird von den Schüle-rInnen häufig nicht oder nur rudimentär selbst geleistet. Die Beendigung der Erzäh-lung wird ggf. durch eine terminale Partikel und/oder eine terminale Intonation ange-zeigt, oder aber die SchülerInnen schweigen oder verändern ihr Blickverhalten – d.h., sie führen v.a. para- oder nonverbal in die Erzählsituation zurück. Verbal jedoch wird v.a. von den Lehrenden, die zum Erzählen aufgefordert haben, eine Ratifizierung bzw. Beurteilung der Erzählung abgegeben und anschließend auch in die Interaktion in der Klasse zurückgeführt. Im schriftlichen Erzählen ist die Rückführung ebenfalls keine Aufgabe der ProduzentInnen. Das Ende der Erzählung ist optisch erfassbar – trotzdem wird es allerdings fallweise von den SchülerInnen metasprachlich verdeutlicht, etwa durch ein metatextuelles Schlusswort wie “ENDE” (vgl. dazu Augst et al. 2007, 57). Eine Ratifizierung der Erzählung wird von den Lehrenden graphisch festgehalten.3 Die Rückführung in die vor der Textrezeption etablierten Kontexte, in denen sich die RezipientInnen befinden, obliegt i.d.R. den LeserInnen selbst.

Schulisches Erzählen kann also zusammenfassend charakterisiert werden als eine Erzählhandlung, die in vielen Fällen4 “befreit” ist von den Aufgaben der Siche-rung des Rederechts, der Relevanzmarkierung und des (anfänglichen) Spannungsauf-baus. Gerade am Beispiel der Spannung wird deutlich, dass es sich um eine Eigen-schaft der Erzählung handelt, die in der Interaktion entfunktionalisiert ist, die jedoch institutionell eingefordert und mit einer entsprechenden Notengebung sanktioniert wird. Der Spannungsaufbau ist für die SchülerInnen also nicht aufgrund des Re-derechts oder des Interesses der ZuhörerInnen eine wichtige Eigenschaft des Erzäh-lens, sondern dient lediglich einer Erfüllung der eingeforderten Form. Ähnlich verhält es sich mit der Etablierung einer geteilten Interpretation, auch sie ist für die SchülerInnen nur im Hinblick auf die Aufgabenerfüllung relevant, nicht jedoch für kommunikative Ziele des Erzählens.

Aufgrund dieser Diskrepanzen zwischen Alltagserzählung und schulischem Er-zählen scheint es besonders interessant, sich die Anfänge und Abschlüsse der Erzäh-lungen anzusehen.5 Da diese Stellen der Erzählung (neben der Komplikation bzw. der Pointe) gemeinhin als besonders schwierig zu gestalten gelten und dementsprechend den SchülerInnen im Unterricht auch textsortenspezifische Formulierungen an-geboten werden, soll dies auch im Hinblick darauf geschehen, wieweit an diesen stär-ker standardisierten Stellen der Erzählung Routineformeln tatsächlich eingesetzt werden. Routineformeln sollen dabei mit Stein (2004) definiert werden als

3 Dies erfolgt zumindest durch ein Symbol, das verdeutlicht, dass die Erledigung der Aufgaben-stellung zur Kenntnis genommen wurde (z.B. ein Häkchen oder eine Paraphe), häufig aber auch durch eine Ziffernnote oder einen schriftlichen Kommentar. 4 Die Beobachtungen gelten für das klassische, eher formorientierte schulische Erzählen, dessen Funktion die Einübung in den Diskurstyp/die Textsorte ist, nicht jedoch für Erzählungen, die in der Schule tatsächlich als Erzählung funktional sind (z.B. wenn eine Schülerin einer Lehrerin unaufgefordert ein persönliches Erlebnis erzählen möchte). 5 Die sehr allgemeinen Begriffe “Anfang” und “Abschluss” werden hier gewählt, um eine Ver-wechslung mit den in den Erzählmodellen unterschiedlich definierten Begriffen “Einleitung” und “Schluss” zu vermeiden.

Monika Dannerer ______________________________________________________________________

150

[…] konventionalisierte Ausdrucksmittel für bestimmte sprachliche Aufgaben

und Handlungen in mündlicher Kommunikation, und gegebenenfalls auch kon-

ventionalisierte Strukturen für Texte und Textteile in bestimmten Kommuni-

kationsbereichen. […] mehr oder weniger feste Ausdrucksformen, die man

zwar als Beeinträchtigungen der sprachlichen Individualität auffassen kann,

die sich aber, wenn man das kommunikative Geschehen als Ganzes betrachtet,

als nahezu unverzichtbar erweisen, weil sie nicht nur Verhaltenssicherheit im

Rückgriff und im Vertrauen auf Bewährtes garantieren, sondern auch weil sie

wesentlich zu einer Entlastung der Kommunikationspartner beitragen.” (Stein

2004, 263; Hervorh. M.D.)

Gerade die von Stein angesprochenen Aspekte der Verhaltenssicherheit und der Ent-lastung machen Routineformeln im Rahmen des Erzählerwerbs erwartbar. Allerdings ist festzustellen, dass die Rolle der Routinen im Spracherwerb bislang noch nicht befriedigend geklärt ist (vgl. Dannerer i.Dr.). Es ist davon auszugehen, dass sprach-liche Fähigkeiten sowohl durch Imitation und damit durch aktives Einüben wie auch durch wiederholte Rezeption zu sprachlichen Fertigkeiten bzw. Routinen auto-matisiert werden. Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, dass Routinen durchaus erwerbsphasenspezifisch sein können – es sei hier nur an die Satzverknüpfung mit “und dann” erinnert, die zumindest im schriftlichen Erzählen im Alter von 10-12 Jah-ren zumeist überwunden wird.6

2.2. Erzählen in den Schulbüchern

In allen Schulbüchern der Sekundarstufe I wird der Erzählanfang (zumindest im Hin-blick auf das schriftliche Erzählen) explizit thematisiert.7 Anhand vieler Beispiele werden Kriterien für die adäquate Gestaltung von Inhalt und Form genannt. Bei Arbter et al. (2000, Bd. 1, 55) heißt es beispielsweise “Der Anfang muss den Leser über Ort, Zeit und beteiligte Personen informieren und ihn neugierig machen.” Ange-sprochen werden also der Origo-Wechsel bzw. die “Orientierung” (Labov/Waletzky 1967/1997) oder das “Setting” (Boueke et al. 1995), aber auch der Spannungsaufbau. Die Sicherung des Rederechts oder die auf die RezipientInnen zugeschnittene Re-levanzmarkierung werden nicht genannt. Ersteres deutet auf eine an der Schriftlich-keit orientierte Perspektive hin, zweiteres auf eine noch immer vorherrschende Aus-blendung des Adressatenbezugs bzw. der Interaktionalität.

Für die Gestaltung des Abschlusses der Erzählungen finden sich demgegenüber auffallend wenige Informationen. Am häufigsten werden Merkmale des Erzählab-schlusses für spezifische Erzähltextsorten wie Märchen, Sage und v.a. Fabel genannt.

8

Für andere Erzählformen wird meist nur auf das allgemeine Schema des Aufbaus

6 Zu wenig untersucht ist allerding auch, was nach der “Überwindung” von Routinen passiert, welche Prozesse der Transzendierung bzw. der Differenzierung sich anschließen. 7 Analysiert wurden 10 Schulbücher, die im Erhebungszeitraum in Österreich für die Sekundar-stufe I (d.h. für Hauptschulen und (Real-)Gymnasien) zugelassen waren. 8 Vgl. z.B. Dutzler et al. 2005, Bd. 2, 65; Killinger et al. 2001, Bd. 1, 36; Gruber et al. 2006, Bd. 1, 46f.

“An einem schönen und sonnigen Tag ...” ______________________________________________________________________

151

einer Erzählung zurückgegriffen – eine Erzählung müsse Einleitung, Hauptteil und Schluss aufweisen, fallweise wird angemerkt, der Schluss möge kurz sein.

9

Das Sprachbuch “Mit eigenen Worten” von Arbter et al. ist eines der wenigen Bücher, das – bereits im Band für die 5. Schulstufe (SSt.) – Gestaltungsmöglichkeiten für das Ende angibt:

Deine Hauptperson denkt zurück. (Claudia blickte noch einmal zum

Leuchtturm, wo alles begonnen hatte, und schloss dann das Fenster.) Deine

Hauptperson zieht eine Schlussfolgerung. (Claudia umarmte ihre Eltern und

sagte: “So etwas Dummes mache ich nicht noch einmal!”) Du gibst einen

Ausblick. (Claudia dachte auch später noch oft an dieses Abenteuer zurück.)

(Arbter et al. 2000, Bd. 1, 56)

Bei diesen exemplarischen Formulierungen fällt zum einen die wichtige Rolle der Rede- bzw. Gedankenwiedergabe auf und zum anderen die temporalen Angaben, die in allen drei Formulierungen enthalten sind und rückblickend oder in die Zukunft der erzählten Zeit vorausblickend das Geschehen abschließen (“noch einmal”, “nicht noch einmal”, “auch später noch oft”).

Sowohl die Reflexion als auch die temporale Perspektive werden auch bei den Leitfragen für die Formulierung des Schlusses im Lehrwerk “Deutschstunde” von Pramper et al. für die 5. SSt. angewendet:

Wie es ausging/weiterging, was du daraus gelernt hast, was heute daran

erinnert (Pramper et al. 2005, Bd. 1, 116f.)10

In der Mehrheit der Fälle sind es jedoch nur die im Schulbuch abgedruckten Beispiel-erzählungen, die eine nicht weiter kommentierte Bandbreite an Möglichkeiten für den Abschluss einer Erzählung demonstrieren (z.B. Dutzler et al. 2004, Bd. 1, 59ff.).

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die funktionale Diskrepanz zwischen Alltagserzählung und schulischer Erzählung in den Schulbüchern nicht thematisiert wird. Die Notwendigkeit der Etablierung des Rederechts, das Herausstreichen der Erzählwürdigkeit wie auch die Sicherung einer geteilten Interpretation und die Rückführung in die Origo der Erzählwelt finden kaum Beachtung. Formulierungs-vorschläge werden fast ausschließlich für Erzählanfänge angeboten. Dieses „di-daktische Ungleichgewicht“ könnte sich in den Erzählungen der SchülerInnen dergestalt spiegeln, dass Erzählanfänge häufiger formelhafte Wendungen und ins-gesamt eine geringere Varianz sprachlicher Mittel aufweisen.

3. Datenkorpus Das Datenkorpus wurde im Rahmen einer Longitudinalstudie erhoben. Es umfasst 320 mündliche und schriftliche Erzählungen aus drei unterschiedlichen Schulklassen in (Real-) Gymnasien in Oberösterreich und Salzburg. 48 SchülerInnen wurden im Längsschnitt von der 5. bzw. 6. bis zur 8. Schulstufe erfasst, wobei pro SchülerIn drei

9 Vgl. z.B: Astleitner et al. (Bearbeitung) 2006, Bd. 2, 49; Astleitner et al., 1999, Bd. 1, 91; 10 Konkrete Beispiele für eine Umsetzung gibt es hier nicht.

Monika Dannerer ______________________________________________________________________

152

Messzeitpunkte vorliegen. Für acht dieser SchülerInnen ist Deutsch eine Zweitspra-che. Pro Schulstufe liegen Erzählungen von 25 bis 48 ProbandInnen vor. Zusätzlich wurden von 18 Schülerinnen der 12. Schulstufe Daten erhoben (35 Erzählungen), acht von ihnen waren bereits in der Sekundarstufe I Längsschnittprobandinnen. D.h. von diesen Schülerinnen liegen Daten zu einem vierten Messzeitpunkt vor. Da die zwei-sprachigen SchülerInnen in der folgenden Auswertung nicht berücksichtigt werden, liegen ihr insgesamt 275 Erzählungen zugrunde.

Erzählimpuls waren jeweils Bildgeschichten, die in einer dyadischen Kommuni-kationssituation außerhalb der Klasse zunächst mündlich und einige Tage darauf auch (während einer Deutschstunde) schriftlich erzählt wurden. In jeder Schulstufe wurde eine andere Bildgeschichte ausgewählt (von E.O. Plauen bis Quino), so dass der Schwierigkeitsgrad ansteigend war und die Erzählmotivation auch dadurch auf-recht erhalten werden konnte.11

Das verhältnismäßig große Datenkorpus erlaubt eine qualitative und quantitati-ve Analyse. Die Entwicklung der Erzählanfänge und –abschlüsse kann nach Schul-stufen ausgewertet werden, es ist aber auch möglich, individuelle Entwicklungen zu verfolgen.

4. Die Gestaltung der Erzählanfänge In Kapitel 2.1 wurde deutlich, dass dem Erzählanfang u.a. die Funktion zukommt, Aufmerksamkeit und Rederecht zu sichern und in die Origo der Erzählung einzufüh-ren. Aus diesen Funktionen resultieren bestimmte inhaltliche und formale Elemente, durch die sich Erzählanfänge auszeichnen und durch die sie sich von der Überleitung und der restlichen Erzählung abgrenzen lassen. Im Falle von Bildgeschichten können sie keinesfalls mit der Verbalisierung des ersten Bildes der Bildfolge gleichgesetzt oder starr an einen bestimmten inhaltlichen Punkt der Erzählung gebunden werden.

Insgesamt sind es fünf unterschiedliche inhaltliche Elemente, die in den Erzähl-anfängen – häufig in Kombination – auftreten: Referenz auf den Protagonisten (1) papa moll kochte zu mittag↓ ** (5m_RGOOe_Henriette)12 Temporale Referenz (2) eines↑ tages↑ kochte herr wimmer↑ * […] (5m_RGOOe_Tatiana)

11 Zur genaueren Beschreibung des Datenkorpus vgl. Dannerer (i. Vorber.). 12 Die Transkriptionskonventionen für die mündlichen Erzählungen befinden sich im Anhang (Kapitel 7). Die schriftlichen Erzählungen wurden unter Beibehaltung der Schreibweise und Zeichensetzung transliteriert. Die Siglen beinhalten die Schulstufe (5= 5. Schulstufe), die me-diale Modalität (m= mündlich, s= schriftlich), die Kurzbezeichnung der Schule (RGOOe= Real-gymnasium Oberösterreich, RGSa= Realgymnasium in Salzburg, GS= Gymnasium in Salzburg) und einen (verschlüsselten) Namen. Für Hervorhebungen zu Analysezwecken wird Fettdruck verwendet.

“An einem schönen und sonnigen Tag ...” ______________________________________________________________________

153

Lokale Referenz (3) in die sommerferien * is da papa moll↑ * mi=m fritzi↑ * ah: nach italien

gefahren↓ * (5m_RGOOe_Bettina) (4) Eines Tages war Mutter Moll nicht zu hause und Papa Moll musste das Essen

kochen (5s_RGOOe_Brigitte) Ergänzung der Situation (5) Es war Donnerstag. Mutter Moll fuhr an diesem Tag nach Wien um einen

Vortrag zu halten. (5s_RGOOe_Alexandra) Spannung/Grundkonflikt (6) Ohne Mama geht es nicht “Wir kommen Super ohne Mama zurecht.” dachte sich Vater Moll.

(5s_RGOOe_Karin)

Die Referenz auf den Protagonisten, die Zeit und den Ort etablieren dabei die neue Origo, die Etablierung von Spannung bzw. die Darstellung des Grundkonflikts dienen der Sicherung der Aufmerksamkeit, die Erzählung der Situation zeigt (aufgaben-spezifisch), dass nicht nur relevante Informationen aus den Bildern “ausgewählt” son-dern dass auch die Bilder ergänzt werden. Auch diese Ergänzungen dienen mögli-cherweise der Sicherung von Aufmerksamkeit.

Während die Referenz auf den Protagonisten immer explizit erfolgt, können temporale und lokale Referenzen implizit gestaltet sein (z.B. indem erwähnt wird, dass die Mutter nicht zu Hause ist, liegt nahe, dass der Vater das Essen zu Hause zu-bereiten muss). Als “Ergänzung der Situation” werden Informationen eingestuft, die über das hinausgehen, was aus den Bildern unmittelbar erschließbar ist.

Das folgende Beispiel von Alexandra soll die Kombination der unterschiedlichen Elemente verdeutlichen: (7) 5m_RGOOe_Alexandra: 1 ah:m * ja: hoit die familie moll↑ * då is * die: * frau↑ * die is nåch wien

gfoan↑ * und jetzt * is hoit die schwierige aufgabe für=n * für=n vater moll↑ * er mua:ss * kOchen↓ *

2 un=jå da fritzi denkt si scho * jå des kå=eh nix wean↑ * åber * da papa moll kocht trOtzdem↓ *

3 und hoit * wie=s fertig is↑ * sitzen sie=si hoit am tisch↑ * u:nd * und wie=a da fritzi des scho riacht↑ * denkt=a si scho * ((ändert Tonfall) na des kånn i net essen↓ […]

In der Einleitung erfolgt eine Referenz auf die Protagonisten (1f.), die Zeit (“jetzt”), den Ort (indirekt – es ist nicht Wien) und den Grundkonflikt (2), zusätzlich wird die in den Bildern dargestellte Situation auch ergänzt (Frau Moll ist nach Wien gefahren). Die Überleitung zur ersten Episode beginnt mit einer neuen temporalen Referenz (“wie=s fertig is”), einer neuen räumlichen Referenz (“am tisch”) und einer höheren Detaillierung (direkte Rede).

Die Begrenzung der Einleitung erfolgt durch die Überleitung zur (ersten) Episo-de. Sie ist häufig gekennzeichnet durch einen Wechsel der Zeit, des Ortes, des Detail-

Monika Dannerer ______________________________________________________________________

154

lierungsgrades im Erzählen – teilweise ist dies mit dem Einsatz direkter Rede ver-bunden –, durch die Darstellung des Konfliktes bzw. die Verwendung adversativer Formulierungen. Im mündlichen Erzählen werden teilweise auch prosodische Mittel zur Markierung der Überleitung genutzt (Wechsel des Tonfalls, Wechsel der Tonhö-he, Verwendung einer auffallenden Pause), schriftlich kann ein Absatz gesetzt werden.13 Auch bei Erzählungen, die mit der direkten Rede beginnen, können solche Kriterien angewendet werden, allerdings sei auch nicht verschwiegen, dass die Abgrenzung nicht in allen Erzählungen eindeutig ist. Als Beispiel für einen sehr deutlich markierten und abgrenzbaren Erzählanfang sei der Anfang der schriftlichen Erzählung von Ludwig aus der 8. SSt. angeführt: (8) 8s_GS_Ludwig: 1 Der Herr Doktor kommt immer zu spät. 2 Egal zu welchem Anlass, er vergießt immer die Zeit. 3 Doch manchmal ist es so schlimm das er sogar zahlen muss. 4 Wie zum Beispiel heute. 5 Der Herr Doktor hat malwieder sein Auto im Halteverbot stehen lassen und

mal wieder die Zeit übersehen. 6 Er schreit zwar: “Halt nicht!”, aber der Polizist ist schon fleisig am schreiben.

Ludwig setzt die temporale Referenz als deutliches Mittel zur Abgrenzung des Erzähl-anfangs ein. Während er im Erzählanfang auf das referiert, was “immer” oder “manchmal” der Fall ist (1-3), fokussiert er in der Überleitung (4) auf einen konkreten Tag. Zusätzlich wird am Beginn der Episode ein konkreter Ort gewählt, es wird ein neuer Protagonist eingeführt und es wird der Grad der Detailliertheit deutlich erhöht (z.B. durch die direkte Rede).

Betrachtet man die Entwicklung der Gestaltung der Erzählanfänge über die Jah-re hinweg, so zeigt sich ein uneinheitliches Bild – teilweise große Konstanz, teilweise starke Schwankungen. Abb. 1 und 2 verdeutlichen den Prozentsatz der Erzählungen in der jeweiligen Schulstufe, die die 5 genannten inhaltlichen Elemente in der Einlei-tung aufweisen – durch Kombinationen der Mittel ergeben sich Anteile von über 100%.

13 Sowohl bei der Pause als auch bei der Verwendung des Absatzes handelt es sich allerdings nicht um zuverlässige Kriterien. (Planungs-)Pausen können auch an anderen Stellen auftreten und die Absatzmarkierung kann entweder völlig fehlen oder sie wird von manchen SchülerIn-nen offensichtlich willkürlich eingesetzt.

“An einem schönen und sonnigen Tag ...” ______________________________________________________________________

155

Abb. 1: Einleitung – mündlich Abb. 2: Einleitung – schriftlich

0%

20%

40%

60%

80%

100%

5 6 7 8 12

Schulstufe

Pro

zent

satz

der

E

inle

itung

en

ProtagonistZeitRaumErgänzung d. SituationSpannung/Grundkonfliktweder Zeit noch Raum

0%

20%

40%

60%

80%

100%

5 6 7 8 12

Schulstufe

Pro

zent

satz

der

E

inle

itung

en

ProtagonistZeitRaumErgänzung d. SituationSpannung/Grundkonfliktweder Zeit noch Raum

Diese beiden Diagramme zeigen, dass die Referenz auf den Protagonisten mündlich wie schriftlich in der Sekundarstufe I in 100% der Texte vorkommt; erst in der 12. SSt. sinkt der Prozentsatz deutlich.14 Die temporale Referenz ist in allen Schulstufen äußerst wichtig – schriftlich sogar noch etwas mehr als mündlich.15 Die Bedeutung der lokalen Referenz nimmt in beiden Varietäten zur 8. SSt. hin signifikant zu (p<.010), danach allerdings wieder ab.16

Diese drei Kategorien gemeinsam bilden über alle Jahrgangsstufen hinweg mit Abstand die häufigsten Nennungen. Die Zahl der Texte, die weder Zeit noch Ort in ihrer Einleitung erwähnen, liegt ab der 7. SSt. mündlich und schriftlich unter 7%.

Die Bereitschaft, die Situation zu ergänzen, ist in der 6. SSt. am höchsten, in der 7. und 8. SSt. am geringsten. Stark schwankend entwickelt sich der Aufbau von Span-nung bzw. die Andeutung des zentralen Konfliktes: Der Anteil der Erzählungen ist in der 5. und 7. SSt. besonders hoch, in der 6. und 8. SSt. hingegen gering. Insgesamt liegen die Werte hier mündlich niedriger als schriftlich.

Für das Vorhandensein einer Textroutine sprechen die hohen Vorkommen von Referenzen auf den Protagonisten und auf die Zeit; bezüglich der räumlichen Refe-renz wird die Routine in der Sekundarstufe offenbar erst ausgebaut. Der Spannungs-aufbau scheint hingegen nicht routiniert zu erfolgen. Dies ist insofern einsichtig, als er häufig nur mit komplexeren lexikalischen bzw. textuellen Mitteln erzielt werden kann, mit Vorausdeutungen, Kontrastierung etc. Hier dürfte eher gezielte Planung als die Anwendung von Routinen vorliegen. Überdies wurde in der funktionalen Be- 14 Die Erzählungen werden länger und fallweise durch eine (umfassendere) Schilderung der Si-tuation eingeleitet, der Protagonist wird in diesen Erzählungen erst in der Überleitung einge-führt. 15 Die Unterschiede sind allerdings weder zwischen den Schulstufen noch zwischen den media-len Varietäten signifikant. 16 Für das mündliche Erzählen gilt Chi2=6.699, für das schriftliche Chi2=8.367.

Monika Dannerer ______________________________________________________________________

156

trachtung der Erzählungen bereits deutlich, dass der Spannungsaufbau am Erzählan-fang für das schulische Erzählen nicht funktional ist, so dass keine Notwendigkeit für eine durchgehendere Berücksichtigung besteht.

Dass Routinen auch (wieder) abgebaut werden, zeigt die Entwicklung der Ein-führung des Protagonisten, die in den komplexeren Erzählungen der 12. SSt. nicht mehr in jedem Text erfolgt.

In weiterer Folge sollen mikrostrukturelle Routinen untersucht werden. Dafür eigenen sich in besonderem Maß die Erzählanfänge im engsten Sinne – das jeweilige Vorfeld des ersten Satzes. Hier treten fünf unterschiedliche Füllungen des Vorfeldes auf: Referenz auf den Protagonisten (9) papa moll kochte zu mittag↓ ** (5m_RGOOe_Henriette) Temporale Referenz (10) in die sommerferien * is da papa moll↑ * mi=m fritzi↑ * ah: nach italien

gefahren↓ * (5m_RGOOe_Bettina) Lokale Referenz (11) da is halt * ähm * ein mAnn↑ * der sitzt halt am tIsch↑ (6m_RGSa_Laurin) Referenz auf die Situation (12) Die Stimmung ist angespannt und die Menge tobt. (12s_RGOOe_Alina) Direkte Rede (13) “Wir kommen Super ohne Mama zurecht.” dachte sich Vater Moll. (5s_RGOOe_Karin)

Quantitativ zeigt sich, dass diese fünf Möglichkeiten nicht nur sehr unterschiedlich häufig genutzt werden, sondern auch, dass sie einer starken Entwicklung unterwor-fen sind und überdies deutlich medial differenziert eingesetzt werden:

Abb. 3: Vorfeld 1. Satz – mündlich Abb. 4: Vorfeld 1. Satz – schriftlich

0%

20%

40%

60%

80%

100%

5 6 7 8 12

Schulstufe

Pro

zent

satz

der

E

inle

itung

en

Protagonist

Zeit

Raum

Situation

Direkte Rede

0%

20%

40%

60%

80%

100%

5 6 7 8 12

Schulstufe

Pro

zent

satz

der

Ein

leitu

ngen

ProtagonistZeitRaumSituationDirekte Rede

“An einem schönen und sonnigen Tag ...” ______________________________________________________________________

157

Im mündlichen Erzählen (vgl. Abb. 3) wird in der 6.-8. SSt. die Nennung des Protago-nisten im Vorfeld ersten Satzes sehr deutlich bevorzugt – der Höhepunkt liegt mit einer Verwendung in 70% der Erzählungen in der 8. SSt. Dieser Anteil sinkt zur 12. SSt. hin jedoch signifikant ab (Chi2=12.320; p=.000).17 Im schriftlichen Erzählen hinge-gen wird der Protagonist fast in allen Schulstufen relativ konstant in nur rund 20% der Erzählungen im Vorfeld des ersten Satzes genannt (vgl. Abb. 4).18 Hier ist umgekehrt die temporale Referenz dominant – der Anteil von 75-60% in der 5., 7. und 8. SSt. sinkt erst in der 12. SSt. auf etwas über 40% ab. Im mündlichen Erzählen verliert sie rasch an Bedeutung (der Anteil fällt von 55% in der 5. SSt. auf rund 10% in der 8. SSt.), um danach wieder auf 40% anzusteigen.

Auch die Verwendung der räumlichen Referenz im Vorfeld des ersten Satzes differiert eindeutig medial: Sie kommt lediglich in den mündlichen Erzählungen vor – schriftlich wird sie in keinem Text verwendet. Die Ursache dafür liegt in der Art die-ser Referenz, sie bezieht sich nie auf einen konkreten Ort, sondern wird ausschließ-lich deiktisch mit “da” realisiert. Diese Referenz kann sowohl lokal – auch als Deixis auf das Bild – als auch temporal interpretiert werden. Der Verweis ist eindeutig in die Origo der Erzählung hinein gerichtet – d.h. von der Hier-Jetzt-Wir-Origo wegver-weisend. Diese Form des Wegverweisens wird offenbar bereits in der 5. SSt. als nicht-literales Mittel eingestuft.

Eine Referenz auf die Situation wird von den SchülerInnen erst in der 12. SSt. umfangreicher genutzt – dafür steigt hier die Verwendungshäufigkeit nahezu sprung-haft und in beiden Varietäten gleichzeitig auf 35-40% der Texte an.

Die Verwendung der direkten Rede am Anfang des ersten Satzes ist wiederum ein Mittel, das deutlich häufiger im schriftlichen Erzählen genutzt wird. In diesem Sinne ist es allerdings durchaus erstaunlich, dass es in der 12. SSt., wo die Erzählun-gen mündlich wie schriftlich am ähnlichsten und deutlich literal geprägt sind, nicht mehr verwendet wird.

Im Sinne einer Routine wird also im mündlichen Erzählen mit der Referenz auf den Protagonisten begonnen, im schriftlichen Erzählen mit einer Referenz auf die Erzählzeit. Erst in der 12. SSt. werden die mündlichen Erzählungen deutlich nach dem Vorbild der schriftlichen gestaltet.

Während nun die Referenz auf den Protagonisten kaum Routineformeln zulässt, ist die temporale Referenz im Hinblick darauf näher zu untersuchen, ob die ProbandIn-nen hier zur Formulierungserleichterung auf feste Formeln zurückgreifen.

17 Wertet man die Erzählungen nach der Verwendung von Umgangssprache bzw. Standard-sprache getrennt aus, so zeigt sich, dass umgangssprachlich erzählende SchülerInnen dieses Mittel ganz besonders deutlich bevorzugen (vgl. Dannerer i. Vorber.). Das starke Ansteigen in der 8. SSt. und das Abfallen in der 12. SSt. können daher auch mit dem in diesen SSt. deutlich höheren bzw. stark zurückgegangenen Anteil an umgangssprachlich erzählenden ProbandIn-nen in Verbindung gebracht werden. 18 Der hohe Wert in der 6. SSt. dürfte mit der Aufgabenstellung zusammenhängen. In dieser Bildgeschichte wird im ersten Bild der Protagonist sehr groß in den Vordergrund des Bildes ge-rückt und blickt den Betrachter/die Betrachterin an.

Monika Dannerer ______________________________________________________________________

158

Es zeigt sich, dass bestimmte Formulierungen deutlich bevorzugt werden, wobei zwischen dem Vorfeld des ersten Satzes und dem Erzählanfang zu unterscheiden ist.

Im Vorfeld des ersten Satzes ist die Verwendung einer Präpositionalphrase in 28% der Erzählungen, die an dieser Stelle eine temporale Referenz verwenden, zu be-obachten (“An einem […] Tag/Morgen/Abend”, etc., wobei der Tag noch attributi-visch näher gekennzeichnet wird). Der Schwerpunkt des Einsatzes liegt in den schriftlichen Erzählungen der 5. bis 8. SSt.

Die Genitivphrase “Eines […] Tages/Morgens, …”, die wiederum häufig attribu-tiv erweitert wird, macht insgesamt 25% der Fälle aus, wobei sie ebenfalls v.a. in der 5. bis 8. SSt. eingesetzt wird. Insgesamt ist sie ein Mittel, das im mündlichen Erzählen wesentlich stärker präferiert wird als im schriftlichen, jedoch geht ihre Verwendung mündlich bereits in der 8. SSt. deutlich zurück, schriftlich erst in der 12. SSt.19

10% der temporalen Referenzen entfallen auf einfache Adverben (“einmal”, “einst”), die fast ausschließlich in der 5. und 6. SSt. verwendet werden.

Deutlich zunehmend ist hingegen die Verwendung anderer, teilweise komplexe-rer Formen (insgesamt 37% – mit einem Schwerpunkt im schriftlichen Erzählen). Hierzu zählen Präpositionalphrasen (“in den Sommerferien”, “seit einem Jahr”), deik-tische Temporaladverben (“heute”), temporale Nebensätze oder andere temporale Ausdrücke (z.B. “endlich”, “schon wieder”)

Wie stark die temporalen Referenzen formelhaft eingesetzt werden, zeigt sich am folgenden Beispiel: (14) eines morgens↑ * mmh: * zum * an ei/ * eines sonnigen morgens↑ * zu

mittag↑ kochte papa moll↑ * und sein sohn↑ * eine suppe↓ * (5m_RGOOe_Lea)

Lea verwendet zwei einander widersprechende zeitliche Angaben ohne dies offenbar zu bemerken, denn auch prosodisch ist die zweite Angabe nicht als Korrektur der ersten erkennbar. Eine solche formelhafte Verwendung ist zwar äußerst selten zu beobachten, sie ist jedoch auch dadurch möglich, dass die Bildgeschichten keine spezifische Tages- oder Jahreszeit andeuten.

Bei einigen wenigen SchülerInnen sind auch im Längsschnitt individuelle Präferenzen für temporale Referenzen festzustellen: Eine Schülerin etwa lässt alle ihre Erzählungen im Sommer bzw. im Frühsommer spielen (obwohl die Aufnahmen jeweils im November gemacht wurden), eine andere beginnt ihre Erzählungen immer mit “eines Tages” oder “einmal”.

Temporale Referenzen im Verlauf der Einleitung sind großteils andere als im Vorfeld des ersten Satzes: Die Präpositionalphrase “an einem […] Tag/Abend …” tritt an späterer Stelle des Erzählanfangs kaum auf, die Genitivphrase “eines Tages” und das Temporaladverb “einst” kommen nie vor, “einmal” nur verhältnismäßig selten.

19 In beiden Fällen sind auch die attributiven Erweiterungen recht allgemein gehalten und durchaus stereotyp: “schön” (16x), “sonnig” (10x) und “wunderschön” (6x) dominieren eindeu-tig. Eine nähere Qualifikation des Tages im Hinblick auf den Protagonisten tritt erst ab der 8. SSt. auf (“stressig”, “anstrengend”).

“An einem schönen und sonnigen Tag ...” ______________________________________________________________________

159

Häufig verwendet werden hingegen “gerade”, “jetzt” und “immer”, d.h. Adver-bien bzw. Deiktika zum Ausdruck von Gleichzeitigkeit und durativen Relationen. Da-rüber hinaus ist allerdings eine große Varianz der Mittel festzustellen.

Zusammenfassend kann also konstatiert werden, dass Routineformeln zum tem-poralen Ausdruck bevorzugt im Vorfeld des ersten Satzes auftreten, dass die sprachli-chen Mittel an anderen Stellen der Einleitung – d.h. zum Ausdruck temporaler Refe-renz ganz allgemein – jedoch variiert werden und seltener auf verfestigte Routinen zurückgegriffen wird. In diesem Sinne ist in den höheren Schulstufen außerhalb des Vorfeldes auch kein Abbau von Routinen festzustellen.

5. Die Gestaltung der Erzählabschlüsse

Am Schluss von Erzählungen lassen sich keine vergleichbar eindeutigen Tendenzen ausmachen wie in den Erzählanfängen. Dies hat seinen Grund u.a. darin, dass die Mittel der Markierung des Erzählschlusses vielfältiger sind. Es sei hier nur eine Aus-wahl angeführt, um generelle Tendenzen zu zeigen: Verweis auf Zukünftiges (15) jå und * dann↑ * gingen sie wieder nach hause↑ * und papa moll sagte zu

fritzchen↑ * ich glaube ich koche nicht mehr↓ das lassen wir die mama machen↓ (5m_RGOOe_Brigitte) Rückverweis auf ein Element der Erzählung (16) In der Konditorei war das Essen viel besser. (5s_RGSa_Laurin) Stärker generalisierender Rückbezug auf ein Element der Erzählung (17) […] da * leider mit korruption nicht alles möglich ist im leben→ * und * er

eigen/ * also eigentlich die: * / die fairen methoden doch * ((leiser wer-dend) am besten sind↓) (12m_RGOOe_Sandra)

Erzählerkommentar (18) Ich glaube das nächste mal gehen sie gleich ins Gasthaus (5s_RGOOe_Karin) Formelhafter Schlusssatz (19) […] und dann hatten sie noch ein gutes Abendessen. (5s_RGSa_Alfred)

Herausgegriffen werden also sprachliche Mittel, die über die Erzählzeit hinausweisen, innerhalb der Erzählung zurückweisen, das Geschehen kommentieren oder formel-haft bzw. in Anklängen an Formeln abschließen. Die quantitative Entwicklung dieser Mittel stellt sich wie folgt dar (vgl. Abb. 5 und 6):

Monika Dannerer ______________________________________________________________________

160

Abb. 5: Abschluss – mündlich Abb. 6: Abschluss – schriftlich

0%

20%

40%

60%

80%

100%

5 6 7 8 12

Schulstufe

Pro

zent

satz

der

A

bsch

lüss

e

Verweis auf Zukünftiges

Rückverweis auf Erzählung

Generalisierender Rückverweis

Erzählerkommentar

formelhafter Schlusssatz

0%

20%

40%

60%

80%

100%

5 6 7 8 12

Schulstufe

Pro

zent

satz

der

A

bsch

lüss

e

Verweis auf ZukünftigesRückverweis auf Erzählung Generalisierender RückverweisErzählerkommentarformelhafter Schlusssatz

Der Verweis auf ein in Relation zur erzählten Zeit zukünftiges Ereignis bzw. einen zukünftigen Zustand, ist ein Mittel, das auch in den Schulbüchern immer wieder an-geführt wird (s.o.) und das z.B. aus Märchen als bekannt vorausgesetzt werden kann (“Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage”). Seine Verwendung steigt münd-lich erst zwischen der 8. und 12. SSt. signifikant an. Schriftlich liegt der Höhepunkt jedoch bereits in der 6. SSt. Insgesamt liegt zwischen der 5. und 12. SSt. eine höchst signifikante Steigerung vor. Dies deutet darauf hin, dass dieses Mittel offenbar zum einen als literal empfunden wird, und dass es zum anderen im mündlichen Erzählen möglicherweise auch schwerer realisierbar ist. Der frühe Höhepunkt im schriftlichen Erzählen könnte auf eine gewisse Formelhaftigkeit im Einsatz hindeuten, die in weiterer Folge der Erzählentwicklung vermieden wird.

Rückverweise auf ein Element der Erzählung sind in ihrer Häufigkeit mündlich wie schriftlich stark schwankend, werden jedoch in beiden Varietäten in der 12. SSt. in allen Erzählungen verwendet.20 Insgesamt nehmen sie von der 5. zur 12. SSt. sehr stark zu. Wesentlich verhaltener aber ebenfalls nicht linear verläuft die Entwicklung der generalisierenden Rückverweise. Der Anstieg von der 5. zur 12. SSt. ist deutlich, jedoch nicht signifikant; insgesamt liegen die Werte im schriftlichen Erzählen höher als im mündlichen. Auch hier zeigt sich ein erster Höhepunkt in der Verwendung in der 6. SSt.

Der Erzählerkommentar ist ebenfalls ein eindeutig literales Mittel der Markie-rung des Erzählschlusses. Er hat seinen Höhepunkt im schriftlichen Erzählen der 7. und 8. SSt. und tritt danach wieder eher in den Hintergrund.

Mündlich wie schriftlich rückläufig ist auch die Verwendung eines formelhaften Schlusssatzes. Hier erfolgt der Rückgang im mündlichen Erzählen rascher als im

20 Basis der Berechnungen sind hier nicht die Gesamtheit der Erzählungen, sondern lediglich diejenigen Texte, die nicht mit einer Pointe enden (vgl. Dannerer i.Vorber.).

“An einem schönen und sonnigen Tag ...” ______________________________________________________________________

161

schriftlichen, in beiden Varietäten werden formelhafte Schlussätze in der 12. SSt. je-doch nicht mehr verwendet.

Insgesamt zeigt der Befund, dass die SchülerInnen stark zunehmend dazu tendie-ren, die Bildgeschichten mit einem Rückbezug auf das Geschehen – und einem Aus-blick in die Zukunft – abzuschließen. Damit setzt sich eine Entwicklung fort, die be-reits in Daten von Grundschulkindern zu sehen war (vgl. Augst et al. 2007, 59). Ihre Formulierungen werden jedoch zunehmend individueller, sie greifen weniger häufig auf formelhafte oder an Formulierungsroutinen angelehnte Schlusssätze zurück.21 Dies zeigt, dass trotz einer routinierten Gestaltung der Erzählstruktur offenbar an der Textoberfläche ein Abrücken von Routineformeln angestrebt wird. Diese Tendenz ist gut nachvollziehbar, wenn man berücksichtigt, dass es sich bei der Erzählung um eine Textsorte mit einem Anspruch an Kreativität und Eigenständigkeit handelt, der trotz der Erfüllung der Textsortenmerkmale besteht.

6. Zusammenfassung Die funktionale Betrachtung des Diskurstyps/der Textsorte „Erzählen“ hat gezeigt, dass im interaktiven mündlichen Erzählen wie auch im schriftlichen Erzählen von den Erzählenden jeweils unterschiedliche und auch unterschiedlich komplexe sprachliche Handlungen geleistet werden müssen. In der Erzähldidaktik der Sekundarstufe I werden allerdings nur einige dieser sprachlichen Handlungen ausgewählt und geübt. Unberücksichtigt bleiben dabei v.a. diejenigen, die für das interaktionale mündliche Erzählen wichtige Funktionen erfüllen. Dazu zählen die Er-langung des Rederechts zur Entfaltung einer Erzählung, das Erzielen von Auf-merksamkeit, die Relevanzdarstellung und die Sicherung einer geteilten Inter-pretation des Geschehens. Teilweise werden entsprechende narrative Elemente zwar formal eingefordert („Mache deine Erzählung spannend“, „Überlege dir einen wir-kungsvollen Schluss“, …), doch hat die fehlende funktionale Verankerung weitreichende Folgen für eine überzeugend gelingende Gestaltung von Erzähl-anfängen und –abschlüssen. Damit führt die Umfunktionalisierung von Erzählungen im schulischen Kontext also möglicherweise dazu, dass gerade der Anfang von Erzählungen weniger gut gelingt, weil die ErzählerInnen wissen, dass sie sich nicht bemühen müssen, ihrem Erzählen Gehör zu verschaffen und die RezipientInnen unmittelbar anzusprechen. Es ist zu vermuten, dass die SchülerInnen ihre Fähigkeiten, über die sie in der sozialen Interaktion im Alltag verfügen, nicht zur Geltung bringen.

Schulische Erzähldidaktik legt den Fokus eher auf den Erzählanfang als auf den –abschluss: Sowohl inhaltliche Vorgaben als auch konkrete Formulierungsbeispiele

21 Dies deckt sich mit dem Umstand, dass auch die Formulierungen in den Erzählungen der 5. SSt. noch wesentlich weniger variiert sind als die der späteren Klassen. Beispielsweise wird in 46% der mündlichen und schriftlichen Erzählungen der 5. SSt. der Satz/die Äußerung “und der Hund bekommt/kriegt einen Knochen” verwendet. Rechnet man dabei nur die Erzählungen, in denen dieser Sachverhalt überhaupt angesprochen wird, so erhält man sogar einen Prozentsatz von knapp 80%. Bereits in der 6. SSt. sind solche Häufungen nicht mehr festzustellen.

Monika Dannerer ______________________________________________________________________

162

sind in den Schulbüchern wesentlich häufiger und ausführlicher für den Anfang von Erzählungen zu finden. Die Analyse des Datenkorpus hat ergeben, dass sich dieser Unterschied auch in den mündlichen und schriftlichen Erzählungen der Sekundar-stufe I und II spiegelt: Die Erzählanfänge weisen weniger inhaltliche Varianz und eine häufigere Verwendung von Routineformulierungen auf als die –abschlüsse. Allerdings werden diese Routineformulierungen häufig a-funktional eingesetzt – bei-spielsweise spielt eine räumliche oder zeitliche Verankerung keine weitere Rolle in der Erzählung – oder sie erweisen sich sogar als dysfunktional, d.h. dass durch ihre mechanische Verwendung innerhalb der Erzählung Widersprüche entstehen, die den SchülerInnen offenbar nicht bewusst werden.

Konstante individuelle Formulierungspräferenzen sind im Längsschnitt relativ selten zu beobachten. Dies kann auch damit in Verbindung gebracht werden, dass die Verwendung von Routineformeln in den höheren Schulstufen deutlich seltener wird. Das bedeutet, dass es mit zunehmender Beherrschung des Diskurstyps/der Textsorte (sie äußert sich z.B. in der Fähigkeit, in den Erzählungen Querverweise zu platzieren, d.h. z.B. am Schluss der Erzählung wieder auf den Anfang Bezug zu nehmen) wieder eine starke Tendenz zur Individualisierung gibt. Sie gilt bei insgesamt sehr deutlichen Unterschieden zwischen mündlichen und schriftlichen Erzählungen für beide mediale Formen gleichermaßen und ist im Kontext eines generellen Anspruchs des Diskurstyps bzw. der Textsorte an die Entwicklung von Kreativität und Individualität zu sehen.

7. Anhang: Transkriptionskonventionen ↑ ↓ → steigender, fallender, progredienter Tonhöhenverlauf * ** *** Pause bis 1, 2 bzw. 3 Sekunden *5* Pause ab 3 Sekunden; Angabe der Pausenlänge in Sekunden / Abbruch polizIst Betonung då:nn Dehnung denkt=a Enklise ((bestimmt) nein↓) Stimmqualität – die Klammern markieren den

Geltungsbereich (räuspert sich) (lacht) Nonverbales [MD: mhm] Hörerrückmeldesignal [[MD: [mhm↑] [der hund]]]

Hörerrückmeldesignal mit Überlappung – die Klammern markieren den Bereich der Überlappung

(sehr) vermuteter Wortlaut ( ) unverständlicher Wortlaut (TÜR KNALLT) Hintergrundgeräusche während der Aufnahme [ABSATZ] Graphische Besonderheiten der schriftlichen Texte fett Hervorhebung bei der Datenanalyse

“An einem schönen und sonnigen Tag ...” ______________________________________________________________________

163

8. Bibliographie Arbter, Ulrike et al. (2000). Mit eigenen Worten 1. Sprachbuch. Wien: Westermann

Wien. Astleitner, Doris & Krassnig, Elisabeth & Wehlend, Gabriele (1999). Sprungbrett

Sprache 1. Ein themenorientierter Sprachlehrgang für die 1. Klasse der HS und der AHS. Wien: öbvhpt.

Astleitner, Doris & Krassnig, Elisabeth & Wehlend, Gabriele (Bearbeitung) (2006). deutsch.duo 2. Ein Sprach- und Lesebuch für die 6. Schulstufe. Wien: öbvhpt. [Originalausgabe: deutsch.kombi 2 von Huneke, Hans-Werner, et al. (2004)]

Augst, Gerhard & Disselhoff, Katrin & Henrich, Sandra & Pohl, Thorsten & Völzing, Paul-Ludwig (2007). Text-Sorten-Kompetenz. Eine echte Longitudinalstudie zur Entwicklung der Textkompetenz im Grundschulalter. Frankfurt/M.: Lang. (= Theorie und Vermittlung der Sprache 48)

Boueke, Dietrich & Schülein, Frieder & Büscher, Hartmut & Terhorst, Evamaria & Wolf, Dagmar (1995). Wie Kinder erzählen. Untersuchungen zur Erzähltheorie und zur Entwicklung narrativer Fähigkeiten. München: Fink.

Dannerer, Monika (i. Vorber.). Narrative Fähigkeiten und Individualität. Eine Längs-schnittstudie zum mündlichen und schriftlichen Erzählerwerb von der 5. bis zur 12. Schulstufe. Tübingen: Stauffenburg.

Dannerer, Monika (i. Dr.). Routiniert vom ersten bis zum letzten Satz? Die Rolle von Textroutinen in der Erzählentwicklung von Jugendlichen. In Helmuth Feilke & Katrin Lehnen (eds.), Routinen. Frankfurt/M et al.: Lang. (= Forum Angewandte Linguistik)

Dutzler, Herbert & Pöltl, Ingrid & Thornton, Evelyn (2004). werkstatt deutsch 1. Wien: öbv & hpt.

Gruber, Wolfgang & Hilger, Gertraud (2006). ganz klar: Deutsch 1. Wien: Jugend & Volk.

Gülich, Elisabeth & Hausendorf, Heiko (2000). Vertextungsmuster Narration. In Klaus Brinker & Gerd Antos & Wolfgang Heinemann & Sven F. Sager (eds.), Text- und Gesprächslinguistik: Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Bd. 1. Berlin & New York: de Gruyter, pp. 369-385.

Hausendorf, Heiko & Quasthoff, Uta (1996). Sprachentwicklung und Interaktion. Eine linguistische Studie zum Erwerb von Diskursfähigkeiten. Opladen: West-deutscher Verlag.

Holmes, Janet (1997). Struggling Beyond Labov and Waletzky. In Michael Bamberg (ed.), Oral versions of personal experience: Three decades of narrative analysis. Special issue of the Journal of Narrative and Life History, 7 (1-4), pp. 91-96.

Killinger, Robert & Blüml, Karl & Haas, Gerald (2001). Sprachbuch 1. Neu-bearbeitung. Wien: öbv&hpt.

Labov, William & Waletzky, Joshua (1997). Narrative Analysis: Oral Versions of Per-sonal Experience. Reprint. In Michael Bamberg (ed.), Oral versions of personal ex-perience: Three decades of narrative analysis. Special issue of the Journal of Nar-rative and Life History, 7 (1-4), pp 3-38.

Monika Dannerer ______________________________________________________________________

164

Pramper, Wolfgang & Hammerschmid, Helmut & Hochwind, Stefan & Nömair, Elisabeth (2000ff.). Deutschstunde 1ff. Basisteil. Sprachbuch für die 5. Schulstufe. Neubearbeitung. Linz: Veritas.

Quasthoff, Uta (2001). Erzählen als interaktive Gesprächsstruktur. In Klaus Brinker & Gerd Antos & Wolfgang Heinemann & Sven F. Sager (eds.), Text- und Gesprächs-linguistik: Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Bd. 2. Berlin & New York: de Gruyter, pp. 1293-1309.

Stein, Stephan (2004). Formelhaftigkeit und Routinen in mündlicher Kommunikation. In Kathrin Steyer (ed.), Wortverbindungen – mehr oder weniger fest. Berlin & New York: de Gruyter, pp. 262-288. (=Institut für Deutsche Sprache Jahrbuch 2003)

Kontakt: Assoz.Prof. Mag.Dr. Monika Dannerer Fachbereich Germanistik, Universität Salzburg [email protected]

Grazer Linguistische Studien 75 (Frühjahr 2011); S. 165-171

Zum Diskus von Phaistos

Christoph Henke Frankfurt a. M.

1. These

Der Verfasser dieses Artikels vertritt die Auffassung, dass es eine einfache Regel gibt,

nach der die Zeichen auf dem Diskus von Phaistos in den einzelnen Feldern angeord-

net sind. Diese Regel lautet (bei Leserichtung von innen nach außen):

“Die Zeichen auf dem Diskus von Phaistos sind in jedem Feld mit Ausnahme

des jeweils linken Zeichens in alphabetischer/hierarchischer Reihenfolge ange-

ordnet.”

Damit ist gemeint: Man stelle sich vor, alle Zeichen auf dem Diskus seien Buchstaben

und alle Felder seien Worte. Dann wären nach der genannten These in jedem Wort

alle Buchstaben mit Ausnahme des jeweils ersten Buchstabens in alphabetischer Rei-

henfolge angeordnet. Das Wort Diskus würde (D)ikssu geschrieben, das Wort Berlin

(B)eilnr, das Wort Wasser (W)aerss, das Wort Washington (W)aghinnost usw.

Der Verfasser dieses Artikels hat seine Ansicht in der Vergangenheit bereits an

verschiedenen Stellen unter Rückgriff auf eine mathematische Beweisführung vorge-

tragen.1 Im folgenden Artikel soll eine zusätzliche Beweisführung vorgestellt werden,

die ohne Mathematik auskommt, so dass sie noch einfacher nachvollzogen und verifi-

ziert werden kann.

2. Beweisführung

2.1. Ausgangspunkt: Der Diskus

Ausgangspunkt der Beweisführung ist der Diskus selbst. Dieser sieht (als Replik) wie folgt aus:

2

1 Insbesondere: Henke, Christoph, The Mathematics of the Phaistos Disc, Forum Archaeologiae 48/IX/2008 (http://farch.net); Henke, Christoph (2004). Die Entdeckung der Hierarchie der Zei-chen auf dem Diskus von Phaistos, Göttinger Forum für Altertumswissenschaften 7: 203-212 (http://gfa.gbv.de/z/). 2 Quelle: Eigene Fotos einer Replik des Diskus.

Christoph Henke ______________________________________________________________________

166

2.2 Schritt 1 der Beweisführung: Zeilenform

Im ersten Schritt der Beweisführung wird die Zeichenfolge zur besseren Übersicht aus der Spiralform des Diskus in die vertrautere Zeilenform übertragen. Die einzelnen Felder werden durch einen Querstrich voneinander getrennt. Bei einer Leserichtung von innen nach außen ergibt sich folgende Anordnung:

3

Abb. 1: Seite A

3 Basierend auf den Zeichen von Balistiere, Thomas: The Phaistos disc, 2000.

Zum Diskus von Phaistos ______________________________________________________________________

167

Abb. 2: Seite B

2.3. Schritt 2 der Beweisführung: Streichung des linken

Zeichens in jedem Feld

Im zweiten Schritt der Beweisführung wird entsprechend der eingangs genannten These in jedem Feld das jeweils linke Zeichen gestrichen. Zur besseren Übersichtlich-keit werden die Felder zudem in einer Tabelle angeordnet. So ergibt sich folgende Anordnung:

Abb. 3: Seite A

Christoph Henke ______________________________________________________________________

168

Abb. 4: Seite B

2.4. Schritt 3: Verifizierung der These

Im dritten Schritt der Beweisführung ist die eingangs genannte These zu verifizieren. Wenn die These der alphabetischen Anordnung richtig ist, muss dies nunmehr in der Zeichenfolge zum Ausdruck kommen.

Bereits ein kurzer Blick auf die Tabelle macht deutlich: Das Zeichen steht – wenn es in einem Feld auftaucht – stets ganz rechts. Bei Leserichtung von links nach

Zum Diskus von Phaistos ______________________________________________________________________

169

rechts steht es stets an letzter Position und bildet – wenn man in der oben genannten Terminologie verbleibt – damit das “Z” des “Alphabets”.

Wenn das Zeichen in einem Feld auftaucht, steht es vor dem Zeichen . Ein anderes Zeichen, welches in einem Feld hinter ihm stehen würde, existiert nicht. Es ist also das Y des Alphabets.

Das Zeichen steht vor den Zeichen und , wenn es in Kombination mit diesen Zeichen auftritt. Es gibt kein drittes Zeichen, welches dem Zeichen nachfol-gen würde. Das Zeichen ist also das X des Alphabets.

Das Zeichen steht vor dem Zeichen , aber sonst stets an letzter Position. Es handelt sich also um das W des Alphabets.

Auf diese Weise kann man Zeichen für Zeichen überprüfen und seine Position im Alphabet bestimmen. Wenn man dies mit allen Zeichen durchführt, erlangt man im Ergebnis ein Alphabet der Zeichen. Diese hat folgende Reihenfolge:

4

4 Eigenes Alphabet, basierend auf den Zeichen von Balistiere, Thomas (2000). The Phaistos disc.

Christoph Henke ______________________________________________________________________

170

Jeder kann mit der genannten Methode feststellen, ob das vorgestellte Alphabet rich-tig ist. Wenn man eine solche Überprüfung durchführt, wird man zwei Dinge feststel-len: Zum einen lässt sich die Position mancher Zeichen im Alphabet nicht präzise be-stimmen. Dies geht darauf zurück, dass der Diskus lediglich 242 Zeichen auf 61 Fel-dern enthält. Daher tauchen nicht alle Zeichen in Kombination mit sämtlichen ande-ren Zeichen in einem Feld auf. Als Folge davon lassen sich mehrere Alphabete erstel-len, die die Anordnung der Zeichen erklärt. Dies ändert allerdings nichts an dem Prinzip der alphabetischen Anordnung. Aus den möglichen Alphabeten hat der Ver-fasser eines ausgewählt.

Zum anderen gibt es einen kleinen Schönheitsfehler. Das Zeichen (= Zeichen 19 des vorgestellten Alphabets) schert an zwei Stellen aus dem Alphabet aus und be-findet sich an Stellen, an denen es nach der hier vertretenen These nicht stehen dürf-te. Dies ändert aber nichts an der Richtigkeit der vertretenen These. Die Fehlerquote der genannten These liegt damit nämlich bei lediglich zwei von 242 Feldern, also un-ter 1 %. Damit kann sie vernachlässigt werden. Die Fehlerquote reduziert sich auf 0 %, wenn man die Regel wie folgt abwandelt: “Alle Zeichen auf dem Diskus von Phaistos sind mit Ausnahme des jeweils linken Zeichens in einem jeden Feld und des Zeichens 19 in alphabetischer/hierarchischer Reihenfolge angeordnet.” Mit den genannten niedrigen Fehlerquoten ist zugleich der Beweis der Richtigkeit der hier vertretenen These geführt.

3. Ausblick

Eine Erklärung für den Diskus sollte zugleich eine plausible Erklärung dafür enthal-ten, weshalb die Zeichen nach einem solchen System angeordnet sind. Der Verfasser hält es entgegen der wohl herrschenden Meinung für unwahrscheinlich, dass es sich bei den Zeichen auf dem Diskus um einen fließenden Text handelt. Denn ihm ist kei-ne Sprache bekannt, in der die einzelnen Textelemente (Buchstaben, Silben o.ä.) in alphabetischer/hierarchischer Reihenfolge angeordnet sind.

Mit der genannten These wäre es jedoch u.a. vereinbar, wenn der Diskus ein Ka-lender wäre, bei dem bestimmte Zeitabschnitte (symbolisiert durch die Felder) mit be-stimmten Personen (symbolisiert durch die Zeichen) in Verbindung gebracht werden. Mit der hier vertretenen These stünde es beispielsweise in Einklang, wenn es sich bei dem Diskus von Phaistos um eine Art Opferkalender handeln würde, welcher Per-sonen aufführt, die an bestimmten Tagen bestimmte Handlungen in einer bestimmten Reihenfolge vorzunehmen haben. Ebenso stünde damit eine Gerichts- oder Mili-tärliste im Einklang.

4. Bibliographie

Balistiere, Thomas. (2000). The Phaistos disc – an account of its unsolved mystery. Verlag Thomas Balistiere.

Henke, Christoph (2008). The Mathematics of the Phaistos Disc. Forum Archaeolo-giae, 48, IX/2008.

Online unter http://farch.net.

Zum Diskus von Phaistos ______________________________________________________________________

171

Henke, Christoph (2004). Die Entdeckung der Hierarchie der Zeichen auf dem Diskus von Phaistos. Göttinger Forum für Altertumswissenschaften, 7, 203-212.

Online unter http://gfa.gbv.de/z/. Kontakt: Dr. Christoph Henke

Frankfurt am Main [email protected]


Recommended