Thorsten Wygold,Kinderkrankenhaus auf der Bult, Hannover
Frühe medizinische Zeichen
drohender Kindeswohlgefährdung
Kleine Kinder, kleine Sorgen–
große Kinder, große Sorgen ?
Medizinischer Schutzauftrag in Kindheit und Jugend
• Die Geschichte der Kindheit ist auch eine Geschichte der Kindesmisshandlung!
Historie
• Wen der Herr liebt, den züchtigt er, / wie ein Vater seinen Sohn, den er gern hat.(Spr 3,12)
• Erspar dem Knaben die Züchtigung nicht; / wenn du ihn schlägst mit dem Stock, wird er nicht sterben. (Spr 23,13)
Vom alten Testament…
…bis heute
1875 1898 1900 1960 1973 1978 2008
1961
Kleine Kinder, kleine Sorgen…
Unicef, Innocenti report card issue,No.5, September 2003
• 95% der Misshandlungsfälle finden in der familiären Umgebung statt
• Täter: leibliche Eltern und Stiefeltern
Situation in Deutschland
• Deutschland, 1996:
– 15674 angezeigte Fälle sex. Missbrauchs nach §176 STGB
– 5198 angezeigte Fälle von Gewalt gegen Abhängige nach §§ 174, 174a, 174b, 177, 178
• Die Dunkelziffer in Deutschland ist hoch(30 bis 60% der bekannten Fälle)
• Sterblichkeit nach Kindesmisshandlung in Deutschland (Kinder unter 15 Jahren):
• 0,6 von 100 000 Kindern / Jahr• gesamt 523 / 5 Jahren• davon 148 im 1. Lebensjahr
Quelle: UNICEF, INNOCENTI REPORT CARD ISSUE, No.5,
SEPTEMBER 2003
• Kinderkrankenhaus auf der Bult versorgt ca. 60-70 Fälle von Kindesmisshandlung / Jahr
Mögliche Gründe
Prognostische Risiken in der Familie I
• Belastung der Eltern– Psychische Erkrankung– Abusus– broken-home Familien– Misshandlungserfahrung in der Eigenanamnese– Geringe Schulbildung
• Belastung der Partnerschaft– Frühe Elternschaft– Unerwünschte oder sehr stark erwünschte Schwangerschaft– Gestörte Partnerbeziehung
Prognostische Risiken in der Familie II
• Belastung der Familie– Armut– Beengte Wohnverhältnisse
• Gestörte oder auffällige Mutter-Kind Beziehung
Warum ?
• Die Gesellschaft wird immer komplexer
• Gesellschaftlicher Strukturwandel:
– Endtraditionalisierung = Verlust von Wertvorstellungen– Pluralisierung = Verlust von Strukturen – Individualisierung = Verlust der Großfamilie
Folgen
• Verlust der sozialen Kontrolle
• Fehlen sozialer Netzwerke zur Entlastung und Stabilisierung in Krisensituationen
• Lebensführung besteht aus „trial and error“
– Wird als anstrengend, kompliziert und mühsam erfahren– Führt zu Verunsicherung in allen Bereichen der
Lebensführung und des Alltags, eben auch Erziehung
Inkompetente Familiensysteme
Gesucht: das perfekte Kind
Kinderarmut
Statistisches Landesamt Niedersachsen (2005)
• Anteil von Menschen, die unterhalb der Armuts-grenze leben: 14,5%
• > 1 Mill. Menschen in Niedersachsen
• Anteil bei Familien mit mehreren Kindern: 33,2%
• 71638 Bedarfsgemeinschaften mit Kindern < 18 Jahren erhalten Sozialhilfe
• Zahlen in Niedersachsen steigend
UNICEF, Innocenti Working Paper (2005)A portrait of child poverty in Germany
Aktivitäten im Kinderschutz- aber welche ?
primäre sekundäre Behandlung, Nachsorge, Prävention Prävention tertiäre quarternäre
Prävention Prävention
Misshandlung Misshandlung Misshandlung Misshandlungist vermeidbar droht ist aufgetreten droht erneut
Aktionsmöglichkeiten
Erkennung + Behandlung
Frühe Erkennung von Misshandlung und Vernachlässigung ist wichtig
Erzieher, Lehrer, Kinderärzte, Hausärzte
Die Zeichen sind meist subtil, aber früh erkennbar:
Verhaltensauffälligkeiten als frühe Hinweise Sichtbare körperliche Merkmale erst später
Behandlung und Nachsorge
Bei erkannter und dokumentierter Misshandlung Schutzauftrag der Jugendhilfe
Beinhaltet die Kooperation aller Fachgruppen, die sich um das Kind kümmern, auch der Kinderärzte und Kinderklinik
Grundlage: §8a, SGB VIII
Rechtliche Grundlage
(1) Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte abzuschätzen. Dabei sind die Personensorgeberechtigten sowie das Kind oder der Jugendliche einzubeziehen, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird. Hält das Jugendamt zur Abwendung der Gefährdung die Gewährung von Hilfen für geeignet und notwendig, so hat es diese den Personensorgeberechtigten oder den Erziehungsberechtigten anzubieten.(2) In Vereinbarungen mit den Trägern von Einrichtungen und Diensten, die Leistungen nach diesem Buch erbringen, ist sicherzustellen, dass deren Fachkräfte den Schutzauftrag nach Absatz 1 in entsprechender Weise wahrnehmen und bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos eine insoweit erfahrene Fachkraft hinzuziehen. Insbesondere ist die Verpflichtung aufzunehmen, dass die Fachkräfte bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, wenn sie diese für erforderlich halten und das Jugendamt informieren, falls die angenommenen Hilfen nicht ausreichend erscheinen, um die Gefährdung abzuwenden.
• Kleinkindbeschwerden:
– vermehrtes Schreien/unruhiges Verhalten des Säuglings– Schlafprobleme– Fütter- und Essverhaltensstörungen,– Verhaltensauffälligkeiten des Kleinkindes (z.B. starke
Ängstlichkeit, vermehrtes Trotzverhalten, Unruhe, Spielunlust)
– Probleme in der Eltern-Kind Beziehung– elterliches Belastungserleben nach der Geburt des Kindes,
z.B. auch nach Frühgeburt oder Erkrankung des Kindes
Medizinische Hinweise auf hilflose Eltern I
• Schulkinder und Jugendliche:
– Schulverweigerung
– Essstörungen
– Störung des Sozialverhaltens
– Delinquenz
– Depression
Medizinische Hinweise auf hilflose Eltern II
Hinweise auf tatsächliche Gewalt oder Vernachlässigung
Beim Kind
• Verhaltensauffälligkeiten mit gestörter Kontaktaufnahme
• Schreckhaftigkeit
• Provokationen
• Nicht adäquate Aufmachung
• Schulverweigerung
• Essstörungen
• Störung des Sozialverhaltens
• Delinquenz
• Depression
Bei Schulkindern und Jugendlichen
Bei den Eltern
• Vermeidungsverhalten
• Anspannung im Gespräch
• Wechselnde Ärzte
• Gestörte Interaktion mit dem Kind
• Übertriebene Zuwendung
Sichtbare Merkmale
Hinweise auf Misshandlung
• Ältere Verletzungen an untypischen Stellen
• Nicht adäquate Anamnese von Verletzungen
Misshandlungsspuren an der Haut
Zeichnungen nach Püschel und Miltner, Institut f. Rechtsmed. Hamburg
akzidentell nicht-akzidentell
„Hutkrempen-Regel“
Zeichnung nach Püschel und Miltner, Institut f. Rechtsmed. Hamburg
nicht-akzidentell
akzidentell
Schlagspuren
Quetschung des Mundes(gewaltsames Füttern)
Hämatome an „untypischen“ Stellen
Brand-, Kneif-, Bissspuren
Spuren von Schlägen mit Stock, Gürtel etc.
Verbrennungen
Frakturen
Faustregeln
• Frakturen innerhalb des ersten Lebensjahres sind als zugefügt anzusehen bis zum Beweis des Gegenteils
• Frakturen jenseits des ersten Lebensjahres kann man als akzidentell erworben ansehen bis zum Beweis des Gegenteils
• Wiederholte Frakturen in einem überschaubaren Zeitraum sind immer auffällig
Vernachlässigung
Hinweise auf Vernachlässigung
• Nicht adäquate Aufmachung
• Entwicklungsauffälligkeiten
• Dystrophie unklarer Ursache
Fallvorstellung 1
• Diagnosen
– Schädelfraktur– Weichteilverletzung von Kopf, Hals, Orbita und Ohr
links– Dystrophie– Muskelschwund– Tiefe Zahnkaries– Anämie– Globale Entwicklungsverzögerung
Fallvorstellung 2
• Kind bei Erstvorstellung 2½ Monate alt, Vorstellung in auswärtigem Krankenhaus wegen rezidivierenden Erbrechens.
Untersuchungsbefund: reduzierte Vigilanz, berührungsempfindlich, schrilles Schreien. Große Fontanelle gespannt und vorgewölbt
Diagnose
• Schütteltrauma (shaken infant)
• Zwilling, 1 ältere Schwester
• Zustand nach langem Kinderwunsch und assistierter Reproduktion
• Vater selbständig, beruflich sehr eingespannt
• Mutter alleine zuhause, nur wenig soziale Kontakte, keine Unterstützung durch Angehörige, Freunde
• Eltern bestritten Misshandlung
• Sagten aber gleichzeitig aus, dass keine weitere Person das Kind betreut hätte
• Im Verlauf der Gespräche Einsicht, dass möglicherweise unbeabsichtigt Verletzungen zugeführt worden seien
• Geschwisterkinder in Untersuchungen unauffällig
Große Kinder, große Sorgen…
Alkoholisierte Jugendliche im Kinderkrankenhaus auf der Bult
Verteilung der stat. Aufnahmen auf die einzelnen Monate, 2005-2007
Alkoholbedingte Rauscherfahrungen nach Alter und Geschlecht in %
Außerhalb Deutschlands ?
• Je niedriger das Einstiegsalter in den Suchtmittelgenuss umso höher der Gefährdungsgrad einer Abhängigkeit
Wissenschaftliche Erkenntnis
Herkunft der Kinder
• erfolgreiche Jugendliche aus gutem sozialen Umfeld
• Gründe: nicht mehr nur Entspannung, sondern bewusstes Versetzen in einen Rauschzustand, um der Alltagsrealität zu entfliehen
• Jugendliche werden unter starken Leistungsdruck gesetzt
UNICEF-Innocenti Report 2007
15jährige, deren Eltern sich mit ihnen mehrmals pro Woche unterhalten
Vorgehen bei stat. Aufnahme wegen Alkoholvergiftung
• Verständigung der Eltern
• Stationäre Überwachung und Ausnüchterung der Jugendlichen
• Blutalkoholspiegel
• Drogenscreening
Medizinischer Schutzauftrag
• Erfassung in unserem Patientendatensystem
• Angebot der nachstationären Beratung (HaLt-Projekt, PRISMA, Drobs)
• Bei Risikoklientel Meldung an die Jugendhilfe
Zusammenfassung
Grundsätze für das Vorgehen bei V.a. Gewalt gegen Kinder
• Bei Auffälligkeiten immer an die Möglichkeit einer Misshandlung daran denken!
• Genaue schriftliche Dokumentation
• Beobachtung des Kindes und seiner Interaktion mit den Eltern
• Zeit lassen
• Eindeutige Festlegungen zum weiteren Vorgehen
• (Klares Aussprechen eines Verdachtes)
• (Ggf. Staatsanwaltschaft bzw. Polizei einschalten)
• Positive Vorbilder
• Wertesysteme
• Regeln und Grenzen
• Empathie
• Bestärkung
Was brauchen Kinder ?
• Erziehungskompetenz
• Wertesysteme
• Selbstvertrauen
• Soziale Kontrolle
Was brauchen Eltern ?
Fördern:
• Erziehungskompetenzerwerb
• Vermittlung von Wertesystemen
• Entwicklung von Selbstvertrauen
Veränderungsbedarf I
Fordern:
• Verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen2x jährlich
• Ausweitung der Vorsorgedokumentation
• Möglichkeit der Verpflichtung zur Teilnahme an Präventionsprogrammen
Veränderungsbedarf II
Veränderungsbedarf III
Fordern:
• Frühzeitige und enge Verzahnung mit Jugendhilfe erforderlich
• Austausch mit anderen Professionen
• Schutzauftrag nur im Kontext mit gesellschaftlichen Veränderungen realisierbar
Veränderungsbedarf IV
• Kompetenzerwerb im Kinderschutz bereits in der Ausbildung verankern
• Sozialpädiatrische und präventive Maßnahmen müssen besser abrechenbar sein
Quo vadis ?