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Synagogé und Anagogé. Die Aufhebung des Christentums durch das Judentum bei Franz Rosenzweig

Date post: 29-Dec-2015
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Eine kritische Untersuchung des Buches "Der Stern der Erlösung" (1921) von Franz Rosenzweig, unter Berücksichtigung von 2.000 Jahren jüdisch-christlicher Beziehungen; nebst einer rudimentären Beantwortung der Frage, ob das Deutschtum ein Judentum sei.
145
SYNAGOGÉ UND ANAGOGÉ. Die Aufhebung des Christentums durch das Judentum bei Franz Rosenzweig Magisterarbeit zur Erlangung des Grades eines Magister Artium, M.A., vorgelegt der philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn von ALEXANDER STUDTHOFF aus Bonn.
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  • SYNAGOG UND ANAGOG.

    Die Aufhebung des Christentums durch das Judentum

    bei Franz Rosenzweig

    Magisterarbeit

    zur Erlangung des Grades eines

    Magister Artium, M.A.,

    vorgelegt

    der

    philosophischen Fakultt

    der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universitt

    zu Bonn

    von

    ALEXANDER STUDTHOFF

    aus

    Bonn.

  • Die Talmudgelehrten sind sogar der Auffassung,

    der Messias werde in dem Moment kommen, wo jeder das, was er lernt, im Namen dessen,

    der es ihm beigebracht hat, zitieren wird.

    E. LEVINAS

  • INHALT

    0

    HINLEITUNG

    DIE FRAGE NACH DER JDISCH-CHRISTLICHEN TRADITION

    0.1 Die Regensburger Rede 13

    0.2 Die jdisch-christliche Tradition 14 0.3 Franz ROSENZWEIG 16

    0.4 Zur vorliegenden Arbeit 19

    I

    DIE GESCHICHTE JDISCH-CHRISTLICHER TRADITIONEN

    I.1 Sptantike: Die Genesis jdischer und christlicher Tradition 21

    I.1.a PAULUS und MARCION 22

    I.1.b Jdische und christliche Philosophie 25

    I.1.c ORIGENES und HANASI 27

    I.1.d Gnosis und Genesis 29

    I.1.e Legitimitt des Legalismus 35

    I.1.f Der Zaun um das Gesetz 37

    I.1.g Partikularismus und Universalismus 39

    I.2 Mittelalter: Evolution der Systeme 43

    I.2.a SAADIA und MAIMONIDES 45

    I.2.b Kabbala und Geschichtstheologie 48

    I.2.c T. AQUIN und SCOTUS 50

    Exkurs : Das Paradies der Gotik 52 I.2.d HALEVI, ABAELARD UND CLAIRVAUX 53

    I.3 Frhe Neuzeit: Renaissance und Reformation 57

    I.3.a Christliche Kabbala 58

    I.3.b Der zimzum Gottes bei LURIA 59

    I.3.c LUTHERS paulinische Reformation 62

    I.4.d Protestantismus und Theosophie 64

    I.4 Das 19. Jahrhundert: Emanzipation, Assimilation und Reaktion 67

    I.4.1 DER JDISCHE BLICK 68

    I.4.1.a MENDELSOHN: Die Vernunft des Gesetzes 68

    I.4.1.b KROCHMAL: Messianismus des Monotheismus 69

    I.4.1.c STEINHEIM: Die Offenbarung nach dem Lehrbegriff der Synagoge 70

    I.4.1.d BENAMOZEGH: Noachidischer Universalismus 72

    I.4.1.e PHILIPPSON: Das Christentum als notwendiger Fehler der Weltgeschichte 73

    I.4.2 DER CHRISTLICHE BLICK 74

    I.4.2.a FICHTES johanneisches Christentum 74

    I.4.2.b HEGELS Geist des Judentums 75

    I.4.2.c SCHELLINGS Philosophie der Offenbarung 77

    I.4.2.d MOLITORS jdisch-christliche Tradition 78

    I.4.2.e HARNACKS Wesen des Christentums 79

  • INHALT

    II

    DAS JDISCH-CHRISTLICHE SYSTEM IN F. ROSENZWEIGS

    DER STERN DER ERLSUNG

    II.1 Krise des alten Denkens 81

    II.1.a Zeitgeist und Volksgeist 81

    II.1.b Partikularismus und Universalismus 84

    II.2 Das Neue Denken im Stern der Erlsung 87

    II.2.a Tradition der Reduktion und die Denkbarkeit der Welt: System und Kontingenz 87

    II.2.b Der Tod als Grenze des Denkens 89

    II.2.c Theologie so wie Philosophie 91

    II.2.d Sprechende Sprache 92

    II.3 Das System im Stern der Erlsung 93

    II.3.1 DIE ELEMENTE ODER DIE IMMERWHRENDE VORWELT 94

    II.3.1.a Die Elemente: Gott, Welt und Mensch 94

    II.3.1.b Metaphysik: Der mythische Gott 95

    Exkurs : BARTHS Rmerbrief 97 II.3.1.c Metalogik: Die plastische Welt 98

    Exkurs : WITTGENSTEINS Welt 101 II.3.1.d Metaethik: Der tragische Mensch 102

    Exkurs : Der Bartlebysche Mensch 104

    II.3.2 DIE BAHN ODER DIE ALLZEITERNEUERTE WELT 106

    II.3.2.a Schpfung und Geschpf 107

    II.3.2.b Offenbarung und Seele 108

    II.3.2.c Erlsung und das Reich 110

    II.3.3 Das Problem des Islam 113

    II.3.3.a Die Frage nach dem Islm 113

    II.3.3.b ROSENZWEIGS Islambild 114

    II.3.3.c Gott und Mensch im Islam des Stern der Erlsung 115

    II.3.3.d Jdische Sunna, christliche ia? 119

    II.3.4 DIE GESTALT ODER DIE EWIGE BERWELT, bzw.:

    Die Wahrheit von Judentum und Christentum 122

    II.3.4.a Judentum: Ewiges Leben 124

    II.3.4.b Kabbalistische Kritik der Mystik 125

    II.3.4.c Christentum: Ewiger Weg 127

    II.3.4.d ROSENZWEIGS Christologie 127

  • INHALT

    III

    RESMEE

    NICNISCHE UND NIETZSCHEANISCHE THEOLOGIE

    III.1 Deutschtum und Judentum 131

    III.2 Gesetz und Zufall: Die Wiederauferstehung Gottes 133

    III.3 Synagog und Anagog: Eine christliche Theologie des Judentums? 135

    IV

    LITERATURVERZEICHNIS

    IV.1 Primrliteratur 139

    IV.2 Sekundrliteratur 139

    IV.2.a F. ROSENZWEIG 139

    IV.2.b Jdische Quellen 140

    IV.2.c Jdische Geistesgeschichte 141

    IV.2.d Christliche Quellen 143

    IV.2.e Christliche Geistesgeschichte 144

    IV.2.f Deutsche Philosophie 147

    IV.2.g Islam 148

    IV.2.h Allgemeine Geistesgeschichte 149

    IV.2.i Periodika 151

    IV.2.j Nachschlagewerke 152

  • 13

    0 HINLEITUNG

    DIE FRAGE NACH DER JDISCH-CHRISTLICHEN TRADITION

    But grief should be the instructor of the wise;

    Sorrow is knowledge: they who know the most

    Must mourn the deepest oer the fatal truth, The Tree of Knowledge is not that of Life.1

    L. BYRON

    0.1 Die Regensburger Rede

    Die Regensburger Rede2 Papst BENEDIKTS XVI. mit dem Zitat des byzantinischen Kaisers

    PALAIOLOGOS (1350-1425) ber die vermeintlich inhrente Gewaltsamkeit des Islam3 hat nicht

    nur weltweite (durchaus gewaltsame) Proteste zur Folge gehabt. Sie hat auch den Grund bereitet

    fr den ernsthaften Versuch einer systematischen Ortsbestimmung der Debatte um die christlich-

    aufgeklrte und die islamisch-unangepasste Kultur in Folge der Geschehnisse des 11. September

    2001.

    Er skizziert ein Konzept des Christentums als Harmonie von Vernunft und Glauben bzw. Grie-

    chen- und Christentum. Diese Harmonie sei durch die innerchristlichen, nominalistischen Bem-

    hungen seit D. SCOTUS (CA. 1266-1308) gestrt worden, und habe der anti-rationalen Tendenz der

    Reformatoren weichen mssen, die in I. KANT ihre Klimax gefunden habe. BENEDIKT zeichnet

    die Rolle des Gottesbildes fr Menschen- und Gesellschaftsformen in Christentum und Islam (vgl.

    II.3.3.a) und kommt dabei zu einem Bild vom islamischen Willkrherrschaftsgott, das weiterhin

    implizit einen Groteil des Diskurses um den Islam und die westlichen Werte zu bestimmen

    scheint. Zuletzt z.B. hat die sogenannte Blasphemiedebatte in den deutschen Feuilletons des

    Sommers 2012 - im Anschluss an M. MOSEBACHS Essay: Vom Wert des Verbietens4, worin er

    ein gesetzliches Verbot der Gotteslsterung fordert - wiederum diese Debatte befeuert, wie R.

    SPAEMANNS diesbezglicher Beitrag zeigt. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreibt er:

    1 BYRON, L.: Manfred, 1. Akt, 1. Szene, abrufbar unter: http://www.bartleby.com/18/6/11.html (abgerufen am 02.08.2012).

    2 BENEDIKT XVI.: Glaube, Vernunft, Universitt, abrufbar unter:

    http://www.sueddeutsche.de/muenchen/dokumentation-die-vorlesung-des-papstes-in-regensburg-1.747515

    (abgerufen am 17.07.2012). 3 Er sagt: Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden

    wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten. Der Kaiser be-grndet, nachdem er so zugeschlagen hat, dann eingehend, warum Glaubensverbreitung durch Gewalt widersinnig ist.

    Sie steht im Widerspruch zum Wesen Gottes und zum Wesen der Seele. Gott hat kein Gefallen am Blut, sagt er, und nicht vernunftgem, nicht zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider. (Ebd.) 4 Abrufbar unter: http://www.fr-online.de/kunst/kunst-und-religion-vom-wert-des-verbietens,1473354,16414828.html (abgerufen am

    17.07.2012).

  • 14

    Im alttestamentlichen Judentum ebenso wie im heutigen Islam geht es um die Ehre Gottes. Gott als hchster Ge-

    setzgeber wird durch bertretung seiner Gebote beleidigt. Diese Beleidigung muss geahndet werden, und zwar, wo

    es direkt um die Person Gottes geht, durch die hchste Strafe, das heit die Todesstrafe. Das strafende Subjekt ist

    entweder - wo es sich um einen islamischen Staat auf der Grundlage der Scharia handelt - der Staat. Wo nicht, da die

    Umma, die bernationale Gemeinschaft aller Muslime. Es ist eine Theokratie, die den Tter, wo immer sie seiner

    habhaft werden kann, durch jeden Muslim ermorden lassen darf. Die barbarischen Exekutionen der letzten Jahr-

    zehnte oder die Verhngung der Morddrohung gegenber Schriftstellern sind die logische Konsequenz einer sol-

    chen Theokratie. Wenn es nmlich berhaupt im staatlichen Recht um Gott geht, dessen Ehre strafrechtlich zu

    schtzen wre, so wre jede geringere als die Hchststrafe selbst Gotteslsterung.5

    Laut SPAEMANN ist es bisher eine offene Frage, wie der skulare Staat mit den Werten und geisti-

    gen Grundlagen umgehen soll, ohne die er nicht leben kann: Muss er sie, gegebenenfalls gegen

    besseres Wissen, ignorieren? Oder sollte er sie pflegen, frdern und privilegieren?6 Die christli-

    che Religion gehre zu den wichtigsten Wurzeln der hiesigen Zivilisation. Sogar das Grundgesetz

    spreche in der Prambel von der Verantwortung vor Gott. An SPAEMANNS uerung sticht ins

    Auge, dass er - wobei die Unbestimmtheit der Terminologie auffllt - im alttestamentlichen Ju-

    dentum und im heutigen Islam eine strukturelle Gemeinsamkeit erkennt.

    0.2 Die jdisch-christliche Tradition

    BENEDIKTS und SPAEMANNS Fokus liegt in den gegebenen Fllen zwar auf dem Christlichen der

    westlichen Welt, doch berwiegt im Sprachgebrauch des diesbezglichen Diskurses oft die For-

    mulierung der jdisch-christlichen Tradition 7. Erst anhand dieser Formulierung lsst sich der

    Bedeutungsumfang der Spaemannschen Gleichsetzung ermessen.

    Es gibt nur wenige Definitionsversuche wie den von J. HABERMAS, die tatschlich einen systema-

    tischen Kern dieser jdisch-christlichen Tradition zu erfassen versuchen:

    Der egalitre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer

    Lebensfhrung und Emanzipation, von individueller Gewissensmoral, Menschenrechten und Demokratie entsprun-

    gen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik.8

    Eine jdisch-christliche Tradition fand in Europa lange Zeit ihren ffentlich Ausdruck in den alle-

    gorischen Frauengestalten von Synagoga - der Synagoge des Judentums - und Ecclesia - der Kir-

    5 SPAEMANN, R.: Beleidigung Gottes oder der Glubigen?, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 25.07.2012, abrufbar

    unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/robert-spaemann-zur-blasphemie-debatte-beleidigung-gottes-oder-der-glaeubigen-

    11831612.html (abgerufen am 26.07.2012). 6 Ebd.

    7 Eine kompakte Darstellung der Problematik des Begriffs bietet BRUCKSTEIN ORUH, A. S.: Die jdisch-christliche

    Tradition ist eine Erfindung, in: Der Tagesspiegel, 12.10.2010, abrufbar unter:

    http://www.tagesspiegel.de/kultur/die-juedisch-christliche-tradition-ist-eine-erfindung/1954276.html (abgerufen am: 05.04.2012). Eine

    tiefergehende Analyse bietet NANCY, J.-L.: Das Jdisch-Christliche, in: COHEN, J.; ZAGURY-ORLY, R. (Hg.): Juden-tmer. Fragen fr Jacques Derrida, Hamburg 2006, S. 291-316. Vgl. auch insbesondere TAUBES, J.: Die Streitfrage

    zwischen Judentum und Christentum. Ein Blick auf ihre unauflsliche Differenz, in: STIMILLI, E. (Hg.): Jacob Taubes. Der Preis des Messianismus. Briefe von Jacob Taubes an Gershom Scholem und andere Materialien, Wrzburg 2006,

    S. 11-24. 8 HABERMAS, J.: Ein Gesprch ber Gott und die Welt, in: Ders.: Zeit der bergnge, Frankfurt a.M. 2001, S. 175.

  • 15

    che des Christentums - als Elementen der Kirchenfassade. Zumeist nimmt die Ecclesia gegenber

    der Synagoga eine triumphierende Haltung ein. Die Augen der Synagoge verdeckt eine Binde

    oder ein Schleier als Symbol der vermeintlichen Blindheit des Judentums gegenber der eigentli-

    chen, christlichen Botschaft der biblischen Offenbarung. Das siegreiche Christentum habe die

    jdische Tradition mithin delegitimiert - einer der impliziten Grundstze des christlichen Selbst-

    verstndnisses.

    Wenn nun von einer jdisch-christlichen Eigenart gesprochen wird, so ist zu schauen, ob abseits

    der offensichtlichen historischen Tradition - insofern das Christentum aus den Lehren des Juden

    Jesus und seines jdischen Schlers Saulus hervorgegangen ist - auch eine systematische Betrach-

    tung ernsthaft vorgenommen wurde; eine derartige gedankliche Gleichberechtigung beider Tradi-

    tionen in systematischer Art ist - von wenigen Ausnahmen wie MOLITOR (vgl. I.4.2.d) oder RO-

    SENZWEIG - kaum je konzipiert worden.

    Genau wie der christliche Gedanke der Aufhebung des ausgedienten Judentums, reduziert auch

    die jdische Apologetik des Christentums (bzw. des Islams) mittelalterlicher Kommentatoren wie

    M. MAIMONIDES und Y. HALEVI das Andere des Gegenbers auf das Eigene. Das jdisch-

    christliche Verhltnis changiert derart zwischen Ablehnung und Ignoranz, findet aber auch ber-

    raschende Wendungen, z.B. in der Forderung des katholischen Theologen und Priesters H. WOLF

    in der Sddeutschen Zeitung, zwecks Reformen der katholischen Kirche ausgerechnet die Metho-

    dik der jdischen Tradition zu konsultieren:

    Denn im Talmud wurde in der Mischna, dem Haupttext, zwar jeweils die Mehrheitsmeinung zu einem bestimmten

    Thema aufgeschrieben. In der Tossefta wurden jedoch auch alle damals unterlegenen, mitunter uerst kontrren

    Minderheitspositionen notiert, auch wenn sie nur von einem einzigen Gelehrten vertreten worden waren. Auf die

    Frage eines Schlers, warum man denn die unterlegenen Meinungen nicht einfach vernichtet und nur die Mehr-

    heitsmeinung tradiert habe, antwortet ein jdischer Rabbi: Damit man sich auf sie wird sttzen knnen, wenn ein-

    mal ihre Stunde kommt.9

    Neben einer solchen Offenheit fr Einzelheiten bleibt aber ein grundlegendes Problem im Ver-

    hltnis von Juden- und Christentum bestehen.

    Noch K. BARTH (1886-1968), der Dogmatiker des modernen Protestantismus, betont den imma-

    nenten Widerspruch der jdisch-christlichen Beziehung, wie Y. LEIBOVITZ es formuliert:

    Barth betonte den extremen Gegensatz zwischen Judentum und Christentum. [] Barth schreibt, die Fortexistenz des Judentums sei eine Wunde im Krper Jesu. Es ist fr ihn unmglich, da es nach Jesus weiterhin eine legitime

    Existenz eines Judentums gibt, das nicht christlich ist. Derartiges ist nach christlichem Verstndnis unzulssig. Die

    Synagoge sei die Synagoge des Satans. [] In bezug auf die Juden sagt er, da wir alle - Juden und Nicht-Juden -

    Menschen sind. Aber das Judentum verwarf er vllig. Schon die Existenz des Judentums ist nach Barths Ansicht ei-

    ne Gotteslsterung.10

    9 WOLF, H.: Es ging auch anders, in: Sddeutsche Zeitung, 14./15.08.2012, S. 10.

    10 LEIBOVITZ, J.; SHASHAR, M.: Gesprche ber Gott und die Welt, Frankfurt a.M. 1994, S. 75f.

  • 16

    LEIBOVITZ dementsprechende (dezidiert jdische) Haltung gegenber dem Christentum ist nicht

    weniger harsch, denn es

    gibt noch nicht einmal eine Verneinung des Christentums innerhalb des Judentums. Das Christentum existiert ein-

    fach nicht. Das ist selbstverstndlich richtig und wundervoll. Der Ritus des Jom-Kippur bleibt genau der gleiche Ri-

    tus, ohne nderung eines Buchstabens, mit oder ohne Jesu Erscheinen. Das Schicksal des jdischen Volkes wre

    anders verlaufen, wenn die Welt nicht christlich geworden wre, aber nicht das Schicksal des Judentums, fr das das

    Christentum eigentlich nicht existiert!11

    J. TAUBES formuliert sinngleich:

    Fr die Kirche besteht ein jdisches Mysterium, die Synagoge kennt aber kein christliches Mysterium. Fr den

    jdischen Glauben kann die christliche Kirche keinerlei religise Bedeutung haben.12

    Er zieht ein klares Fazit der stets zugrundeliegenden Problematik des von ihm als

    jdischchristliche Beziehungen bezeichneten Verhltnisses:

    Zwar sind die unmittelbaren Probleme der jdischchristlichen Beziehungen vorwiegend sozialer und politischer Na-

    tur, doch rechtfertigt dies nicht, die Revision der zugrundeliegenden Problematik noch lnger aufzuschieben. Dieses

    aber ist ein theologisches Problem, und aus ihm erst entstehen alle sozialen und politischen Fragen.13

    0.3 Franz ROSENZWEIG

    Dass eine dezidiert andere Lesart des jdisch-christlichen Verhltnisses mglich ist, die gerade

    den theologischen Kern dieser Beziehung berhrt, beweist das Werk eines Zeitgenossen K.

    BARTHS, nmlich das von Franz ROSENZWEIG (1886-1929).

    Nach dem Besuch der Synagoge am Yom Kippur ( : Vershnungstag) als dem hchsten

    Feiertag der jdischen Liturgie14

    - erkennt er keine Notwendigkeit mehr, zum Christentum zu

    konvertieren, wie viele seiner jdischen Zeitgenossen es ihm vorgemacht und wozu sie auch ihn

    berzeugt hatten:

    Ich bin in langer und, wie ich meine, grndlicher berlegung dazu gekommen, meinen Entschlu zurckzunehmen.

    Er scheint mir nicht mehr notwendig und daher, in meinem Fall, nicht mehr mglich. Ich bleibe also Jude.15

    Und er fhrt fort: Bei uns kennt man das Christentum berhaupt nicht. Man wei nicht, wie sich einer der groen mo-

    dernen Denker des Christentums, von dem man auf keinen Fall und unter keinen Umstnden sagen kann, er sei Antise-

    mit gewesen - wie sich dieser Mensch dem Judentum gegenber verhlt. Ich aber verstehe sehr wohl, da das Judentum

    als lebendige Religion der Beweis dafr ist, da das Christentum Lug und Trug ist, und daher kann das Christentum

    nicht zulassen, da das Judentum noch als lebende Religion existiert. Judentum ist in den Augen des Christentums

    schlicht ein Monster. 11

    LEIBOVITZ, J.; SHASHAR, M.: Gesprche ber Gott und die Welt, S. 78. 12

    TAUBES, J.: Die Streitfrage zwischen Judentum und Christentum, S. 14. 13

    Ebd., S. 11. 14

    Interessant ist hierbei, was PERLES ber das frhe jdisch-christliche Verhltnis schreibt - nmlich, dass eine aggres-

    sive jdische Polemik im persischen Reich eine nachdrckliche Verteidigung notwendig machte, und [] da viele Christen in Antiochien so stark angezogen waren durch die jdischen Feste und andere Zeremonien, besonders durch

    das groe Fasten des Vershnungstages, da die Befrchtung nahelag, ihre jdische Voreingenommenheit knnte sie

    weiter fhren als zum bloen Zuschauen. (PERLES, R.: Das Judentum in christlicher Darstellung, in: Ost und West:

    illustrierte Monatsschrift fr das gesamte Judentum, Nr. 3-4, Berlin 1922, S. 95). 15

    ROSENZWEIG, F.: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften I: Briefe und Tagebcher, Haag 1979, S. 132.

  • 17

    Sein aufschlussreichster Gesprchs- und Denkpartner, E. ROSENSTOCK, zeichnet in einem Ant-

    wortschreiben - wenn auch unter umgedrehten Vorzeichen - in drastischer Wortwahl einige der

    Grundideen von ROSENZWEIGS Stern der Erlsung (1923) voraus:

    Das Judentum verhindert und sperrt Ihnen Mitatmen und Stoffwechsel mit der Welt. Nicht nur das Kreuz ist ein r-

    gernis und eine Torheit, mein Freund [] Ahasver, sondern auch die Beschneidung. Ihr seid ein Strunk, der weder Zweige noch Bltter und Blten treiben kann und soll, wegen Eures Euch die Unbefangenheit der Liebe versto-

    ckenden Eigenwillens. Ihr Habschtigen, die Ihr die Synagoge und die Reichsschule geniet und genieen wollt ne-

    beneinander!16

    ROSENZWEIGS Beharren auf dem Judentum wird so zum Los des Ahasver als dem Ewigen Ju-

    den, der im Stern der Erlsung als das ewige Leben des Judentums gegenber dem ewigen

    Weg des Christentums wiederkehren wird. Die Namen der Dialogpartner bezeugen eine groe

    Ironie der Geschichte: ROSENZWEIG wird ROSENSTOCKS Bild vom Strunk, der weder Zweige

    noch Bltter und Blten treiben kann und soll zu Ende seines Stern der Erlsung (S. 421) auf-

    greifen und fragen: Wei der Baum, da er nichts will als Frucht bringen, die seines lngst ver-

    gangenen Samens Ebenbildnis birgt?17 ROSENZWEIG bietet nun eine ebenso berraschende Deu-

    tung jenes Gleichnisses von Synagoga und Ecclesia in einem Brief an seinen ebenfalls zum Pro-

    testantismus konvertierten Freund F. EHRENBERG:

    So sind Kirche und Synagoge aufeinander angewiesen. Die Synagoge, unsterblich, aber mit gebrochenem Stab und

    die Binde vor Augen, mu selbst auf alle Weltarbeit verzichten und alle ihre Kraft darauf verwenden sich selbst am

    Leben und rein vom Leben zu erhalten. So berlt sie die Weltarbeit der Kirche und erkennt in ihr das Heil fr alle

    Heiden, in aller Zeit.18

    In diesen Zeilen deutet sich der Versuch jener gedanklichen Gleichberechtigung von Juden- und

    Christentum an, die ROSENZWEIG in seinem Hauptwerk, dem Stern der Erlsung von 1923, sys-

    tematisch auszuarbeiten versucht. ROSENZWEIGS Denken, hat - abgesehen von der Zsur des Ho-

    locaust,19

    nicht zuletzt aufgrund seiner von SCHOLEM konstatierten Versonnenheit20 - erst rela-

    tiv spt nach der Verffentlichung seiner Gedanken ernsthafte Beachtung und Auseinanderset-

    zung gefunden.

    Man kann ROSENZWEIG nun einerseits, wie z.B. S. TALMON, sehen als einen

    16

    Brief von E. ROSENSTOCK an F. ROSENZWEIG vom 31.12.1916. 17

    ROSENZWEIG, F.: Der Stern der Erlsung, Frankfurt a.M. 1988, S. 421. 18

    ROSENZWEIG, F.: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften I, S. 135. 19

    Interessant ist hierbei, was SCHULTE ber MOLITOR sagt, nmlich, dass dieser mit seinen Bestimmungen zum Ver-

    hltnis von Juden und Christen der Avantgarde aktueller, besonders protestantischer Post-Shoah-Theologie im jdisch-

    christlichen Dialog voraus ist, ante eventum und mit weit grerer Kenntnis des Judentums. Molitor deutet darauf hin,

    da diese Verhltnisbestimmungen von Christentum und Judentum per se unerllich sind, und nicht, wie viele heute

    meinen, allein der Shoah wegen ntig werden. (SCHULTE, C.: Scholem und Monitor, in: GOODMAN-THAU, E.; MAT-

    TENKLOTT, G.; SCHULTE, C. [Hg.]: Kabbala und Romantik, Tbingen 1994, S. 154). 20

    SCHOLEM, G.: Zur Neuauflage des Stern der Erlsung, in: Ders.: Judaica 1, Frankfurt a.M. 1963, S. 224.

  • 18

    der letzten jdischen Apologeten - zugleich als einen der hervorragendsten und vielleicht den ersten modernen jdi-

    schen Theologen, der es sich zur Aufgabe machte, systematisch eine jdische Theologie zu erarbeiten, die der christ-

    lichen die Waage halten knnte.21

    G. SCHOLEM hingegen - dessen Beziehung zu ROSENZWEIG so konfliktreich wie konstruktiv war -

    verortet die

    Richtung Rosenzweigs [] - die einer Festigung der Tradition in einer Form, die ich kirchlich nenne, - [] weit

    von dem, was sich im Land als Zentrum der Erneuerung des Judentums herausbildet.22

    Der Stern der Erlsung wird nun oftmals der Pointe geziehen, er hebe in seinen apologetischen

    Bemhungen um das Judentum das Christentum im letzteren als dessen Ziel auf: Das Judentum

    - so Rosenzweig in Umkehrung aller bisherigen Geschichtstheologie - befinde sich bereits dort,

    wohin die dem eigenen Anspruch nach schon erlste Christenheit erst strebe23 (M. BRUMLIK).

    Also verkrpert die Synagoge die messianische Verheiung und treibt die in die Geschichte

    verwickelte Kirche dazu an, die Geschichte ber sich selbst hinaus zum eschaton hinzufhren24

    (P. MENDES-FLOR).

    So es sich beim Stern der Erlsung tatschlich um den Versuch einer wirklichen Gleichberechti-

    gung handelt, mssen derartige Interpretationen ROSENZWEIGS Impetus und Absicht notwendiger

    Weise verfehlen. In Das neue Denken (1925) sagt er vom Stern der Erlsung explizit, dieser sei

    berhaupt kein jdisches Buch, wenigstens nicht das, was sich die Kufer, die mir so bse waren, unter einem j-

    dischen Buch vorstellen; er behandelt zwar das Judentum, aber nicht ausfhrlicher als das Christentum, und kaum

    ausfhrlicher als den Islam. Er macht auch nicht etwa den Anspruch, eine Religionsphilosophie zu sein - wie knnte

    er das, wo das Wort Religion berhaupt nicht darin vorkommt! Sondern er ist blo ein System der Philosophie.25

    Andererseits jedoch weist ROSENZWEIG den Vorschlag seines christlichen Vetters H. EHRENBERG,

    den Stern der Erlsung in einem christlichen Verlag erscheinen zu lassen, entschieden zurck,

    denn ein jdisches Buch unter christlicher Flagge - ist kein jdisches Buch mehr Ich mte

    den Stern als ein jdisches Buch auftreten lassen, selbst wenn er ebenso christlich als jdisch

    wre [] was er wirklich nicht ist.26

    21

    TALMON, S.: Das Verhltnis von Judentum und Christentum im Verstndnis Franz Rosenzweigs, in: SCHAEFFLER,

    R.; KASPER, B.; TALMON, S.; AMIR, Y. (Hg.): Offenbarung im Denken Franz Rosenzweigs, Essen 1979, S. 120. 22

    Zitiert nach BROCKE, M.: Franz Rosenzweig und Gerhard Gershom Scholem, S. 18, abrufbar unter:

    http://www.steinheim-institut.de/edocs/bpdf/michael_brocke-franz_rosenzweig_und_gerhard_gershom_scholem.pdf

    (abgerufen am 22.07.2012). 23

    BRUMLIK, M.: Aus der Sicht eines Bleibenden. Franz Rosenzweigs Philosophie des Christentums, in: STEGMEIER,

    W. (Hg.): Die philosophische Aktualitt der jdischen Tradition, Frankfurt a.M. 2000, S. 418. 24

    MENDES-FLOR, P.: Franz Rosenzweig, in: ERLER, H.; EHRLICH, E. L.; HEID, L. (Hg.): Meinetwegen ist die Welt erschaffen. Das intellektuelle Vermchtnis des deutschsprachigen Judentums, Frankfurt a.M. 1997, S. 143. 25

    ROSENZWEIG, F.: Das neue Denken. Einige nachtrgliche Gedanken zum Stern der Erlsung, in: Ders.: Der Mensch und sein Werk. III. Zweistromland: kleinere Schriften zu Glauben und Denken, Haag 1984, S. 140. 26

    Zitiert nach AMIR, Y.: Das spezifisch Jdische im Denken Rosenzweigs, in: SCHAEFFLER, R. (Hg.): Offenbarung im

    Denken Franz Rosenzweigs, S. 143.

  • 19

    BRUMLIK zufolge lt sich nur noch das unerhrte Anregungspotential des Sterns bewundern - in

    der Sache trgt dieses Werk nicht mehr.27 Abgesehen von den inhaltlichen Anregungen - in Be-

    zug auf das Christentum womglich mehr als auf das Judentum - liefert das Werk den geistigen

    Przedenzfall der Debatte ber Leitkultur und Integration in systematischer Ausfhrung: Der

    Konstruktion jdisch-christlicher Tradition stellt ROSENZWEIG explizit den Islam als Ausgeschlos-

    senen gegenber, in Abgrenzung zu dem sich die Wahrheit jdisch-christlichen Lebens erweise.

    ROSENZWEIGS Anstzen existentialistischen Denkens wird eine Beeinflussung HEIDEGGERS abge-

    sprochen,28

    entsprechend der generellen Nichtbeachtung, die dem Stern der Erlsung und RO-

    SENZWEIGS anderen Schriften (auer seiner Bibelbersetzung in Zusammenarbeit mit dem we-

    sentlich prominenteren M. BUBER) zuteil wurde.

    Dass er nicht ganz ohne - wenn auch unterschwellige - Wirkung geblieben ist, glaubt G. PALMER

    erkannt zu haben. Ihr fllt auf,

    was dann in den Interessenkoinzidenzen etwa von Kenneth Reinhard, Slavoj iek und Giorgio Agamben berdeut-

    lich zu Tage tritt: Dass vieles an einer neuen Paulus-Lektre durch ein Studium des Stern der Erlsung hindurchge-

    gangen ist.29

    0.4 Zur vorliegenden Arbeit

    Die vorliegende Arbeit soll ROSENZWEIGS Verhltnisbestimmung von Juden- und Christentum

    nachgehen, wie er sie speziell im dritten Buch des Stern der Erlsung entfaltet, und in Verhltnis

    setzen zu der Frage nach dem historisch-kritischen Begriffsumfang und -inhalt der jdisch-

    christlichen Tradition.

    Teil I, Die Geschichte jdisch-christlicher Traditionen, bemht sich - in Entsprechung zur

    polyhistorischen Ambition des Stern der Erlsung - um einen umfassenden zeit- und geistesge-

    schichtlichen Aufriss der Konstitution jdischen und christlichen Selbst- und Fremdverstndnisses

    vom Johannes-Evangelium bis hin zur Zeit ROSENZWEIGS.

    Dabei erfhrt die Sptantike als Genesis der jdisch-christlichen Beziehung besondere Aufmerk-

    samkeit; nach dem Mittelalter und der Frhen Neuzeit liegt der Schwerpunkt auf dem deutschen

    Geistesleben des 19. Jahrhunderts als dem (nach-)kantischen der Religionskritik, das den Boden

    fr ROSENZWEIGS Denken bereitet.

    27

    BRUMLIK, M.: Aus der Sicht eines Bleibenden, S. 416. 28

    Man beachte jedoch MOSS offensichtlichen Zweifel an dieser Isolation HEIDEGGERS von ROSENZWEIG, in: MOSS, S.: System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs, Mnchen 1985, S. 225-230. 29

    PALMER, G.: Produktives Scheitern? Versuch einer Antwort auf Wayne Cristaudo, in: BRASSER, M. (Hg.): Rosenz-

    weig Jahrbuch 2. Kritik am Islam, Freiburg/Mnchen 2007, S. 94.

  • 20

    Teil II, Das jdisch-christliche System in F. ROSENZWEIGS Stern der Erlsung, widmet sich

    ebendiesem System, wie der Stern der Erlsung es entfaltet. Hierbei verdient das ganze System

    der Philosophie30 - als gedanklicher Rahmen der eigenartigen Symbiose des jdisch-christlichen

    Verhltnisses, wie ROSENZWEIG sie postuliert - entsprechende Aufmerksamkeit.

    Der historischen Besonderheit der Nach- bzw. Zwischenkriegszeit des Europas zu Lebzeiten RO-

    SENZWEIGS sind die Exkurse zu anderen Denkern jener Zeit geschuldet, die - wie K. BARTH oder

    L. WITTGENSTEIN - in hnlichen Umstnden zu bestechend hnlichen (Neu-)Konzeptionen wie

    ROSENZWEIG gelangen.

    Strker noch als aufgrund der Aktualitt des Themas denn wegen ihrer innersystematischen Be-

    deutung erfhrt ROSENZWEIGS Analyse des Islam - als die Negativfolie, von der sich Judentum

    und Christentum in der Wahrheit ihrer symbiotischen Beziehung abheben - ebenfalls genauere

    Beachtung (II.3.3).

    Teil III, Nicnische und Nietzscheanische Theologie, liefert das Resmee als die In-

    Verhltnissetzung von Teil I (die Geschichte jdisch-christlicher Tradition) und Teil II (das Sys-

    tem jdisch-christlicher Tradition Rosenzweigscher Prgung), und versucht das ungeheure An-

    regungspotential, welches BRUMLIK dem Stern der Erlsung attestiert, auszuleuchten.

    Hier wird nun insbesondere die Frage zu behandeln sein, ob der Stern der Erlsung seiner Form

    nach zwar der Davidstern, von seinem Inhalt her aber schlielich nicht doch eher der Stern von

    Bethlehem ist.

    30

    ROSENZWEIG, F.: Das neue Denken. Einige nachtrgliche Bemerkungen zum Stern der Erlsung, S. 140.

  • 21

    I

    DIE GESCHICHTE JDISCH-CHRISTLICHER TRADITIONEN

    I.1 Sptantike: Die Genesis jdischer und christlicher Tradition

    Die Sptantike als formative Periode sowohl der christlich-jdisch-westlichen als auch der islami-

    schen Kultur erfhrt zuletzt wieder grere Aufmerksamkeit. A. NEUWIRTH liest den Koran als

    Text der Sptantike31

    und stt hierbei auf Querverbindungen in die christlich-aramische Litera-

    tur, wie G. LLING sie in seinem Werk ber den Ur-Quran32 zuvor aufgetan hatte, und welche C.

    LUXENBERG dazu veranlassen, den Koran in groen Teilen als schlichte, fehlerhafte bertragung

    christlicher und jdischer Texte zu betrachten.33

    G. STROUMSA moniert in seinen Studien zu den Religisen Mutationen der Sptantike, dass das

    Judentum in den Untersuchungen ber die religisen Transformationen der Sptantike nur selten

    Erwhnung finde.34 In Rckgriff auf - und gleichzeitig in Kontrast zu - K. JASPERS verortet

    STROUMSA die Achsenzeit35 in der Sptantike, die mit ihrer Aufgabe des Opferkultes eine fun-

    damentale Vergeistigung religisen Lebens bewirkt habe.36

    31

    NEUWIRTH, A.: Der Koran als Text der Sptantike. Ein europischer Zugang, Berlin 2011. 32

    LLING, G.: ber den Ur-Qur'an. Anstze zur Rekonstruktion vorislamischer christlicher Strophenlieder im Quran, Erlangen 1974. 33

    LUXENBERG, C.: Die syro-aramische Lesart des Koran, ein Beitrag zur Entschlsselung der Koransprache, Berlin

    2007. Vgl. auch die sehr ambitionierte These von BEAUFORT, J.: Arianer und Aliden. ber die gnostischen Ursprnge

    des Christentums und der Shiat Ali, in: Zeitensprnge, Jg. 21, H. 1, 2009. Abrufbar unter: http://www.radikalkritik.de/Arianer_%20Aliden_1.PDF (abgerufen am 09.06.2012). Ebenso die Replik: MLLER, Z. A.: Zu-

    rckweisung der Idee, Arianer seien Aliden. Replik auf Jan Beaufort, in: Zeitensprnge, Jg. 21, H. 2, 2009, 374-382,

    abrufbar unter: http://www.symbolforschung.de/media/Volltexte/Arianer%20und%20Aliden.pdf (abgerufen am: 09.06.2012). 34

    STROUMSA, G. : Das Ende des Opferkults. Die religisen Mutationen der Sptantike, Berlin 2012, S. 24. Vgl. dazu

    auch, was TRAVERS HERVORD 1903 feststellt: There is a Jewish literature which also needs to be examined. Considering that, historically, Christianity is an outgrowth from Judaism, and that the Judaism with which the origin of Christianity

    was contemporary was the Judaism not of the prophets but of the Rabbis, it is obvious that the Rabbinical literature must

    also be consulted if a thorough investigation into the origin of Christianity is to be made. The necessity of examining the

    Rabbinical literature is of course denied by no scholar who has written on early Christian history, but such examination

    cannot be said to have been as yet thoroughly carried out. For the most part a few references are given to passages in the

    Mishnah and the Gemaras, or a line or two translated. (TRAVERS HERVORD, R.: Christianity in Talmud and Midrash, London 1903, S. vii). 35

    Der Philosoph Karl Jaspers hatte einen Groteil des vorchristlichen Jahrtausends als Achsenzeit bezeichnet, in der in unterschiedlichen, oft imperialen Zivilisationen die Herausbildung einer hierarchischen Differenzierung zwischen

    sichtbarer und unsichtbarer, materieller und geistiger Welt zu beobachten sei. Konfuzius, Buddha, Zarathustra, die Pro-

    pheten Israels und die ersten griechischen Philosophen waren fr Jaspers typische Beispiele dieses intellektuellen und

    religisen Wandels. (STROUMSA, G. : Das Ende des OpferkultsS. 26). 36

    Die Zerstrung des Jdischen Tempels nach seinem fast tausendjhrigen Bestehen und Betrieb mute unmittelbare

    und mittelbare Folgen haben, die noch lange nicht alle erkannt und analysiert sind. Eine dieser Folgen war natrlich die

    Entstehung nicht nur einer, sondern mindestens zweier neuer Religionen, des Christentums neben dem rabbinischen

    Judentum, sowie die diversen dualistischen Strmungen, die unter der Bezeichnung Gnosis zusammengefat werden. Es

    sei sogleich festgestellt [], da in gewisser Weise beide Religionen, das rabbinische Judentum und das Christentum,

    Opferreligionen geblieben sind, allerdings sehr spezielle, da sie fortan auf das Tieropfer verzichteten. (STROUMSA, G.:

    Das Ende des OpferkultsS. 94f.).

  • 22

    Der Wandel der Lebenswelt - in Folge der Tempelzerstrung und parallel zur Ausbildung der

    christlichen Lehre - bezeichnet ein fr das Judentum so dezisives Moment wie die Entstehung des

    Christentums fr das Christentum.

    I.1.a PAULUS und MARCION

    PAULUS (1. Jhd.) markiert diese Scheide von jdischer und christlicher Denktradition. In seinem

    Rmerbrief (7,6) formuliert er Gesetz (, nomos) und Geist (, pneuma) als die jewei-

    ligen Konstitutive von Juden- bzw. Christentum: Nun aber sind wir vom Gesetz los und ihm ab-

    gestorben, da uns gefangenhielt, also da wir dienen sollen im neuen Wesen des Geistes und

    nicht im alten Wesen des Buchstabens.37 Gegenber dem Wesen des Buchstabens in der heb-

    rischen Torh (nomos) verkndet PAULUS deren eigentliche, nunmehr christliche Bedeutung.38

    Er formuliert auch die Betonung der Liebe, die - als Antithese zur Gerechtigkeit des jdischen

    Gesetzes - in der weiteren Geschichte einer der Hauptbegriffe in der Auseinandersetzung mit dem

    Judentum sein wird: Die Liebe tut dem Nchsten nichts Bses. So ist nun die Liebe des Gesetzes

    Erfllung [ ].

    Das Neue Testament des Evangeliums (: Gute Nachricht) als Dokument der Mensch-

    werdung Gottes - fr PAULUS ist Christus an die Stelle der Thora als Heilsweg getreten39 - tritt in

    ein prekres Verhltnis zur Offenbarung des Alten Testaments. Schon das Johannes-Evangelium

    formuliert diesen Bruch des Alten Testaments, wie BULTMANN ihn zusammenfasst:

    37

    Vgl. hierzu auch SCHAEDER: Mit einer groartigen, aber doch gewaltsamen Einseitigkeit hat Paulus den Kontrast von

    Gesetz und Geist auf den Gegensatz von Judentum und Christentum umgemnzt. Richtig daran ist, da die Predigt Jesu

    in der Tat mit der absoluten Akzentsetzung auf dem Individuell-Seelischen steht und fllt. [] Andererseits aber ist das

    eschatologische Moment, die Verkndigung des nahen, ja schon gegenwrtigen Gottesreiches als eines vllig neuen

    Zustandes der Seele, der Kern seiner Predigt; und damit war der Impuls zu jenem religisen Individualismus gegeben,

    der ebensowohl Luterung des Geistes und Erstarkung des ttigen Lebens wie fruchtlosen Enthusiasmus und Zgellosig-

    keit des Gefhlsberschwangs im Gefolge haben konnte. (SCHAEDER, H.H.: Der Mensch in Orient und Okzident, Mn-

    chen 1960, S. 256f). Ebenso AGAMBEN: Deswegen kann Paulus an einer wichtigen Stelle (Rm. 3,27) dem nomos tn

    ergn einen nomos pstes gegenberstellen, d.h. ein Gesetz des Glaubens. Die Antinomie verluft also nicht zwischen zwei getrennten und vllig heterogenen Prinzipien, sondern betrifft eine Opposition im Innern des nomos selbst, die

    Opposition zwischen einem normativen und einem promissorischen Element des Gesetzes. Es gibt etwas im Gesetz, das

    das Gesetz konstitutiv berschreitet und das fr es irreduzibel ist. [] Das messianische Gesetz ist das Gesetz des Glau-

    bens und nicht einfach die Negation des Gesetzes: Das bedeutet aber nicht, da die alten Miswoth durch neue Gebote

    ersetzt werden mten - es geht vielmehr darum, der normativen Vorstellung vom Gesetz mit einer nichtnormativen

    Vorstellung zu begegnen. (AGAMBEN, G.: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Rmerbrief, Frankfurt a.M. 2006, S. 108f). 38

    Vgl. STROUMSA: Die heiligen Bcher der Christen sind in erster Linie die der Juden, auf hebrisch geschrieben, einer Sprache, die selbst die christlichen Intellektuellen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht lesen konnten. Hebraica

    veritas, die philologische Devise des Hieronymos, war zur Wirkungslosigkeit verurteilt. [] Was ntze es, da doch die bersetzung der Septuaginta vom Heiligen Geist inspiriert sei, so Augustinus Antwort, sich um das Original zu km-

    mern? [] Damit allen Vlkern das Heil durch Christus zuteil werde, mu seine Offenbarung bersetzt werden. (STROUMSA, G.: Das Ende des Opferkults, S. 63f.). 39

    FRENSCHKOWSKI, M.: Paulus, in: VINZENT, M. (Hg.): Metzler Lexikon christlicher Denker, Stuttgart/Weimar 2000,

    S. 538.

  • 23

    Das fr den Evglisten charakteristische fat die Juden in ihrer Gesamtheit zusammen, so wie sie als Ver-treter des Unglaubens (und damit, wie sich zeigen wird, der unglubigen Welt berhaupt) vom christlichen Glau-

    ben aus gesehen werden. Nicht nur vom Blickpunkt der griechischen Leser aus wird von den Juden als einem frem-

    den Volk geredet, sondern auch und erst recht vom Blickpunkt des Glaubens aus; denn Jesus selbst redet zu ihnen

    wie ein Fremder; und dementsprechend erscheint jemand, in dem sich der Glaube oder auch nur das Fragen nach Je-

    sus regt, im Gegensatz zu den Juden, auch wenn er selbst ein Jude ist; Die sind eben das jdische Volk

    nicht in seinem empirischen Bestande, sondern in seinem Wesen.40

    So fordert also - N. GLATZER zufolge - in PAULUS Interpretation der Offenbarung

    der radikale Glaube an Gottes Gnade und an die Erlsung durch Christus, die dem christlichen Menschen zuteil wird,

    [] die Auflsung des Gesetzes, als einer dem Gottesvolke verliehenen Verfassung. Dieser Schritt bezeichnet den

    bergang vom Judenchristentum zum Heidenchristentum, das von nun an das Schicksal der neuen Religion be-

    stimmt.41

    Dieses Heidenchristentum des PAULUS findet sich - nach seinem Bruch mit der Tradition, der es

    entwachsen ist - in einer Kluft wieder, die der rmische Kaiser JULIANUS (331-363) in Contra

    Galilaeos (Gegen die Galiler) den Christen vorhlt:

    Von beiden Seiten habt ihr nmlich keineswegs das Beste, sondern vielmehr das Schlechteste bernommen und habt

    so ein Netz des Bsen fr euch abgesondert. Die Hebrer besitzen genaue Gesetze ber den Gottesdienst und zahllo-

    se heilige Dinge und Vorschriften, die ein priesterliches Leben und eine priesterliche Gesinnung verlangen. Obwohl

    ihnen aber von ihrem Gesetzgeber verboten worden war, irgendeinem anderen Gott zu dienen als dem einen, dessen

    Anteil Jakob ist und dessen Erbteil Israel, und obwohl dieser nicht nur das sagte, sondern, wie ich meine, auch hinzu-

    fgte: Ihr sollt keine Gtter schmhen, hat doch die Schamlosigkeit und Unbesonnenheit spterer Generationen, die

    alle Gottesfurcht des Volkes vernichten wollte, gedacht, da Blasphemie die Vernachlssigung des Gottesdienstes

    begleite. Und dies ist in der Tat das einzige, was ihr aus dieser Quelle bernommen habt, denn in jeder anderen Hin-

    sicht habt ihr mit ihnen nichts gemein. [] Die Verehrung eines jeden hheren Wesens, die unsere Religion kenn-

    zeichneten, habt ihr jedoch zusammen mit der Liebe zu den Traditionen unserer Vter abgelegt und nur die Ge-

    wohnheit bernommen, alle Dinge zu essen.42

    PAULUS selbst formuliert die Daseinsberechtigung des jdischen Volkes gegenber der christli-

    chen Lehre mit seiner Rolle im Heilsplan Gottes (Rm. 11,1):

    Hat Gott sein Volk verstoen? Keineswegs! [] Gott hat sein Volk nicht verstoen, das er einst erwhlt hat. [] Verstockung liegt auf einem Teil Israels, bis die Heiden in voller Zahl das Heil erlangt haben; dann wird ganz Israel

    gerettet werden, [] Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewhrt. Und wie ihr einst Gott unge-horsam wart, jetzt aber infolge ihres Ungehorsams Erbarmen gefunden habt, so sind sie infolge des Erbarmens, das

    ihr gefunden habt, ungehorsam geworden, damit jetzt auch sie Erbarmen finden. Gott hat alle in den Ungehorsam

    eingeschlossen, um sich aller zu erbarmen.43

    Diese Barmherzigkeit, als der Geist in bzw. ber dem Gesetz, offenbart sich in der Gnade Gottes

    gegenber dem Menschen, was einer der bedeutsamsten Denker der frhchristlichen Zeit ausgear-

    beitet hat, MARCION (ca. 85-160). A. HARNACK (1851-1930) wird am Ende des 19. Jahrhunderts

    formulieren, dass der Katholizismus gegen Marcion erbaut44 worden sei. Diese Rolle

    MARCIONS als Reformator des erst noch zu Reformierenden formuliert H. BLUMENBERG in ihrer

    40

    BULTMANN, R.: Das Evangelium des Johannes, Gttingen 1959, S. 59. 41

    GLATZER, N.N.: Geschichte der talmudischen Zeit, Neukirchen-Vluyn 1981, S. 163. 42

    Zitiert nach SCHOEPS, J.H.; WALLENBORN, H. (Hg.): Juden in Europa. Ihre Geschichte in Quellen. Von den Anfngen

    bis zum Ende des Mittelalters, Darmstadt 2001, S. 105. 43

    Zitiert nach SCHOEPS, J. H.; WALLENBORN, H. (Hg.): Juden in EuropaS. 106. 44

    HARNACK, A.: Marcion: Das Evangelium vom fremden Gott, Leipzig 1924, S. V.

  • 24

    ganzen Wirkmchtigkeit (Die milungene Abwendung der Gnosis als Vorbehalt ihrer Wieder-

    kehr45). Ihm zufolge hat

    Marcion [] die Logik als Problem der ganzen ungeheuren Literatur deutlich gemacht, die die patristische Epoche

    hervorgebracht hat. Der Systemwille der Gnosis hat die sich konsolidierende Grokirche gezwungen, sich zu dogma-

    tisieren. [] Die Welt als Schpfung aus der Negativierung ihres demiurgischen Ursprungs zurckzuholen und ihre

    antike Kosmos-Dignitt in das christliche System hinberzuretten, war die zentrale Anstrengung, die von Augustin

    bis in die Hochscholastik reicht.46

    MARCIONS Lehre vom demiurgischen Gott der jdischen Schpfungsgeschichte im Buche Gene-

    sis gegenber dem fremden Gott des Evangeliums bestreitet der Antike [] den Kosmos als

    den Inbegriff der aus sich verbindlichen Wirklichkeit, dem Christentum den Zusammenhang von

    Schpfung und Erlsung als Werk des einen Gottes.47 Der entscheidende Gegensatz zum neopla-

    tonischen und anderen Systemen der Gnosis liegt in der Asymmetrie des Heilsprozesses zu seiner

    Vorgeschichte. Der von MARCION skizzierte Weg ist keine Anaklisis als Wiederherstellung eines

    ursprnglichen Zustandes, dessen Unterbrechung er aufhbe. Der Mensch kehrt bei MARCION

    nicht aus der fremden Welt in seine transzendente Heimat zurck, welche er nie htten verlassen

    drfen, sondern, wie HARNACK es formuliert: eine herrliche Fremde ist aufgetan und wird ihnen

    zur Heimat.48 Die Bedeutung der marcionschen Idee liegt nicht allein in der Reaktion, die sie

    bewirkt hat, sondern gerade in ihrer Antizipation einer Reformation, dass also in der Trennung

    von Schpfergott und Heilsgott eine Konsequenz zugunsten des Christentums liegen konnte49. So

    ist die Kirche, die sein Werk verwarf, [] ihm [] nicht vorangegangen, sondern - formal gese-

    hen - seinem Vorbild nachgefolgt50.

    Derart zeichnet MARCIONS Zerwrfnis mit der demiurgischen Welt des Gesetzes gegenber dem

    fremden als dem ganz anderen Gott das vor, was ROSENZWEIG spter als wirkliches paulini-

    sches Christentum51 bezeichnen wird, und was vermeintlich die Ironie birgt, MARCION sei der

    einzige, der Paulus - besser als dieser selbst - verstanden hat.52

    45

    BLUMENBERG, H.: Die Legitimitt der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt a.M. 1996, S. 139. 46

    Ebd., S. 143. 47

    Ebd. 48

    Vgl. dazu noch BULTMANN: Die Freiheit von der Vergangenheit, die Offenheit fr die Zukunft, charakterisieren menschliches Sein als solches. Aber die berzeugung des Neuen Testaments ist es, da der Mensch zu diesem seinem

    eigentlichen Sein erst erlst werden mu durch das in Christus sich ereignende Heilsgeschehen. Ehe dieses stattgefunden

    hat und ehe der Mensch die darin sich offenbarende Gnade Gottes sich im Glauben angeeignet hat, ist er seinem eigentli-

    chen Sein und dem Leben entfremdet, ist unter feindliche Mchte versklavt und dem Tode verfallen. (BULTMANN, R.: Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, Reinbek 1965, S. 176). 49

    BLUMENBERG, H.: Die Legitimitt der NeuzeitS. 141. 50

    CAMPENHAUSEN, H. V.: Die Entstehung der christlichen Bibel (1968), Tbingen 2003, S. 174. 51

    Vgl. ROSENZWEIG, F.: Der Stern der Erlsung, S. 312ff. 52

    FREY, J.: Marcion, in: GRAF, F. W. (Hg.): Klassiker der Theologie. 1. Von Tertullian bis Calvin, Mnchen 2005, S.

    11. Vgl. auch F. OVERBECKS bekanntes Diktum: Niemand hat Paulus je verstanden, und der Einzige, der ihn verstand,

    Marcion, hat ihn missverstanden.

  • 25

    Nach HARNACK hat insbesondere R. BULTMANN - der ber H. JONAS existentialistische Lesart des

    Gnostizismus hinaus mit HEIDEGGER in Verbindung stand53

    - die Rolle der Gnosis als Katalysator

    oder sogar Ferment christlicher Distanzierung von der jdischen Tradition ausgearbeitet und ver-

    meintlich gnostische Grundlagen im Johannes-Evangelium ausgemacht.54

    Er formuliert jedoch

    eine sehr nuancierte Sicht zum gnostisch-christlichen Verhltnis, insofern aus dem kosmologi-

    schen Dualismus der Gnosis [] bei Johannes ein Entscheidungsdualismus geworden55 sei.

    Das Bemhen um spekulative Durchdringung des geoffenbarten Gesetzes und seiner Inhalte - wie

    es die christliche Patristik in ihrem postmarcionischen Harmonisierungsversuch von Philosophie

    und Christentum bestimmen wird - trgt in der jdischen Tradition keine solchen Frchte und tritt

    hinter der Auslegung zwecks Anwendung des Gesetzes zurck.

    I.1.b Jdische und christliche Philosophie

    Als Beginn jdischer Philosophie wird oftmals das Werk PHILONS (gest. ca. 40) mit seiner Ineins-

    setzung biblischer Offenbarung und hellenistischer Philosophie mittels der allegorischen Lesart der

    Bibel genannt. Die Ironie liegt darin, dass PHILON als der erste jdische Philosoph zugleich fr

    lange Zeit der letzte bleibt, und seine Wirkung eher im Christentum als in der jdischen Tradition

    erfahren hat. Auch H. COHEN erkennt PHILO als Grundbereiter des Christentums. Ihm zufolge

    ging aus der Selbstverwandlung, die der alexandrinische Jude Philo an seinem Judentum vollzog, die Vorbereitung

    zum Christentum vor sich. Der Logos, der neue gttliche Geist, der neue heilige Geist bildet die Vermittlung. Gott

    selbst soll nicht mehr die Einwirkung auf die Menschen und die Welt zustehen, sondern einem Mittler soll sie ber-

    tragen werden. In diesem Gedanken des Mittlers zwischen Gott und Mensch, liegt der Ursprung des Christentums:

    mithin im griechischen Logos. 56

    SCHOLEM bezeichnet das Besondere an dem philonschen Versuch, welcher mithin das Unterfan-

    gen aller patristischen und mittelalterlichen Philosophie bleiben sollte, denn der

    lebendige Gott geht nie im reinen Begriffe auf. [] Die Reinheit des Gottesbegriffes zu bewahren, ohne die Leben-digkeit dieses Gottes anzutasten - das ist die unendliche Aufgabe der Theologie, die, immer wieder neu gestellt, nicht

    restlos lsbar ist.57

    53

    Vgl. JONAS, H.: Gnosis, Existentialismus und Nihilismus, in: Ders.: Zwischen Nichts und Ewigkeit. Zur Lehre vom Menschen, Gttingen 1963, S. 5-25; insbesondere auch den Briefwechsel zwischen JONAS und BULTMANN, S. 63-72. 54

    Vgl. z.B. BULTMANN, R.: Das Evangelium des Johannes, S. 279ff.; 437ff. 55

    BULTMANN, R.: Theologie des Neuen Testaments, Tbingen 1984, S. 429. Man vgl. hierzu VLKERS Charakterisie-

    rung des Systems des ORIGENES, insofern unser Alexandriner [] neben der metaphysisch-kosmologischen Deutung

    [] auch eine psychologische vortrgt, und diese Nebeneinanderstellung, dies Verlegen kosmischer Vorgnge ins Innere des Menschen (VLKER, W.: Das Vollkommenheitsideal des Origenes. Eine Untersuchung zur Geschichte der Frm-

    migkeit und zu den Anfngen christlicher Mystik, Tbingen 1931, S. 95) formuliert somit in gewisser Weise das johan-

    neische Projekt aus. 56

    COHEN, H.: Deutschtum und Judentum. Mit grundlegenden Betrachtungen ber Staat und Internationalismus, Giessen

    1915, S. 5. 57

    SCHOLEM, G.: Zur Kabbalah und ihrer Symbolik, Frankfurt a. M. 1973, S. 119. Vgl. auch GUTTMANN: Die jdisch-

    alexandrinische Philosophie war auch ihrem ganzen Wesen nach nicht geeignet, innerhalb des Judenthums eine mehr als

    ephemere Bedeutung zu erlangen. Die in der selben eingeschlagenen Geistesrichtung htte nmlich in konsequenter

    Fortentwicklung zu einer vlligen Loslsung von dem Boden des positiven Judenthums, zu einer nebelhaften Verflchti-

  • 26

    J. GUTTMANN unterstreicht bezglich der systematischen Auseinandersetzung jdischen und hel-

    lenistischen Denkens im Werke PHILOS dessen Wirkungslosigkeit in der folgenden jdischen Tra-

    dition. Dabei erweist es sich als der Prototyp des theologischen Unterfangens im Sinne der Sprache

    und des Sprechens von Gott:

    Dass dieser erste Versuch sich nicht als besonders erfolgreich erwiesen hat, ist aber dem Umstande zuzuschreiben,

    dass das Judenthum, anstatt der Philosophie gegenber seine Selbststndigkeit zu behaupten und dieselbe durch die

    Zufhrung seines originellen Denkstoffes zu befruchten, sich vielmehr in allzu willfhriger Unterordnung eine ihm

    fremde Weltanschauung hatte aufpfropfen lassen. [] Noch viel geringer als auf die Entwicklung der Philosophie blieb der Einfluss der jdisch-alexandrinischen Philosophen auf die Geistesentwicklung innerhalb des Judentums

    selbst. [] Darum hat die jdisch-alexandrinische Philosophie weder zur Zeit ihrer Entstehung noch in irgendeiner spteren Periode die Bedeutung eines in der Entwicklung des Judenthums irgendwie mitbestimmenden Faktors er-

    langt.58

    Auf christlicher Seite konnte sich TERTULLIANS (ca. 150-220) Verurteilung der Philosophie59

    ge-

    genber der patristischen Literatur als der Philosophie des Christentums60

    nicht durchsetzen. So

    fand PHILONS Versuch - insbesondere die allegorisierende Lesart des biblischen Textes - seine

    systematische Ausgestaltung im Werk der christlichen Kirchenvter von CLEMENS (ca. 150-215)

    ber ORIGENES (185-254) bis hin zu AUGUSTINUS (354-430). Dieses Aufeinanderzugehen von

    Philosophie und Christentum beschreibt J. RATZINGER in seiner Einfhrung in das Christentum als

    ein geradezu notwendiges, denn

    wenn die Frage aufstand, welchem Gott der christliche Gott entspreche, dem Zeus vielleicht oder dem Hermes oder

    dem Dionysos oder sonst einem, so lautete die Antwort: Keinem von allen. [] Die frhe Kirche hat den ganzen

    Kosmos der antiken Religionen entschlossen beiseite geschoben, ihn insgesamt als Trugwerk und Blenderei betrach-

    tet und ihren Glauben damit ausgelegt, da sie sagte: Nichts von alledem verehren und meinen wir, wenn wir Gott

    sagen, sondern allein das Sein selbst, das, was die Philosophen als den Grund allen Seins, als den Gott ber allen

    Mchten herausgestellt haben nur das ist unser Gott. [] Die Wahl, die so getroffen wurde, bedeutete die Option

    fr den Logos gegen jede Art von Mythos, die definitive Entmythologisierung der Welt und der Religion.61

    gung der jdischen Religionslehren fhren mssen. Eine organische Verbindung zweier von so heterogenen Grundbe-

    griffen ausgehenden Weltanschauungen, wie die des Judenthums und des Hellenismus, htte ja berhaupt niemals gelin-

    gen knnen; (GUTTMANN, J.: Die Religionsphilosophie des Saadia, Hildesheim/New York 1981, S. 10). 58

    GUTTMANN, J.: Die Religionsphilosophie des Saadia S. 9. Vgl. auch SIMON: In der jdischen Geistesgeschichte

    fand das Wirken Philons, Ausdruck der griechisch-jdischen Symbiose in ihrer alexandrinischen Spezifik, keine Nach-

    folge. Obwohl in Alexandria sich die Geschichte griechisch sprechender und in hellenistischem Sinne gebildeter Juden

    bis zu der Zeit fortsetzte, da die Stadt dem Byzantinischen Reich verlorenging und von den Arabern erobert wurde [] ist es nicht bezeugt, da Juden auf dem von Philon beschrittenen Weg weitergegangen wren. (SIMON, H.: Geschichte

    der jdischen Philosophie, Leipzig 1999, S. 47). 59

    Was hat also Athen mit Jerusalem zu schaffen, was die Akademie mit der Kirche, was die Hretiker mit den Chris-ten? Unsere Lehre stammt aus der Sulenhalle Salomos, der selbst gelehrt hatte, man msse den Herrn in der Einfalt

    seines Herzens suchen. Mgen sie meinethalben, wenn es ihnen so gefllt, ein stoisches und platonisches und dialekti-

    sches Christentum aufbringen! Wir indes bedrfen seit Jesus Christus des Forschens nicht mehr, auch nicht des Untersu-

    chens, seitdem das Evangelium verkndet worden. Wenn wir glauben, so wnschen wir ber das Glauben hinaus weiter

    nichts mehr. Denn das ist das erste, was wir glauben: es gebe nichts mehr, was wir ber den Glauben hinaus noch zu

    glauben haben. (TERTULLIAN: Die Prozesseinreden gegen die Hretiker, Kap. 7. Abrufbar unter: http://www.tertullian.org/articles/kempten_bkv/bkv24_14_de_praescriptione_haereticorum.htm#C7, abgerufen am 12.03.2012). 60

    Zu diesem Begriff und seiner Geschichte siehe KOBUSCH, T.: Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivi-

    tt, Darmstadt 2005, S. 11-40. 61

    RATZINGER, J.: Einfhrung in das Christentum, Mnchen 1971, S. 90f. Vgl. auch GLATZER: War auch das Christen-

    tum keine bloe Erscheinungsform des Hellenismus, so doch auch nicht die reine Entfaltung des Evangeliums. Die

  • 27

    Die zugleich parallele und gegenlufige Entwicklung von jdischer und christlicher Tradition in

    Hinsicht auf die Ausbildung einer Theologie konkretisiert sich in zwei Personen, die weiterhin

    ausschlaggebend sind: ORIGENES auf christlicher, und Y. HANASI (165-217) auf jdischer Seite.

    I.1.c ORIGENES und HANASI

    ORIGENES - der in seinem De Principiis (Von den Prinzipien, Von den Anfngen) als Welt-

    systematiker62 (BLUMENBERG) des Christentums Ijobs Frage mit Platons Hilfe zu beantwor-

    ten63 versucht - wirkt und schafft zeitgleich (und streckenweise auch ortsgleich, in Palstina) mit

    Y. HANASI, dem Kompilator der Mischnah (: Wiederholung), die - als schriftliche Fixierung

    der mndlichen Torah ( , Torah sche be-al peh)64 - fr die Folgezeit den Kanon jdi-

    schen Lebens als eines des Talmd ( : Lernung, Unterweisung) stellen sollte.

    Beide Gelehrte bescheren ihrer jeweiligen geistigen Heimat eine Kodifizierung, deren Notwendig-

    keit auch durch das Aufeinandertreffen der beiden Traditionen von Juden- und Christentum offen-

    sichtlicher geworden war. Interessant ist hierbei ORIGENES eigene Bezugnahme auf den jdischen

    Zugang zur Offenbarungsschrift. Anders als die gngige jdische berlieferung des Diktums er-

    whnt ORIGENES in der Einleitung zu seinem Hohelied-Kommentar jedoch ein weiteres jdisches

    Verbot, wo

    es heit, da es die Sitte der Juden ist, da niemand, der nicht ein reifes Alter erreicht hat, dieses Buch [nmlich das

    Hohe Lied] in den Hnden zu halten befugt ist. Und nicht nur dies, sondern obwohl ihre Rabbis und Lehrer alle bibli-

    schen Schriften und ihre mndlichen Traditionen die jungen Kinder lehren, halten sie bis zuletzt die folgenden vier

    Texte zurck: den Anfang der Genesis, wo die Schpfung der Welt beschrieben wird; den Anfang der Prophetie des

    Ezechiel, wo ber die Cherubim gehandelt wird [das heit also die Lehre von den Engeln und dem himmlischen

    Hofstaat begrndet ist]; das Ende [desselben Buches], das die Beschreibung des knftigen Tempels enthlt, und die-

    ses Buch des Hohen Liedes.65

    In Contra Celsum (II, 6) veruteilt nun ORIGENES die jdische Bibeldeutung als Mythologie:

    Nicht das Gesetz bertreten wir, die wir Glieder der Kirche sind, wohl aber verwerfen wir die jdischen Fabeln und

    bemhen uns, zu unserer sittlichen Besserung und Erziehung den geheimen Sinn des Gesetzes und der Propheten zu

    Kirche ist Verwerfung des Staates und seine Anerkennung, Geringschtzung der Wissenschaft und Selbstidentifizierung

    mit ihr, Gegensatz gegen die Kultur und Bejahung der Kultur, geistigster Idealismus und massivster Sakramentalismus,

    radikaler Individualismus und organisiertes Gemeinbewutsein, Gottes- und Teufelsglaube, erhabenste Glaubensfreiheit

    und bunteste Superstition, Pessimismus und Optimismus, Skepsis und Gewiheit (Troeltsch). [] Die Gegenstze zur Einheit aufzulsen, forderte die Geschichte von der Macht, die Rom und Jerusalem zu verbinden sprach. Die Forderung

    dieser Einheit wurde nicht vom Judentum erhoben, denn dieses hielt einen solchen Bund fr unmglich. Sie blieb die

    innere Frage des Christentums. (GLATZER, N.: Geschichte der talmudischen ZeitS. 164f). 62

    BLUMENBERG, H.: Die Legitimitt der Neuzeit, S. 666. 63

    KARPP, H.: Probleme altchristlicher Anthropologie. Biblische und philosophische Psychologie bei den Kirchenvtern

    des dritten Jahrhunderts, in: ALTHAUS, P.; JEREMIAS, J. (Hg.): Beitrge zur Frderung christlicher Theologie, Bd. 44, Heft 3, Gtersloh 1950, S. 211. 64

    Hierzu insbesondere WILLI, T.: Kakkatuv - Die Tora zwischen Mndlichkeit und Schriftlichkeit, in: STEGMEIER, W. (Hg.): Die philosophische Aktualitt der jdischen Tradition, Frankfurt a.M. 2000, S. 43-61. 65

    Zitiert nach: SCHOLEM, G.: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala, Frank-

    furt a.M. 1977, S. 23.

  • 28

    verstehen. Die Propheten selbst wollen ja den Gedankengehalt ihrer Verkndigung nicht auf den einfachen Bericht

    der Tatsachen und auch nicht auf die Gesetzgebung nur nach dem Wortlaut und Buchstaben beschrnken, sondern

    bedienen sich, wenn sie Tatsachen erzhlen wollen, der Worte: Ich will meinen Mund zu Gleichnissen auftun und Rtsel von Anfang her verknden.

    66

    ORIGENES liest die Texte des Alten Testaments nicht mehr als jdische Geschichte, sondern alle-

    gorisch und anagogisch (, anagog: Hinauffhrung, eigentlich aber: das Auslaufen der

    Schiffe in die hohe See, Abfahrt, Ausmarsch67).

    Die Bedeutungen der Worte und Stze beinhalten etwas anderes bzw. etwas mehr als der Wort-

    laut, dessen Grenzen sie bersteigen.

    Der anagogische Sinn liegt in der ethischen Herausforderung, wie sie die vierfache Lesart der Of-

    fenbarung in der christlichen Philosophie von PHILON ber ORIGENES68

    bis hin zu T. AQUIN69

    bestimmt, und offiziell im Katechismus der katholischen Kirche (Nr. 118) formuliert ist:

    Littera gesta docet,

    quid credas allegoria,

    moralis quid agas,

    quod tendas anagogia.

    Der Buchstabe lehrt die Ereignisse;

    was du zu glauben hast, die Allegorie;

    die Moral, was du zu tun hast;

    wohin du streben sollst, die Anagogie.70

    66

    ORIGENES: Gegen Celsus (Contra Celsum) II.6, abrufbar unter: http://www.unifr.ch/bkv/kapitel139-5.htm (abgerufen

    am 01.08.2012). 67

    MENGE, H.: Menge-Gthling. Enzyklopdisches Wrterbuch der griechischen und deutschen Sprache. Erster Teil.

    Griechisch-Deutsch. Unter Bercksichtigung der Etymologie, Berlin 1961, S. 53. 68

    Wenn Origenes bald einen dreifachen Sinn (wie IV 2, 4-6), bald nur einen zweifachen unterscheidet, so erinnert dies

    an die frher gemachte Beobachtung, da er im Systemdenken manche Lsungsmglichkeiten recht undogmatisch in

    der Schwebe lt. (GRGEMANNS, H.; KARPP, H. [Hg.]: Origenes vier Bcher von den Prinzipien, Darmstadt 1976, S.

    22). Vgl. auch OLEARY: For Origen, the Jews are always learning but never arrive at knowledge of the truth (ComRm 2.14) and are afflicted with stupidity, their minds befogged (HomNum 6.4; ComMt 11.11), unable to grasp the

    sense of their own laws. Their development has been aborted (HomNum 7.3). They have the scriptural books, yet the

    Scriptures are taken away from them, since they do not understand them (HomJr 14.12). They are victims of a blind

    Torah positivism; if asked the reason for their laws, they reply: Such is the good pleasure of the Legislator; no one argues

    with the Lord (HomLev 4.7). Christians honor the Law more, by showing what depth of wise and mysterious teachings are found in those letters which the Jews have not well contemplated in their superficial reading that remains attached to

    fables (CCels 2.4). What the Jews have now is all fable and futility, for they lack the light of the knowledge of the Scriptures (CCels 2.5). (OLEARY, J.: Origen on Judaism, abrufbar unter:

    http://josephsoleary.typepad.com/my_weblog/2007/02/origen_on_judai.html [abgerufen am 12.06.2012]). 69

    Die erste Bedeutung also, nach der die Worte die Dinge bedeuten, wird wiedergegeben durch den ersten Sinn, nm-

    lich den historischen bzw. buchstblichen. Die andere Bedeutung aber, wo die durch die Worte bezeichneten Dinge

    selbst wieder andere Dinge bezeichnen, wird wiedergegeben durch den sensus spiritualis, den geistigen Sinn. Und zwar

    grndet der geistige Sinn im Literalsinn und setzt diesen voraus. Dieser geistige Sinn wird dreifach eingeteilt. Wie nm-

    lich das Alte Gesetz (nach Hebr. 7, 19) ein Vorbild des Neuen ist und das Neue Gesetz selbst (nach Dionysius) ein Vor-

    bild der zuknftigen Herrlichkeit, so ist auch im Neuen Gesetz das, was am Haupte [Christus] geschehen ist, Zeichen und

    Vorbild dessen, was wir [die Glieder] tun sollen. Soweit also die Geschehnisse des Alten Testamentes die des Neuen

    vorbilden, haben wir den allegorischen Sinn; soweit das, was an Christus selbst oder an seinen Vorbildern geschah, zum

    Vorbild und Zeichen fr unser eigenes Handeln wird, haben wir den moralischen Sinn; soweit es aber das vorbildet, was

    in der ewigen Herrlichkeit sein wird, haben wir den anagogischen Sinn. (AQUIN, T.: Summa theologiae, I, q. 1, a. 10). 70

    Abrufbar unter: http://www.vatican.va/archive/DEU0035/_PW.HTM (abgerufen am 03.06.2012).

  • 29

    ORIGENES System versucht die Aufhebung der alttestamentlichen Erzhlungen in der neuen Of-

    fenbarung des Evangeliums, indem letzteres als der eigentliche Sinn der ersteren erwiesen werden

    soll.

    HANASIS Mischnah als mndliche Torah steht in einem hnlichen Verhltnis zur schriftlichen

    Torah des Alten Testaments, insofern ebenfalls die Notwendigkeit der Fortfhrung der geoffenbar-

    ten Lehre betont wird. Die zwei Lehren bedingen also einander, wie in Schabbat 31a berichtet

    wird:

    Die Rabbanan lehrten: Einst trat ein Nichtjude vor ammaj und sprach zu ihm: Wieviel Toroth habt ihr? Dieser er-widerte: Zwei; eine schriftliche und eine mndliche. Da sprach jener: Die schriftliche glaube ich dir, die mndliche

    glaube ich dir nicht. Mache mich zum Proselyten, unter der Bedingung, da du mich nur die schriftliche Tora lehrst!

    Dieser schrie ihn an und entfernte ihn mit einem Verweise.71

    Es besteht also eine formale hnlichkeit hinsichtlich des Verhltnisses von schriftlicher und mnd-

    licher Torah einerseits, und Altem und Neuem Testament andererseits. Im inhaltlichen Ansatz

    jedoch zeigt sich der fundamentale Bruch zwischen der Absicht des Christentums bei ORIGENES

    und der des Judentums von HANASIS Mischnah. Der christliche Impetus der Menschwerdung

    Gottes treibt das origenische System dazu an, die Legitimation des Neuen Testaments im Alten

    Testament aufzutun, die Kluft beider ebenso zu berbrcken wie den Bruch zwischen Gott und

    Mensch.

    Im talmudischen Judentum nun verhlt es sich in gewisser Weise genau umgekehrt, insofern die

    mndliche Torah die Legitimation der schriftlichen Torah zu erweisen hat, wie z.B. LEIBOVITZ es

    provozierend-pointiert formuliert: In empirischer Hinsicht jedoch ist die Tora nur in dem Mae

    Tora, in dem sie vom jdischen Volk als Tora akzeptiert wird.72

    I.1.d Gnosis und Genesis73

    Die mithin fundamental unterschiedliche Herangehensweise an die Offenbarung in Juden- und

    Christentum lsst sich exemplarisch an der Schpfungsgeschichte des Buches Genesis betrachten.

    MARCION hatte es als Inbegriff des demiurgischen Gottes verworfen und die Kirchenvter es gera-

    de deshalb fr die christliche Lehre, also den den Zusammenhang von Schpfung und Erlsung

    als Werk des einen Gottes74, zu retten versucht. MARCION tut das erste Kapitel der Genesis mit

    71

    Der babylonische Talmud. Ins Deutsche bersetzt von Lazarus Goldschmidt, Bd. I, Frankfurt a.M. 1996, S. 521. 72

    LEIBOVITZ, J.; SHASHAR, M.: Gesprche ber Gott und die Welt, S. 138. 73

    Siehe hierzu insbesondere TZVETKOVA-GLASER, A.: Pentateuchauslegung bei Origenes und den frhen Rabbinen,

    Frankfurt a.M. 2008. 74

    BLUMENBERG, H.: Die Legitimitt der NeuzeitS. 143. Vgl. hierzu SCHOCKENHOFF: Beschreibt man die Beziehun-

    gen, in denen am Ausgang der Antike Gnosis, Platonismus und Christentum zueinander stehen [], dann gehren die philosophische Haltung einsamer Wahrheitssuche, die Plotin darstellt, und das gnostische Grundgefhl der Verlorenheit

    in einer fremden Welt trotz der plotinischen Kosmodizee in einem Punkt auf die gleiche Seite: beide gehen von einer

  • 30

    seiner Schilderung der Weltschpfung als Hauptzeugnis der jdischen Kosmos-Fixierung ab, wo-

    hingegen das vereinheitlichende Denken der sich konstituierenden katholischen Kirche die Gene-

    sis als die Physik der Offenbarung (gegenber der Metaphysik des Johannes-Evangeliums, wie M.

    ECKHART sie prominenter Weise studieren wird75

    ) zu verstehen versucht.

    Gerade das Studium der Schpfungsgeschichte (Gen. 1.1) unterliegt jedoch in der jdischen Tradi-

    tion strengen Sanktionen. Im babylonischen Talmud findet sich dieses Verbot des zu eingehenden

    Studiums des sogenannten maaseh bereschit (Werk der Schpfung) an mehreren Stellen, so

    z.B. in Chagiga 11b:

    Wer ber vier Dinge, was oben, was unten, was vorn und was hinten [sich befindet], grbelt, fr den wre es besser,

    er wre gar nicht zur Welt gekommen. [] Man knnte glauben, man drfe auch danach forschen, was dann war,

    bevor die Welt erschaffen wurde, so heit es: seit dem Tage, wo Gott den Menschen auf der Erde erschaffen hat.

    Man knnte glauben, man drfe auch nicht danach forschen, was sich in den sechs Schpfungstagen zugetragen hat,

    so heit es: nach den frheren Zeiten, die vor dir waren. Man knnte glauben, man drfe auch danach forschen, was

    oben, was unten, was vorn und was hinten [sich befindet], so heit es: von einem Ende des Himmels bis zum ande-

    ren, danach, was sich von einem Ende des Himmels bis zum anderen befindet, darfst du forschen, du darfst aber nicht

    danach forschen, was oben, was unten, was vorn und was hinten [sich befindet].76

    Welche Bedeutung dieser Warnung in der jdischen Tradition beigemessen wird, erzhlt die Ge-

    schichte von den Vieren, die das Paradies betreten, d.h. sich metaphysischen Spekulationen wid-

    men (Chagiga 14b):

    Vier traten in das Paradies ein, und zwar: Ben Azaj, Ben Zoma, Aer und R. Aqiba. R. Aqiba sprach zu ihnen: Wenn ihr an die glnzenden Marmorsteine herankommt, so saget nicht: Wasser, Wasser, denn es heit: wer Lgen redet,

    soll vor meinem Angesichte nicht bestehen. Ben Azaj schaute und starb. ber ihn spricht der Schriftvers: kostbar ist

    in den Augen des Herrn der Tod seiner Frommen. Ben Zoma schaute und kam zu Schaden. ber ihn spricht der

    Schriftvers: hast du Honig gefunden, so i, was dir gengt, da du seiner nicht satt werdest und ihn ausspeiest. 77

    AKIBA - in gewisser Weise die talmudische Version des vollkommenen Menschen - kehrt als ein-

    ziger wohlbehalten aus dem Paradies zurck, die Anderen fallen ihm zum Opfer. Gem der sp-

    teren Lesart von Paradies bzw. PaRDeS () als Akrostichon der vier Ebenen der Schriftaus-

    legung (Pschat: wrtl. Bedeutung, Remes: allegor. Bedeutung, Drasch: homiletische Bedeutung,

    unaufhebbaren Inkommensurabilitt des eigenen wahren Selbst zur Welt aus, die der Entfaltung einer Ethik im Weg

    steht. (SCHOCKENHOFF, E.: Origenes und Plotin. Zwei unterschiedliche Denkwege am Ausgang der Antike, in: KNAPP, M.; KOBUSCH, T. [Hg.]: Querdenker. Visionre und Auenseiter in Philosophie und Theologie, Darmstadt 2005,

    S. 52). 75

    Vgl. Expositio sancti evangelii secundum iohannem. Auslegung des heiligen Evangeliums nach Johannes, in: ECK-

    HART, M.: Predigten. Traktate. Text und Kommentar, Frankfurt a.M. 2008, S. 487-538. 76

    Der babylonische TalmudBd. IV, S. 267-69. 77

    Der babylonische Talmud...Bd. I, S. 283f. Vgl. hierzu auch RASCHI in seinem Kommentar zum Pentateuch ber Gene-

    sis I, 1: Am Anfang der Erschaffung von Himmel und Erde, als die Erde noch wst und de und Finsternis war, da sprach Gott, es werde Licht. Der Vers will nicht die Reihenfolge der Schpfung lehren, um zu sagen, dass diese []

    zuerst geschaffen wurden. [] - wenn es so wre, msstest du dich fragen, das Wasser war ja zuerst; denn es heisst, der Geist Gottes schwebte ber die Flche des Wassers, und der Vers hat uns noch nicht offenbart, wann die Erschaffung des

    Wassers stattgefunden; aus diesem Vers kannst du entnehmen, dass das Wasser schon vor der Erde erschaffen war;

    ausserdem wurde der Himmel aus Feuer und Wasser gebildet; und du musst zum Schluss kommen, dass uns der Vers

    nichts ber die Riehenfolge, was frher und was spter war, lehrt. (BAMBERGER, S. [Hg.]: Raschis Kommentar zum

    Pentateuch, Basel 2002, S. 1f).

  • 31

    Sod: Geheimnis/Esoterische Bedeutung)78 thematisiert die Geschichte die Problematik der Be-

    schftigung mit der Esoterik des exoterischen, positiven Gesetzes. So korrespondiert - HERMANN

    zufolge -

    dem fr das Judentum grundlegenden Bekenntnis zu Gott als dem Schpfer und Erhalter der Welt [] eine deutliche

    Zurckhaltung gegenber mythologischer Spekulationen ber die Entstehung und den Aufbau der Welt.79

    H. GRAETZ erkennt - hnlich wie BULTMANN - die Gnosis als das Ferment auch des Christen-

    tums,80

    und situiert auch die Erzhlung um die Vier, die das Paradies betreten, in den gnostischen

    Strmungen innerhalb der talmudischen Debatten.

    In Gnosticismus und Judenthum konstatiert er,

    dass die Bewegungen des Gnostizismus das damalige Judenthum, d.h. das Judentum der mischnaitischen Epoche,

    nicht unberhrt gelassen haben, vielmehr, dass gerade in der Bltezeit der Gnosis, welche bekanntlich in die

    hadrianische Epoche fllt, gnostische Ideen einen nicht unbedeutenden Einflu auf das Judenthum ausgebt, zu wel-

    cher sich die Koryphen des damaligen Judenthums, die Mischnalehrer, teils empfnglich und gnstig, grtenteils

    aber abwehrend und polemisch verhalten haben.81

    Eine weitere Stelle im Talmud (Pesakhim 119a) - derer sich auch MAIMONIDES in seinem Fhrer

    der Unschlssigen (III, 1) bedient, bevor er sich der Auslegung des maaseh merkaba, also der

    Prophetie des Ezechiel widmet -, trgt der Ambivalenz des Verhltnisses zum esoterischen Studi-

    um des exoterischen Gesetzestextes Rechnung. Jener Stelle zufolge wird derjenige vor dem Herrn

    [d.i. Gott, A.S.] sitzen82,

    wer die Dinge, die der Dauernde verhllt hat, verborgen hlt; das sind nmlich die Geheimnisse der Tora. Manche

    erklren: Wer die Dinge, die der Dauernde verhllt hat, blolegt, das sind nmlich die Begrndungen der Tora.83

    In ihrer Ambivalenz offenbaren diese beiden nebeneinander stehenden, direkt entgegengesetzten

    Interpretationen, was trotz der Sanktionierung auch ausreichende Beispiele der Genesis-Deutung

    im jdischen Schrifttum, v.a. im Midrasch, belegen. Der besondere (man knnte auch drastischer

    sagen: eigenwillige) Sprach- bzw. Textgebrauch im Midrasch sollte spter einen der eigentlichen

    Hauptanziehungsgrnde fr christliche Hebraisten und Kabbalisten darstellen.84

    78

    Hierzu s. KROCHMALNIK, D.: Im Garten der Schrift. Wie Juden die Bibel lesen, Augsburg 2006, S. 7-26. 79

    HERRMANN, K. (Hg.): Sefer Jeira. Buch der Schpfung, Frankfurt a.M. 2008, S. 152. 80

    Ja eine konsequente wissenschaftliche Bearbeitung der Gnosis wird in den mystorisen [sic] uerungen Christi von

    seiner intimen Beziehung zu seinem Vater, in der Abstraktion einer glnzend ausgemalten Jenseitigkeit, eine Hinneigung

    zu gnostischer Beschaulichkeit nicht verkennen. (GRTZ, H.: Gnosticismus und Judenthum, Krotoschin 1846, S. 4). 81

    GRTZ, H.: Gnosticismus und Judenthum, S. 6. Bezglich des Verhltnisses von Gnosis und jdischer Mystik s. SCHOLEM, G.: Die jdische Mystik in ihren Hauptstrmungen, Frankfurt a.M. 1980, S. 43-86. Man vgl. aber auch den

    Widerspruch von DAN, J.: Die Kabbala. Eine kleine Einfhrung, Stuttgart 2007, S. 38-40. 82

    Der babylonische TalmudBd. II, S. 676. 83

    Ebd. 84

    Vgl. dazu DAN: Besonders beeindruckt waren die christlichen Kabbalisten von dem fr die Juden charakteristischen nicht-semantischen Umgang mit der Sprache, fr den sie im Christentum kein Pendant besaen. Die vielfltigen Namen

    Gottes und der himmlischen Mchte waren fr sie eine neue Offenbarung. In den Mittelpunkt ihrer Spekulationen traten

    daher die mannigfachen Transmutationen des hebrischen Alphabets und die numerologischen Methoden, die ihrem

    Wesen nach eher dem Midrasch als kabbalistischem Denken nahestehen. Das hebrische Verstndnis der Sprache als

  • 32

    Der Midrash Bereshit Rabba (3. Jahrhundert) enthlt eine uerst bezeichnende Ausdichtung der

    Schpfungsgeschichte. Hier wird jene Formulierung, die gerade im Prolog des Johannes-

    Evangeliums (Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort)

    wieder zu interpretativer Prominenz gelangt, nmlich das Im Anfang ( - , Be-reshit) von

    Genesis I,1, zum Sinnbild fr den jdischen Zugang zu den Worten und Stzen der Offenbarung.

    Bereschit Rabba berichtet ber den Anfang ( ) der Genesis folgendes:

    Die Torah spricht: ich war das Werkzeug Gottes. Gewhnlich, wenn ein Knig von Fleisch und Blut einen Palast

    baut, so baut er ihn nicht nach eigener Einsicht, sondern nach Einsicht eines Baumeisters, und auch dieser baut nicht

    nach seinem Gutdnken, sondern er hat Pergamente und Tafeln worauf die Eintheilung der Zimmer und Gemcher

    verzeichnet ist. Ebenso sah Gott in die Thora und erschuf die Welt, und die Thora spricht: Mit , worunter nichts anderes als die Thora zu verstehen ist, erschuf Gott die Welt.

    85

    Gott als der Baumeister wird hier also gerade in der von MARCION angezeigten Rolle als Demiurg

    besttigt, wobei er in diesem Falle nicht einmal Souvern seines der Welt auferlegten Gesetzes ist,

    sondern selbst diesem nachfolgt. Derart fallen Ursache und Ziel der Schpfung in der Torah, dem

    Gesetz, zusammen.

    Auch in Bereschit Rabba (I,1) wird dennoch die bekannte Warnung ausgesprochen:

    Warum fngt die Weltschpfung mit dem Buchstaben Beth ( ) an? Weil sowie die Beth von drei Seiten zu und nur von vorne offen ist, auch du nicht die Macht hast zu sagen, was unten und was oben, was vorher und was nachher

    war, sondern du kannst das erst, nachdem die Welt vollendet war. [] Ferner heisst es das: Von einem Ende des Himmels bis zum anderen darfst du forschen und darber nachdenken, aber ber das, was vorher war, darfst du

    nicht nachdenken.86

    eines Ausdrucks unendlicher gttlicher Weisheit stand im Gegensatz zu der stark semantisch ausgerichteten christlichen

    Haltung gegenber der Heiligen Schrift, die daraus resultierte, dass letztere in bersetzung vorlag; (DAN, J.: Die Kabba-

    la, S. 87-89). 85

    WNSCHE, A. (Hg.): Der Midrasch Bereschit Rabba, das ist die haggadische Auslegung des Buches Genesis, Leipzig

    1881, S. 1. Vgl. auch BULTMANN: Dagegen scheint die im Judentum, ja schon im AT, begegnende Gestalt der Weisheit mit der Gestalt des Logos im Joh. Prolog verwandt zu sein. Von ihr ist in mythologischer Sprache als von einer gttlichen

    Gestalt die Rede, und sie hat einen Mythos, von dem die berlieferung wenigstens Fragmente enthlt. Sie ist prexistent

    und ist Gottes Genossin bei der Schpfung. Sie sucht Wohnung auf Erden unter den Menschen, wird aber abgewiesen;

    sie kommt in ihr Eigentum, aber die Ihren nehmen sie nicht auf. So kehrt sie in die himmlische Welt zurck und weilt

    dort verborgen. Wohl sucht man sie jetzt, aber niemand findet den Weg zu ihr. Nur einzelnen Frommen offenbart sie sich

    und macht sie zu Freunden Gottes und Propheten. Der Selbstndigkeit dieser Gestalt entspricht es, dass sie absolut die Weisheit genannt wird. Es kann in der Tat nicht zweifelhaft sein, dass zwischen dem jdischen Weisheitsmythos und

    dem Joh. Prolog ein Zusammenhang besteht. Aber dieser Zusammenhang kann nicht der sein, dass die jdische Spekula-

    tion die Quelle fr den Prolog ist. Denn abgesehen davon, dass der Logosname des Prologs dann noch eine besondere

    Erklrung verlangen wrde; der Weisheitsmythos ist im Judentum gar nicht als solcher lebendig gewesen; er ist in ihm

    nur mythologisch-poetische Einkleidung der Lehre vom Gesetz gewesen. Auf die Thora wurde bertragen, was der

    Mythos von der Weisheit erzhlte: Die Thora ist prexistent; sie war Gottes Schpfungsplan und Werkzeug; in Israel hat

    die Weisheit, die im Gesetz gewissermaen inkarniert ist, ihre von Gott bereitete Wohnung gefunden. (BULTMANN, R.:

    Das Evangelium des JohannesS. 8). Man beachte aber auch folgende Erzhlung in Bereschit Rabba (XII, 2,4): Gleich einem Knige, welcher leere Becher hatte, da sprach er: Schtte ich Heisses hinein, so springen sie, schtte ich

    Kaltes hinein, so bersten sie. Was machte der Knig? Er mengte das Heisse mit dem Kalten, schttete es dann in die

    Becher und es blieb darin. Ebenso sprach der Schpfer: Erschaffe ich die Welt mit dem Masse (der Eigenschaft) der

    Barmherzigkeit, so werden ihre Snden sich hufen, erschaffe ich sie dagegen mit dem Masse des strengen Rechts, wie

    soll die Welt bestehen? Ich werde sie mit beiden erschaffen, oh dass sie doch bestnde! (WNSCHE, A. [Hg.]: Der

    Midrasch Bereschit Rabba, S. 57). 86

    WNSCHE, A. (Hg.): Der Midrasch Bereschit Rabba, S. 4.

  • 33

    ORIGENES eigener Kommentar zu Gen. I,1 (Hom. in Gen. I.1) geht einen dezidiert anderen Weg:

    Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Welcher ist der Anfang aller Dinge, wenn nicht unser Herr und Heiland

    Jesus Christus, der Erstgeborene der ganzen Schpfung. Also in diesem Anfang, d. h. in seinem Wort, hat Gott alles

    geschaffen. [] Denn Gott ist der Anfang des Sohnes, der Anfang der Geschpfe ist der Schpfer und Gott ist zu-sammenfassend der Anfang aller Dinge.

    87

    TZVETKOVA-GLASER fasst den Unterschied zwischen der jdischen und christlichen Deutung wie

    folgt zusammen:

    Als Ziel der Schpfung versteht Origenes die Rettung der Vernunftwesen und nicht die Erfllung des Gesetzes. Die-

    se Konzeption von der Wiederherstellung des Zustandes der Vernunftwesen kann zwar dem rabbinischen Gedanken

    ber den Zustand der Welt nach Erfllung der Tora hneln. Allerdings ist der Grund, der zum ganzen Prozess der

    Reinigung der Vernunftwesen gefhrt hat, fr Origenes ihr eigener Fall. Nach GenRab. I.4 ist Gott derjenige, der fr

    die Erfllung des Gesetzes der Welt bedarf.88

    KRAFT weist darauf hin, dass ORIGENES in der Behandlung des Osterfestes (Pas-cha, aram.:

    : Vorberschreiten) von seiner sonstigen Neigung zu phantasievollen etymologischen Zu-

    sammenhngen absieht.89

    Im Gegensatz zur gemeinhin blichen Verbindung von und

    (leiden) legt er - in seiner gedanklichen Durchdringung des Osterfestes als Gedenken des

    Leidens und der Auferstehung Jesu Christi mit seinem Beharren auf der eigentlichen Bedeutung

    von als Vorberschreiten - den Schwerpunkt weg von Karfreitag auf Ostersonntag hin:

    das Vorbergehen bedeutet den bergang von der Finsternis zum Licht.90

    VLKER erkennt die vermeintliche heilstechnische Aporie des Systems menschlicher Freiheit ge-

    genber Gott bei ORIGENES,91

    - das Pleroma der geschaffenen Geister92 (H. JONAS) -, denn

    sieht man in der origenistischen Freiheitslehre nur die formale Seite und lt man wie de Faye im System nur die Lo-

    gik gelten, so mu man zu der Annahme eines immer erneuten Abfalls kommen und darin vom religisen Stand-

    punkt aus mit Recht etwas Unbefriedigendes sehen [].93

    Insofern nun aber unser Alexandriner [] neben der metaphysisch-kosmologischen Deutung

    [] auch eine psychologische vortrgt, und diese Nebeneinanderstellung, dies Verlegen kosmi-

    scher Vorgnge ins Innere des Menschen94 nachvollzogen wird, ist nun womglich gerade dies -

    87

    Zitiert nach TZVETKOVA-GLASER, A.: Pentateuchauslegung bei Origenes und den frhen Rabbinen, S. 43-45. 88

    Ebd., S. 48. 89

    Vgl. KRAFT, H.: Kirchenvter. Die ersten Lehrer des Christentums, S. 195f. 90

    Ebd., S. 196. 91

    Vgl. De Principiis II 3,3: Wenn ferner das, was Christus unterworfen ist, am Ende auch Gott unterworfen wird, so

    werden alle die Krper ablegen, und ich nehme an, da zu diesem Zeitpunkt eine Auflsung der krperlichen Natur ins

    Nichtsein erfolgen wird. Sie wird ein zweites Mal ins Dasein treten, wenn wieder Vernunftwesen (von der Einheit mit

    Gott) herabsteigen. Denn Gott hat die Seelen dem Zustand von Kampf und Ringen berlassen, damit sie wissen, da sie

    einen vollen und endgltigen Sieg nicht aus eigener Kraft, sondern aus Gottes Gnade erreicht haben [eigene Hervorhe-

    bung, A.S.]. (GRGEMANNS, H.; KARPP, H. [Hg.]: Origenes vier Bcher von den Prinzipien, S. 311). 92

    JONAS, H.: Gnosis und sptantiker Geist. Zweiter Teil. Von der Mythologie zur mystischen Philosophie, Gttingen

    1993, S. 181. 93

    VLKER, W.: Das Vollkommenheitsideal des Origenes. Eine Untersuchung zur Geschichte der Frmmigkeit und zu

    den Anfngen christlicher Mystik, Tbingen 1931, S. 95. 94

    Ebd.

  • 34

    der stets mgliche (und tatschliche) Abfall von Gott als Bedingung der Rckkehr zu Gott - der

    eigentliche Sinn des origenischen Systems des Christentums. Das Schema der unendlichen Wie-

    derbringung als Unbedingtheit und Unendlichkeit der menschlichen Erlsung in De Principiis

    erscheint so als die kosmologische Projektion des Topos von der Beziehung der menschlichen

    Seele hin zu Gott, zu der ORIGENES den fr die weitere Entwicklung der christlichen Brautmys-

    tik95

    mageblichen Kommentar zum Hohelied konzipiert hat.96

    Was also MARKSCHIES als Transzendenzbezug des Menschen97 bei ORIGENES bezeichnet, wre

    wohl treffender Transzendenzvollzug des Menschen zu nennen.98

    Die Verknpfung von jdischer Schpfung und christlicher Erlsung prfiguriert PAULUS eben-

    falls in seinem Rmerbrief (5,14) in einer Vorankndigung der Erbsndenlehre:

    Doch herrschte der Tod von Adam an bis auf Mose auch ber die, die nicht gesndigt haben mit gleicher bertre-

    tung wie Adam, welcher ist ein Bild des, der zuknftig war [Jesus Christus; A.S].

    So beschreibt auch J. ERIUGENA (9. Jhd.) - als Vermittler von patristischer und neuplatonischer

    Denktradition in die christliche Scholastik99

    - den Sndenfall (Gen. I, 3-24) als Blaupause der Of-

    fenbarung in Christus:

    So wurde der Mensch aus dem Paradiese in diese Welt verbannt, nmlich aus dem Ewigen in das Zeitliche, aus der

    Flle in den Mangel, aus der Kraft in die Schwche, nicht also aus dem wesenhaften Guten in das wesenhafte Bse,


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