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Suhrkamp Verlag - bilder.buecher.de · Angeles Mastretta, 1949 in Puebla, Mexiko, geboren, lebt...

Date post: 22-Mar-2020
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Leseprobe Mastretta, Angeles Emilia Roman. Großdruck Aus dem Spanischen von Petra Strien © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch 3986 978-3-518-45986-7 Suhrkamp Verlag
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Leseprobe

Mastretta, Angeles

Emilia

Roman. Großdruck

Aus dem Spanischen von Petra Strien

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch 3986

978-3-518-45986-7

Suhrkamp Verlag

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suhrkamp taschenbuch 3986

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Als Emilia Sauri am 12. Februar 1873 um sieben Uhr morgens ge-boren wird, ist der Mond noch nicht verschwunden, und auch dieSterne stehen günstig: Leidenschaft, gepaart mit Sanftheit, wirdden Charakter des Mädchens prägen. Das Leben werde ihr tiefenKummer, aber auch höchstes Glück bescheren, prophezeite ihrTante Milagros Veytia und wünschte ihrem Patenkind Verrückt-heit, Waghalsigkeit, Intelligenz, Witz, Mut, Vertrauen und den Bei-stand der Götter der Maya. Angeles Mastretta erzählt die Lebens-geschichte der emanzipierten Emilia, die Ärztin wird und »auf derdie Gewißheit lastet, daß sie zwei Männer mit der gleichen Inten-sität liebt«. »Wir Frauen«, sagt Angeles Mastretta weiter, »verfügenüber Schätze, Einsichten, die nirgends niedergeschrieben sind unddie an andere Frauen weiterzugeben unsere Pflicht ist.« Das hatsie mit »einem der schönsten Romane über die Liebe aus einemKontinent, der überreich an Liebesgeschichten ist« (Tomás EloyMartínez ), getan.

Angeles Mastretta, 1949 in Puebla, Mexiko, geboren, lebt heutein Mexiko-Stadt.

Für Emilia erhielt sie 1997 den namhaftesten lateinamerikani-schen Literaturpreis Rómulo Gallegos. Ihr Roman MexikanischerTango (st 1787) ist ebenfalls im Suhrkamp Verlag erschienen,ebenso wie ihr Erzählungsband Frauen mit großen Augen (st 2297).

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Angeles MastrettaEmiliaRoman

Aus dem Spanischen vonPetra Strien

Suhrkamp

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Die Originalausgabe erschien 1996 unter dem TitelMal de amores

© Angeles Mastretta, 1996

Umschlagfoto: Édouard Boubat/Top-Rapho/Eyedea/Laif

suhrkamp taschenbuch 3986

Erste Auflage dieser Ausgabe 2008

© der deutschen AusgabeSuhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998

Suhrkamp Taschenbuch VerlagAlle Rechte vorbehalten durch Suhrkamp Verlag,

Frankfurt am Main, insbesondere dasdes öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Druck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in Germany

Umschlag: Göllner, Michels, ZegarzewskiISBN 978-3-518-45986-7

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Emilia

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Für Héctor Aguilar Camín

mit seiner strengen Ordnung im Kopf und dem freimütigen Chaos im Herzen

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Diego Sauri kam auf einer kleinen Insel zur Welt, aufeiner wilden, einsamen Karibikinsel vor der KüsteMexikos, einer einzigen Verlockung aus Farbenspielund Licht. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts gehör-ten alle Inseln und das gesamte Festland dahinterzum Staate Yucatán. Die Furcht vor Piraten, die im-mer wieder den Frieden dieses in zwanzig Blautönenschillernden Meeres störten, hatte die Inseln entvöl-kert. Erst nach 1847 wagten die Menschen allmählichwieder zurückzukehren.

Der letzte Mayaaufstand der Gegend war lang undblutig gewesen wie noch kaum einer in der mexika-nischen Geschichte. Die Mayas, in einem Kult umein mysteriöses, sprechendes Kreuz verbunden, hat-ten sich in den Urwäldern und Küstenregionen, woeinst ihre Ahnen herrschten, gegen die weißen Sied-ler erhoben und waren mit Macheten und englischenGewehren über sie hergefallen. Auf der Flucht vordem grausamen Gemetzel, das sich Krieg der Kastennannte, hatte es schließlich einige Familien auf dieFraueninsel verschlagen mit ihrem tropischen Grünund den weißen Stränden.

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Kaum waren sie an Land gegangen, beschlossendie neuen Insulaner, Kreolen und Mestizen, Nach-fahren von verirrten Reisenden und Abkömmlingenabenteuerlichster Rassenverschmelzungen, die nichtsals ihr nacktes Leben zu verteidigen hatten, jedersolle so viel Land erhalten, wie er urbar machenkönne. Sie rodeten Unkraut und Gestrüpp, und sokamen Diego Sauris Eltern in den Besitz eines Teilsdes leuchtenden Strandes und eines schmalen Kü-stenstreifens und errichteten mitten darin die Pal-menhütte, unter deren Dach ihre Kinder zur Weltkommen sollten.

Blau war das erste, was Diego Sauris Augen ent-deckten, denn rings um das Haus war alles einLeuchten in tiefem Blau und glasklarem Licht. In sei-ner Kindheit tat Diego nichts, als im Urwald herum-zutoben oder sich im endlosen Sand zu räkeln, sanftvon den Wellen gestreichelt, ein Fisch mitten in ei-nem Schwarm gelber und violetter Fische. Er gediehprächtig unter der Sonne, und doch war er von einerunerklärlichen Unrast. Seine Eltern hatten Friedenauf der Insel gefunden, nur er schien stets von etwasgetrieben, als habe er irgendwo in der Fremde nocheine Schlacht zu schlagen. Seine Großmutter meinte,seine Ahnen seien in einer eigenen Brigantine auf derHalbinsel Yucatán gestrandet; woraufhin sein Vater

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halb stolz, halb im Scherz zu antworten pflegte: »Siewaren nämlich Piraten.«

Wie auch immer, Diego Sauri sehnte sich mit denJahren mehr und mehr nach einem anderen Hori-zont als Wasser, so weit der Blick reichte. Er besaßdie Gabe zu heilen, wie sein Vater entdeckt hatte, alsder kleine Junge die schon halbtoten, fürs Abendbrotmitgebrachten Fische wieder lebendig machte. SeineBegabung wurde Diego schnell zur Passion. Mit drei-zehn hatte er seiner Mutter bei ihrer schwersten Ge-burt beigestanden; und bald schickten auch andereFrauen wegen seiner flinken Hände und seiner star-ken Nerven in schwierigen Fällen nach ihm. SeineKunst basierte auf reinem Instinkt, doch war er mitder würdevollen Ruhe eines Mayapriesters gesegnet,gleich ob er die Heilige Jungfrau vom Karmel oderdie Göttin Ixchel um Hilfe anrief.

Mit neunzehn Jahren wußte er bereits alles, wasman auf der Insel über Kräuter und jede Art Heil-trank in Erfahrung bringen konnte, hatte sämtlichein dieser Gegend gestrandeten Bücher gelesen undbesaß einen Todfeind; einen Mann, der von Zeit zuZeit mit einer Menge Geld über die Insel herfiel,Geld, an dem Blut und Albträume klebten. FerminMundaca y Marechaga war Waffenhändler. Er berei-cherte sich an dem endlosen Krieg der Kasten und

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erholte sich von seinen schmutzigen Geschäftenbeim Fischen und mit ewigen Aufschneidereien vorden friedliebenden Insulanern. Das allein reichte, umihn für Diego zum Feind zu machen, doch als Heilerwußte er noch mehr über den Mann.

Eines Nachts hatte ihm jemand Mundacas derzei-tige Gefährtin mit eingeschlagenem Gesicht vor dieTür geschleppt. Sie war am ganzen Körper zerschun-den und brachte keinen Mucks mehr hervor, nichtmal ein Jammern. Diego kurierte sie und behielt sieim Haus seiner Eltern, bis sie wieder laufen und ohnequälende Erinnerung in den Spiegel sehen konnte.Dann schaffte er sie auf das erste Segelschiff, das dieInsel verließ. Bevor sie aufs Schiff ging, kritzelte siein den feinen, glitzernden Sand das Wort Ah Xoc, dasin der Mayasprache Hai bedeutet. Das war der Spitz-name Fermin Mundacas, des Mannes, der den Mayasdie Waffen und der Landesregierung die Schiffe zuihrer Bekämpfung verhökerte. Dann tat die Frau,blaß und scheu, zum ersten und letzten Mal denMund auf und hauchte »danke«.

Noch am selben Abend wurde Diego Sauri aufdem Weg zu Krankenbesuchen von fünf Männernüberfallen. Sie prügelten ihn halbtot, fesselten ihn anHänden und Füßen und stopften ihm den Mund zu,als er sie noch verfluchte. Dann schloß er die Augen,

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und der Anblick des riesigen gelben Mondes mit demhöhnischen Grinsen eines Gottes blieb auf ewig insein Gedächtnis gegraben.

Als er sich wieder fragen konnte, was mit ihm ge-schehen war, spürte er schaukelndes Wasser unterdem Verschlag, in den man ihn gesperrt hatte. Er be-fand sich auf einem Schiff, wer weiß mit welchemZiel, doch statt heillosen Entsetzens packte ihnblanke Neugier. Bei allem Unglück: Er war auf demWeg in die weite Welt.

Nie sollte er herausfinden, wie viele Tage er in je-nem Verlies zugebracht hatte. Um ihn war fortwäh-rend Nacht, so daß er allmählich das Gefühl für dieZeit verlor. Mindestens fünfmal hatte das Schiff an-gelegt, bevor der Kerl, der ihm jeden Tag ein paarBrocken Brot und einen Spalt Licht brachte, die Türaufschloß.

»So here we are «, sagte ihm der rote Riese so mit-fühlend, wie er vermochte, und ließ ihn frei.

Here war ein eisiger Hafen in Nordeuropa.

Einige Jahre später und um zahlreiche Erfahrungenreicher kehrte Diego Sauri nach Mexiko zurück, undes war, als fände er damit unwillkürlich zu sich selbst.Er sprach vier Sprachen, hatte in zehn Ländern ge-lebt, für Ärzte, Forscher und Pharmazeuten gearbei-

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tet, die Straßen und Museen in Rom und die Plätzein Venedig bis zum letzten Winkel erkundet. Er warzu einem kauzigen Vagabunden geworden, und dochwünschte er sich nichts sehnlicher, als daß Fortunaihn an die Hand nehmen und für die restliche Zeitseines Lebens heim an den alten Suppentopf und un-ter das alte Dach führen möge.

Er war knapp siebenundzwanzig, als er einesAbends von Bord ging und wohlig die glutheiße Luftvon Veracruz einsog, die ihm vertraut war wie seineSeele. Die Gegend glich seiner Insel, und obwohl derBoden dunkler war und das Wasser trüber, jubelte er.Wenn man nicht nach unten sieht, dachte er, könnteman sich fast heimisch fühlen.

Raschen Schritts ließ er das schwüle, lärmendeHafengelände hinter sich, ging zur Plaza und betratdort einen Gasthof voll brodelnden Lebens. Es duf-tete nach eben geröstetem Kaffee und frischem Brot,nach Tabak und Anis. Mitten in dem anheimelndenWirrwarr, dem Geschnatter der Leute und dem Um-herwieseln der Kellner nahm er nichts weiter wahrals die Augen von Josefa Veytia.

Diego hatte genug Zeit mit der Suche nach demGlück vertan, um nicht auf der Stelle zu begreifen,daß es ihm jetzt winkte. All die Jahre war er durchdie Welt geirrt, damit das Leben ihm nun genau dort

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eine Zukunft verhieß, wo sie ihm einst geraubt wor-den war. Wie benommen wankte er zum Tisch derFrau.

Josefa Veytia war mit ihrer Mutter und ihrerSchwester Milagros aus Puebla nach Veracruz ge-kommen, um ihren Onkel, Miguel Veytia, abzuholen,der mit einem Schiff aus Europa erwartet wurde. Erwar ein jüngerer Bruder ihres Vaters, der auf die glor-reiche Idee verfallen war, ihn noch seiner Familie ansHerz zu legen, bevor er selbst sich davonstahl undverschied. Josefa war damals zwölf, Milagros sieb-zehn Jahre, und ihre Mutter befand sich in dem un-definierbaren Alter, in dem die Frauen sich einrich-teten, wenn sie kein Interesse mehr hatten, eine zusein.

Onkel Miguel Veytia pflegte ein halbes Jahr inBarcelona zu leben und ein halbes in Puebla. In bei-den Städten redete er die meiste Zeit über die Ge-schäfte und Schwierigkeiten, die ihm am jeweils an-deren Ort zu schaffen machten. Sein Leben verliefangenehm ruhig, als wäre alle Tage Sonntag. Mon-tags befand er sich immer just auf der anderen Seitedes Meeres.

An besagtem Abend hatten die Veytias schließlicherfahren, daß zwei Wochen vorher die spanische Re-publik ausgerufen worden war und der Onkel, ein

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passionierter Liberaler, beschlossen hatte, in Spanienzu bleiben, bis sich das Freudenfest legte.

»Wer weiß schon, was aus Spanien wird«, meinteDiego Sauri, als er wie ein alter Freund am Tisch auf-genommen worden war. Und dann erzählte er vomRepublikfieber mancher Spanier und von der Mon-archiebegeisterung anderer.

»Wetten, daß sie in einem Jahr wieder nach einemKönig rufen«, prophezeite er aufgekratzt wie immer,wenn er über Politik sprach, doch zugleich von einerganz anderen Leidenschaft erfüllt, weitaus greifbarerals seine Prophezeiungen.

Fünfzehn Monate später, im Dezember 1874, rie-fen die Spanier König Alfons XII. zum König aus,und Diego Sauri heiratete Josefa Veytia in der ro-mantischen Kirche von Santo Domingo, die nochheute steht, ganz verschlafen, nur zwei Häuserblocksentfernt von Pueblas Hauptplatz.

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Zufrieden mit einem erfüllten und abwechslungsrei-chen Leben, erfreuten sich die Sauris zehn ruhigerEhejahre gemeinsamen Glücks, ohne daß der Zufalloder das Schicksal ihnen Nachwuchs bescherte. AmAnfang waren sie so mit sich selbst beschäftigt, daßihnen gar keine Zeit für Sorgen darüber blieb, daßdie tagtäglich miteinander erlebten Wonnen ihnennicht mehr schenkten als körperliche Befriedigung.Der Gedanke an ein Kind kam ihnen erst, als sie sichso vertraut waren, daß Diego mit geschlossenen Au-gen exakt die Umrisse jedes einzelnen der kleinen,schimmernden Fußnägel seiner Frau nachzeichnenkonnte und sie haarscharf den Abstand zwischenMund und Nasenspitze bei ihrem Mann traf, wennsie mit dem Finger die Linie seines Profils in die Luftmalte. Josefa wußte, daß jeder Zahn des gleichmäßigblitzenden Gebisses, das Diego beim Lachen zeigte,beim genauen Hinsehen eine andere Schattierungaufwies. Und er wußte nicht nur, daß seine Frau mitihrer Gestalt göttinnengleich den Harmoniegesetzengehorchte, sondern auch, daß sie einen hochgewölb-ten Gaumen und unsichtbare Mandeln hatte.

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Gab es noch etwas, das sie beim anderen nicht er-kundet hatten, dann kaum mehr, als jedermann beisich selbst verborgen bleibt. So wünschten sie sichnun ein Kind, das ihnen das von ihren Sehnsüchtenund ihren ererbten Anlagen erzählen würde, was ih-nen nie einfiele. Um sicher zu sein, alles Nötige zurErzeugung eines Menschenkindes getan zu haben,wollten sie fortan versuchen, was sie bisher als ab-surd abgetan hätten: einen Kräutersud trinken, denJosefa damiana nannte und Diego Sauri turnera aphro-disiaca; die Mondphasen beachten, um peinlich ge-nau Josefas fruchtbare Tage festzustellen und sichdann nur um so begieriger der Sinnenglut hinzuge-ben.

In alledem befolgten sie die Vorschläge und Re-zepte des zu Rate gezogenen Doktor Octavio Cu-enca, Arzt und seit Diegos erstem in Puebla erlebtenAbendrot sein Freund, zu dem er im Laufe der Jahreund der gemeinsamen Erkenntnisse eine brüderlichinnige Zuneigung gefaßt hatte.

Seit Josefa Veytia in ihrer Jugend in einem stürmi-schen Mai vorzeitig von der Menstruation überraschtworden war, hatte diese sie stets bei abnehmendemViertelmond ereilt. Daher schloß Diego Sauri dieApotheke hinfort am dreizehnten Tag nach dieserMondphase und kam in den folgenden drei Tagen

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nicht einmal mehr zum Zeitunglesen. Ihre intensivenBemühungen, für Nachwuchs zu sorgen, wurden nurhin und wieder unterbrochen, damit Josefa einen or-dentlichen Schluck des Suds nehmen konnte, in demzuvor zwei Stunden lang die Zwiebel der lilienartigblühenden Pflanze gebrüht worden war, die dieKräuterfrau vom Markt Oceoloxóchiltl nannte undDiego Tigridia Pavonia. Auf ihren wissenschaftlichenNamen und ihre Heilkraft war er im Buch eines Spa-niers gestoßen, der im 16. Jahrhundert Neuspanienbereist hatte, um die Pflanzen zu erkunden, die beiden alten Mexikanern gebräuchlich waren. Mit klop-fendem Herzen hatte er gelesen: »Man sagt aber, /wenn ein Weib von diesr Artzney trinkt, /so ge-schiechts, /daß sie dardurch empfangen koente.« Indie Indios setzte er künftig seine letzte Hoffnung, dieer bei den Ärzten und den Mitteln, die er selbst inseiner Apotheke mixte, allmählich verlor. Alles, wasan Pillen aufzutreiben war, hatte er bereits selbst ge-schluckt und seiner Frau verabreicht, und allmählichhatte er es satt, erleben zu müssen, wie die Hoffnungerlahmte und sie die Friedlichkeit des Ortes immerweniger genießen konnten.

So lebten sie mehrere Jahre lang mit der Enttäu-schung, daß ihre Körper zwar wunderbar harmonier-ten, aber es nicht schafften, über sich hinauszuwach-

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sen. An einem Dreizehnten schließlich kleidete sichJosefa schon frühmorgens an, und als ihr Mann dieAugen aufschlug und seine Pflicht tun und Josefa einKind machen wollte, fand er die sonst von ihr ange-wärmte Stelle zu seiner Linken verlassen vor.

»Ich mag nicht mehr«, sagte sie, als er auf der Su-che nach ihr, immer noch mit baß erstaunter Miene,die Küche betrat. »Mach die Apotheke auf.«

Diego Saura gehörte zu den wenigen Männern,die ohne zu fragen den Willen Gottes, aus demMund ihrer Frau verkündet, befolgen. Seinen Agno-stizismus hatte er sich mühsam genug erarbeitet undschließlich selbst Josefa überzeugt, daß Gott nur einWunschbild des Menschen sei. Und doch respek-tierte er den Heiligen Geist, den er hinter der Stirnseiner Frau erahnte. Folgsam kleidete er sich an undbegab sich nach unten, um seinen Kummer zwischenKolben, Waagen und den Düften in seiner Apothekeim Erdgeschoß des Hauses zu vergessen. Für einpaar Tage begehrte er sie nicht mehr. Eines Morgens,als der erste Lichtstrahl ins dunkle Schlafzimmer fiel,wagte er, sie wieder zu fragen, ob sie es tun sollten,einfach so. Josefa willigte ein, besänftigte sich undsprach nie mehr von einem Kind. Ganz allmählichbegannen sie zu glauben, es sei besser so.

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Im Jahr 1892 war Josefa Veytia eine Frau in denDreißigern mit dem aufrecht stolzen Gang einer Fla-mencotänzerin. Sie erwachte stets mit neuen Plänenim Kopf und fiel abends erst in Schlaf, wenn diesein die Tat umgesetzt waren. Im Augenblick der Sin-neslust verschmolz sie mit ihrem Mann und verdarbihm nie die Freude des Gleichklangs in einem Spiel,das so viele Männer solo spielen. Zwischen denBrauen über ihren tiefen, runden Augen stand immereine Frage, doch aus ihren Mundwinkeln sprach eineGelassenheit, die nicht auf Antworten drängte. DasHaar trug sie über dem stolzen Nacken aufgesteckt,wo Diego sie am Nachmittag so gerne küßte, alsVorgeschmack auf das Leuchten ihrer Nacktheit inder Dämmerung. Josefa besaß noch dazu die Gabe,im richtigen Moment zu reden oder zu schweigen.Nie mangelte es ihnen an Gesprächsstoff. Mal rede-ten sie bis Mitternacht, als hätten sie sich eben erstkennengelernt, und mal erwachten sie frühmorgensmit dem Drang, sich ihren letzten Traum zu erzäh-len.

In der Nacht, als sie entdeckte, daß der Mond dop-pelt so rund war wie sonst, wenn der erste rote Fleckin ihren blütenweißen Höschen die Qualen ihrer Pe-riode ankündigte, begann Josefa das Gespräch mit

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der Bemerkung, sie sei beunruhigt. Sie kannte nichtsPünktlicheres als ihre peinigende Menstruation: Aneinem Samstagmorgen um Viertel nach zehn hattesie zum ersten Mal gespürt, wie ihr etwas die Schen-kel hinabrann. Es war der 5. Mai gewesen, die ge-samte von Schießpulvergeruch und aufwallender Sie-geseuphorie erfüllte Stadt Puebla war auf den Beinengewesen in gespannter Erwartung eines Scheinge-fechts zur Feier des Triumphes über die französischeBesatzungsarmee vor einigen Jahren. Als die großeGlocke der Kathedrale mit dumpfem Klang dieStunde der Schlacht einläutete, hatten sie und ihreSchwester Milagros auf der Veranda gestanden undmit ihren Taschentüchern den vorbeimarschierendenSoldaten und bewaffneten Zivilisten zugewinkt.Krieg gehörte für die Menschen damals zum Alltag,und große Gefahren boten stets Anlaß zu rauschen-den Festen. Folglich war Josefa nicht etwa erschrok-ken, als sie merkte, wie das Blut an ihren Schenkelnhinabrann, sondern hatte sich umgedreht und ausge-rufen: »Getroffen, aber ich ergebe mich nicht!«

In jener Nacht hatte der Mond als abnehmendesViertel geschienen. Fortan war die Blutung zweihun-dertfünfzehn Monate lang immer bei abnehmendemViertelmond aufgetreten. Daher nun Josefas Bemer-kung »ich bin beunruhigt«, als sie den Vollmond auf-


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