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Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae...

Date post: 07-Feb-2017
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5 Strategie der Wortwahl und der Briefstruktur 5.1 Alltagssprachgebrauch und stoische Terminologie 5.1.1 malum, fortuitum, incommodum 13,10 Verisimile est aliquid futurum mali: non statim verum est. Es ist wahrscheinlich, dass ein Übel eintreten wird: (trotzdem) ist es nicht gleich wahr (dass es eintreten wird). Auch wenn Seneca mit diesem Hinweis bereits an der Korrektur des alltäglichen Verständnisses von Gütern und Übeln arbeitet: Den Begriff malum gebraucht er, wie es ein strenger Stoiker nicht tun dürfte: Denn aus dessen Sicht sind alle Din- ge, die uns auf Erden zustoßen können, als indifferent (ἀδιάφορα) zu bezeichnen, sind also im eigentlichen Sinne weder gut noch schlecht. Doch mit der Anwen- dung dieser Begrifflichkeit hält sich Seneca bis zum 31. Brief zurück;¹auch danach ist sie nicht eben häufig.² Das entspricht dem Bild, das wir von Senecas Verwendung des Gegenbegrif- fes, des bonum, gewonnen haben. Lieber formuliert er terminologisch unscharf, als seinen Leser in ein ungewohntes Sprachkorsett zu zwängen. Es wäre müßig, dieselbe Untersuchung nun auch für das malum anzustellen. Statt dessen möchte ich von einer anderen Seite her zeigen, dass die Verwendung von malum (in substantiviertem Gebrauch) nicht nur ausgezeichnet zu dem passt, was wir im Bereich der summum-bonum-Lehre beobachtet haben, sondern beson- ders geeignet ist, die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Briefphasen augen- fällig zu machen. Ich habe dafür alle Nennungen des Adjektivs malus, mala, ma- lum, des Adverbs male sowie der Substantivierung (malum) daraufhin überprüft, ob die Verwendung im jeweiligen Kontext mit der stoischen Sprachregelung kon- form ist oder ihr zumindest nicht zwingend widerspricht.³ Neben die Möglichkeit, 1 31,3: . . .nisi contemptus est labor et in eorum numero habitus quae neque bona sunt neque mala. 2 Im 31. Brief erscheint diese Kategorie wie aus dem Nichts. Sie wurde nirgendwo zuvor ›einge- führt‹ ›vorbereitet‹ o. dgl., sondern taucht auf, als Seneca annehmen kann, Lucilius habe sich schon mit ihr vertraut gemacht (vgl. o. Kapitel 3.3). Um die ἀδιάφορα-Lehre bleibt es danach still bis zum 66. Brief (66,5.14ff. 34). Erst von da an treffen wir regelmäßiger auf sie. 3 Sehr häufig ist es nicht eindeutig entscheidbar, ob – zumindest aus gewöhnlicher Leserper- spektive – überhaupt eine moralische Wertung vorliegt (z.B. 17,11: Poteram hoc loco epistulam claudere, nisi te male instituissem e.q.s.), oder in denen nicht eindeutig zu entscheiden ist, ob die Klassifikation ›schlecht‹ hier aus stoischer Sicht oder aus alltagssprachlicher Perspektive vor- genommen worden ist. Ein Beispiel für letzteres finden wir z.B. gleich im ersten Abschnitt des Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated | 10.248.254.158 Download Date | 9/14/14 9:29 PM
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  • 5 Strategie der Wortwahl und der Briefstruktur

    5.1 Alltagssprachgebrauch und stoische Terminologie

    5.1.1 malum, fortuitum, incommodum

    13,10 Verisimile est aliquid futurum mali: non statim verum est.

    Es ist wahrscheinlich, dass ein bel eintreten wird: (trotzdem) ist es nicht gleichwahr (dasses eintreten wird).

    Auch wenn Seneca mit diesem Hinweis bereits an der Korrektur des alltglichenVerstndnisses von Gtern und beln arbeitet: Den Begriff malum gebraucht er,wie es ein strenger Stoiker nicht tun drfte: Denn aus dessen Sicht sind alle Din-ge, die uns auf Erden zustoen knnen, als indifferent () zu bezeichnen,sind also im eigentlichen Sinne weder gut noch schlecht. Doch mit der Anwen-dungdieser Begrifflichkeit hlt sich Seneca bis zum31. Brief zurck;auchdanachist sie nicht eben hufig.

    Das entspricht dem Bild, das wir von Senecas Verwendung des Gegenbegrif-fes, des bonum, gewonnen haben. Lieber formuliert er terminologisch unscharf,als seinen Leser in ein ungewohntes Sprachkorsett zu zwngen.

    Es wre mig, dieselbe Untersuchung nun auch fr dasmalum anzustellen.Statt dessen mchte ich von einer anderen Seite her zeigen, dass die Verwendungvonmalum (in substantiviertemGebrauch) nicht nur ausgezeichnet zu dempasst,waswir im Bereich der summum-bonum-Lehre beobachtet haben, sondern beson-ders geeignet ist, die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Briefphasen augen-fllig zu machen. Ich habe dafr alle Nennungen des Adjektivs malus, mala, ma-lum, des Adverbs male sowie der Substantivierung (malum) daraufhin berprft,ob die Verwendung im jeweiligen Kontext mit der stoischen Sprachregelung kon-form ist oder ihr zumindest nicht zwingend widerspricht. Neben dieMglichkeit,

    1 31,3: . . .nisi contemptus est labor et in eorum numero habitus quae neque bona sunt neque mala.2 Im 31. Brief erscheint diese Kategorie wie aus dem Nichts. Sie wurde nirgendwo zuvor einge-fhrt vorbereitet o. dgl., sondern taucht auf, als Seneca annehmen kann, Lucilius habe sichschon mit ihr vertraut gemacht (vgl. o. Kapitel 3.3). Um die -Lehre bleibt es danach stillbis zum 66. Brief (66,5.14ff. 34). Erst von da an treffen wir regelmiger auf sie.3 Sehr hufig ist es nicht eindeutig entscheidbar, ob zumindest aus gewhnlicher Leserper-spektive berhaupt eine moralische Wertung vorliegt (z.B. 17,11: Poteram hoc loco epistulamclaudere, nisi te male instituissem e.q.s.), oder in denen nicht eindeutig zu entscheiden ist, ob dieKlassifikation schlecht hier aus stoischer Sicht oder aus alltagssprachlicher Perspektive vor-genommen worden ist. Ein Beispiel fr letzteres finden wir z.B. gleich im ersten Abschnitt des

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  • 256 | 5 Strategie der Wortwahl und der Briefstruktur

    Abb. 5.1 Verwendungsweise des Begriffes malum

    dass die Wortwahl der stoischen Lehre entspricht oder nicht, tritt als drittes dieKategorie der philosophischen Metaebene, auf der nicht mehr Dinge, Ereignisseoder Handlungen als schlecht klassifiziert werden, sondern explizit berlegun-gen ber die Kategorien bonum undmalum angestellt werden.

    Dazu einige Beobachtungen:1) Seneca verwendet zu Beginn der Briefemalum hufig in nichtmit der Leh-

    re der Stoa vereinbarer Bedeutung. Das entspricht dem therapeutischen Ansatz;dementsprechend hufen sich die Belege in denjenigen Briefen, deren Gegen-stand die Furchtbehandlung ist.

    2) Bis zum Ende der Epikurzitate geht Seneca dazu ber, den Begriff deu-tungsoffener bzw. in einer dem stoischen Sprachgebrauch entgegenkommendenWeise zu verwenden, also der stoischen Sprachregelung bereits die Tr offenzu-halten.

    3) Ab dem 32. Brief geht die Verwendung von malum berhaupt stark zu-rck.Wie Abbildung 5.2 zeigt, ist dies nicht etwa einer Substitution durch sprach-lich korrektere Begriffe geschuldet, sondern entspricht ganz demBefund zur Ent-

    ersten Briefes (1,1). Dort sagt Seneca:magna pars vitae elabitur male agentibus ein groer Teildes Lebens entgleitet denen, die schlecht handeln; er lsst aber offen, nach welchen Kriteriener eine Handlung als schlecht ansieht. Um die Trennschrfe zu allen Instanzen einer eindeutigStoa-konformen Verwendung zu erhhen, habe ich alle vorgenannten Flle zu einer Kategoriezusammengefasst.1 z.B. in der Kritik der Reisewut, wo Seneca das eigentliche bel im Innern lokalisiert (28,3f.):Quidquid facis, contra te facis et motu ipso noces tibi; aegrum enim concutis. At cum istuc ex-emeris malum, omnis mutatio loci iucunda fiet e.q.s.2 Fortuitum, commodumund incommodum sind dieweitaus hufigsten Ersatzvokabeln. Ich habeausGrndender bersichtlichkeit darauf verzichtet, die wenigen klaren und jeweils anders gela-

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  • 5.1 Alltagssprachgebrauch und stoische Terminologie | 257

    Abb. 5.2 Ersatzbegriffe fr Unglck, bel usw.

    wicklung des bonum-Begriffes (oben Kapitel 4.2.2.6): Die angewandte Gterlehretritt von diesem Moment an insgesamt fr ca. 30 Briefe in den Hintergrund, umweiter ausholenden Themen Platz zu machen.

    4) Das ndert sich schlagartig abdem66. Brief,mit demSenecadenEntschei-dungskampf zur Durchsetzung der stoischen Gterlehre aufnimmt. Hierbei wirddas zur Verfgung stehende Vokabular insgesamt aktiviert. Nicht nur die Ersatz-termini wie (in-)commodum und fortuitum verzeichnen einen sprunghaften Zu-wachs; auch die Begriffe bonum und malum werden wieder hufiger gebraucht,freilich nun oft auf derMetaebene des philosophischen Schlagabtausches, d.h. inder Auseinandersetzung mit konkurrierenden Lehrmeinungen.

    5) Daneben steigt auchdieVerwendungvonmalum imnicht korrekt-stoischenSinne wieder an, und zwar deutlich. Auch das ist an sich noch nicht spektakulr.Wir hatten im Bereich der Gterlehre festgestellt (oben S. 212), dass gerade dieWiederzulassung des Alltagssprachgebrauches (59,14) ein Indiz fr die weitge-hend gefestigte Grundhaltung des Lesers ist.

    gerten Flle anderweitiger Umschreibungen in die Statistik einzuarbeiten. DasGesamtbild wrdesich dadurch nicht ndern. Schwer greifbar sind affektive und bildhafte Umschreibungen, dieeine Bedeutungsverschiebung gegenber den Gterbegriffen mit sich bringen (z.B. timenda stattmala, lucrum statt bonum usw.). Da eine solche durchaus intendiert sein kann und es fast un-mglich ist, im Einzelfall zu entscheiden, ob der Begriff nur Substitutionsfunktion hat, habe ichdavon abgesehen, solche Umschreibungen fr die Statistik zu bercksichtigen.1 Zum Beispiel stammen von den 22 Belegen zu fortuitus,a,um 18 aus den Briefen ab 72; vgl. dieStellensammlung auf S. 180, Anm. 2.2 Vom 24. Brief an hatte sich Seneca bis auf eine einzige Ausnahme der alltagssprachlichenVerwendung vonmalum enthalten. Diese Ausnahme ist leicht erklrbar; Seneca beschreibt dort(47,3) das berzogene Strafbedrfnis berempfindlicher Herren gegenber ihren unschuldigenSklaven und nutzt dafr aus der Perspektive der Herren die Worte: magno malo ulla voce in-terpellatum silentium luitur.Natrlich kann hiermalum nicht das stoische belmeinen; doch es

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  • 258 | 5 Strategie der Wortwahl und der Briefstruktur

    6) Spektakulr ist aber, dass Seneca im Gegensatz zu den ersten drei Brief-bchern in der ca. 30 Briefe whrenden Durchsetzungsphase stets daraufbedacht ist, eine alltagssprachliche Verwendung vonmalum noch im selben Briefdurch absichernde Begleituerungen oder korrektere Parallelformulierungenwieder gerade zu rcken. Ganz im Gegensatz zur Praxis der ersten drei Briefb-cher begegnen hier auf Schritt und Tritt einschrnkende Formeln wie ea quaetimentur tamquam mala (66,31), omnia denique quae ceteris videnturmala (71,5) oder . . .nec ea quae bona nec ea quae mala vocantur (86,16).

    Ein Beispiel fr die Absicherungstechnik ist, wie Seneca im 109. Brief die Freundschaft zwi-schen zwei Weisen beschreibt:

    109,16:Praeterea illud dulcissimumet honestissimum idem velle atque idemnolle sapiens sa-pienti praestabit; egregium opus pari iugo ducet. Auerdem wird jenes beraus liebliche undehrenwerte dasselbewollen und dasselbe nicht wollen ein Weiser dem anderen gegenber ver-wirklichen; das herrliche Werk wird sie unter gemeinsamem Joch fhren.

    Der Rckgriff auf die Definition idem velle atque idem nolle ist eigentlich enttuschend istes doch die gleiche, die auch ein Catilina als Motiv fr sich reklamieren konnte (vgl. oben S. 239).Ferner gleicht auch dulcissimum einem Rckfall in die Zeiten epikureischer Sekundrmotivati-on. Doch fr den, der den ganzen Brief gelesen hat, gibt es keinen Zweifel an der stoischen Aus-richtung, weil diese schon durch vorhergehende uerungen eindeutig fundamentiert ist, z.B.109,10:Adice nunc quodomnibus inter se virtutibus amicitia est; itaque prodest qui virtutes alicuiusparis sui amat amandasque invicempraestat. S imi l ia delectant, ut ique ubi honesta suntet probare ac probari sciunt . Beachte ferner, dass alle Tugenden eine Freundschaft un-tereinander besitzen; deshalb ntzt der, der die Tugenden eines ihm (darin) Gleichen liebt undseine eigenen umgekehrt als liebenswerte bereitstellt. hnl iches erfreut , zumal wenn essi tt l ich richtig ist und es versteht , die Richtigkeit seines Tuns zu begrndenund umgekehrt Begrndungen zu beurtei len.

    Ferner hatte Seneca bereits gezeigt, wie stoisch korrekt er den Begriff ntzen verstandenwissenwollte (109,12): Prodesse autem est animum secundumnaturammovere virtute sua. Nt-zen aber bedeutet seine Vernunft gem der Natur mit seiner Tugend ttig sein zu lassen.

    Bei soviel definitorischerKorrektheit darf sichSeneca sicher sein, dass dieFreundschaftsde-finition nicht falsch verstanden werden kann. Er wei offenbar, dass allzu korrekte Terminologie

    wre bei dieser Schilderung die ja die Sicht der Herren, nicht die Senecas spiegelt lcherlich,malo etwa durch incommodo zu ersetzen. Auch durch die Wahl des religis konnotierten luiturund von silentium als Subjekt verstrkt Seneca den Eindruck, hier in die Perspektive des Herrenzu schlpfen, der gar nicht auf den Gedanken kommt, sich in seine Sklaven hineinzuversetzen,sondern nur an seine gestrte Ruhe denkt und diese in unbndiger Strafwut wiederhergestelltsehen will.1 Von ep. 66. bis einschl. zum 99. Brief.2 Vgl. u.a. auch 71,26. 74,12.16f. (abgedruckt oben S. 236). 82,17. 85,25. 86,16. 92,24. 94,8. EineandereMethode ist, beimgewhnlichenSprachgebrauch zubeginnen, diesen jedochabzufangenund durch korrekte Formulierungen zu entschrfen (vgl. z.B. das zunchst quantitative, dannqualitative Schwindenlassen der Bedeutung eines bels 78,1415: quanta mala [Plural; zudemdurch quanta verstrkt] malum incommodum difficultas).

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  • 5.1 Alltagssprachgebrauch und stoische Terminologie | 259

    zu einem Korsett werden kann, das den Gedanknefluss lhmt, und dass es gengt, gleichsamLeitplanken aufzustellen, die das Begriffsverstndnis in der Bahn halten.

    7) Interessanterweise ndert sich dies sofort nach dem Ende der Durchset-zungsphase. Wir begegnen nun alltagssprachlichen Verwendungen von malumdurchaus wieder ohne Korrektiv im selben Brief (101,10.12.13. 103,1. 107,4). Unddie stoische Gterlehre ist mittlerweile so befestigt, dass Seneca im Spiel zwi-schen philosophisch-korrekter und alltglicher Ausdrucksweise zu solch parado-xen und geradezu oxymoren Formulierungen greifen kann:

    118,11 Quod dico talest: sunt quaedam neque bona neque mala, tamquam militia, legatio,iurisdictio. Haec cum honeste administrata sunt, bona esse incipiunt et ex dubio in bonumtranseunt. Bonum societate honesti fit, honestum per se bonum est; bonum ex honesto fluit,honestum ex se est. Quod bonum est malum esse potui t; quod honestum est nisi bo-num esse non potuit.

    Was ichmeine, ist Folgendes: Es gibt bestimmte (Handlungen), die weder gut noch schlechtsind, wie z.B. Kriegsdienst, die bernahme einer Gesandtschaft oder Rechtssprechung.Wenn diese Handlungen sittlich korrekt ausgefhrt wurden, dann fangen sie an gut zu seinund gehen vom ambivalenten Status ber in den guten. Gut wird etwas durch die Gemein-schaft mit dem sittlich Korrekten; das sittlich Korrekte ist von sich selbst her gut; das Guteergibt sich aus dem sittlich Korrekten, das sittlich Korrekte (hingegen) hat seinen Ursprungin sich selbst. Was gut ist , htte auch schlecht sein knnen; was sittlich korrektist, htte (hingegen) nichts anderes sein knnen als gut.

    Von stoischerWarte aus ist eine solche FormulierungnatrlichUnfug: Es gibt keinwirkliches Gut, das auch schlecht sein kann (oder htte sein knnen). Doch gibtes an dieser Stelle noch einen Leser, der nicht sofort versteht, worum es Senecageht? DieUnkorrektheit des Ausdrucks ist das zeigt ja die zweite Satzhlfte - hiernichtmehr verschleiernd oder beschnigend. Sie zeigt vielmehr, dass sich Senecaum seinen Lucilius keine Sorge mehr machen muss. Dieser ist lngst so sehr vonder Identitt von bonum und honestum berzeugt, dass er jede alltagssprachlicheFormulierung richtig einzuordnen wei.

    Fazit: Sptestens ab dem 100. Brief knnen wir eine Lockerung des Anspru-ches terminologischer Korrektheit konstatieren. Beide Seiten knnen sich gegen-seitig auf die Stabilitt ihre philosophischen berzeugungen verlassen. Dahersind durchweg mehr Formulierungen zu finden, die in ihrer philosophischenUnkorrektheit weit hinter die frheren Briefe zurckfallen. Das erfolgt jedochnicht aus Nachlssigkeit und ist nicht nur ein Entgegenkommen an den gewhn-lichen Sprachgebrauch: Seneca setzt solche Ausdrucksweisen ganz gezielt alshumoristische Wrze ein, indem er beispielsweise, wie im folgenden Beispiel,die Behandlung eines stoischen Themas mit einer ganz und gar epikureischenWortwahl einleitet:

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  • 260 | 5 Strategie der Wortwahl und der Briefstruktur

    116,1 Utrum satius sit modicos habere adfectus an nullos saepe quaesitum est. [...] Facilemme indulgentemque praebebo rebus ad quas tendis et quas aut necessar ias vitae aut ut i -les aut iucundas putas: detrahamvitium.Namcum tibi cupere interdixero, velle permittam,ut eadem illa intrepidus facias, ut certiore consilio, ut voluptates ipsas magis sentias:quidni ad te magis perventurae sint si illis imperabis quam si servies?

    Ob es besser ist, gemigte Affekte zu haben oder keine, hat man sich oft gefragt. [...] Ichwerde mich unkompliziert und nachgiebig gegenber den Dingen zeigen, die du habenwillst und die du fr notwendig, ntzl ich oder angenehm hltst: Nur das Lasterhaftewerde ich entfernen. Denn wenn ich dir untersage zu verlangen, werde ich dir doch dasWollen lassen, damit du das selbe (wie vorher), aber ohne Aufregung, tust undmit klareremVerstand, und damit du die Lste an sich mehr sprst: Warum sollen sie dichauch nicht in hherem Mae erreichen, wenn du ihnen befiehlst als wenn du ihnen dienst?

    Eine Anmerkung zu Senecas Humor: mir scheint Seneca in den spteren Briefen gerade die-se Diskrepanzen zwischen alltglicher und terminologisch festgelegter Wortwahl als Quelle frden seine Briefe durchweg begleitenden Humor auszunutzen. Offenbar hat er seine heimlicheFreude daran, sich auf alltagssprachliche oder gar oxymore Formulierungen zurckfallen zu las-sen. So zeigt sich Seneca zu Beginn des 104. Briefes auf schmhlicher Flucht doch nur vordem Fieber, das in Rom grassiert. Die Hektik bei der Sorge um seine Gesundheit, die nur schlechtzu der geziemenden Ruhe eines Weisen passen will, rechtfertigt er sogleich mit der Rcksichtauf Paulina, seine Frau: denn diese mache sich wiederum Sorgen um ihn. Und er erklrt mit ei-ner entwaffnendenWendung, die allerdings einem orthodoxen Stoiker den Schwei auf die Stirntreiben wrde (104,3): indulgendumest enim honest is affect ibus. Kaumauf dem Landgut vonNomentum angekommen, strzt sich Seneca bar jeder menschlichen Migung wie wild aufseine Trauben (104,6): in pascuum emissus cibum meum invasi. Erst dann gekrftigt und ge-sundet besinnt er sich wieder auf seine Studien und stellt nochmals berlegungen zu demalten sokratischen Thema an, kein Ortswechsel per se, sondern nur die Herstellung innerer Ruheknne zu einem Ende der ziellosen Flucht (104,20) fhren: Quamdiu quidem nescieris quid fu-giendum, quid petendum, quid necessarium, quid supervacuum, quid iustum, quid iniustum, quidhonestum, quid inhonestum sit, non erit hoc peregrinari sed errare (104,16). Der Kontrast zwischenden eingangs geschilderten Handlungsweisen aus dem Bereich des fugere (Flucht aus der Stadt)und petere (unmiger Genuss vonWeintrauben) zu solch terminologiegeladenen Formulierun-gen (fugiendum = , petendum = usw.) ist unbersehbar und ohne Zweifel ge-wollt, verleiht er doch beidem Senecas recht banaler Flucht genauso wie der sich daran an-schlieenden Reflexion ber die Sinnlosigkeit der Ortswechselei eine humoristische Note, einAugenzwinkern, das eine moralinsaure Lesart von vornherein unterbindet.

    Zugleich zeigt die Einleitung imVerhltnis zu dembrigenBrief, dass sich auchhier der Fo-kus der Argumentation verschobenhat. Zwar liegt auchhier die Emphase auf der Forderung, sichnicht durch einen Ortswechsel Heilung von seinen Lastern zu versprechen. Doch gerade Senecaseigenes Beispiel zu Briefbeginn soll zeigen, dass es bisweilen gute Grnde gibt, einen Ortswech-

    1 104,721; vgl. bereits den 28. und den 69. Brief.2 Vgl. oben ab S. 134) zum Wandel der Angstbekmpfungsargumente im 98. Brief: Seneca ge-stand dort (98,7) den in einemKontext der Angstbekmpfung zumersten Mal einengewissenWert zu.

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  • 5.1 Alltagssprachgebrauch und stoische Terminologie | 261

    sel vorzunehmen. Das heit: Das, wasdie frheren Briefe rundweg ablehnten, ist jetzt unter derMagabe, dass die grundstzlichen Gesichtspunkte beachtet werden durchaus erlaubt, wenndie Umstnde es erfordern. Systematisch gesehen bedeutet das: Weil Lucilius ein gefestigtesWeltbild hat und nicht mehr Gefahr luft, den Scheinwerten der zu erliegen (d.h. sieals Werte zu verabsolutieren), darf er nun allmhlich in umgekehrter Richtung daran gewhntwerden, ihnen wieder ihren gewissen Wert () beizumessen, der die Ursache ist, dass bei ih-nen und unterschieden werden knnen. Der stoische Weise zeichnetsich ja bei den einzelnen Entscheidungen im Leben dadurch aus, dass er nicht immer gleich undohneBercksichtigung des Einzelfalles vorgeht, sondern erkennen kann, inwelchemFall welcheHandlungsoption die richtige ist.

    5.1.2 virtus und honestum

    Auch vor dem Entscheidungskampf (d.h. vor dem 66. Brief) verwendet Senecaimmer wieder die stoischen Zentralbegriffe virtus und honestum. Doch in keinemTeil des Briefcorpus ist eine solche Hufung der Leitvokabeln des stoischen Wer-tekosmos zu verzeichnen wie in den Briefen 6699, und zwar nicht nur absolut(das wre angesichts der jetzt im Schnitt deutlich hheren Wortzahl der Briefewenig verwunderlich), sondern auch in Relation zur Brieflnge (s. Abb. 5.3). Vordiesen Briefen gibt es berhaupt nur zwei, in denen dieses Vokabular einen An-teil von ber 5 an der Gesamtwortmenge des Briefes erreicht. Bei diesen beiden(ep. 50 und 54) liegt es vornehmlich daran, dass sie aufgrund ihrer relativ gerin-gen absoluten Wortzahl (522 bzw. 391, vgl. Abb. 5.4 auf S. 267) schon mit 4 bzw. 2Leitbegriffsnennungen ber diese Marke hinauskommen.

    Anders verhlt es sich mit den betreffenden Briefen der Briefgruppe 6699.Bei ihnen treten die Leitbegriffe hufig, nicht selten sogar im zweistelligen Pro-millebereich, auf. In einer solchen Menge prgen sie den Lektreeindruck desjeweiligen Briefes mageblich. Natrlich sind es vor allem die Argumentations-briefe der Gterlehre, die solche Werte erreichen (epp. 66, 67, 71, 74, 76). Doch wirknnen erkennen, dass Seneca bis zum (uns vorliegenden) Ende des Briefcorpusimmerwieder einzelne Briefe fr die Prsenz der stoischen Leitwerte sorgen lsst.

    Wir haben also eine erste Briefhlfte mit einem eher geringen Anteil an stoi-schem Tugendvokabular und eine zweite mit einem wesentlich hheren. Dasdeckt sich exakt mit dem, was wir in der Entwicklung des summum-bonum-Gedankens (oben Kapitel 4) bemerkt haben.

    1 Gezhlt wurde, wie oft das Wort virtus und / oder ein Vertreter aus der Wortfamilie honest-. . . (honestus (Adj.), honestas (Subst.), honestum (subst. Adj.), honestare) im Brief vorkam. Nichtbercksichtigt wurde das Adjektiv inhonestus, weil es um eine Zhlungder positivenWertbegriffeging. Inhonestus kommt im Ganzen auch nur viermal vor (frhester Beleg: 74,30).

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  • 262 | 5 Strategie der Wortwahl und der Briefstruktur

    Abb. 5.3 Briefe mit hohem Anteil an Tugendvokabular

    Doch wie gezielt Seneca in der ersten Hlfte die Festlegung auf die stoischeLehre umgeht, erhellt noch aus einem anderen Umstand. In den beiden genann-ten Briefen, in denen schon vor dem 66. Brief eine Hufung des Leitvokabularsfestzustellen war, wird jeweils nur einer der beiden Begriffe, nmlich virtus, ver-wendet; berhaupt gibt es vor dem 66. Brief nur 6 Briefe, in denen beide Leitbe-griffe vorkommen (zumVergleich: in den Briefen 66124 sind es deren 28!). Und inkeinem dieser Briefe aus der ersten Hlfte kommen beide Begriffe im selben Kon-text vor. Nirgends stehen sie im selben Satz oder auchnur im selben Paragraphen;meist sind sie weit voneinander getrennt.

    Ganz anders ist das im zweiten Teil des Briefcorpus. In ausnahmslos allenBriefen mit einer hohen Leitbegriffsquote sind beide Termini vertreten, und siestehen in jedem Brief mindesteins einmal, oft weit hufiger, in enger sachlicherVerbindung zueinander. In diesem zweiten Teil gibt es zudem 15 Briefe, die zwarnur eine geringere Leitbegriffsquote aufweisen, jedoch beide Begriffe enthalten.Und in vier von ihnen gibt es ein sachlichbegrndetes Vorkommen von virtus undhonest-. . . im selben Kapitel.

    Welche Schlussfolgerungen knnen wir daraus ziehen? Sicherlich hat nichtSeneca am Schreibtisch sitzend stoische Termini ausgezhlt. Sein Vorgehen drf-

    1 Vgl. z.B. 66,15: Virtutem materia non mutat: nec peiorem facit dura ac difficilis nec melioremhilaris et laeta [...]. In utraque enim quod fit aeque recte fit, aeque prudenter, aeque honeste e.q.s.;67,10: Quidquid honeste fit una virtus facit; 82,12: Omnia ista per se non sunt honesta nec gloriosa,sed quidquid ex illis virtus adiit tractavitque honestum et gloriosum facit.2 75,16. 81,20. 94,29. 124,4. Die Lnge der Briefe (vgl. u. Abb. 5.4) ist dafr nicht der ausschlagge-bende Faktor. Die Briefe 75 und 124 entsprechen z.B. in ihrer Lnge (893/1307 Wrter) durchausdem Umfang des 9. und 14. Briefes (1301/1020 Wrter), in denen jeweils beide Begriffe zwar vor-handen sind, jedoch in keiner nheren Beziehung zueinander stehen.

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  • 5.2 Inhaltliche Gewichtung und Aufbau der Briefe | 263

    te vielmehr demeines jeden vernnftigenMenschen entsprechen, der einen ande-ren von etwas berzeugenmchte, das ihmnoch sehr fremd ist: Kein Christwrdeseinen Werbeversuch mit der Erbsndelehre beginnen und kein Politiker seinenWahlkampf mit der Notwendigkeit von Steuererhhungen. Es hat seinen guten,psychologisch nachvollziehbaren Grund, warum Stze wie der folgende Senecain den frheren Briefen einfach nicht ber die Lippen kommen:

    71,5 Hoc liqueat, nihil esse bonum nisi honestum: et omnia incommoda suo iure bona voca-buntur quae modo virtus honestaverit.

    Das soll uns klar sein, dass nichts gut ist auer das sittlich Richtige: Und alle Unannehm-lichkeiten werden mit eigenem Recht Gter genannt werden, wofern nur die virtus fr ihresittliche Veredelung gesorgt hat.

    Eine solche Wortwahl htte zu einem frhen Zeitpunkt Lucilius und mit ihmden weitgefcherten Leserkreis abgestoen und allenfalls in seinen Vorurteilenbestrkt. Bis in die Wortwahl hinein zeigt sich also, wie sich Seneca um die Bei-behaltung der Gunst des Lesers bemht hat.

    5.2 Inhaltliche Gewichtung und Aufbau der Briefe

    5.2.1 Der Brieftyp der wissenschaftlichen Abhandlung

    Im Laufe der Briefe ndert sich nicht nur das Vokabular, sondern auch die Bau-form der Briefe. Ich will das an einer Gruppe von Briefen demonstrieren, die einegroe strukturelle Nhe zu den Dialogi aufweist.

    Die zweite Hlfte des Briefcorpus zerfllt in Hinsicht auf die Hufigkeit derstoischen Leitbegriffe (oben Grafik 5.3 auf der vorherigen Seite) in zwei verschie-dene Epochen. Die eine Gruppe von Briefen stammt aus der Phase des Endkamp-fes zur Durchsetzung der stoischen Lehre gegen das lustbasierte TugendmodellEpikurs. Die Ursache fr die Hufung ergibt sich hier aus der apologetischen Ziel-setzung der Briefe.

    Mit dem 109. Brief beginnt die zweite Gruppe. Die Hufung der Leitbegriffeergibt sich in diesen jedoch nirgends aus einer apologetischen Zielsetzung. Viel-mehr erklrt sie sich bei vier dieser fnf Briefe daraus, dass in ihnen eine mit derGterlehre in Verbindung stehende Sachfrage abgehandelt wird. So begann der

    1 epist. 109, 113, 118 und 120. Ein Sonderfall ist der 123. Brief. Er setzt sich nicht mit anderenPhilosophenschulen und auch nicht mit innerschulischenMeinungen auseinander, sondernmitPhilosophiegegnern berhaupt (Vgl. die oben S. 55 auszugsweise zitierte apotreptische Rede).

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  • 264 | 5 Strategie der Wortwahl und der Briefstruktur

    109. Brief mit An sapiens sapienti prosit desideras (109,1); der 113. Brief gibt sichals Antwort auf die Frage an iustitia, fortitudo, prudentia ceteraeque virtutes ani-malia sint (113,1) kein Wunder, dass bei einer solchen Themenstellung schnell26 Nennungen von virtus beisammen sind.

    Diese Briefe laufen allesamt nach dem selben Schema ab: Es wird (meist vonLucilius) eine Frage vorgelegt, die Seneca dann grndlich, d.h. unter Hinzuzie-hung der hierzu existierenden wissenschaftlichen Tradition, beantwortet. Mit-unter ist dem Brief noch eine kolloquiale Einleitung vorgeschaltet. Es sind abernicht nur die Briefe mit einer hohen Leitvokabularquote, die diesem Ablauf fol-gen. Vielmehr geht fast die Hlfte der Briefe 100124 so vor.

    Die Themen dieser brieflichen Abhandlungen werden genannt in 102,3, 106,3, 109,1 (die-ser Brief gibt sich als Fortsetzung des 108. Briefes, der versprochen hatte, nach ein paar biogra-phischen Vorbemerkungen ein Thema abzuhandeln. Doch dazu kommt er nicht, weil sich dieVorbemerkungen, wie 108,17 bekennt, zu einem eigenen Thema entwickelt haben; eventuell ge-hren auch 113 und 117 noch zu der Briefserie, die ein Vorabauszug aus der Moralis philosophiasind); ferner in 111,1, 113,1, 114,1, 116,1, 117,1, 118,1, 120,1, 121,5 und 124,1. Lana macht zu Rechtauf die Parallelitt der Einleitungen des 111. Briefes (Quid vocentur Latine sophismata quaesistia me) und der Schrift De providentia aufmerksam (Quaesisti a me, Lucili, quid ita, si providentiamundus ageretur, multa bonis viris mala acciderent). Nur an diesen beiden Stellen benutze Se-neca berhaupt die Form quaesisti. Man mag freilich ergnzen, dass Seneca die Form quaeris zuBeginn des 7. Briefes (7,1) in ganz hnlicher Weise verwendet (dazu gleich mehr). Trotzdem trifftLanas Beobachtung von der Nhe zu den Dialogi zu; dazu knnte man den unpersnlichen Aus-druck (quaesitum est) ergnzen, den Seneca ebenfalls als Einleitung einer quaestio verwendet(epist. 116,1 am Briefanfang; sonst nur noch epist. 66,5 hier freilich noch voreingeleitet durchdie Beschreibung des Gesprchskontextes).

    Vielleicht sind andere Flle, auch wenn sie keine wortwrtliche Entsprechung haben, nochaussagekrftiger, um die Nhe vieler (spter) Briefeinleitungen zu denen der Dialogi zu belegen:Die Einleitungen vonDe providentiaundDe ira fallen dadurch auf, dass in ihnen jeweils das Verb

    Die sechsNennungenderLeitbegriffebeinhalten auch Tugendvokabular ausdemMundderGeg-ner oder in vllig unphilosophischem Sinne.1 Die Diskurskonstellation ist, wie Stckelberger,Brief als Mittel, 141 treffend feststellt, natr-lich auch hier rein literarische Fiktion: Wenn es schon bis dahin immer unglaubwrdig erschei-nen musste, dass ausgerechnet der im praktischen Leben verwurzelte Lucilius derartige quae-stiunculae stellte, so wird es im 121. Brief vollends klar, dass der Anlass zu diesen spitzfindigenDiskussion (sic!) von Seneca ausging, sehr zum Verdruss des Lucilius, der emprt ausruft: Washat das mit unserer Charakterbildung zu tun?: ep. 121,1: Litigabis, ego video, cum tibi hodiernamquaestiunculam, in qua satis haesimus, exposuero. iterum enim exclamabis: hoc quid admores?.2 So ist es beim 118. Brief; hier dauert das Vorgeplnkel recht lang, bis in 118,8 diewissenschaft-liche Frage gestellt wird quid sit bonum.3 Vgl. Cooper, Seneca on Moral Theory, 52 Anm. 12.4 Lettere a Lucilio, 272 mit Anm. 47: Se il dialogoDe providentia ci fosse pervenuto inclusonellaraccolta epistolare come una lettera a Lucilio non avremmo avuto alcunmotivo per dubitare dellalegittimit di tale collocazione.

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  • 5.2 Inhaltliche Gewichtung und Aufbau der Briefe | 265

    der Bitte, das die Schrift auszulsen vorgibt, in exponierter Stellung amSatzanfang unddamit amKopf der ganzen Abhandlung steht (ira 1,1,1: Exegisti a me, Novate, ut scriberem quemadmodumposset ira leniri e.q.s.). Einen solchen als unmittelbare Reaktion gekennzeichneten Beginn gibtes auch in den Briefen, jedoch eben erst 95,1 (Petis a me ut id quod in diem suum dixeram deberedifferri repraesentem) und 113,1 (Desideras tibi scribi a me quid sentiam de hac quaestione iactataapud nostros, an iustitia, fortitudo, prudentia ceteraeque virtutes animalia sint).

    Die Themenstellungen sind fast ausnahmslos solche, die innerhalb der stoi-schen Lehre nach demWie fragen oder sichmit den Lehren des Peripatos bzw. derAkademie auseinandersetzen (der Epikureismus ist kein wrdiger Gegner mehr),z.B.bonuman corpus sit (106,3), utrum satius sitmodicos habere adfectus an nullos(116,1) oder quomodo ad nos boni honestique notitia pervenerit (120,1). VereinzeltbetreffendieNachfragen auch auf rhetorisches oder kulturgeschichtlichesGebiet,so 111,1 (Quid vocentur Latine sophismata quaesisti a me) und 114,1 (Quare quibus-dam temporibus provenerit corrupti generis oratio quaeris).

    Diesen Brieftyp gibt es nicht erst jetzt, doch ist er jetzt so hufig und fllt da-durch besonders auf, dass diemeisten dieser Briefe bereits im ersten Satz die Fra-ge als Briefthema exponieren. Sie fallen geradezu mit der Tr ins Haus. DiesesVorgehen ist in den frheren Briefen uerst rar. Man muss berhaupt schon su-chen, wo sich ein Brief als Antwort auf eine Themenstellung durch Lucilius aus-gibt. Zwar gibt es zahlreiche Episteln, die einen Bezug auf ein Schreiben des Lu-cilius suggerieren. Doch dieser zeigt sich eben nur selten so klar in der Form einerAntwort auf eine Anfrage, wie die Briefeinleitung zum 7. Brief (Quid tibi vitandumpraecipue existimes quaeris? Turbam e.q.s.). Und bezogen auf philosophische nicht alltagsbezogene Anfragen gibt es im ganzen Corpus zuvor nur vier Briefe,deren Einleitungen eine solche Anfrage voraussetzen:

    9,1: An merito reprehendat in quadam epistula Epicurus eos qui dicunt sapi-entem se ipso esse contentum [...] desideras scire.

    88,1: De liberalibus studiis quid sentiam scire desideras e.q.s. 89,1: Rem utilem desideras [...] dividi philosophiam e.q.s. 95,1: Petis a me, ut [...] scribam tibi, an haec pars philosophiae, quam Graeci

    paraeneticen vocant, [...] satis sit ad consummandam sapientiam.

    Auch hier erfllt der 9. Brief also eine Vorreiterfunktion gegenber allen anderenihn umgebenden Briefen. Doch wenn wir genau hinsehen, bemerken wir einenkleinen Unterschied zu den spteren Abhandlungsbriefen. Der 9. Brief beant-wortet nmlich nicht direkt eine Anfrage zu einem philosophischen Thema, son-dern spiegelt die Bitte um einen Schiedsspruch zum Handeln einer Person wider.Lucilius hatte nicht gefragt Kannst du mir bitte erklren, ob es stimmt, dass derstoische Weise keine Freunde braucht?, sondern: Hat Epikur mit seinem Tadel

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  • 266 | 5 Strategie der Wortwahl und der Briefstruktur

    an den Vertretern des Autarkiemodells also auch an euch Recht? Natrlichluft beides auf die nhere Erklrung und Rechtfertigung der stoischen Sicht hin-aus. Doch der Fokus in Lucilius Frage ist noch nicht das sachlicheWissen-Wollen(Wie ist das zu verstehen?), sondern die affektive Spannung (Wer hat Recht?Wem soll ichmich anschlieen?). Die zuletzt genannte Frage ist eine, die den Le-ser zu Beginn der Briefe beschftigte; das rein sachliche Interesse durfte Senecadort noch nicht voraussetzen. Noch viel mehr galt das fr die vom unmittelbarenAlltagsbezug abgelsten Fragestellungen, wie sie in denmeisten der spteren Ab-handlungen inBriefformerrtert werden. So ist der 9. Brief zwar in gewisserWeiseein Vorlufer der spteren Abhandlungsbriefe, doch er nimmt sie nicht vorweg.

    Wenden wir uns nun einer Gruppe von Briefen zu, die auf den ersten Blickweit weniger hnlichkeiten zu den Abhandlungsbriefen zeigen, in formaler Hin-sicht jedoch mageblich zur Herausprgung dieses Brieftyps beigetragen zu ha-ben scheinen.

    5.2.2 Die Briefe der Campanienreise und ihre Bedeutung fr die Entwicklungder Briefform

    Am Ende des 45. Briefes ruft sich Seneca selbst zur Ordnung:

    45,13 Sed ne epistulaemodumexcedam, quae non debet sinistrammanum legentis implere,in alium diem hanc litem cum dialecticis differam e.q.s.

    Aber umnicht das fr einenBrief blicheMa zu berschreiten, der nicht die linkeHanddesLesers ausfllen darf, verschiebe ich diesen Streit mit den Dialektikern auf einen anderenZeitpunkt.

    Diese Begrndung ist etwas fadenscheinig. Denn der Brief hat eine Lnge vonnicht einmal 750Wrtern. Und vor diesem gab es bereits sieben Briefe, die lngerausgefallen waren. Bereits der 9. und der 14. Brief haben einen um mehr als einDrittel greren Umfang (1301 bzw. 1016 Wrter); der 24. Brief ist sogar mehr alsdoppelt so lang die Selbstermahnung Senecas im 45. Brief scheint vor diesemHintergrund verwunderlich.

    1 Gemeint ist: durch das Einrollen des bereits gelesenen Teiles des Briefes.2 Wenn der Brief berhaupt eine echte Fortsetzung hat, dann knnte es frhestens der 48. Briefsein.3 Solche Entschuldigungen finden sich brigens nur bis zum 58. Brief: 30,18. 55,11. 58,37, vgl.Peter, Brief, 234.4 Wortzhlung nach der Appendix von M. Lana in I. Lana, Lettere a Lucilio, 290305.5 Nmlich die Briefe 9, 13, 14, 18, 22, 24 und 30.

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  • 5.2 Inhaltliche Gewichtung und Aufbau der Briefe | 267

    Abb. 5.4 Brieflngen (in Wrtern)

    Nun ist zwar der unmittelbar folgende Brief 46 wirklich sehr kurz (< 200Wrter), doch schon der bernchste (47, der berhmte Sklavenbrief), erreichtden Umfang des 14. Briefes und geht wieder deutlich ber die Lnge des 45. hin-aus. Und wenn man sich die Entwicklung der Brieflngen insgesamt ansieht(s. Abb. 5.4 auf S. 267), wird das vom 45. Brief anvisierte Hchstma ohnehin adabsurdum gefhrt: In der Phase der Durchsetzung der stoischen Gterlehre (ep.6699) erreicht bereits die durchschnittliche Wortzahl mehr als den doppeltenWert (1548)!

    Wozu diese berlegungen? In der ersten Hlfte des Briefcorpus sind langeBriefe die Ausnahme. Der 45. Brief drfte also wenn man das Gefhl zugrun-de legt, das sich beim Leser whrend der bisherigen Lektre herausgebildet hat mit seinem Jetzt-ist-aber-Zeit-fr-das-Ende recht treffend das Gefhl des Le-sers wiedergeben. Angesichts dieser Rcksichtnahme stellt sich aber v.a. inAnbetracht der weit greren Lektrepensen, die den Leser in der zweiten Hlftedes Briefcorpus erwarten die Frage, ob Seneca seinen Adressaten in irgendeinerForm auf die wachsenden Anforderungen vorbereitet.

    Ich glaube, dass man dies bejahen kann. Oben (Kapitel 5.2.1) habe ich bereitsauf wiederkehrende Strukturelemente in den Abhandlungen in Briefform hin-gewiesen. Typische Elemente dieser Briefe sind: ggf. alltagsbezogene Einleitung,dannThemenexposition,Durchfhrungundabschlieendoft eineBewertungderethischen Relevanz.

    1 Die durchschnittliche Wortzahl der Briefe 144 betrgt 572.

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  • 268 | 5 Strategie der Wortwahl und der Briefstruktur

    Diese Strukturelemente erinnern anGliederungsmechanismen von Traktatenund erleichtern die Orientierung bei der Lektre lngerer Briefe merklich. Positivwirkt sich dabei natrlich die Wiederkehr gleicher Strukturabfolgen in verschie-denen Briefen aus.

    Mit dem Beginn des 6. Briefbuches, also ab Brief 53, beginnt eine Briefserie,die erstens inhaltlich enger miteinander verbunden ist Seneca befindet sich aufseiner Reise durch Campanien und die sich zweitens auch in formaler Hinsichtdurch parallele Strukturelemente auszeichnet. Das ist ein ganz neues Vorgehen,herrschte doch bis dahin wie fr den Briefinhalt so fr die Briefform das Prinzipder variatio. Die Serienform bewirkt nun eine Verklammerung mehrerer Briefe,die zwar die Brieflnge noch nicht direkt steigert, jedoch den Leser an lngeresachliche Einheiten gewhnt.

    Alle Briefe von 5357 schildern zu Beginn anschaulich ein aktuelles ErlebnisSenecas, das dieser dann in einem zweiten Schritt als Ausgangspunkt fr eineethischeMeditation nutzt. In den ersten beiden dieser Briefe erfolgt der bergangnoch ganz zwanglos:

    53,5 (Seneca war vonunertrglicher Seekrankheit heimgesuchtworden:) Ut primum sto-machum, quem scis non cum mari nausiam effugere, collegi, ut corpus unctione recreavi, hoccoepi mecum cogitare, quanta nos vitiorum nostrorum sequeretur oblivio, etiam corporalium,quae subinde admonent sui e.q.s.

    Sobald sichmein Magen du weit ja, dass er nicht mit demMeer zugleich seine Seekrank-heit hinter sich lsst wieder gesammelt hatte und sobald ich meinen Leib durch Einlengestrkt hatte, begann ich dies bei mir darber nachzudenken, wie schnell wir unsere Feh-ler auch die krperlichen, die doch immer wieder auf sich aufmerksam machen verges-sen usw.

    54,34 (Seneca berichtet von einem seiner vertrauten Atemnotsanflle:) 3 [...] Ego ve-ro et in ipsa suffocatione non desii cogitationibus laetis ac fortibus acquiescere. 4 Quid hocest? inquam tam saepe mors experitur me? Faciat: [at] ego illam diu expertus sum. Quan-do? inquis. Antequam nascerer e.q.s.

    3 [...] Ich habe aber auch mitten beim Erstickungsanfall nicht aufgehrt, mich bei heite-ren und tapferen berlegungen zur Ruhe zu bringen. 4 Was soll das?, fragte ich, so oftschliet der Tod Bekanntschaft mit mir? Soll er nur: Ich bin lngst bekanntschaft mit ihm. Wann?, fragst du. Bevor ich geboren wurde usw.

    Im dritten Brief dieser Serie ist jedoch auch fr den Leser schon eine Gewohnheitdaraus geworden, so dass Seneca mit doppeltem Recht sagt:

    1 Dieser Wirkung auf makroskopischer (d.h. Text-) Ebene entspricht auf mikroskopischer (d.h.Satz-) Ebene der Parallelismus. Wie dieser die Klarheit des Einzelgedankenganges befrdert, sobewirken jene ein erleichtertes Verstndnis des Verhltnisses von Argumentblcken zueinander.

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  • 5.2 Inhaltliche Gewichtung und Aufbau der Briefe | 269

    55,3 (Seneca musste aus gesundheitlicher Notwendigkeit einen Snftenspaziergang un-ternehmen und kam dabei an der Villa des Erzhedonisten Vatia vorbei:) Ex consuetudinetamenmea circumspicere coepi an aliquid illic inveniremquodmihi posset bono esse, et derexioculos in villam quae aliquando Vatiae fuit e.q.s.

    Gemmeiner Gewohnheit begann ich dennoch umherzuschauen, ob ich dort irgend etwasfnde, das mir ntzlich sein knnte, und lenkte meine Augen auf die Villa, die einstmalsdie Vatias war usw.

    Im55. Brief gibt es dieBesonderheit, dass er die Zweiteilungnichtnur einmal, son-dern doppelt durchfhrt, doch es ist dieselbe vertraute Strukturfolge, die dannauch im 56. und im 57. Brief wiederkehrt.

    Der 58. Brief tischt nun eine ganz andere, beraus theoretischeMaterie auf (esgeht um das Bedeutungsspektrum des Wortes bei Platon). Das Interessanteist aber, dass sich nun die bis hierher in fnf Episteln hintereinander eintrainierteBriefform inwenn auch leicht abgewandelter Gestalt fortsetzt. Die Brcke zumVorherigen ist, dass Seneca auchdiesenBrief als Erlebnis beginnen lsst (Gesternhaben wir uns ber Platon unterhalten und gemerkt, wie viele Worte uns im La-teinischen fehlen). An die Stelle der Darstellung des Erlebnisses rckt jedoch dieExposition der Platonischen Lehre. Das entspricht also demersten Teil der vorauf-gehenden Briefe. Mit 25 erfolgt dann der bergang zur ethischen Ausbeutung.Lucilius fragt, wozu die ganzen soeben vorgebrachten diffizilen Unterscheidun-genntzlich seien. Seneca antwortet zuerstmit demArgument der Zerstreuung;dochdannsetzt er in erkennbarer Parallele zur Praxis der vorigenBriefehinzu:

    58,2627 26 Hoc ego, Lucili, facere soleo: ex omni notione, etiam si a philosophia longissi-me aversa est, eruere aliquid conor et utile efficere. Quid istis quaemodo tractavimus remotiusa reformatione morum? quomodomeliorem me facere ideae Platonicae possunt? quid ex ististraham quod cupiditates meas comprimat? Vel hoc ipsum, quod omnia ista quae sensibus ser-viunt, quae nos accendunt et irritant, negat Plato ex iis esse quae vere sint. 27 Ergo istaimaginaria sunt et ad tempus aliquam faciem ferunt, nihil horum stabile nec solidum est; etnos tamen cupimus tamquam aut semper futura aut semper habituri.

    26 Dies pflege ich zu tun, Lucilius:Aus jederUntersuchung, auchwenn sienoch soweit ent-fernt von der Philosophie ist, versuche ich etwas herauszuziehen und ntzlich zu machen.Was ist weiter weg von der Verbesserung unserer Sitten als das, was wir gerade behandelthaben? Wie knnen mich die Platonischen Ideen besser machen? Was kann ich aus ihnenziehen, das meine Begierden eindmmt? Vielleicht eben dies, dass Platon von all dem,

    1 Nmlich fr eine moralische berlegung, wie der Fortgang des Briefes zeigt.2 12: Ereignisbericht Teil I; 35: Reflexion Teil I; 67: Ereignisbericht Teil II; 811: Reflexion II.3 57,3 wieder ausdrcklich gekennzeichnet: Aliquid tamen mihi illa obscuritas quod cogitaremdedit e.q.s.4 58,25: animum aliquando debemus relaxare et quibusdam oblectamentis reficere.

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  • 270 | 5 Strategie der Wortwahl und der Briefstruktur

    was den Sinnen dient, was uns entflammt und erregt, sagt, dass es nicht zu den wahrhaftseienden Dingen gehrt. 27 Also sind diese Dinge nur abbildhaft und tragen eine Gestaltauf Zeit, doch nichts von diesen Dingen ist dauerhaft und fest; und wir begehren sie doch,wie wenn sie immer existierten oder wir sie immer besen.

    Damit ist die bertragung des Erlebnis-Reflexions-Schemas auf die Behandlungsprder und umfangreicher philosophischer Themen bewerkstelligt. Durch dieVerpflanzung ist das Grundschema Einleitung Exposition eines Themas ethische Verwertung entstanden. DemKenner wird vor Augen stehen, welch gu-te Dienste es in vielen spteren Briefen leisten wird.

    Dabei gibt es verschiedene Abwandlungen. Eine davon ist die soeben (Kapi-tel 5.2.1) besprochene Abhandlung in Briefform. Je nachdem, ob es sich dabeium eine von Seneca eher als wenig wertvoll empfundene dialektische Auseinan-dersetzung (z.B. epist. 109 und 113) oder um die Verhandlung eines direkt ethischverwertbaren Stoffes handelt (z.B. epist. 116 und 120), kann die ethische Verwer-tung bereits auch im Darlegungsteil hineinreichen, wobei sich das Ende auchdieser Briefe dann nochmals durch einen moralischen Appell o. dgl. gesondertals ethischer Schluss vom Rest abhebt.

    Eine weitere Variante ist die Form des Argumentierens, wie sie etwa der66. Brief durchfhrt. Auch dieser beginntmit einer Alltagseinleitung (1: Claranumcondiscipulum meum vidi post multos annos e.q.s.). Nach der langen Diskussionder Frage 66,5, quomodo possint paria bona esse, erfolgt dann ab 49 die ethischeAuswertung durch eine bis zum Briefende ( 53) whrende peroratio, die in aller

    1 In Bernos Kommentar finden sich keine in diese Richtung gehenden Beobachtungen.2 Sie ist worauf Inwood, Selected philosophical letters, 156 bereits aufmerksam gemacht hat eng verwandtmit der Einleitungstechnik des 58. und des 65. Briefes: Denn auchder 66. Brief fhrtdas Thema nicht direkt ein, sondern als Erzhlung vom Inhalt eines gemeinsamen Gesprchesunter Freunden. 66,4 deutet Seneca sogar an, dass diesmal nicht nur ein Brief, sondern ein ganzerZyklus aus dem Bericht von diesen Gesprchen entstehen wird (. . .multi nobis sermones fuerunt,quos subinde egeram et ad te permittam. Hoc primo die quaesitum est, quomodo possint pariabona esse womit das Briefthema des ersten dieser Sammlung exponiert wird). Zwar findet sichdanach keine Spur mehr von diesem Zyklus in den Briefen; das drfte sich jedoch weder auseinem handschriftlichen Verlust noch einer getrennten Verffentlichung erklren, sondern ganzeinfach daraus, dass die Einleitung des 66. Briefes nichts anderes signalisieren mchte: jetztkommen noch mehr Briefe von dieser Sorte und das stimmt ja. Im Gegensatz zu einer Phasedes bergangs von alltagsbezogenen zu wissenschaftsbezogenen Briefen (5865), in der sich dieBriefthemen und -typen stndig abwechseln, wei der Leser jetzt, dass es nun eine Folge vonSachbriefen geben wird. Dass sie dann im Einzelnen jeweils ganz neu motiviert werden, wirdkein Leser als Verlust empfinden; im Gegenteil: Eine Serie der Art Heute gibt es das 8. Themaaus der Gesprchsrunde bei Claranus wre ermdend gewesen und htte das Grundprinzip derBriefe verletzt, stets eine lebendige Interaktion zwischen Leser und Autor vorzuspiegeln.

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  • 5.3 Schlussfolgerungen | 271

    Krze anhand weniger exempla beweist, dass das, was hier theoretisch errtertworden ist, auch praktisch mglich ist.

    5.3 Schlussfolgerungen

    Ich habe mit den berlegungen zum Wortgebrauch und zur Briefform die in denvorigen Kapiteln aufgestellte These zu untermauern versucht, dass eine thera-peutische Lesart die Mglichkeit schafft, Entwicklungen und Unterschiede in derForm der Darstellung bei Seneca nicht mehr auf Inkonsequenzen des Autors, aufbiographische Entwicklungen oder auf eine Beliebigkeit im Umgang mit seinenQuellen zurckfhren zu mssen. Stattdessen lassen sich aus dieser Perspektivenicht wenige Ungereimtheiten schlssig aufklren.

    Mit der vorliegenden Arbeit ist freilich erst der Anfang gemacht. Viele Berei-che habe ich noch gar nicht berhrt, z.B. den des Prosarhythmus. Es wre sicherlohnenswert zu prfen, ob sich in Anlehnung an Hijmans Forschungen nichtauch in diesem Bereich Spuren von dem zeigen, was ich in makroskopischererHinsicht aufzudecken versucht habe. Gibt es z.B. bestimmte Argumentationsfor-men, die lngere Kola oder bestimmte Klauselformen bevorzugen? Oder ist in denzuletzt angesprochenen humoristischen Passagen eine erkennbare Spannungzwischen vordergrndigem Wortlaut und der meso- und mikrorhythmischen Ge-staltung nachweisbar?

    Genauer zu klren und neu zu bewerten wre auch Senecas Stellung zu sei-nenphilosophischenVorbildern. Ich habe bereits oben (S. 155) davon gesprochen,dass Seneca nicht als primrer (=sachlicher), jedoch als taktischer Eklektikerbezeichnet werden kann. Der Unterschied zwischen beiden Arten des Eklektizis-mus knnte nicht grer sein; es hat zudem bedeutende Auswirkungen auf dieInterpretation Senecanischer Texte: Wir mssen bei jeder Bezugnahme auf frem-de Lehren nicht nur die anderer Schulen, sondern auch bei Rckgriffen auf dieAutoritten der Stoa selbst nicht allein fragen, welcher philosophischen Rich-tung eine bestimmte Aussage vielleicht verpflichtet ist, sondern mssen vor al-lem fragen, was das jeweilige Ziel dieser Anlehnung ist. Ferner bleibt genauer zuklren, inwiefern Senecas Praxis einer umfassenden rhetorisch-therapeutischenAusrichtung schon in seinen frheren Werken und bereits bei anderen Philoso-phen vorgeprgt war. Die oben (Kapitel 2.4 ab S. 98) angestellten berlegungensind nur als erste Annherungsversuche zu verstehen.

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  • 272 | 5 Strategie der Wortwahl und der Briefstruktur

    5.4 Zusammenfassung

    Die inhaltlichen Ergebnisse der ersten vier Kapitel besttigen sich in den Untersu-chungen zumWortgebrauch Senecas (5.1) und zur Entwicklung der formalen Ge-staltung der Briefe (5.2). Auch wenn eine genaue Phaseneinteilung nicht mglichund nicht sinnvoll ist Seneca gestaltet die bergnge flieend , so lsst sichdoch erkennen, dass Seneca in einer ersten Phase das Vokabular absichtlich un-scharf hlt. Er erreicht damit, dass seine Sprache geschmeidig bleibt und demAll-tagssprachgebrauch des Lesers keine Gewalt antut (etwa im Sinne, dass die beldieserWelt keine bel seien). Ungefhr ab dem 66. bis zum 99. Brief kmpft Sene-ca intensiv um die Durchsetzung der stoischen Gterlehre. Auf Strukturebene be-gegnet uns in dieser Phase neu der Brieftyp der wissenschaftlichen Abhandlung;dieser wird vor allem fr die letzte Briefphase (100-Ende) eine beherrschende Be-deutung erlangen. Vorbereitet worden war er freilich schon vorher: Die Briefe derCampanienreise haben ihn durch ihre feste Abfolge von Erlebnisschilderung undethischer Reflexion gleichsam prfiguriert; der 58. Brief setzt diese Struktur erst-mals um in das Schema Einleitung Themenexposition Diskussion der ethi-schen Relevanz.

    Was das Vokabular in dieser Phase des Gterkampfes betrifft also in denSchreiben ab dem 66. Brief , achtet Seneca einerseits verstrkt auf eine prziseAusdrucksweise hinsichtlich der Gterbegriffe, indem er sie entweder korrekt be-nutzt, sie durch korrektere Begriffe ersetzt oder zumindest durch einschrnkendeZustze auf die Defizienz des Alltagssprachgebrauchs aufmerksam macht; ande-rerseits verwendet er erst von jetzt an die eigentlichen stoischen Leitbegriffe inhoher Konzentration. Und erst jetzt nutzt er sie auch dazu, um sie gegenseitig zuerklren.

    Ab ca. dem 100. Brief tritt wieder Entspannung ein; der Kampf um die G-terlehre ist abgeschlossen, und Seneca lsst sich im diesbezglichen Vokabularwieder hufiger auf Alltagsniveau fallen. Wenn aber die Sprachregelung sich da-mit gelegentlich auchwieder demNiveau zu Beginn der Briefe nhert, so grndetsie sich doch, wie nicht wenige gewissermaen als Pfand hinterlegte Beispiele ei-ner korrekten und stoisch przisen Wortwahl zeigen, nun nicht mehr auf die Un-kenntnis des Lucilius, sondern ganz im Gegenteil auf sein przises Wissen vonder stoischen Terminologie. Das, was er zu Anfang der Briefe noch nicht vertragenkonnte eine aus stoischer Sicht terminologisch korrekte Gterbeschreibung das bentigt er jetzt nicht mehr. Denn mittlerweile nach der Phase der Durch-setzung steht Lucilius oberhalb von der Ebene des Wortes. Er wei stets, waseigentlich gemeint ist, wenn Seneca so mit ihm redet; Verwechslungen oder dasWiederaufleben falscher Gtervorstellungen muss sein Freund lngst nicht mehrbefrchten.

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  • 5.4 Zusammenfassung | 273

    Dieser Umstand wird zugleich zu einer nie versiegenden Quelle fr SenecasHumor, kann er doch nun seinem berzeugten Stoikerfreund frank und frei invon beiden erkannter Doppeldeutigkeit riesige Reichtmer (maximas divitias,119,1) versprechen oder ihm versichern, die stoische Lehre werde dafr sorgen,dass er die Lste noch intensiver fhlen werde ([...] ut voluptates ipas magissentias, 116,1). An dieser Stelle zeigt sich der Unterschied zu den frhen Briefendeutlich: Bereits im 23. Brief versprach Seneca seinem Freund eine nie versiegen-de Freude (23,14), doch er tat es mit der zur stoischen Sicht hinaufweisendenBegrifflichkeit des gaudium und der laetitia. Hier aber kostet er es aus, Lucili-us das Gewinnbringende einer moralischen Lebensfhrung in mglichst epiku-reischem Vokabular ausmalen zu drfen. Dass er dabei nicht nur von voluptasspricht, sondern von einem ganzen Schwarm von voluptates, rckt die Diktionfast schon in die Nhe der Ausdrucksweise des Vulgrepikureers und Erzegoistenaus dem 123. Brief. Doch das ist Absicht. Jetzt, nach so langer Beschftigung mitder stoischen Lehre, muss Lucilius auch das vertragen knnen.

    1 S. auch oben S. 260.

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