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Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae...

Date post: 07-Feb-2017
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3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre 3.1 Strategien gegen die Angst Neben dem Affekt der Bedrückung bzw. Trauer (λύπη), auf den die Konsolations- schriften ausgerichtet sind, gibt es nach der stoischen Lehre unter den vier Haupt- affekten mit der Furcht (φόβος) einen weiteren ›mit negativen Vorzeichen‹, d.h. einen mit ›zusammenziehender‹ Wirkung auf das Seelenpneuma.¹ Dieser ist na- turgemäß der zweite Hauptanwendungsbereich therapeutischer Techniken. Nicht ohne Grund stammt das unverblümteste Bekenntnis Senecas zu therapeutischem Argumentieren (»Non loquor tecum Stoica lingua«) aus einem Brief, dessen Ziel es ist, Lucilius Mut zu machen.² In seinem Aufsatz Angst in Senecas Briefen hat Wacht übersichtlich und quel- lenbezogen herausgearbeitet, dass Seneca – in weit höherem Maße als seine stoi- schen Vorgänger – neben der rationalen Erörterung auf Techniken der Seelenlei- tung wie die Mahnrede (Paränese, vorwiegend durch exempla) und die innerli- che Vorwegnahme schlimmer Ereignisse praemeditatio futurorum malorum³) zu- rückgreift. Wacht beschränkt sich jedoch etwas einseitig auf den systematischen Aspekt. Er verknüpft Senecas Äußerungen in den Briefen ohne eingehende Prü- fung ihres Argumentationszieles miteinander und, wo es möglich ist, mit den stoi- schen Quellen. Natürlich trifft er dabei das, was der Sache nach aus stoischer Sicht gemeint ist. Aber das ist eben nur die eine Seite der Medaille. Obwohl er bemerkt, dass viele Hilfestellungen »der strengen stoischen Lehre nicht angemessen« sind (526) und er auch einen Fortschritt hin zu ernsthafteren Empfehlungen anerkennt (527), bemerkt er nicht, dass nicht allein die »Rücksicht auf den epikureischen Freund« (528) als Ursache für alle nicht ganz der ›reinen Lehre‹ angemessenen Formulierungen angesehen werden kann, sondern dass gerade die Ambiguität der Fomulierung ein bewusst platziertes strategisches Mittel ist, das ein breites Leserspektrum – mit einem heterogenen philosophischen Entwicklungsstand – nach und nach für die stoische Sicht der Dinge gewinnen soll. Mit anderen Wor- ten: Wacht zeigt nur, wie ein Leser die entsprechenden Passagen verstehen kann, nicht aber unbedingt, inwieweit er sie auch so verstehen muss. 1 Siehe oben S. 88. Zu den vier Hauptaffekten und den drei εὐπάϑειαι oben S. 105. 2 S. unten S. 124. 3 Cic. Tusc. 3,52 = SVF 3,417: Cyrenaicorum restat sententia; qui tum aegritudinem censent exis- tere, si necopinato quid evenerit. Est id quidem magnum, ut supra dixi; etiam Chrysippo ita videri scio, quod provisum ante non sit, id ferire vehementius. Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated | 10.248.254.158 Download Date | 9/14/14 9:27 PM
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Page 1: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

3 Die Epistulae morales als therapeutischangelegte Lektuumlre

31 Strategien gegen die Angst

Neben dem Affekt der Bedruumlckung bzw Trauer (λύπη) auf den die Konsolations-schriften ausgerichtet sind gibt es nachder stoischen Lehre unter den vier Haupt-affekten mit der Furcht (φόβος) einen weiteren rsaquomit negativen Vorzeichenlsaquo dheinen mit rsaquozusammenziehenderlsaquo Wirkung auf das Seelenpneumasup1 Dieser ist na-turgemaumlszlig der zweite Hauptanwendungsbereich therapeutischer TechnikenNichtohne Grund stammt das unverbluumlmteste Bekenntnis Senecas zu therapeutischemArgumentieren (raquoNon loquor tecum Stoica lingualaquo) aus einem Brief dessen Ziel esist Lucilius Mut zu machensup2

In seinemAufsatzAngst in SenecasBriefenhatWachtuumlbersichtlich undquel-lenbezogen herausgearbeitet dass Seneca ndash in weit houmlherem Maszlige als seine stoi-schen Vorgaumlnger ndash neben der rationalen Eroumlrterung auf Techniken der Seelenlei-tung wie die Mahnrede (Paraumlnese vorwiegend durch exempla) und die innerli-che Vorwegnahme schlimmer Ereignisse praemeditatio futurorum malorumsup3) zu-ruumlckgreift Wacht beschraumlnkt sich jedoch etwas einseitig auf den systematischenAspekt Er verknuumlpft Senecas Aumluszligerungen in den Briefen ohne eingehende Pruuml-fung ihresArgumentationszielesmiteinander undwo esmoumlglich istmit den stoi-schenQuellenNatuumlrlich trifft er dabei daswasder Sachenachaus stoischer Sichtgemeint ist Aber das ist eben nur die eine Seite der Medaille Obwohl er bemerktdass viele Hilfestellungen raquoder strengen stoischen Lehre nicht angemessenlaquo sind(526) und er auch einen Fortschritt hin zu ernsthafteren Empfehlungen anerkennt(527) bemerkt er nicht dass nicht allein die raquoRuumlcksicht auf den epikureischenFreundlaquo (528) als Ursache fuumlr alle nicht ganz der rsaquoreinen Lehrelsaquo angemessenenFormulierungen angesehen werden kann sondern dass gerade die Ambiguitaumltder Fomulierung ein bewusst platziertes strategisches Mittel ist das ein breitesLeserspektrum ndash mit einem heterogenen philosophischen Entwicklungsstand ndashnach und nach fuumlr die stoische Sicht der Dinge gewinnen soll Mit anderen Wor-ten Wacht zeigt nur wie ein Leser die entsprechenden Passagen verstehen kannnicht aber unbedingt inwieweit er sie auch so verstehen muss

1 Siehe oben S 88 Zu den vier Hauptaffekten und den drei εὐπάϑειαι oben S 1052 S unten S 1243 Cic Tusc 352 = SVF 3417 Cyrenaicorum restat sententia qui tum aegritudinem censent exis-tere si necopinato quid evenerit Est id quidem magnum ut supra dixi etiam Chrysippo ita videriscio quod provisum ante non sit id ferire vehementius

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Demgegenuumlber ist an jeder Formulierung nicht nur zu pruumlfen wieviel Stoaschon sondern wieviel Stoa noch nicht zwingend in ihr steckt inwieweit also ihrephilosophische Richtung noch offen bleibt Diese Art der rsaquoOffenheitlsaquo ist eine ganzandere als die von der Maurach sprichtsup1 wenn er Senecas raquoKunst der offenenFormulierunglaquo lobt Maurach geht es naumlmlich nicht um ein Offenlassen der phi-losophischen Richtung (das spielt in seiner Untersuchung keine Rolle) sondernlediglich um ein vorlaumlufiges Offenlassen aufgeworfener Fragen

raquo zunaumlchst faumlllt auf dass hier vieles nur angedeutet wird vieles voraussetzungsreich istohne dass diese Voraussetzungen hier bereits ausgesprochen wuumlrden Man erkennt also dieKunst der rsaquooffenen Formulierunglsaquo die offen genannt werden kann weil sie Fragen aufwirftsie aber offen laumlsst bis sie in spaumlteren Briefen beantwortet werdenlaquo (28)

Maurachs Beobachtung ist ohne Zweifel nicht falsch Doch die Raffinesse Sene-cas sehe ich nicht zuallererst darin dass er manche Fragen zunaumlchst nicht voll-staumlndig beantwortet sondern darin dass er sie mit besonderer Vorliebe ndash philo-sophischgesehenndashnicht eindeutig beziehungsweisenicht konsistent beantwortetSeneca aumluszligert sich ja durchaus zu vielen Themen ndash doch laumlsst er es eben bewusstan der philosophischen Verbindlichkeit mangelnsup2

Interessant ist nun dass sich bei naumlherem Hinsehen ein paumldagogisch abge-stuftes Vorgehen erkennen laumlsst Das ist insbesondere bei Themen gut zu beob-achten die in entsprechender Haumlufigkeit uumlber das Briefcorpus verteilt sind Ichmoumlchte das kurz insgesamt an der Entwicklung des Themas der Furchtbehand-lung und spezieller am 13 Brief demonstrieren

311 Raffiniert aber unaufdringlich der 13 Brief als stoischer Werbeprospekt

Die Situation ist folgende Lucilius hat Furcht (vor einem nicht naumlher bezeichne-ten Ereignis) Seneca moumlchte ihm helfen (134 accipe a me auxilia quibus munirete possis) und beginnt ermunternd mit einem Lob Lucilius habe Schicksalsschlauml-ge erlitten nun bewaumlhre er sich darin ihnen trotzig die Stirn zu bieten Die Brief-konstellation ist somit (auch weil sie so inkonkret bleibt) bestens geeignet dassviele Leser die Lobesworte auch auf sich und die eigene Lebenssituation applizie-ren koumlnnen Geschickt laumlsst Seneca auch die Formulierung des Lobes prima faciersaquokonfessionsfreilsaquo Doch unter der Hand schleust er stoische Werte ein

1 Bau 28 und oumlfter2 S bereits oben S 28

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131 Multum tibi esse animi scio nametiamantequam instrueres te praeceptis salutaribus etdura vincentibus satis adversus fortunamplacebas tibi etmultomagis postquamcum illama-num conseruisti viresque expertus es tuas quae numquam certam dare fiduciam sui possuntnisi cummultae difficultates hinc et illinc apparuerunt aliquando vero et propius accesseruntSic verus ille animus et in alienum non venturus arbitrium probatur haec eius obrussa est

Ich weiszlig dass du uumlber groszlige mentale Staumlrke verfuumlgst denn schon bevor du dich mit heil-samen und auch harten Lebenslagen standhaltenden Leitsaumltzen ausgeruumlstet hast durftestdu mit deiner Haltung gegenuumlber den Launen des Schicksals zufrieden sein und erst rechtnachdemdudichmit ihmangelegt unddeineKraumlfte kennengelernt hast die ja nie ein siche-res Zeugnis von sich ablegen koumlnnen wenn nicht allerlei Schwierigkeiten sich von hier unddort gezeigt haben und manchmal auch schon naumlher geruumlckt sind Genau so beweist sich je-nes wahrhaft standhafte und auch in Zukunft sich nicht unter ein fremdes Urteil beugendeGemuumlt das ist seine Feuerprobe

Unter dem Gesichtspunkt der Werbung fuumlr die Stoa geht dieser Abschnitt aumluszligerstgeschickt vor Die stoischen Bezuumlge liegen auf der Hand Wir erkennen die Be-waumlhrung gegen das (und nicht im) Schicksal (dura vincentibus)sup1 das Umdeutenungluumlcklicher Situationen zu hervorragenden Bewaumlhrungsmoumlglichkeiten fuumlr deneigenen Charaktersup2 sowie die Selbstbestimmtheit und Freiheit der Vernunft (verusille animus et in alienum non venturus arbitrium)sup3 Doch die Raffinesse liegt darinwie Seneca ndash und dh wie unverbindlich ndash er diese Werte lanciert Die Formulie-rungen zur Staumlrke des animus sind Stoa-typisch aber eben nicht terminologischfestgelegt und kein Epikureer wuumlrde zu bestreiten haben dass Epikurs Leitsaumlt-ze nicht auch rsaquoheilsamlsaquo sind und helfen rsaquoharten Lebenslagen standzuhaltenlsaquo⁴

1 Auch ohne den Gebrauch stoischer Terminologie ist die Anspielung auf die stoische Lehre un-verkennbar vgl zB prov 59 Contra fortunam illi tenendus est cursus Siehe auch Griffin Se-neca 351 mit Anm 1 (Verweis auf const sap 21ndash2 ndash Zur Herausbildung und Bedeutung des stoi-schen Gedankens des fortunae resistere vgl Busch Fortunae resistere2 Vgl ndash als ein Beispiel unter vielen ndash Sen prov 22 wo es vom Weisen heiszligt Omnia adversaexercitationes putat3 Aus stoischer Sicht steckt hinter diesen Worten das Konzept vom λόγος der sich nie den auf-kommenden Vorstellungen (φαντασίαι) uumlberlaumlsst auchwenn sie noch souumlberzeugend auftretenDieses Konzept bleibt aber eben verborgen die unterminologische Sprache ist beabsichtigt Mankann schon das stoische Konzept mithoumlren muss aber nicht Es ist zunaumlchst nur von einem un-beugsamen standhaften Gemuumlt die Rede ndash wie dies zustande kommen kann davon ist noch garnichts gesagt4 Wie eine deutlicher stoische und nicht mehr epikurkonforme Formulierung des gleichen Ge-dankens klingen koumlnnte zeigt zB prov 66 wo Seneca auf den Einwand rsaquoAt multa incidunt tris-tia horrenda dura toleratulsaquo Gott aus stoischer providentia-Perspektive antworten laumlsst Quia nonpoteram vos istis subducere animos vestros adversos omnia armavi Ferte fortiter Hoc est quodeum antecedatis ille extra patientiam malorum est vos supra patientiam ndash Waumlhrend die Stoikerin ihrer Wortwahl eher auf die innere Staumlrkung im Kampf mit den aumluszligeren Anfechtungen abzie-

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ebensogut koumlnnte jede andere Philosophenschule dieseWirkungen fuumlr sich rekla-mieren Ferner Die ndash aus stoischer Sicht zu Unrecht so genannten ndash mala nenntSeneca ausweichend difficultates (und bereitet damit die stoische Einordnung alsincommoda vor) und er deutet sie zwar in stoischer Manier zu Bewaumlhrungsmoumlg-lichkeiten um jedoch spricht er zunaumlchst nicht von der Bewaumlhrung fuumlr die virtus ndashdiesen Gedanken hebt er sich fuumlr den Abschluss des Lobes in 133 auf ndash sondernstattdessen etwas offener vom rsaquoErproben der vireslsaquo der eigenen Kraumlfte Diesen Ge-danken baut Seneca im Folgenden aus

132ndash3 2 Non potest athleta magnos spiritus ad certamen adferre qui numquam sugillatusest ille qui sanguinem suum vidit cuius dentes crepuere sub pugno ille qui subplantatus ad-versarium toto tulit corpore nec proiecit animum proiectus qui quotiens cecidit contumaciorresurrexit cummagna spe descendit ad pugnam 3 Ergo ut similitudinem istam prosequarsaepe iam fortuna supra te fuit nec tamen tradidisti te sed subsiluisti et acrior constitistimultum enim adicit sibi virtus lacessita

2 Kein Ringkaumlmpfer kann mit groszligem Kampfesmut zum Wettkampf antreten der niemalsverbleut worden ist Jener (aber) der sein eigenes Blut gesehen hat und dessen Zaumlhne unterdem Faustschlag des Gegners geknirscht haben jener der obwohl schon unter dem Fuszligdes Feindes liegend ihn mitsamt seinem ganzen Koumlrpergewicht hochgestemmt und seinenMut nicht obgleich selbst zu Boden geworfen weggeworfen hat und der sooft er auch hin-stuumlrzte nur umso kampfeslustigersup1 wieder aufgesprungen ist ndash nur der steigt mit groszligerHoffnung in den Ring hinab zum Kampf 3 Also umbei diesem Bild zu bleiben Schon oftstand das Ungluumlck auf dir und dennoch hast du dich ihm nicht ausgeliefert sondern bistaufgesprungen und hast dich nur umso trotziger zum Kampf aufgestellt viel (Kraft) steuertsich naumlmlich die virtus bei wenn sie angestachelt worden ist

War schon der erste Abschnitt von Kampfmetaphorik gepraumlgt (multum animi es-se ndash se instruere ndash adversus fortunam ndash vincere ndash manum conserere ndash vires experi-ri) so konkretisiert diese der zweite Abschnitt hin zum Pankration (magnos spiri-tus ad certamen adferre ndash sugillari ndash sanguinem suum videre ndash cuius dentes crepu-ere sub pugno ndash subplantatus ndash contumax ndash resurgere)sup2 In hymnischem Stil feiertSeneca den Athleten in nach dem Gesetz der wachsenden Glieder immer laumlnge-ren Attributsaumltzen wobei die erste mit ille begonnene Reihe (ille qui sanguinem

len setzen die epikureischen Argumentationen auf der Seite der aumluszligeren Anfechtungen an undversuchen ihnen durch rationale Erklaumlrung ihren furchteinfloumlszligenden Charakter zu nehmen zBLucr 624f veridicis igitur purgavit [ Epicurus ] pectora dictis | et finem statuit cuppedinis atque ti-moris1 woumlrtlich raquo und der () kampfeslustiger (als je zuvor) wieder aufspranglaquo2 Dies ist nicht nur einer groumlszligeren Anschaulichkeit geschuldet Das Bild des Zweikampfes sug-geriert zugleich dass die Fortuna nicht mit Heeresstaumlrke daherkommt und dass Lucilius (bzwjeder Leser) ein ebenbuumlrtiger Gegner fuumlr sie sein kann

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suum vidit cuius dentes crepuere sub pugno) sein Ertragen vonVerletzungenpreistund die zweite auch stilistisch durch das Polyptoton (proiecit proiectus) unddurch die t- und k-Alliterationen hervorgehobene ille-Reihe (ille qui subplantatusadversarium toto tulit corpore nec proiecit animum proiectus qui quotiens ceciditcontumacior resurrexit) sein Lob durch die Schilderung seines unbezwingbarenSiegeswillens in houmlchste Houmlhen fuumlhrt

In einem zweiten Schritt uumlbertraumlgt Seneca nun diese Metaphorik direkt aufLucilius rsaquoauch dulsaquo sagt er rsaquobist unter dem Fuszlig des Schicksals wieder hervorge-sprungen (subsiluisti) hast dich nicht ergeben (nec tamen tradidisti te) und hastdich ebenfalls nach jeder scheinbarenNiederlage nur umso trotziger zum Kampfeaufgestellt (acrior constitisti)lsaquo und jetzt auf demHoumlhepunkt setzt Seneca in einerSentenz in betonter Endstellung auch den Leitbegriff ergaumlnzt um den wichtigs-ten Aspekt der stoischen Schicksalsdeutung Vermeintliche Uumlbel sind bei Lichtbetrachtet rsaquoAnstachelungenlsaquo fuumlr die virtussup1

Die psychagogische Strategie bis hierher liegt auf der Hand Seneca benutztden Verweis auf bereits erfolgreich gemeisterte Bewaumlhrungssituationen und diehymnische Diktion um Lucilius zu einem Helden aufzubauen fuumlr den ndash wie fuumlrden Pankratiasten im Gleichnis des Panaitios (oben S 81) ndash keine Herausforde-rung zu groszlig ist Mit andern Worten Es ist ein Versuch Lucilius auf sehr schmei-chelhafte Weise an die stoische Sichtweise auf die Herausforderungen des Lebensheranzufuumlhren und ihn darauf zu verpflichtensup2

Umso armseliger wirkt die Handlungskasuistik zu der sich Seneca nun ur-ploumltzlich ndash allein wie er sagt Lucilius zuliebe ndash herablaumlsst

133ndash5 3 (Forts) Tamen si tibi videtur accipe a me auxilia quibus munire te possis4 Plura sunt Lucili quae nos terrent quam quae premunt et saepius opinione quam relaboramus Non loquor tecum Stoica l ingua sed hac summissiore nos enim di-cimus omnia ista quae gemitus mugitusque exprimunt levia esse et contemnenda Omittamushaec magna verba sed di boni vera illud tibi praecipio ne sis miser ante tempus cum illaquae velut inminentia expavisti fortasse nunquam ventura sint certe non venerint 5 Quae-dam ergo nos magis torquent quam debent quaedam ante torquent quam debent quaedamtorquent cum omnino non debeant aut augemus dolorem aut praecipimus aut fingimus

1 Ein Gedanke der die gesamte Schrift De providentia durchzieht So laumlsst Seneca zB den auchdort gewaumlhlten Athletenvergleich (prov 23) in der Sentenz gipfeln Marcet sine adversario vir-tus tunc apparet quanta sit quantumque polleat cum quid possit patientia ostendit (24) oder 46calamitas virtutis occasio est2 Diese Technik des rsaquoUumlberzeugensdurchKomplimentelsaquo koumlnnen wirmehrfach in denBriefen wie-derfinden Besonders deutlich tritt sie auch im6 Brief (in Verbindungmit dem9 Brief) in Erschei-nung vgl unten S 238

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3 (Forts) Dennochvernimm wenndumagst vonmir Ratschlaumlgemit denen dudich schuumlt-zen kannst 4 Es sind mehr Dinge Lucilius die uns einen Schrecken einjagen als diedie uns (tatsaumlchlich) beeintraumlchtigen und oumlfter leiden wir aufgrund unserer Vorstellung alsaufgrund des Sachverhaltes Ich spreche jetzt nicht in der stoischen Redeweisemit dir sondern in dieser zuruumlckhaltenderen wir sagen naumlmlich dass all dieseDinge die Klagenund Jammern hervorrufen leicht zu ertragen und zu verachten sind Dochlassen wir diese groszligen aber bei Gott wahren Worte Jenes schreibe ich dir vor dass dunicht schon vor der Zeit ungluumlcklich bist da doch jene Dinge die du wie unmittelbar dro-hende gefuumlrchtest hast vielleicht nie eintreten werden auf jeden Fall aber nicht eingetretensind 5 Manche Gefahren quaumllen uns alsomehr als siemuumlssenmanche fruumlher als siemuumls-sen undmanche obwohl sie uns uumlberhaupt nicht quaumllen duumlrften wir vermehren das Leidennehmen es voraus oder bilden es uns nur ein

Das ist wirklich eine Kehrtwende um 180 Gradsup1 Keine Rede mehr von einemrsaquoDem-Schicksal-die-Stirn-Bietenlsaquo Statt dessen epikureisches Klein-Klein tau-send Tipps wie man die Aumlngste vor der Zukunft verringern kann Denn es istkeineswegs so dass Seneca wie Wacht glaubt diese Lehren wenn auch mitGewalt aus der stoischen Lehrtradition herausziehtsup2

Fuumlr einen Epikureer sind und bleiben Ungluumlcksfaumllle Momente der Anfechtung er soll ihnenmoumlglichst aus dem Wege gehen ndash man denke an den Grundsatz λάϑε βιώσαςsup3 ndash wenn aber etwas

1 Viel schwaumlcher scheint den Umschwung Maurach Bau 67 zu beurteilen raquoUnd doch so faumlhrtSeneca fort obschon der Freund solche Kraft hat es gibt wirksame Hilfen die eine Anwendungdieses animus erleichternlaquo Das klingt als sei das was ab 134 folgt nur die praktische Ergaumln-zung zu dem was Seneca vorher gesagt hat Auch Hachmann Leserfuumlhrung 126 will hier of-fenbar keinen Bruch sehen raquoDabei will er (zunaumlchst) nicht die harte unverbluumlmte Sprache derStoa sondern eine leisere Sprechweise benutzenlaquo (das gleiche Bild schon bei Maurach Bau69 raquoBeide Briefe [ 12 und 13 ] reden nicht mit lauter Stimme sondern remissiore vocelaquo) Senecaredet aber nicht nur rsaquoleiserlsaquo dh weniger drastisch oder weniger deutlich sondern definitiv ineiner anderen philosophischen Sprache als der der Stoa Was er eigentlich von derlei remediahaumllt zeigen spaumltere Stellen wie diese (706) Itaque effeminatiss imam vocem illius Rhodiiexistimo qui cum in caveam coniectus esset a tyranno et tamquam ferum aliquod animal aleretursuadenti cuidam ut abstineret cibo rsaquoomnialsaquo inquit rsaquohomini dum vivi t speranda suntlsaquondashCancik Untersuchungen 74 laumlsst diese Stelle ganz unter den Tisch fallen obwohl sie groumlszligteRelevanz fuumlr die von ihr vorgenommene Zuruumlckweisung der These von einer Entwicklung desLucilius gehabt haumltte s dazu S 138 ndash Vollkommen verfehlt Peter Brief 231 der diese WorteSenecas als Programm fuumlr die Briefe insgesamt missversteht (raquoDem Programm des rsaquoprodesselsaquo ge-maumlszlig verschmaumlht er die ernste Sprache der Philosophie als fuumlr einen Brief ungeeignetlaquo es folgenals Belegstellen 134 und 381)2 Wacht Angst in Senecas Briefen 526 raquoAngst so bestimmten die Stoa und andere vor ihr be-steht in der Erwartung eines zukuumlnftigen Uumlbels Seneca leitet daraus ab ne sis miser ante tempus(ep 134)laquo (meine Hervorhebung) Natuumlrlich ist auch Wacht die Herkunft der lenia remedia ausder Schule Epikurs bewusst Aber gerade deswegen meine ich dass man hier nicht eine Bruumlckezur stoischen Definition suchen sollte3 Plut mor 1128ff

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Unvermeidliches eintritt oder bevorsteht dann muss er sich mit der Methode der avocatio undrevocatio also der Ablenkung vom gegenwaumlrtigen bzw zukuumlnftigen Zustand und der Ruumlckbesin-nung auf erfreulichere Zeiten behelfensup1

Schon der Vorschlag ne sis miser ante tempus (134) ist genuin epikureisch(avocatio) und ist der Lehre der Stoiker die wie die Kyrenaiker die Technik derpraemeditatio favorisiert haben diametral entgegengesetzt Dabei hatte Sene-ca die praemeditatio-Lehre doch selbst im vierten Brief ausdruumlcklich empfohlen(s oben S 42) Hier im 13 Brief liegt er jedoch auf epikureischer Linie wenn erkritisiert aut augemus dolorem aut praecipimus aut fingimus (135)sup2

AuchdieKritikaut augemusdolorem ist genaugenommennicht Stoa-konformsie passt nicht zum Postulat der Unempfindlichkeit (ἀπάϑεια) des stoischen Wei-sen gegenuumlber den Versuchungen des Schicksals Der Stoiker versucht nicht dieBeeinflussung durch den Schmerz zu verringern sondern er strebt danach sieganz abzuschaffen Anstelle dieser harten Forderung verbuumlndet sich Seneca hierdurch seine Formulierung noch mit der dem Volksempfinden naumlher stehendenperipatetischen Guumlterlehre

Doch zunaumlchst moumlchte Seneca Lucilius nur davon uumlberzeugen dass es sinn-voll ist seineAffekte zu drosseln Das ist derwichtigste Schritt in die richtige Rich-tung (Affektminderung) Ob das Ziel dabei nun in weiter Ferne (zB Epikur) odergar hinten am Horizont (Stoa) liegt ist erst einmal zweitrangig Dieses ganze Pro-blemfeld kann auf spaumlter vertagt werden Wir koumlnnen jedoch festhalten Hier inden Briefen gibt es bei Seneca einen Vorrang der Taktik vor der Systematik

Weder moumlchte Seneca allen Ernstes die praemeditatio- oder die ἀπάϑεια-Lehre grundsaumltzlich in Frage stellen Schon aufgrund des kaumlmpferischen Briefbe-ginns ist das unwahrscheinlich und gegen Ende des Briefes wird er wieder ganzoffen empfehlen der Zukunft ins Auge zu blicken (1314 Alius dicat rsaquofortasse nonvenietlsaquo tu dic rsaquoquid porro si veniet Videbimus uter vincat lsaquo)sup3 Mit dem epiku-reischen Schwenk in der Briefmitte duumlrfte Seneca eher auf folgende Alternative

1 Cic Tusc 333 s oben S 802 Seneca verknuumlpft die selben beiden Kritikpunkte (1 ein erwartetes bevorstehendes Uumlbel mussnicht unbedingt eintreten 2 auchwenn es eintritt ist es nicht sinnvoll den Schmerz durch seineVorerwartung schon in die Gegenwart hinein zu verlaumlngern) die auch Epikur Ciceros Bericht zu-folge verbundenhaben soll Cic Tusc 332 ( qui censet necesse esse omnis in aegritudine essequi se in malis esse arbitrentur sive illa ante provisa et expectata sint sive inveteraverint Namneve vetustate minui mala nec fieri praemeditata leviora stultamque etiam esse meditationemfuturi mali aut fortasse ne futuri quidem satis esse odiosum malum omne cum venisset qui au-tem semper cogitavisset accidere posse aliquid adversi ei fieri illud sempiternum malum si verone futurum quidem sit frustra suscipi miseriam voluntariam ita semper angi aut accipiendo autcogitando malo3 S dazu unten S 129

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hinauswollen rsaquoWenn du stark genug bist dann schaue dem Schicksal ins Augeund uumlberwinde es wenn nicht ndash dann schaue eben nicht voraus damit du dirimmerhin nicht die Lebenszeit bis dahin verdirbstlsaquo

Der Kontrast des Umschwungs (oder besser Abschwungs) von derHoumlhe des Brief-beginns zu den jetzigen Niederungen popularer Alltagsratschlaumlge ist gewollt Erbietet Seneca die Moumlglichkeit die stoische Weltsicht in ein guumlnstiges Licht zuruumlcken sie in einer starken Position zu zeigen und trotzdem den Vorbehalten undauch Wuumlnschen der Leserschaft nach praktischen Ratschlaumlgen Raum zu gebenZugleich kann er auf diese Weise einem sehr breiten Leserspektrum gerecht wer-den Die Kontrastierung beider Sichten gibt ihm zudem die Moumlglichkeit auch in-nerhalb der Ratschlaumlge immer wieder in Richtung der stoischen Sichtweise aufden Leser einzuwirken

135 Primum illud quia res in controversia est et litem contestatam habemus in praesentiadifferatur Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes scio alios inter flagella riderealios gemere sub colapho Postea videbimus utrum ista suis viribus valeant an inbecillitatenostra

Aber jener erste Punkt soll weil die Angelegenheit (unter uns) umstritten ist und wir denProzess eingereicht haben jetzt erst einmal vertagt werden Das was ich unbedeutend nen-nen werde wirst du nachdruumlcklich fuumlr aumluszligerst gewichtig erklaumlren ich weiszlig dass die einenunter Geiszligelhieben lachen die anderen (schon) bei einer Ohrfeige jammern Spaumlter werdenwir sehen ob diese Dinge aufgrund ihrer eigenen Beschaffenheit Bedeutung fuumlr uns habenoder nur durch unsere Schwaumlche

Wie der Einschub si tibi videtur (133) dient dieser Abschnitt dazu die rsaquohoumlherelsaquoSicht der Stoa als Gegenfolie praumlsent zu haltensup1 Geschickt bezeichnet Seneca denGegensatz zwischender stoischen Sicht undder des Lucilius nicht als einen quali-tativen zwischen Unempfindlichkeit (ἀπάϑεια) und Empfindsamkeit sondern als

1 Diese Technik ist wie Goumlrler Untersuchungen zu Ciceros Philosophie gezeigt hat omniprauml-sent bei Cicero und uumlberdeutlich in seinen Tuskulanen in denen er immer wieder versucht ne-ben der rsaquoniedrigenlsaquo sicheren Position die rsaquohoumlherelsaquo aber schwerer beweisbare und nicht uumlberZweifel erhabene Ebene zur Geltung zu bringen vgl ebd zB 206 raquoWenn Cicero im erstenTuskulanenbuch [] zunaumlchst Beweise fuumlr die Unsterblichkeit der Seele gibt dann aber diesenStandpunkt aufgibt und nur noch daran festhaumllt dass der Tod auch bei voumllligem Untergang derSeele kein Uumlbel ist so liegen beide Argumentationen nicht auf derselben Ebenelaquo oder (25) raquoWieder Glaube an die Unsterblichkeit der Seele immer wieder von Zweifeln erschuumlttert wird ist esschwer die stoische Uumlberzeugung (nihil bonum nisi virtus) allen Versuchungen zum Trotz auf-rechtzuerhalten Der stoische Standpunkt ist zwar erhabener (im gleichen Sinne wie der Glaubean die Unsterblichkeit) aber der theophrastische steht dem Boden der beweisbaren Tatsachennaumlherlaquo

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einen quantitativen zwischen Mehr- oder Weniger-Leidensup1 zugleich waumlhlt er einBeispiel bei demdasWeniger-Leidenals erstrebenswert angesehenwerdenmussMit inbecillitate nostra bereitet Seneca den Leser (ohne dass er allzutief in diersaquograue Theorielsaquo eintauchen muss) darauf vor dass die Ursache fuumlr die Relativitaumltder Bewertung von Uumlbeln vor allem in unserer eigenen Sicht auf sie zu sehen ist

Auch in 7ndash8 koumlnnen wir beobachten wie Seneca geschickt beide philosophi-sche Richtungen einander gegenuumlberstellt wobei wiederum die Stoa in der houmlhe-ren Position erscheint Auf die fiktive Frage des Lucilius wie er wahre von einge-bildeten Gefahren unterscheiden koumlnne (rsaquoQuomodolsaquo inquis rsaquointellegam vana sintan vera quibus angorlsaquo) antwortet Seneca zunaumlchst ganz im Sinne Epikurs

137 Accipe huius rei regulam aut praesentibus torquemur aut futuris aut utrisque De prae-sentibus facile iudicium est si corpus tuum liberum et sanum est nec ullus ex iniuria dolor estvidebimus quid futurum sit hodie nihil negotii habetsup2

Hier hast du ein Richtmaszlig fuumlr diese Situation Wir werden entweder durch Gegenwaumlrtigesoder durch Zukuumlnftiges oder durch beides gequaumllt In Bezug auf Gegenwaumlrtiges ist die Ent-scheidung leicht Wenn dein Koumlrper frei und gesund ist und es keinen Schmerz aufgrundeines (erlittenen oder getanen) Unrechts gibt werden wir sehen was die Zukunft bringtHeute (jedenfalls) hat er kein Problemsup2

Diese epikureische Loumlsung hat nochnie recht zu uumlberzeugen vermocht und Sene-ca nutzt dieUnzufriedenheit des Interlokutors (bzw des Lucilius) umdie stoischeLehre von der Zustimmung zum Affektimpuls (συγϰατάϑεσις assensio) vorzube-reiten

138 rsaquoAt enim futurum estlsaquo ndash Primum dispice an certa argumenta sint venturi mali plerum-que enim suspicionibus laboramus et illudit nobis illa quae conficere bellum solet fama multoautem magis singulos conficit Ita est mi Lucili c i to accedimus opinioni non coargui-mus illa quae nos in metum adducunt nec excutimus []

rsaquoAber (das Unheil) wird doch eintretenlsaquo ndash Erstens schau genau hin ob es sichere Anzeichenfuumlr ein kommendes Unheil gibt meistens leiden wir naumlmlich aufgrund unserer Verdaumlchti-gungen und uns narrt jenes Geruumlcht das einen Krieg vom Zaune zu brechen pflegt nochmehr aber die einzelnen Leute zugrunderichtet So ist es mein Lucilius Wir pflichten un-

1 Also in genau der Weise wie er es in 135 schon vorbereitet hatte quaedam ergo nosmagis tor-quent quam debent Auch das dazugehoumlrige Fazit augemus dolorem legte ja nur eine quantitativeDeutung nahe s dazu oben auf Seite 1262 Vgl zu diesem Gedanken oben Anm 2 auf Seite 126 Nicht ganz deutlich gibt diesen GedankenCiceros Torquatus wieder (fin 159) accedunt aegritudines molestiae maerores qui exedunt ani-mos conficiuntque curis hominum non intellegentium nihil dolendum esse animo quod sit a dolorecorporis praesenti futurove seiunctum ndash Danach koumlnnte man meinen Epikur lasse die Angstvor zukuumlnftigen Uumlbeln zu

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31 Strategien gegen die Angst | 129

serer Meinung zu schnell bei wir pruumlfen jene Dinge nicht die uns in Furcht versetzen unduntersuchen sie nicht genau []

Das ist nicht viel mehr als eine Andeutung aber sie hilft die stoische Loumlsungrsaquoim Spiellsaquo zu halten ohne auf die Kasuistik verzichten zu muumlssen Und bei dieserscheut sich Seneca nicht sogleich wieder unter das stoische Niveau zu zufallennochmals therapiert er die Furcht vor dem kommenden Unheil epikureisch undim offenen Widerspruch zur stoischen praemeditatio-Empfehlung

1310f 10 Verisimile est aliquid futurum mali non statim verum est Quam multa nonexspectata venerunt Quam multa exspectata nusquam conparuerunt Etiam si futurum estquid iuvat dolor i suo occurrere Satis cito dolebis cum venerit interim tibi meliorapromitte 11 Quid facies lucri Tempus

10 Es ist sehr wahrscheinlich dass ein Unheil eintreten wird (deshalb) ist es (aber) nichtsogleich (auch schon)wahrWie vieleDinge sind eingetreten obwohl sie nicht erwartetwur-den Wie viele Dinge die erwartet wurden sind nirgendwo erschienen Und wenn es docheintreten wird Was nuumltzt es dann seinem Schmerz zuvorzukommen Du wirst fruumlh genugSchmerz empfinden wenn es eingetreten ist Bis dahin stelle dir bessere Perspektiven vorAugen 11 Was du dadurch gewinnen wirst Zeit

Noch mehr fuumlhrt es von der stoischen Lehre weg wenn Seneca Lucilius fuumlr denFall dass er die Furcht nicht niederhalten kann sogar den Griff zu einem ent-gegengesetzten Laster empfiehlt (1312) si minus vitio vitium repelle spe metumtempera ndash raquowenn (es) weniger (gut moumlglich ist) dann draumlnge eine Fehlhaltungdurch eine andere zuruumlck und maumlszligige die Furcht durch die Hoffnunglaquo

Mit solchen Gedanken und offenkundigen Notloumlsungen mag sich der rsaquoschwa-chelsaquo Patient der noch keine rsaquostaumlrkere Medizinlsaquo vertraumlgt behelfensup1 Doch Senecahat durchdie staumlndige Praumlsenzder stoischenGegensicht dafuumlr gesorgt dass er be-reits ein schlechtes Gewissen dabei haben muss Und falls er es doch noch nichthaben sollte so sorgt der Briefabschluss dafuumlr der mit 1314 eingelaumlutet wird undwieder die Anfangsperspektive uumlbernimmt

1314 Pudet me daggeribidaggersic tecum loqui et tam lenibus te remediis focilare Alius dicat rsaquofortassenon venietlsaquo tu dic rsaquoquid porro si veniet videbimus uter vincat fortasse pro me venit et morsista vitam honestabitlsaquo

Ich schaumlme mich an dieser Stelle so mit dir zu reden und dich mit so sanften Heilmitteln zuhaumltschelnsup2 Ein anderer soll vonmir aus sagen rsaquovielleicht tritt es gar nicht einlsaquo Duaber sollstsagen rsaquoNaundWas ist wenn es kommen wird Wir werden sehen wer siegt vielleicht trittes zu meinen Gunsten ein und jener Tod wird mein Leben adelnlsaquo

1 Vgl zu diesem Gedanken die oben (S 114) angefuumlhrte Stelle aus const sap2 focilare steht eigentlich fuumlr rsaquodurch Waumlrme wieder ins Leben zuruumlckbringenlsaquo

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130 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Seneca laumlsst ndash als peroratio in Kurzform ndash die Standard-exempla Sokrates und Ca-to folgen und schlieszligt einen Appell an damit ist die stoische Perspektive durchzwei rsaquoBruumlckenkoumlpfelsaquo am Anfang und Ende des eigentlichen Briefes gesichert undSeneca kann zum Epikur-dictum uumlbergehen

312 Angsttherapie im Wandel

Der 13 Brief zeigt keine Angstbehandlung aus einheitlicher philosophischer Per-spektive sondern arbeitet mit dem Hilfsmittel des philosophischen Perspektiven-wechsels Dabei wird die stoische Sicht zwar favorisiert die eigentliche Therapiearbeitet aber mit epikureisch gepraumlgten Handreichungen

Aus diesem Mischbefund heraus ergibt sich die Frage ob sich das Kraumlftever-haumlltnis zwischen Epikureismus und Stoizismus im Verlauf der Briefe zugunsteneiner der beidenSeitenverschiebt Amehesten laumlsst sichdas andemgerade schonangesprochenen Themenkomplex des Umganges mit der Angst uumlberpruumlfen weilSeneca diesen ausreichend oft und in breiter Streuung uumlber das Briefcorpus hin-wegwiederkehren laumlsst Eine Entwicklungmuumlsste sichhier besonders gut ablesenlassen

Der ganze Bereich ist inhaltlich und systematisch bereits durch die gruumlnd-liche Untersuchung Wachts erschlossen Leider laumlsst dieser jedoch die Fragenach der philosophischen Entwicklung weitgehend auszliger Betracht Zwar nimmtWacht vor allem im Verhaumlltnis zwischen Brief 13 und 24 eine deutliche Veraumln-derung der Argumentationsweise wahr (527) doch scheint er nicht zu erwaumlgendass dahinter eine kompositorische bzw therapeutische Absicht stecken koumlnntejedenfalls stellt er nirgendwo die Frage inwiefern zB fruumlhe Aumluszligerungen wirk-lich Senecas Meinung wiedergeben Daher kombiniert er in seiner DarstellungArgumentationen aus weit auseinanderliegenden Briefen ohne verschiedenersaquoTherapiestufenlsaquo zu unterscheiden Doch diese unterscheiden sich wie ein Ver-gleich zeigen soll erheblich voneinander

Im letztenBriefabschnitt des fuumlnftenBriefes (57ndash9) entwickelt Seneca imRah-men seiner Auslegung des Briefdictums (Hekaton Desines timere si sperare de-sieris) den Gedanken dass Hoffnung und Furcht wie Waumlchter und Gefangeneraneinander gekettet sind das sei auch ganz logisch weil beide Affekte besorgteProjektionen auf die Zukunft seien (utrumque pendentis animi est utrumque futuriexpectatione solliciti) So weit so gut ndash dieser Gedanke ist was die Zuordnung zuEpikur oder zur Stoa betrifft neutral Doch die Analyse die folgt ist epikureisch

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31 Strategien gegen die Angst | 131

58 Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed cogitationes inlonginqua praemittimus itaque providentia maximum bonum condicionis humanae in ma-lum versa est

Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht auf die ge-genwaumlrtigenDinge konzentrieren sondern unsereUumlberlegungen aufweit Entferntes voraus-senden und so hat sich die Faumlhigkeit zur Voraussicht der groumlszligte Vorzug der menschlichenNatur zum Uumlblen hin verwandelt

Damit seien wir noch schlechter beraten als die Tiere die sich nur durch Gegen-waumlrtiges bedruumlcken lieszligen bei uns fuumlhle sichniemandnicht nur aufgrund gegen-waumlrtiger Uumlbel bedruumlckt (nemo tantum praesentibus miser est)

Mit diesen Worten endet der Brief es gibt ndash anders als in der 13 Epistel ndash keinstoisierendes kein zu einer houmlheren Sicht aufrufendes Finale und keine exem-pla die den Leser auffordern sich zu ermannen und den Gefahren mit Mut entge-genzutreten Und auch vor dem soeben angesprochenen Abschnitt sucht man diestoische Position vergebens Der Gedankengang ist voll und ganz epikureischundsteht in unausgeglichenem Gegensatz zur praemeditatio-Lehre einzig im unauf-faumlllig eingewobenen itaque providentia maximumbonumcondicionis humanae inmalum versa est koumlnnte man bei gutem Willen einen aufglimmenden Funken desin 46 eingefuumlhrten praemeditatio-Gedankens erkennen Doch Seneca huumltet sichauf diesen Widerspruch aufmerksam zu machen Nur fuumlr den der schon fuumlr ihnempfaumlnglich ist ist dieser Schimmer einer stoischen Sicht uumlberhaupt wahrnehm-bar

Wie geht Seneca diese Thematik in spaumlteren Briefen anNehmenwir zunaumlchst einweit entferntes Beispiel Im 98 Briefsup1 lesen wir Saumltze die den epikureisierendenPassagen des 5 aber auch denen des 13 Briefes durchaus aumlhnlich klingen zB(Beruumlhrungen zur epikureischen Lehre hervorgehoben)

986 Calamitosus est animus futuri anxius et ante miser ias misersup2 qui sol l ic i tus estut ea quibus delectatur ad extremum usque permaneant nullo enim tempore conquiescit etexpectat ione ventur i praesentia quibus frui poterat amittet

Schlimm dran ist ein Mensch der um die Zukunft besorgt und (schon) vor dem Ungluumlckungluumlcklich ist der besorgt ist dass das woran er sich freut bis an sein Lebensende erhal-ten bleibt er wird naumlmlich zu keiner Zeit zur Ruhe kommen und wird in der Erwartung derZukunft das Gegenwaumlrtige das er haumltte genieszligen koumlnnen verlieren

1 Die thematische Verwandtschaft der Briefe 5 13 14 24 und 98 ist in der Forschung oft gesehenworden zB Cancik Untersuchungen 72ndash75 (geht auf die ersten vier der genannten Briefe ein)Maurach Bau 73f und 97 mit Anm 78 Hachmann Leserfuumlhrung 130ndash1342 Vgl epist 134 illud tibi praecipio ne sis miser ante tempus

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132 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Oder

987f 7 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est ma-lum suum antecedere 8 [] Plus dolet quam necesse est qui ante dolet quam ne-cesse est

7 Nichts ist erbaumlrmlicher und nichts unsinniger als sich schon vorher zu fuumlrchten Was istdas fuumlr ein Wahnsinn seinem Ungluumlck zuvorzukommen 8 [] Mehr als noumltig leidet werfruumlher als noumltig leidet

Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied Der 98 Brief zeichnet eine vollkom-men andere Situation Waumlhrend im 5 und vor allem im 13 Brief die Ratschlaumlgeeinem (vermuteten) Bedarf auf Seiten des rsaquoLuciliuslsaquo entsprechen er also selbstihr Adressat ist sind sie im 98 Brief Beiprodukt einer anderen Thematik naumlm-lich der allgemeinen Eroumlrterung von Fragen der stoischen Guumlterlehre Aus demEingangssatz raquoMan sollte nie einen fuumlr gluumlcklich halten der vom (aumluszligeren) Gluumlckabhaumlngig istlaquosup1 hatte Seneca die Frage entstehen lassen ob aumluszligere Guumlter dennnicht trotzdem angenehm und nuumltzlich sein koumlnnten (Eine solche auf der stoi-schen ἀδιάφορα-Lehre basierende Frage ist uumlbrigens das sei vorweggenommenvor dem 65 Brief undenkbar) Zwar bejaht Seneca diessup2 doch knuumlpft er das anein entsprechendes mentales Training sich dabei staumlndig der eigentlichen Guumlterbewusst zu sein

984 Sive alios observare volueris (liberius enim inter aliena iudicium est) sive te ipsum fa-vore seposito et senties hoc et confiteberis nihil ex his optabilibus et caris utile esse nisi tecontra levitatem casus rerumque casum sequentium instruxeris nisi illud frequenter et sinequerella inter singula damna dixeris raquodis aliter visum estlaquo [Verg Aen 2428]

Sei es dass du andere (das Urteil ist naumlmlich bei fremden Angelegenheiten unbefangener)oder dass du unter Beiseitelegen von Selbstgefaumllligkeit dich selbst daraufhin ansehenwillstDu wirst dies bemerken und anerkennen dass nichts von diesen wuumlnschenswerten undwertvollen Dingen nuumltzlich ist wenn du dich nicht gegen die Unbestaumlndigkeit des Zufallsund derjenigen Dinge die dem Zufallsgesetz folgen wappnest und wenn du nicht oft undohne Klagen bei einzelnen Ungluumlcksfaumlllen jenen Satz vorbringst rsaquoDie Goumltter wollten es an-derslsaquo

1 Numquam credideris felicem quemquam ex felicitate suspensum2 Uumlbrigens wieder unter reichlicher Beimischung epikureischer Stimulanzien (s oben S 39) andieser Stelle (981f) wird die Verknuumlpfung genuin stoischer Gedanken mit diesen Sekundaumlrmoti-ven besonders deutlich rsaquoQuid ergo non usui ac voluptati esse possuntlsaquoQuis negat sed itasi lla ex nobis pendent non ex illis nos Omnia quae fortuna intuetur ita fruct i fera ac iucundafiunt si qui habet illa se quoque habet nec in rerum suarum potestate est

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31 Strategien gegen die Angst | 133

Die Passage zeigt deutlich dass die Aufforderungen zur praemeditatio (und eben-so zur Schicksalsergebenheit sozusagen einermeditatio in ipso eventu) in diesemBrief weder einen konkreten Anlass haben noch einer konkreten Person geltenEs geht bei diesen Uumlberlegungen nicht um Luciliusrsquo Gemuumltslage sondern um dierichtige Bewertung der Guumlter

Seneca glaubt im 98 Brief auch nicht mehr dass Lucilius hier noch einenNachholebedarf hat Das wird schon daraus ersichtlich dass Seneca anders alsim 5 Brief Lucilius und sich nicht mehr einschlieszligt in die Menge derer die denFehler machen sich durch Vergangenes und Zukuumlnftiges bedruumlcken zu lassenIm 5 Brief hieszlig es noch

58ndash9 8 [] Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed co-gitationes in longinqua praemittimus[] 9 Ferae pericula quae vident fugiunt cum effu-gere securae sunt nos et venturo torquemur et praeterito

8 [] Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht aufdie gegenwaumlrtigen Dinge konzentrieren sondern unsere Uumlberlegungen auf weit Entferntesvoraussenden [] 9 Die wilden Tiere fliehen vor den Gefahren die sie (gerade) sehenwir aber lassen uns von Zukuumlnftigem und Vergangenem peinigen

Auch der 13 Brief formulierte einschlieszligend und die dort bereits erkennbareMissbilligung dieser Haltung war noch in die Form des freundlichen Hinweisesgegossen (zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere) Nun aber im 98 Brief di-stanziert Seneca sich Lucilius und damit den Leser von einer solchen Positionindem er diese (in der dritten Person) mit beiszligendem Hohn uumlberzieht Wenigmitfuumlhlend haumllt er nichts fuumlr raquoerbaumlrmlicher und duumlmmer als sich im Voraus zufuumlrchtenlaquo es sei geradezu ein Zeichen geistiger Umnachtung sich so zu ver-haltensup1 Fuumlr die die sich staumlndig vor der Zukunft fuumlrchten bringt Seneca keinVerstaumlndnis auf er schimpft sie (988) raquoKummerleider die sich selbst im Wegestehenlaquo (satagii ac sibi molestos) und raquoLeute ohne Selbstkontrollelaquo (intemperan-tes) Kurz Was im 13 Brief noch ein unverbindliches Angebot zum Nachdenkenwar das ist hier zur unverhandelbaren Forderung geworden die Angst vor derZukunft ist nicht mehr salonfaumlhig

Konsequenterweise wird das was im 13 Brief lediglich als rsaquohoumlherelsaquo Hand-lungsoption charakterisiert wurde (oben S 129) im 98 Brief als rsaquoalternativloslsaquofuumlr einen guten Charakter dargestellt und dichotomisch vom Unvermoumlgen desschlechten Charakters unterschieden

1 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est malum suum antece-dere (987)

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982ndash3 2 Valentior enim omni fortuna animus est et in utramque partem ipse res suas du-cit beataeque ac miserae vitae sibi causa est 3 Malus omnia in malum vertit etiam quaecum specie optimi venerant rectus atque integer corrigit prava fortunae et dura atque asperaferendi scientia mollit eqs

2 Der Geist ist naumlmlich staumlrker als alles Schicksal er selbst lenkt seine Geschicke in dieeine oder die andere Richtung und ist fuumlr sich selbst die Ursache eines gluumlcklichen oder un-gluumlcklichen Lebens 3 Der Schlechte verwandelt alles in Schlechtes selbst das was mitdem Schein des Bestmoumlglichen eingetreten war der Aufrechte und Unbeirrte (demgegen-uumlber) berichtigt die Maumlngel des Schicksals und macht durch seine Faumlhigkeit zum Ertragendas Harte und Raue weich usw

Aber noch in einemanderenPunkt tritt der bis zum im98 Brief erreichteTherapie-fortschritt deutlich hervor Waumlhrend im 13 Brief der Gegenpol zur rsaquostarkenlsaquo stoi-schen Sicht nur in der rsaquoschwachenlsaquo epikureischen bestand so warnt der 98 Briefnicht minder vor dem entgegengesetzten Extrem naumlmlich (in einseitiger Ausle-gung der stoischen Guumlterlehre) aumluszligere Guumlter gar nicht mehr zu achten Vielmehrfordert Seneca ausdruumlcklich dazu auf gefaumlhrlichen Situationen aus dem Wegezu gehen Direkt vor der oben erwaumlhnten Verurteilung des Sich-vorher-Fuumlrchtensheiszligt es

987 Nec ideo praecipio tibi neglegentiam Tu vero metuenda decl ina quidquid consilioprospici potest prospice quodcumque laesurum est multo ante quam accidat speculare etaverte In hoc ipsum tibi plurimum conferet fiducia et ad tolerandum omne obfirmata mensPotest fortunam cavere qui potest ferre certe in tranquillo non tumultuatur

Doch ich schreibe dir deshalbnichtNachlaumlssigkeit [ imUmgang mit den ἀδιάφοραndash (Anm UD)

] vor Du sollst durchaus den fuumlrchtenswerten Ereignissen aus dem Wege gehen was auchimmer rational vorausgesehen werden kann das sieh voraus was auch immer verletzenkann das fasse weit fruumlher als es passiert ins Auge und wende es ab Gerade dafuumlr wird dirdein Selbstvertrauen und dein alles zu ertragen gefestigter Sinn sehr zugute kommen Derkann dem Schicksal ausweichen der es tragen kann zumindest gibt es bei einem ruhigenMenschen keinen Aufruhr

Welches Fazit koumlnnen wir hieraus ziehen Seneca empfiehlt zwar sowohl in fruuml-heren Briefen als auch im 98 Brief sich erstens das Leben nicht durch verfruumlhteAngst selbst schwer zu machen und zweitens gefaumlhrlichen Situationen ndash wennmoumlglich ndash aus dem Weg zu gehen Doch erstens treten nur in den fruumlheren Brie-fen dazu Ratschlaumlge die mit der stoischen Lehre in keinster Weise vereinbar sind(zB epist 1310 interim tibi meliora promitte 1312 spe metum tempera)sup1 Zweitens

1 Verschweigen dieses Mittels im 98 Brief richtig gesehen bei Hachmann Leserfuumlhrung 131raquoDie scheinbare Hilfe durch Verdraumlngung [] wird in Brief 98 gar nicht erwaumlhntlaquo Hachmannscheint aber nicht zu bemerken dass der Grund fuumlr dieseAuslassung eben in derUnvereinbarkeit

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31 Strategien gegen die Angst | 135

laumlsst Seneca inden fruumlhenBriefendieseArt vonRatschlaumlgenausderRuumlcksicht aufdie Schwaumlche des Lucilius entstehensup1 oder formuliert sie nach Art einer epikurei-schen Lust-Schmerz-Bilanzsup2 Demgegenuumlber werden die Ratschlaumlge im 98 Briefallein aus der stoischen Guumlterlehre abgeleitet Zwar verwendet Seneca noch im-mer epikureische Argumentationsmuster (989 laumlsst er zudem Metrodor als Kron-zeuge auftreten) jedoch tut er das nicht mehr in mit der stoischen Lehre inkom-patibler sondern ausschlieszliglich in komplementaumlrer und streng untergeordneterWeise Epikur ist kein Konkurrent mehr kein Gegenmodell Er ist zum Helfer her-abgesunken der die Luumlcken ausfuumlllen darf die ihm die stoische Lehre gelassenhat

Der zuletzt zitierte Gedanke (Potest fortunam cavere qui potest ferre) illustriertdieses Selbstverstaumlndnis in hervorragender Weise Wenn Seneca die Erfuumlllungder epikureischen Forderung dem Schicksal auszuweichen (fortunam cavere) aneinen Charakter knuumlpft der dem Schicksal auch standhalten kann (qui potest fer-re) ndash der also die stoische Selbstbeherrschung verinnerlicht hat ndash dann sagt erdamit rsaquoKein Epikureer kann die epikureischen Forderungen so gut erfuumlllen wiewir Stoikerlsaquosup3

Diese Einverleibung Epikurs als eines im praktischen Bereich nuumltzlichenrsaquoKnechtslsaquo fuumlr die Erziehung zur stoischen Lebensweise ist wie ich spaumlter nochdeutlicher zeigen moumlchte (Kapitel 431) ein Hauptcharakteristikum fuumlr Senecas

mit der stoischen Lehre liegt (130 raquoAndererseits wird ein Argument das in den ersten Briefenbenutzt in ep 98 aber nicht verwendet wurde wahrscheinl ich mit Absicht ausgelassenworden seinlaquo [meine Hervorhebung])1 Vgl zB 135 Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes2 zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere Vgl auch 241 Quid enim necesse est [] praesenstempus futuri metu perdere3 Auch an dieser Stelle bringt Hachmann Leserfuumlhrung 132 die Sache zu wenig auf den PunktraquoHier geht der Brief 98 weit uumlber die Anfangsbriefe hinaus wenn er einen ursaumlchlichen Zusam-menhang sieht wo die Anfangsbriefe lediglich ein Nebeneinander sahen Nur der seelisch Star-ke welcher der Gefahr klar ins Auge sehen kann besitzt auch die notwendige Gelassenheit ver-nuumlnftige Gegenmaszlignahmen zu ergreifenlaquo Hachmann sieht im 98 Brief (bis auf die Auslassungder Verdraumlngungstaktik) offenbar wieder nur einen quantitativen Unterschied zu den fruumlherenraquoEinVergleich vonep 986mit ep 138ndash11 zeigt dass indemfruumlhenBrief die zukritisierendeFehl-haltung imVerhaumlltnis zu den echten Versuchender Heilung breiter dargestellt wurde Dagegenuumlberwiegt in ep 98 die Darstellung der Bewaumlltigunglaquo (ebd (Hervorhebung UD) ) MaurachBau 73f erkennt richtig dass im 98 Brief der systematische Zusammenhang erkennbar ist denSeneca in denBriefen 13 und 14 nicht erwaumlhnt der aber der dortigen Gedankenfuumlhrung zugrundeliegt Maurach geht es dabei darum die verdeckten inhaltlichen Beziehungen aufzudecken diedie Briefe 12ndash15 enger zusammenschlieszligen (eine wichtige Funktion kommt dabei der im 14 Briefangesprochenen οἰϰείωσις-Lehre zu) Die Frage nach Epikur- und Stoa-Kompatibilitaumlt der Argu-mente und damit nach Therapiestufen steht auszligerhalb seines Blickwinkels auf den Text

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Briefe Nur hieraus und nicht aus persoumlnlichen Faktoren (vermeintlicher Ek-lektizismus Senecas Beeinflussung durch Luciliusrsquo Epikureismus) erklaumlrt sicheinerseits die Affinitaumlt zu Epikur (wo er zu brauchen ist bedient sich Seneca sei-ner gern) andererseits die scharfe Abgrenzung von ihm (Epikurs Prinzipien sindund bleiben aus Senecas Sicht untragbar)

Um herauszufinden auf welchem Therapieniveau Seneca operiert genuumlgt esalsonicht dieHerkunft bestimmterArgumentationsmuster ausder epikureischenSchule aufzuzeigen Diese verwendet er immersup1 so geniert sich Seneca zB auchim 98 Brief nicht unmittelbar vor einer stoischen exempla-Serie als Trostmittelfuumlr etwaige Verluste die epikureische Ruumlckbesinnung auf die Vergangenheit zuempfehlen (9811) Habere eripitur habuisse numquam Die entscheidende Frageist vielmehr inwiefern Seneca dabei gegen das stoische Wertesystem verstoumlszligt

Ein aufschlussreicher Schritt auf diesemWege ist der 24 Brief Vonunserembishe-rigen Befund aus mag ein kurzer Blick auf ihn genuumlgensup2 Der 13 Brief hatte durchdie Gegenuumlberstellung der rsaquohoumlherenlsaquosup3 stoischen zur rsaquoniedrigerenlsaquo epikureischenSicht zum ersten Mal auf die Abloumlsung der epikureisierenden Ratschlagstopik des5 Briefes hingearbeitet Auch der 14 Brief wirkte zwar ndash mit ersten Anklaumlngen andie Oikeiosislehre ndash auf eine Relativierung der Angstausloumlser hin blieb aber inseinen Methoden unentschieden So klingt beispielsweise gegenuumlber der helden-haften Aufforderung den Koumlrper notfalls auch ins Feuer zu schicken wenn es dieVernunft die Wuumlrde oder die Treue fordere (142) der unmittelbar folgende Satzdoch wieder sehr nach dem epikureischen Ausweichgedanken

143 Nihilominus quantum possumus evitemus incommoda quoque non tantum pericula etin tutum nos reducamus excogitantes subinde quibus possint timenda depelli

Nichtsdestotrotz wollen wir auch Unannehmlichkeiten nicht nur Gefahren nach Kraumlftenaus dem Wege gehen und uns auf sicheres Gebiet zuruumlckziehen indem wir uns immer wie-der ausdenken wodurch angsterregende Situationen entschaumlrft werden koumlnnen

Den endguumlltigen Bruch mit einer von stoischen Prinzipien abgeloumlsten epikurei-schen Behandlung vollzieht erst der 24 Brief indem er erstmals auch bei derFurchtbekaumlmpfung der praemeditatio-Technik den eindeutigen Vorzug vor derepikureischen Verdraumlngungsloumlsung gibt Ein Meisterstuumlck ist dabei wie Senecazum Schein die epikureische Loumlsung vorbringt und zunaumlchst auf sie eingeht so

1 Siehe dazu oben S 392 Als weitere Wegmarken koumlnnte man insbesondere 316 (vgl unten S 203) anfuumlhren3 Zu diesen Kategorien und ihrer Etablierung im philosophischen Denken Ciceros Goumlrler Un-tersuchungen zu Ciceros Philosophie vgl oben Anm 1 auf S 127

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31 Strategien gegen die Angst | 137

dass jeder von seinen Lesern der noch mit Epikurs Lehre liebaumlugelt sich auf demrichtigen Weg waumlhnen darf wie er dann aber diese Ratschlaumlge mit einem Wischzur Seite legt und zwar mit genau dem Argument das auch im 13 Brief schon alsKritik an Epikur anklang Das Verdraumlngen einer schlimmen Zukunft kann nichtjede Sorge nehmen (weil es durchaus Situationen gibt in denen das Eintreten desUumlbels aumluszligerst wahrscheinlich ist)sup1

241ndash2 1 Sollicitum esse te scribis de iudicicirc eventu quod tibi furor inimici denuntiat existi-masme suasurumutmeliora tibi ipse proponas et adquiescas spei blandae Quid enimnecesseest mala accersere satis cito patienda cum venerint praesumere ac praesens tempus futurimetu perdere Est sine dubio stultum quia quandoque sis futurus miser esse iam miserum2 Sed ego alia te ad securitatem via ducam si vis omnem sollicitudinem exuere quidquidvereris ne eveniat eventurum utique propone et quodcumque est illud malum tecum ipse me-tire ac timorem tuum taxa

1 Du schreibst du seist beunruhigt in Betreff des Ausgangs eines Prozesses den dir die Ra-serei deines Widersachers ankuumlndigt du glaubst ich werde dir nun raten dass du dir selbstBesseres vor Augen stellst und bei einer verlockenden Hoffnung zur Ruhe kommst Wozuist es naumlmlich notwendig Ungluumlckssituationen herbeizurufen das vorauszunehmen waswenn es gekommen ist immer noch fruumlh genughinzunehmen ist und die gegenwaumlrtige Zeitdurch die Angst vor der zukuumlnftigen schon zu verderben 2 Es ist ohne Zweifel unsinnigjetzt schon ungluumlcklich zu sein weil du irgendwann einmal ungluumlcklich sein wirst Aber ichwill dich auf einem anderen Weg zur Sicherheit fuumlhren Wenndu alleUnruhe ablegen willstdann stelle dir alles dessen Eintreten du befuumlrchtest erst recht vor Augen und miss wasauch immer es fuumlr ein Ungluumlck ist bei dir selbst nach und schaumltze das Ausmaszligdeiner Furchtein

Es kann kein Zweifel daran bestehen dass dieser Beginn des 24 Briefes als Ge-genstuumlck und Fortentwicklung der Therapie des 13 Briefes gelten musssup2

Unverstaumlndlich ist mir in diesem Punkt die Deutung Canciks Untersuchungen 73f Sie ver-sucht ndash gegen Misch Autobiographie 433 ndash zu beweisen dass weder zwischen dem 13 und dem24 Brief noch zwischen dem5 unddem24 Brief eine Entwicklung des rsaquoLuciliuslsaquo stattfindet raquoVoneinem Ansatz zur Darstellung einer seelischen Entwicklung in Mischs Sinne kann also hier [ dhim 13 Brief ndash (AnmUD) ] nicht die Rede sein Genausowenig bezeichnet ep 24 eine gegenuumlber ep 13fortgeschrittene Stufe in der Entwicklung des Luciliuslaquo (74) Sie folgert das zum einen (a) dar-aus dass auch im 13 Brief beide Sichtweisen vertreten werden zum andern (b) weil sie meintdass auch 57 schon raquodie stoische Vorstellung von der Uumlberwindung der Leidenschaften [] rein

1 Siehe oben S 1282 RichtigMaurach Bau 97 sowieHachmann Leserfuumlhrung 182ndash190 (der zu Recht konstatiertdass die Notmethode der Angstbekaumlmpfung durch einen Gegenaffekt also das vitio vitium repel-lere von 1312 (s oben S 129) von epist 24 an nicht mehr zum Repertoire Senecas gehoumlrt) fernerWacht Angst in Senecas Briefen 527 raquoWas also zunaumlchst grundsaumltzlich vereinbar und als mil-dere Form der Angstbewaumlltigung akzeptiert schien muss hier einer Methode weichen die zumsicheren Erfolg zu fuumlhren versprichtlaquo

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und eindeutiglaquo zum Ausdruck bringe (ebd) Doch wir haben gesehen dass (a) im 13 Brief beideSichtweisen noch miteinander wetteifernd auftreten und die stoische Loumlsung als die edlere dieepikureische aber als die derzeit wirkungsvollere dargestellt wird Die edlere Loumlsung legt sich da-bei wie ein Ring um die primitivere Canciks Deutung des 13 Briefes ist demnach verfehlt wennsie (ebd) behauptet raquoEine Interpretation von ep 13 im Ganzen zeigt dass ihr Gedankengangauf Steigerung angelegt istlaquo Denn der Brief enthaumllt nicht eine kontinuierliche Steigerung derphilosophischen Argumentationshoumlhe sondern beginnt in stoischer Houmlhe wird dann von 133bis 1313 durch eine epikureische Phase abgeloumlst und kehrt dann mit 1314 und den angedeutetenexempla wieder zum Ausgangsniveau zuruumlck Ganz anders ist das im 24 Brief Die epikureischeVerdraumlngungsloumlsung wird nur eingangs erwaumlhnt und zwar nur dazu um desto wirkungsvollerbeiseite gelegt werden zu koumlnnen Sie spielt im uumlbrigenBrief keine Rollemehr und ist vonAnfangan keine ernsthafte Alternative Die praemeditatio-Methode beherrscht von Beginn das Feld underhaumllt spaumltestens durch die lange exempla-Serie ab 243 ein erdruumlckendes Uumlbergewicht Einenfast schon verzweifelt zu nennenden opportunistischen Ratschlag wie 1313 crede quod mavis ndashraquoGlaube was du lieber willst (sc wenn du nur dadurch zur Ruhe kommst)laquo wird man nicht im24 und auch in keinem spaumlteren Brief mehr finden

Was (b) den 5 Brief angeht so muss man klar feststellen dass zwar der Zusammenhangzwischen Furcht und Hoffnung von dem Seneca dort spricht als Vorbereitung fuumlr eine spaumltereἀπάϑεια-Forderung gesehen werden kann Doch in der Hinsicht die wir als Indiz fuumlr eine Ent-wicklung des Lucilius angesehen haben naumlmlich in der Frage ob man zukuumlnftigen Uumlbeln ge-genuumlber eher die epikureische rsaquoKopf-in-den-Sand-Taktiklsaquo oder die kyrenaisch-stoische praemedi-tatio anwenden soll steht der 5 Brief wie wir gesehen habensup1 ganz eindeutig auf epikureischerSeitesup2 Abgesehen davon ist der Zusammenhang zur stoischen ἀπάϑεια auch nur fuumlr ein philo-sophisch bereits geuumlbtes Auge zu erkennen der Ratschlag erst ein Aufhoumlren des Hoffens werdeauch zum Ende des Fuumlrchtens fuumlhren laumlsst sich auch als gegen ein jeweiliges Zuviel im Einzel-fall gesprochen denken von einem raquoreinen und eindeutigenlaquo Propagieren der Uumlberwindung derLeidenschaften kann jedenfalls keine Rede sein

Doch obwohl er sich in der Entscheidung fuumlr die praemeditatio jetzt konse-quent zeigt ndash oder eben deshalb ndash sorgt Seneca umgehend dafuumlr dass die Bruumlckezum Epikureismus nicht gaumlnzlich abgerissen wird Er wolle sagt er Lucilius zursecuritas fuumlhren im Gegensatz zu Begriffen wie etwa constantia oder gar invulne-rabilitaswaumlhlt er damit einen Ausdruck der das epikureische Ideal der Sorglosig-keit (se+cura) uumlberdeutlich anklingen laumlsstsup3 Und die von Lucilius befuumlrchteten

1 S oben S 1312 Zu Recht skeptisch bereits Maurach Bau 97 Anm 78 ndash Hachmanns Widerlegungsversuch(Leserfuumlhrung 189) gegen diese Deutung von 57 durch Cancik speist sich allein aus dem Um-stand dass sich der 5 Brief noch im raquoEinleitungsteil des Werkeslaquo befinde Das allein halte ich fuumlrwenig schlagkraumlftig entscheidend ist die Stellung zur praemeditatio da diese wirklich ein Un-terscheidungskriterium zwischen Epikureismus und Stoa bietet vgl Abel Bauformen 38 undMaurach Bau 97 mit Anm 803 Das Wort kommt aus metrischen Gruumlnden bei Lukrez nicht vor inhaltlich ist es gleichwohlfast omnipraumlsent vgl zB im Prooumlm des zweiten Buches (216ndash19) nonne videre | nihil aliud sibi

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31 Strategien gegen die Angst | 139

Ereignisse bezeichnet Seneca so wie die breite Bevoumllkerung auch naumlmlich mitmalasup1

Doch es kommt noch besser Denn man duumlrfte nach der Ankuumlndigung diesesrsaquoanderen Weges zur Sorglosigkeitlsaquo erwarten dass Seneca jetzt wenn er jetzt mitden Worten intelleges profecto fortfaumlhrt ganz in stoischem Fahrwasser etwa sa-gen wird raquoDu wirst erkennen dass all diese Bedrohungen und Gefahren nichtigund nicht schwer zu ertragen sind und dass es allein auf unsere innere Haltungankommt Denn das einzige echte Uumlbel ist es sich verwerflich zu verhalten daseinzige Uumlbel ist die turpitudo Alle anderen Ereignisse vor denen du Angst hastsind keine wirklichen mala Das alles sind ἀδιάφορα also indifferente ethischambivalente Dingelaquo Stattdessen sagt er

242 intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis

du wirst ganz sicher erkennen dass es nicht groszlig oder aber nicht langdauernd ist wasdu fuumlrchtest

Das ist ndash worauf ua auch Wachtsup2 zu Recht hinweist ndash nichts anderes als Epikurswohlbekannte Formel gegen die Angst vor dem Schmerzsup3 die Cicero (fin 222) mitfast denselben Worten wie spaumlter Seneca zusammenfasst Si gravis [sc dolor] bre-vis si longus levis⁴

Die geschickte Wendung in der Formulierung laumlsst sich sicherlich wie ge-sagt als raquoRuumlcksicht auf den epikureischen Freundlaquo verstehen⁵ Doch sie ist mehrals das Die epikureische Schmerzformel ist ein nicht nur akutes sondern vonvornherein auch vorausschauendes Trostmittel Sie hat die Funktion die Angstvor einer schmerzhaften Zukunft zu verringern und enthaumllt damit schon von sichaus eine praumlmeditative Komponente Diesen fuumlr den Uumlbergang zur stoischen Leh-re guumlnstigen Umstand hat Seneca geschickt ausgenutzt Die Schmerzformel istein ideales Bindeglied um dem praemeditatio-Gedanken auch von epikureischerWarte aus Ruumlckhalt zu verschaffen

naturam latrare nisi ut qui | corpore seiunctus dolor absit mente fruatur | iucundo sensu curasemota metuque1 Anstelle einer stoisierenden Umschreibung vgl unten Kapitel 512 Angst in Senecas Briefen 528f3 Epic KD 4 GV 44 Vgl Sen epist 2414 Levis es si ferre possum brevis es si ferre non possum sowie ferner epist3014 ( nullum enim dolorem longum esse qui magnus est)5 Wacht Angst in Senecas Briefen 528 freilich darf dabei ndash wie oben (Kapitel 132 ab S 35)ausgefuumlhrt ndash unter rsaquoFreundlsaquo nicht die reale Person Lucilius verstanden werden sondern es gehtum die Integration des epikureisch orientierten Leserpublikums

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Auch ein Stoiker wie Mark Aurel weiszlig uumlbrigens um den praktischen Wert die-ser Formel Und fuumlr die Bestimmung von Senecas Taktik ist es hochinteressant zusehen wie sich die Einbettung dieses Gedankens bei dem Philosophenkaiser imUnterschied zu Seneca darstellt Denn zum einen laumlsst Mark Aurel die stoischeSicht eben nicht fort sondern setzt sie in guter Ordnung an den Anfang

MarkAurel 764 ᾿Επὶ μὲνπαντὸς πόνου πρόχειρον ἔστω ὅτι οὐϰ αἰσχρὸνοὐδὲ τὴνδιάνοιαντὴν ϰυβερνῶσαν χείρω ποιεῖ οὔτε γὰρ ϰαϑὸ λογιϰή ἐστιν οὔτε ϰαϑὸ ϰοινωνιϰὴ διαφϑείρειαὐτήνBei jedem Ungemach sei Dir dieses Argument griffbereit dass es nicht moralisch verwerf-lich ist und die leitende Vernunft nicht schwaumlcht Denn weder insoweit sie vernuumlnftig nochinsoweit sie gemeinschaftsbezogen ist verdirbt es sie

Zum anderen kennzeichnet er den nun folgenden epikureischen Gedanken expli-zit als solchen und schraumlnkt ihn insoweit ein als er sagt dass diese Maxime nichtimmer sondern nur in den meisten Faumlllen anwendbar sei

Mark Aurel 764 Fortssup1 ἐπὶ μέντοι τῶν πλείστων πόνων ϰαὶ τὸ τοῦ ᾿Επιϰούρου σοι βοη-ϑείτω ὅτι οὔτε ἀφόρητον οὔτε αἰώνιον ἐὰν τῶν ὅρων μνημονεύῃς ϰαὶ μὴ προσδοξάζῃςBei den meisten Formen von Ungemach moumlge dir indes schon das Wort Epikurs helfen dasses weder unertraumlglich noch unendlich ist sofern du dich an die Fakten haumlltst und nichtschon im Vorhinein schlimme Erwartungen hegst

Insgesamt koumlnnenwir in Senecas Briefen bezogen auf die Frage der Angsttherapiefolgende Entwicklung feststellen Angefangen von epist 5 (= epikureische Thera-peutik) gibt es eine Entwicklung uumlber epist 13 und 14 (Mischform) epist 24 (vor-wiegend stoische Argumentation mit epikureischer Motivation jedoch vermischtmit epikureischer avocatio) hin zu epist 98 in der eine im Kern rein stoische Ar-gumentation vorliegt die sich jedoch nach wie vor epikureischer Hilfsargumentebedient

Senecas Taktik besteht demnach nicht darin die gegnerische rsaquoFestunglsaquo mitseinen Argumenten rsaquoim Handstreichlsaquo oder uumlberhaupt in der Schlacht zu nehmenVielmehr legt er es ndash um im Bild zu bleiben ndash darauf an sie nach und nach davonzu uumlberzeugen freiwillig ihre Tore zu oumlffnen Er will eine Transformation des Le-sers aber er will sie nicht auf dem Weg der Konfrontation sondern lieber auf demPfad schleichender Integration

Auch der 105 Brief fuumlgt sich in diese Ordnung ein Zwar legt Seneca seinem Freund hiernahezudie gleichenRatschlaumlgevor die er auch schon im13 14 und 24Brief gegebenhatteDoches geht uumlberhaupt nicht um Angstvermeidung sondern um aumluszligere Sicherheit Lucilius hat ndash so

1 = Epicur fr 447 Us

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die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 2: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

31 Strategien gegen die Angst | 121

Demgegenuumlber ist an jeder Formulierung nicht nur zu pruumlfen wieviel Stoaschon sondern wieviel Stoa noch nicht zwingend in ihr steckt inwieweit also ihrephilosophische Richtung noch offen bleibt Diese Art der rsaquoOffenheitlsaquo ist eine ganzandere als die von der Maurach sprichtsup1 wenn er Senecas raquoKunst der offenenFormulierunglaquo lobt Maurach geht es naumlmlich nicht um ein Offenlassen der phi-losophischen Richtung (das spielt in seiner Untersuchung keine Rolle) sondernlediglich um ein vorlaumlufiges Offenlassen aufgeworfener Fragen

raquo zunaumlchst faumlllt auf dass hier vieles nur angedeutet wird vieles voraussetzungsreich istohne dass diese Voraussetzungen hier bereits ausgesprochen wuumlrden Man erkennt also dieKunst der rsaquooffenen Formulierunglsaquo die offen genannt werden kann weil sie Fragen aufwirftsie aber offen laumlsst bis sie in spaumlteren Briefen beantwortet werdenlaquo (28)

Maurachs Beobachtung ist ohne Zweifel nicht falsch Doch die Raffinesse Sene-cas sehe ich nicht zuallererst darin dass er manche Fragen zunaumlchst nicht voll-staumlndig beantwortet sondern darin dass er sie mit besonderer Vorliebe ndash philo-sophischgesehenndashnicht eindeutig beziehungsweisenicht konsistent beantwortetSeneca aumluszligert sich ja durchaus zu vielen Themen ndash doch laumlsst er es eben bewusstan der philosophischen Verbindlichkeit mangelnsup2

Interessant ist nun dass sich bei naumlherem Hinsehen ein paumldagogisch abge-stuftes Vorgehen erkennen laumlsst Das ist insbesondere bei Themen gut zu beob-achten die in entsprechender Haumlufigkeit uumlber das Briefcorpus verteilt sind Ichmoumlchte das kurz insgesamt an der Entwicklung des Themas der Furchtbehand-lung und spezieller am 13 Brief demonstrieren

311 Raffiniert aber unaufdringlich der 13 Brief als stoischer Werbeprospekt

Die Situation ist folgende Lucilius hat Furcht (vor einem nicht naumlher bezeichne-ten Ereignis) Seneca moumlchte ihm helfen (134 accipe a me auxilia quibus munirete possis) und beginnt ermunternd mit einem Lob Lucilius habe Schicksalsschlauml-ge erlitten nun bewaumlhre er sich darin ihnen trotzig die Stirn zu bieten Die Brief-konstellation ist somit (auch weil sie so inkonkret bleibt) bestens geeignet dassviele Leser die Lobesworte auch auf sich und die eigene Lebenssituation applizie-ren koumlnnen Geschickt laumlsst Seneca auch die Formulierung des Lobes prima faciersaquokonfessionsfreilsaquo Doch unter der Hand schleust er stoische Werte ein

1 Bau 28 und oumlfter2 S bereits oben S 28

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122 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

131 Multum tibi esse animi scio nametiamantequam instrueres te praeceptis salutaribus etdura vincentibus satis adversus fortunamplacebas tibi etmultomagis postquamcum illama-num conseruisti viresque expertus es tuas quae numquam certam dare fiduciam sui possuntnisi cummultae difficultates hinc et illinc apparuerunt aliquando vero et propius accesseruntSic verus ille animus et in alienum non venturus arbitrium probatur haec eius obrussa est

Ich weiszlig dass du uumlber groszlige mentale Staumlrke verfuumlgst denn schon bevor du dich mit heil-samen und auch harten Lebenslagen standhaltenden Leitsaumltzen ausgeruumlstet hast durftestdu mit deiner Haltung gegenuumlber den Launen des Schicksals zufrieden sein und erst rechtnachdemdudichmit ihmangelegt unddeineKraumlfte kennengelernt hast die ja nie ein siche-res Zeugnis von sich ablegen koumlnnen wenn nicht allerlei Schwierigkeiten sich von hier unddort gezeigt haben und manchmal auch schon naumlher geruumlckt sind Genau so beweist sich je-nes wahrhaft standhafte und auch in Zukunft sich nicht unter ein fremdes Urteil beugendeGemuumlt das ist seine Feuerprobe

Unter dem Gesichtspunkt der Werbung fuumlr die Stoa geht dieser Abschnitt aumluszligerstgeschickt vor Die stoischen Bezuumlge liegen auf der Hand Wir erkennen die Be-waumlhrung gegen das (und nicht im) Schicksal (dura vincentibus)sup1 das Umdeutenungluumlcklicher Situationen zu hervorragenden Bewaumlhrungsmoumlglichkeiten fuumlr deneigenen Charaktersup2 sowie die Selbstbestimmtheit und Freiheit der Vernunft (verusille animus et in alienum non venturus arbitrium)sup3 Doch die Raffinesse liegt darinwie Seneca ndash und dh wie unverbindlich ndash er diese Werte lanciert Die Formulie-rungen zur Staumlrke des animus sind Stoa-typisch aber eben nicht terminologischfestgelegt und kein Epikureer wuumlrde zu bestreiten haben dass Epikurs Leitsaumlt-ze nicht auch rsaquoheilsamlsaquo sind und helfen rsaquoharten Lebenslagen standzuhaltenlsaquo⁴

1 Auch ohne den Gebrauch stoischer Terminologie ist die Anspielung auf die stoische Lehre un-verkennbar vgl zB prov 59 Contra fortunam illi tenendus est cursus Siehe auch Griffin Se-neca 351 mit Anm 1 (Verweis auf const sap 21ndash2 ndash Zur Herausbildung und Bedeutung des stoi-schen Gedankens des fortunae resistere vgl Busch Fortunae resistere2 Vgl ndash als ein Beispiel unter vielen ndash Sen prov 22 wo es vom Weisen heiszligt Omnia adversaexercitationes putat3 Aus stoischer Sicht steckt hinter diesen Worten das Konzept vom λόγος der sich nie den auf-kommenden Vorstellungen (φαντασίαι) uumlberlaumlsst auchwenn sie noch souumlberzeugend auftretenDieses Konzept bleibt aber eben verborgen die unterminologische Sprache ist beabsichtigt Mankann schon das stoische Konzept mithoumlren muss aber nicht Es ist zunaumlchst nur von einem un-beugsamen standhaften Gemuumlt die Rede ndash wie dies zustande kommen kann davon ist noch garnichts gesagt4 Wie eine deutlicher stoische und nicht mehr epikurkonforme Formulierung des gleichen Ge-dankens klingen koumlnnte zeigt zB prov 66 wo Seneca auf den Einwand rsaquoAt multa incidunt tris-tia horrenda dura toleratulsaquo Gott aus stoischer providentia-Perspektive antworten laumlsst Quia nonpoteram vos istis subducere animos vestros adversos omnia armavi Ferte fortiter Hoc est quodeum antecedatis ille extra patientiam malorum est vos supra patientiam ndash Waumlhrend die Stoikerin ihrer Wortwahl eher auf die innere Staumlrkung im Kampf mit den aumluszligeren Anfechtungen abzie-

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31 Strategien gegen die Angst | 123

ebensogut koumlnnte jede andere Philosophenschule dieseWirkungen fuumlr sich rekla-mieren Ferner Die ndash aus stoischer Sicht zu Unrecht so genannten ndash mala nenntSeneca ausweichend difficultates (und bereitet damit die stoische Einordnung alsincommoda vor) und er deutet sie zwar in stoischer Manier zu Bewaumlhrungsmoumlg-lichkeiten um jedoch spricht er zunaumlchst nicht von der Bewaumlhrung fuumlr die virtus ndashdiesen Gedanken hebt er sich fuumlr den Abschluss des Lobes in 133 auf ndash sondernstattdessen etwas offener vom rsaquoErproben der vireslsaquo der eigenen Kraumlfte Diesen Ge-danken baut Seneca im Folgenden aus

132ndash3 2 Non potest athleta magnos spiritus ad certamen adferre qui numquam sugillatusest ille qui sanguinem suum vidit cuius dentes crepuere sub pugno ille qui subplantatus ad-versarium toto tulit corpore nec proiecit animum proiectus qui quotiens cecidit contumaciorresurrexit cummagna spe descendit ad pugnam 3 Ergo ut similitudinem istam prosequarsaepe iam fortuna supra te fuit nec tamen tradidisti te sed subsiluisti et acrior constitistimultum enim adicit sibi virtus lacessita

2 Kein Ringkaumlmpfer kann mit groszligem Kampfesmut zum Wettkampf antreten der niemalsverbleut worden ist Jener (aber) der sein eigenes Blut gesehen hat und dessen Zaumlhne unterdem Faustschlag des Gegners geknirscht haben jener der obwohl schon unter dem Fuszligdes Feindes liegend ihn mitsamt seinem ganzen Koumlrpergewicht hochgestemmt und seinenMut nicht obgleich selbst zu Boden geworfen weggeworfen hat und der sooft er auch hin-stuumlrzte nur umso kampfeslustigersup1 wieder aufgesprungen ist ndash nur der steigt mit groszligerHoffnung in den Ring hinab zum Kampf 3 Also umbei diesem Bild zu bleiben Schon oftstand das Ungluumlck auf dir und dennoch hast du dich ihm nicht ausgeliefert sondern bistaufgesprungen und hast dich nur umso trotziger zum Kampf aufgestellt viel (Kraft) steuertsich naumlmlich die virtus bei wenn sie angestachelt worden ist

War schon der erste Abschnitt von Kampfmetaphorik gepraumlgt (multum animi es-se ndash se instruere ndash adversus fortunam ndash vincere ndash manum conserere ndash vires experi-ri) so konkretisiert diese der zweite Abschnitt hin zum Pankration (magnos spiri-tus ad certamen adferre ndash sugillari ndash sanguinem suum videre ndash cuius dentes crepu-ere sub pugno ndash subplantatus ndash contumax ndash resurgere)sup2 In hymnischem Stil feiertSeneca den Athleten in nach dem Gesetz der wachsenden Glieder immer laumlnge-ren Attributsaumltzen wobei die erste mit ille begonnene Reihe (ille qui sanguinem

len setzen die epikureischen Argumentationen auf der Seite der aumluszligeren Anfechtungen an undversuchen ihnen durch rationale Erklaumlrung ihren furchteinfloumlszligenden Charakter zu nehmen zBLucr 624f veridicis igitur purgavit [ Epicurus ] pectora dictis | et finem statuit cuppedinis atque ti-moris1 woumlrtlich raquo und der () kampfeslustiger (als je zuvor) wieder aufspranglaquo2 Dies ist nicht nur einer groumlszligeren Anschaulichkeit geschuldet Das Bild des Zweikampfes sug-geriert zugleich dass die Fortuna nicht mit Heeresstaumlrke daherkommt und dass Lucilius (bzwjeder Leser) ein ebenbuumlrtiger Gegner fuumlr sie sein kann

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124 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

suum vidit cuius dentes crepuere sub pugno) sein Ertragen vonVerletzungenpreistund die zweite auch stilistisch durch das Polyptoton (proiecit proiectus) unddurch die t- und k-Alliterationen hervorgehobene ille-Reihe (ille qui subplantatusadversarium toto tulit corpore nec proiecit animum proiectus qui quotiens ceciditcontumacior resurrexit) sein Lob durch die Schilderung seines unbezwingbarenSiegeswillens in houmlchste Houmlhen fuumlhrt

In einem zweiten Schritt uumlbertraumlgt Seneca nun diese Metaphorik direkt aufLucilius rsaquoauch dulsaquo sagt er rsaquobist unter dem Fuszlig des Schicksals wieder hervorge-sprungen (subsiluisti) hast dich nicht ergeben (nec tamen tradidisti te) und hastdich ebenfalls nach jeder scheinbarenNiederlage nur umso trotziger zum Kampfeaufgestellt (acrior constitisti)lsaquo und jetzt auf demHoumlhepunkt setzt Seneca in einerSentenz in betonter Endstellung auch den Leitbegriff ergaumlnzt um den wichtigs-ten Aspekt der stoischen Schicksalsdeutung Vermeintliche Uumlbel sind bei Lichtbetrachtet rsaquoAnstachelungenlsaquo fuumlr die virtussup1

Die psychagogische Strategie bis hierher liegt auf der Hand Seneca benutztden Verweis auf bereits erfolgreich gemeisterte Bewaumlhrungssituationen und diehymnische Diktion um Lucilius zu einem Helden aufzubauen fuumlr den ndash wie fuumlrden Pankratiasten im Gleichnis des Panaitios (oben S 81) ndash keine Herausforde-rung zu groszlig ist Mit andern Worten Es ist ein Versuch Lucilius auf sehr schmei-chelhafte Weise an die stoische Sichtweise auf die Herausforderungen des Lebensheranzufuumlhren und ihn darauf zu verpflichtensup2

Umso armseliger wirkt die Handlungskasuistik zu der sich Seneca nun ur-ploumltzlich ndash allein wie er sagt Lucilius zuliebe ndash herablaumlsst

133ndash5 3 (Forts) Tamen si tibi videtur accipe a me auxilia quibus munire te possis4 Plura sunt Lucili quae nos terrent quam quae premunt et saepius opinione quam relaboramus Non loquor tecum Stoica l ingua sed hac summissiore nos enim di-cimus omnia ista quae gemitus mugitusque exprimunt levia esse et contemnenda Omittamushaec magna verba sed di boni vera illud tibi praecipio ne sis miser ante tempus cum illaquae velut inminentia expavisti fortasse nunquam ventura sint certe non venerint 5 Quae-dam ergo nos magis torquent quam debent quaedam ante torquent quam debent quaedamtorquent cum omnino non debeant aut augemus dolorem aut praecipimus aut fingimus

1 Ein Gedanke der die gesamte Schrift De providentia durchzieht So laumlsst Seneca zB den auchdort gewaumlhlten Athletenvergleich (prov 23) in der Sentenz gipfeln Marcet sine adversario vir-tus tunc apparet quanta sit quantumque polleat cum quid possit patientia ostendit (24) oder 46calamitas virtutis occasio est2 Diese Technik des rsaquoUumlberzeugensdurchKomplimentelsaquo koumlnnen wirmehrfach in denBriefen wie-derfinden Besonders deutlich tritt sie auch im6 Brief (in Verbindungmit dem9 Brief) in Erschei-nung vgl unten S 238

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3 (Forts) Dennochvernimm wenndumagst vonmir Ratschlaumlgemit denen dudich schuumlt-zen kannst 4 Es sind mehr Dinge Lucilius die uns einen Schrecken einjagen als diedie uns (tatsaumlchlich) beeintraumlchtigen und oumlfter leiden wir aufgrund unserer Vorstellung alsaufgrund des Sachverhaltes Ich spreche jetzt nicht in der stoischen Redeweisemit dir sondern in dieser zuruumlckhaltenderen wir sagen naumlmlich dass all dieseDinge die Klagenund Jammern hervorrufen leicht zu ertragen und zu verachten sind Dochlassen wir diese groszligen aber bei Gott wahren Worte Jenes schreibe ich dir vor dass dunicht schon vor der Zeit ungluumlcklich bist da doch jene Dinge die du wie unmittelbar dro-hende gefuumlrchtest hast vielleicht nie eintreten werden auf jeden Fall aber nicht eingetretensind 5 Manche Gefahren quaumllen uns alsomehr als siemuumlssenmanche fruumlher als siemuumls-sen undmanche obwohl sie uns uumlberhaupt nicht quaumllen duumlrften wir vermehren das Leidennehmen es voraus oder bilden es uns nur ein

Das ist wirklich eine Kehrtwende um 180 Gradsup1 Keine Rede mehr von einemrsaquoDem-Schicksal-die-Stirn-Bietenlsaquo Statt dessen epikureisches Klein-Klein tau-send Tipps wie man die Aumlngste vor der Zukunft verringern kann Denn es istkeineswegs so dass Seneca wie Wacht glaubt diese Lehren wenn auch mitGewalt aus der stoischen Lehrtradition herausziehtsup2

Fuumlr einen Epikureer sind und bleiben Ungluumlcksfaumllle Momente der Anfechtung er soll ihnenmoumlglichst aus dem Wege gehen ndash man denke an den Grundsatz λάϑε βιώσαςsup3 ndash wenn aber etwas

1 Viel schwaumlcher scheint den Umschwung Maurach Bau 67 zu beurteilen raquoUnd doch so faumlhrtSeneca fort obschon der Freund solche Kraft hat es gibt wirksame Hilfen die eine Anwendungdieses animus erleichternlaquo Das klingt als sei das was ab 134 folgt nur die praktische Ergaumln-zung zu dem was Seneca vorher gesagt hat Auch Hachmann Leserfuumlhrung 126 will hier of-fenbar keinen Bruch sehen raquoDabei will er (zunaumlchst) nicht die harte unverbluumlmte Sprache derStoa sondern eine leisere Sprechweise benutzenlaquo (das gleiche Bild schon bei Maurach Bau69 raquoBeide Briefe [ 12 und 13 ] reden nicht mit lauter Stimme sondern remissiore vocelaquo) Senecaredet aber nicht nur rsaquoleiserlsaquo dh weniger drastisch oder weniger deutlich sondern definitiv ineiner anderen philosophischen Sprache als der der Stoa Was er eigentlich von derlei remediahaumllt zeigen spaumltere Stellen wie diese (706) Itaque effeminatiss imam vocem illius Rhodiiexistimo qui cum in caveam coniectus esset a tyranno et tamquam ferum aliquod animal aleretursuadenti cuidam ut abstineret cibo rsaquoomnialsaquo inquit rsaquohomini dum vivi t speranda suntlsaquondashCancik Untersuchungen 74 laumlsst diese Stelle ganz unter den Tisch fallen obwohl sie groumlszligteRelevanz fuumlr die von ihr vorgenommene Zuruumlckweisung der These von einer Entwicklung desLucilius gehabt haumltte s dazu S 138 ndash Vollkommen verfehlt Peter Brief 231 der diese WorteSenecas als Programm fuumlr die Briefe insgesamt missversteht (raquoDem Programm des rsaquoprodesselsaquo ge-maumlszlig verschmaumlht er die ernste Sprache der Philosophie als fuumlr einen Brief ungeeignetlaquo es folgenals Belegstellen 134 und 381)2 Wacht Angst in Senecas Briefen 526 raquoAngst so bestimmten die Stoa und andere vor ihr be-steht in der Erwartung eines zukuumlnftigen Uumlbels Seneca leitet daraus ab ne sis miser ante tempus(ep 134)laquo (meine Hervorhebung) Natuumlrlich ist auch Wacht die Herkunft der lenia remedia ausder Schule Epikurs bewusst Aber gerade deswegen meine ich dass man hier nicht eine Bruumlckezur stoischen Definition suchen sollte3 Plut mor 1128ff

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Unvermeidliches eintritt oder bevorsteht dann muss er sich mit der Methode der avocatio undrevocatio also der Ablenkung vom gegenwaumlrtigen bzw zukuumlnftigen Zustand und der Ruumlckbesin-nung auf erfreulichere Zeiten behelfensup1

Schon der Vorschlag ne sis miser ante tempus (134) ist genuin epikureisch(avocatio) und ist der Lehre der Stoiker die wie die Kyrenaiker die Technik derpraemeditatio favorisiert haben diametral entgegengesetzt Dabei hatte Sene-ca die praemeditatio-Lehre doch selbst im vierten Brief ausdruumlcklich empfohlen(s oben S 42) Hier im 13 Brief liegt er jedoch auf epikureischer Linie wenn erkritisiert aut augemus dolorem aut praecipimus aut fingimus (135)sup2

AuchdieKritikaut augemusdolorem ist genaugenommennicht Stoa-konformsie passt nicht zum Postulat der Unempfindlichkeit (ἀπάϑεια) des stoischen Wei-sen gegenuumlber den Versuchungen des Schicksals Der Stoiker versucht nicht dieBeeinflussung durch den Schmerz zu verringern sondern er strebt danach sieganz abzuschaffen Anstelle dieser harten Forderung verbuumlndet sich Seneca hierdurch seine Formulierung noch mit der dem Volksempfinden naumlher stehendenperipatetischen Guumlterlehre

Doch zunaumlchst moumlchte Seneca Lucilius nur davon uumlberzeugen dass es sinn-voll ist seineAffekte zu drosseln Das ist derwichtigste Schritt in die richtige Rich-tung (Affektminderung) Ob das Ziel dabei nun in weiter Ferne (zB Epikur) odergar hinten am Horizont (Stoa) liegt ist erst einmal zweitrangig Dieses ganze Pro-blemfeld kann auf spaumlter vertagt werden Wir koumlnnen jedoch festhalten Hier inden Briefen gibt es bei Seneca einen Vorrang der Taktik vor der Systematik

Weder moumlchte Seneca allen Ernstes die praemeditatio- oder die ἀπάϑεια-Lehre grundsaumltzlich in Frage stellen Schon aufgrund des kaumlmpferischen Briefbe-ginns ist das unwahrscheinlich und gegen Ende des Briefes wird er wieder ganzoffen empfehlen der Zukunft ins Auge zu blicken (1314 Alius dicat rsaquofortasse nonvenietlsaquo tu dic rsaquoquid porro si veniet Videbimus uter vincat lsaquo)sup3 Mit dem epiku-reischen Schwenk in der Briefmitte duumlrfte Seneca eher auf folgende Alternative

1 Cic Tusc 333 s oben S 802 Seneca verknuumlpft die selben beiden Kritikpunkte (1 ein erwartetes bevorstehendes Uumlbel mussnicht unbedingt eintreten 2 auchwenn es eintritt ist es nicht sinnvoll den Schmerz durch seineVorerwartung schon in die Gegenwart hinein zu verlaumlngern) die auch Epikur Ciceros Bericht zu-folge verbundenhaben soll Cic Tusc 332 ( qui censet necesse esse omnis in aegritudine essequi se in malis esse arbitrentur sive illa ante provisa et expectata sint sive inveteraverint Namneve vetustate minui mala nec fieri praemeditata leviora stultamque etiam esse meditationemfuturi mali aut fortasse ne futuri quidem satis esse odiosum malum omne cum venisset qui au-tem semper cogitavisset accidere posse aliquid adversi ei fieri illud sempiternum malum si verone futurum quidem sit frustra suscipi miseriam voluntariam ita semper angi aut accipiendo autcogitando malo3 S dazu unten S 129

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hinauswollen rsaquoWenn du stark genug bist dann schaue dem Schicksal ins Augeund uumlberwinde es wenn nicht ndash dann schaue eben nicht voraus damit du dirimmerhin nicht die Lebenszeit bis dahin verdirbstlsaquo

Der Kontrast des Umschwungs (oder besser Abschwungs) von derHoumlhe des Brief-beginns zu den jetzigen Niederungen popularer Alltagsratschlaumlge ist gewollt Erbietet Seneca die Moumlglichkeit die stoische Weltsicht in ein guumlnstiges Licht zuruumlcken sie in einer starken Position zu zeigen und trotzdem den Vorbehalten undauch Wuumlnschen der Leserschaft nach praktischen Ratschlaumlgen Raum zu gebenZugleich kann er auf diese Weise einem sehr breiten Leserspektrum gerecht wer-den Die Kontrastierung beider Sichten gibt ihm zudem die Moumlglichkeit auch in-nerhalb der Ratschlaumlge immer wieder in Richtung der stoischen Sichtweise aufden Leser einzuwirken

135 Primum illud quia res in controversia est et litem contestatam habemus in praesentiadifferatur Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes scio alios inter flagella riderealios gemere sub colapho Postea videbimus utrum ista suis viribus valeant an inbecillitatenostra

Aber jener erste Punkt soll weil die Angelegenheit (unter uns) umstritten ist und wir denProzess eingereicht haben jetzt erst einmal vertagt werden Das was ich unbedeutend nen-nen werde wirst du nachdruumlcklich fuumlr aumluszligerst gewichtig erklaumlren ich weiszlig dass die einenunter Geiszligelhieben lachen die anderen (schon) bei einer Ohrfeige jammern Spaumlter werdenwir sehen ob diese Dinge aufgrund ihrer eigenen Beschaffenheit Bedeutung fuumlr uns habenoder nur durch unsere Schwaumlche

Wie der Einschub si tibi videtur (133) dient dieser Abschnitt dazu die rsaquohoumlherelsaquoSicht der Stoa als Gegenfolie praumlsent zu haltensup1 Geschickt bezeichnet Seneca denGegensatz zwischender stoischen Sicht undder des Lucilius nicht als einen quali-tativen zwischen Unempfindlichkeit (ἀπάϑεια) und Empfindsamkeit sondern als

1 Diese Technik ist wie Goumlrler Untersuchungen zu Ciceros Philosophie gezeigt hat omniprauml-sent bei Cicero und uumlberdeutlich in seinen Tuskulanen in denen er immer wieder versucht ne-ben der rsaquoniedrigenlsaquo sicheren Position die rsaquohoumlherelsaquo aber schwerer beweisbare und nicht uumlberZweifel erhabene Ebene zur Geltung zu bringen vgl ebd zB 206 raquoWenn Cicero im erstenTuskulanenbuch [] zunaumlchst Beweise fuumlr die Unsterblichkeit der Seele gibt dann aber diesenStandpunkt aufgibt und nur noch daran festhaumllt dass der Tod auch bei voumllligem Untergang derSeele kein Uumlbel ist so liegen beide Argumentationen nicht auf derselben Ebenelaquo oder (25) raquoWieder Glaube an die Unsterblichkeit der Seele immer wieder von Zweifeln erschuumlttert wird ist esschwer die stoische Uumlberzeugung (nihil bonum nisi virtus) allen Versuchungen zum Trotz auf-rechtzuerhalten Der stoische Standpunkt ist zwar erhabener (im gleichen Sinne wie der Glaubean die Unsterblichkeit) aber der theophrastische steht dem Boden der beweisbaren Tatsachennaumlherlaquo

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einen quantitativen zwischen Mehr- oder Weniger-Leidensup1 zugleich waumlhlt er einBeispiel bei demdasWeniger-Leidenals erstrebenswert angesehenwerdenmussMit inbecillitate nostra bereitet Seneca den Leser (ohne dass er allzutief in diersaquograue Theorielsaquo eintauchen muss) darauf vor dass die Ursache fuumlr die Relativitaumltder Bewertung von Uumlbeln vor allem in unserer eigenen Sicht auf sie zu sehen ist

Auch in 7ndash8 koumlnnen wir beobachten wie Seneca geschickt beide philosophi-sche Richtungen einander gegenuumlberstellt wobei wiederum die Stoa in der houmlhe-ren Position erscheint Auf die fiktive Frage des Lucilius wie er wahre von einge-bildeten Gefahren unterscheiden koumlnne (rsaquoQuomodolsaquo inquis rsaquointellegam vana sintan vera quibus angorlsaquo) antwortet Seneca zunaumlchst ganz im Sinne Epikurs

137 Accipe huius rei regulam aut praesentibus torquemur aut futuris aut utrisque De prae-sentibus facile iudicium est si corpus tuum liberum et sanum est nec ullus ex iniuria dolor estvidebimus quid futurum sit hodie nihil negotii habetsup2

Hier hast du ein Richtmaszlig fuumlr diese Situation Wir werden entweder durch Gegenwaumlrtigesoder durch Zukuumlnftiges oder durch beides gequaumllt In Bezug auf Gegenwaumlrtiges ist die Ent-scheidung leicht Wenn dein Koumlrper frei und gesund ist und es keinen Schmerz aufgrundeines (erlittenen oder getanen) Unrechts gibt werden wir sehen was die Zukunft bringtHeute (jedenfalls) hat er kein Problemsup2

Diese epikureische Loumlsung hat nochnie recht zu uumlberzeugen vermocht und Sene-ca nutzt dieUnzufriedenheit des Interlokutors (bzw des Lucilius) umdie stoischeLehre von der Zustimmung zum Affektimpuls (συγϰατάϑεσις assensio) vorzube-reiten

138 rsaquoAt enim futurum estlsaquo ndash Primum dispice an certa argumenta sint venturi mali plerum-que enim suspicionibus laboramus et illudit nobis illa quae conficere bellum solet fama multoautem magis singulos conficit Ita est mi Lucili c i to accedimus opinioni non coargui-mus illa quae nos in metum adducunt nec excutimus []

rsaquoAber (das Unheil) wird doch eintretenlsaquo ndash Erstens schau genau hin ob es sichere Anzeichenfuumlr ein kommendes Unheil gibt meistens leiden wir naumlmlich aufgrund unserer Verdaumlchti-gungen und uns narrt jenes Geruumlcht das einen Krieg vom Zaune zu brechen pflegt nochmehr aber die einzelnen Leute zugrunderichtet So ist es mein Lucilius Wir pflichten un-

1 Also in genau der Weise wie er es in 135 schon vorbereitet hatte quaedam ergo nosmagis tor-quent quam debent Auch das dazugehoumlrige Fazit augemus dolorem legte ja nur eine quantitativeDeutung nahe s dazu oben auf Seite 1262 Vgl zu diesem Gedanken oben Anm 2 auf Seite 126 Nicht ganz deutlich gibt diesen GedankenCiceros Torquatus wieder (fin 159) accedunt aegritudines molestiae maerores qui exedunt ani-mos conficiuntque curis hominum non intellegentium nihil dolendum esse animo quod sit a dolorecorporis praesenti futurove seiunctum ndash Danach koumlnnte man meinen Epikur lasse die Angstvor zukuumlnftigen Uumlbeln zu

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serer Meinung zu schnell bei wir pruumlfen jene Dinge nicht die uns in Furcht versetzen unduntersuchen sie nicht genau []

Das ist nicht viel mehr als eine Andeutung aber sie hilft die stoische Loumlsungrsaquoim Spiellsaquo zu halten ohne auf die Kasuistik verzichten zu muumlssen Und bei dieserscheut sich Seneca nicht sogleich wieder unter das stoische Niveau zu zufallennochmals therapiert er die Furcht vor dem kommenden Unheil epikureisch undim offenen Widerspruch zur stoischen praemeditatio-Empfehlung

1310f 10 Verisimile est aliquid futurum mali non statim verum est Quam multa nonexspectata venerunt Quam multa exspectata nusquam conparuerunt Etiam si futurum estquid iuvat dolor i suo occurrere Satis cito dolebis cum venerit interim tibi meliorapromitte 11 Quid facies lucri Tempus

10 Es ist sehr wahrscheinlich dass ein Unheil eintreten wird (deshalb) ist es (aber) nichtsogleich (auch schon)wahrWie vieleDinge sind eingetreten obwohl sie nicht erwartetwur-den Wie viele Dinge die erwartet wurden sind nirgendwo erschienen Und wenn es docheintreten wird Was nuumltzt es dann seinem Schmerz zuvorzukommen Du wirst fruumlh genugSchmerz empfinden wenn es eingetreten ist Bis dahin stelle dir bessere Perspektiven vorAugen 11 Was du dadurch gewinnen wirst Zeit

Noch mehr fuumlhrt es von der stoischen Lehre weg wenn Seneca Lucilius fuumlr denFall dass er die Furcht nicht niederhalten kann sogar den Griff zu einem ent-gegengesetzten Laster empfiehlt (1312) si minus vitio vitium repelle spe metumtempera ndash raquowenn (es) weniger (gut moumlglich ist) dann draumlnge eine Fehlhaltungdurch eine andere zuruumlck und maumlszligige die Furcht durch die Hoffnunglaquo

Mit solchen Gedanken und offenkundigen Notloumlsungen mag sich der rsaquoschwa-chelsaquo Patient der noch keine rsaquostaumlrkere Medizinlsaquo vertraumlgt behelfensup1 Doch Senecahat durchdie staumlndige Praumlsenzder stoischenGegensicht dafuumlr gesorgt dass er be-reits ein schlechtes Gewissen dabei haben muss Und falls er es doch noch nichthaben sollte so sorgt der Briefabschluss dafuumlr der mit 1314 eingelaumlutet wird undwieder die Anfangsperspektive uumlbernimmt

1314 Pudet me daggeribidaggersic tecum loqui et tam lenibus te remediis focilare Alius dicat rsaquofortassenon venietlsaquo tu dic rsaquoquid porro si veniet videbimus uter vincat fortasse pro me venit et morsista vitam honestabitlsaquo

Ich schaumlme mich an dieser Stelle so mit dir zu reden und dich mit so sanften Heilmitteln zuhaumltschelnsup2 Ein anderer soll vonmir aus sagen rsaquovielleicht tritt es gar nicht einlsaquo Duaber sollstsagen rsaquoNaundWas ist wenn es kommen wird Wir werden sehen wer siegt vielleicht trittes zu meinen Gunsten ein und jener Tod wird mein Leben adelnlsaquo

1 Vgl zu diesem Gedanken die oben (S 114) angefuumlhrte Stelle aus const sap2 focilare steht eigentlich fuumlr rsaquodurch Waumlrme wieder ins Leben zuruumlckbringenlsaquo

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Seneca laumlsst ndash als peroratio in Kurzform ndash die Standard-exempla Sokrates und Ca-to folgen und schlieszligt einen Appell an damit ist die stoische Perspektive durchzwei rsaquoBruumlckenkoumlpfelsaquo am Anfang und Ende des eigentlichen Briefes gesichert undSeneca kann zum Epikur-dictum uumlbergehen

312 Angsttherapie im Wandel

Der 13 Brief zeigt keine Angstbehandlung aus einheitlicher philosophischer Per-spektive sondern arbeitet mit dem Hilfsmittel des philosophischen Perspektiven-wechsels Dabei wird die stoische Sicht zwar favorisiert die eigentliche Therapiearbeitet aber mit epikureisch gepraumlgten Handreichungen

Aus diesem Mischbefund heraus ergibt sich die Frage ob sich das Kraumlftever-haumlltnis zwischen Epikureismus und Stoizismus im Verlauf der Briefe zugunsteneiner der beidenSeitenverschiebt Amehesten laumlsst sichdas andemgerade schonangesprochenen Themenkomplex des Umganges mit der Angst uumlberpruumlfen weilSeneca diesen ausreichend oft und in breiter Streuung uumlber das Briefcorpus hin-wegwiederkehren laumlsst Eine Entwicklungmuumlsste sichhier besonders gut ablesenlassen

Der ganze Bereich ist inhaltlich und systematisch bereits durch die gruumlnd-liche Untersuchung Wachts erschlossen Leider laumlsst dieser jedoch die Fragenach der philosophischen Entwicklung weitgehend auszliger Betracht Zwar nimmtWacht vor allem im Verhaumlltnis zwischen Brief 13 und 24 eine deutliche Veraumln-derung der Argumentationsweise wahr (527) doch scheint er nicht zu erwaumlgendass dahinter eine kompositorische bzw therapeutische Absicht stecken koumlnntejedenfalls stellt er nirgendwo die Frage inwiefern zB fruumlhe Aumluszligerungen wirk-lich Senecas Meinung wiedergeben Daher kombiniert er in seiner DarstellungArgumentationen aus weit auseinanderliegenden Briefen ohne verschiedenersaquoTherapiestufenlsaquo zu unterscheiden Doch diese unterscheiden sich wie ein Ver-gleich zeigen soll erheblich voneinander

Im letztenBriefabschnitt des fuumlnftenBriefes (57ndash9) entwickelt Seneca imRah-men seiner Auslegung des Briefdictums (Hekaton Desines timere si sperare de-sieris) den Gedanken dass Hoffnung und Furcht wie Waumlchter und Gefangeneraneinander gekettet sind das sei auch ganz logisch weil beide Affekte besorgteProjektionen auf die Zukunft seien (utrumque pendentis animi est utrumque futuriexpectatione solliciti) So weit so gut ndash dieser Gedanke ist was die Zuordnung zuEpikur oder zur Stoa betrifft neutral Doch die Analyse die folgt ist epikureisch

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58 Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed cogitationes inlonginqua praemittimus itaque providentia maximum bonum condicionis humanae in ma-lum versa est

Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht auf die ge-genwaumlrtigenDinge konzentrieren sondern unsereUumlberlegungen aufweit Entferntes voraus-senden und so hat sich die Faumlhigkeit zur Voraussicht der groumlszligte Vorzug der menschlichenNatur zum Uumlblen hin verwandelt

Damit seien wir noch schlechter beraten als die Tiere die sich nur durch Gegen-waumlrtiges bedruumlcken lieszligen bei uns fuumlhle sichniemandnicht nur aufgrund gegen-waumlrtiger Uumlbel bedruumlckt (nemo tantum praesentibus miser est)

Mit diesen Worten endet der Brief es gibt ndash anders als in der 13 Epistel ndash keinstoisierendes kein zu einer houmlheren Sicht aufrufendes Finale und keine exem-pla die den Leser auffordern sich zu ermannen und den Gefahren mit Mut entge-genzutreten Und auch vor dem soeben angesprochenen Abschnitt sucht man diestoische Position vergebens Der Gedankengang ist voll und ganz epikureischundsteht in unausgeglichenem Gegensatz zur praemeditatio-Lehre einzig im unauf-faumlllig eingewobenen itaque providentia maximumbonumcondicionis humanae inmalum versa est koumlnnte man bei gutem Willen einen aufglimmenden Funken desin 46 eingefuumlhrten praemeditatio-Gedankens erkennen Doch Seneca huumltet sichauf diesen Widerspruch aufmerksam zu machen Nur fuumlr den der schon fuumlr ihnempfaumlnglich ist ist dieser Schimmer einer stoischen Sicht uumlberhaupt wahrnehm-bar

Wie geht Seneca diese Thematik in spaumlteren Briefen anNehmenwir zunaumlchst einweit entferntes Beispiel Im 98 Briefsup1 lesen wir Saumltze die den epikureisierendenPassagen des 5 aber auch denen des 13 Briefes durchaus aumlhnlich klingen zB(Beruumlhrungen zur epikureischen Lehre hervorgehoben)

986 Calamitosus est animus futuri anxius et ante miser ias misersup2 qui sol l ic i tus estut ea quibus delectatur ad extremum usque permaneant nullo enim tempore conquiescit etexpectat ione ventur i praesentia quibus frui poterat amittet

Schlimm dran ist ein Mensch der um die Zukunft besorgt und (schon) vor dem Ungluumlckungluumlcklich ist der besorgt ist dass das woran er sich freut bis an sein Lebensende erhal-ten bleibt er wird naumlmlich zu keiner Zeit zur Ruhe kommen und wird in der Erwartung derZukunft das Gegenwaumlrtige das er haumltte genieszligen koumlnnen verlieren

1 Die thematische Verwandtschaft der Briefe 5 13 14 24 und 98 ist in der Forschung oft gesehenworden zB Cancik Untersuchungen 72ndash75 (geht auf die ersten vier der genannten Briefe ein)Maurach Bau 73f und 97 mit Anm 78 Hachmann Leserfuumlhrung 130ndash1342 Vgl epist 134 illud tibi praecipio ne sis miser ante tempus

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132 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Oder

987f 7 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est ma-lum suum antecedere 8 [] Plus dolet quam necesse est qui ante dolet quam ne-cesse est

7 Nichts ist erbaumlrmlicher und nichts unsinniger als sich schon vorher zu fuumlrchten Was istdas fuumlr ein Wahnsinn seinem Ungluumlck zuvorzukommen 8 [] Mehr als noumltig leidet werfruumlher als noumltig leidet

Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied Der 98 Brief zeichnet eine vollkom-men andere Situation Waumlhrend im 5 und vor allem im 13 Brief die Ratschlaumlgeeinem (vermuteten) Bedarf auf Seiten des rsaquoLuciliuslsaquo entsprechen er also selbstihr Adressat ist sind sie im 98 Brief Beiprodukt einer anderen Thematik naumlm-lich der allgemeinen Eroumlrterung von Fragen der stoischen Guumlterlehre Aus demEingangssatz raquoMan sollte nie einen fuumlr gluumlcklich halten der vom (aumluszligeren) Gluumlckabhaumlngig istlaquosup1 hatte Seneca die Frage entstehen lassen ob aumluszligere Guumlter dennnicht trotzdem angenehm und nuumltzlich sein koumlnnten (Eine solche auf der stoi-schen ἀδιάφορα-Lehre basierende Frage ist uumlbrigens das sei vorweggenommenvor dem 65 Brief undenkbar) Zwar bejaht Seneca diessup2 doch knuumlpft er das anein entsprechendes mentales Training sich dabei staumlndig der eigentlichen Guumlterbewusst zu sein

984 Sive alios observare volueris (liberius enim inter aliena iudicium est) sive te ipsum fa-vore seposito et senties hoc et confiteberis nihil ex his optabilibus et caris utile esse nisi tecontra levitatem casus rerumque casum sequentium instruxeris nisi illud frequenter et sinequerella inter singula damna dixeris raquodis aliter visum estlaquo [Verg Aen 2428]

Sei es dass du andere (das Urteil ist naumlmlich bei fremden Angelegenheiten unbefangener)oder dass du unter Beiseitelegen von Selbstgefaumllligkeit dich selbst daraufhin ansehenwillstDu wirst dies bemerken und anerkennen dass nichts von diesen wuumlnschenswerten undwertvollen Dingen nuumltzlich ist wenn du dich nicht gegen die Unbestaumlndigkeit des Zufallsund derjenigen Dinge die dem Zufallsgesetz folgen wappnest und wenn du nicht oft undohne Klagen bei einzelnen Ungluumlcksfaumlllen jenen Satz vorbringst rsaquoDie Goumltter wollten es an-derslsaquo

1 Numquam credideris felicem quemquam ex felicitate suspensum2 Uumlbrigens wieder unter reichlicher Beimischung epikureischer Stimulanzien (s oben S 39) andieser Stelle (981f) wird die Verknuumlpfung genuin stoischer Gedanken mit diesen Sekundaumlrmoti-ven besonders deutlich rsaquoQuid ergo non usui ac voluptati esse possuntlsaquoQuis negat sed itasi lla ex nobis pendent non ex illis nos Omnia quae fortuna intuetur ita fruct i fera ac iucundafiunt si qui habet illa se quoque habet nec in rerum suarum potestate est

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31 Strategien gegen die Angst | 133

Die Passage zeigt deutlich dass die Aufforderungen zur praemeditatio (und eben-so zur Schicksalsergebenheit sozusagen einermeditatio in ipso eventu) in diesemBrief weder einen konkreten Anlass haben noch einer konkreten Person geltenEs geht bei diesen Uumlberlegungen nicht um Luciliusrsquo Gemuumltslage sondern um dierichtige Bewertung der Guumlter

Seneca glaubt im 98 Brief auch nicht mehr dass Lucilius hier noch einenNachholebedarf hat Das wird schon daraus ersichtlich dass Seneca anders alsim 5 Brief Lucilius und sich nicht mehr einschlieszligt in die Menge derer die denFehler machen sich durch Vergangenes und Zukuumlnftiges bedruumlcken zu lassenIm 5 Brief hieszlig es noch

58ndash9 8 [] Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed co-gitationes in longinqua praemittimus[] 9 Ferae pericula quae vident fugiunt cum effu-gere securae sunt nos et venturo torquemur et praeterito

8 [] Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht aufdie gegenwaumlrtigen Dinge konzentrieren sondern unsere Uumlberlegungen auf weit Entferntesvoraussenden [] 9 Die wilden Tiere fliehen vor den Gefahren die sie (gerade) sehenwir aber lassen uns von Zukuumlnftigem und Vergangenem peinigen

Auch der 13 Brief formulierte einschlieszligend und die dort bereits erkennbareMissbilligung dieser Haltung war noch in die Form des freundlichen Hinweisesgegossen (zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere) Nun aber im 98 Brief di-stanziert Seneca sich Lucilius und damit den Leser von einer solchen Positionindem er diese (in der dritten Person) mit beiszligendem Hohn uumlberzieht Wenigmitfuumlhlend haumllt er nichts fuumlr raquoerbaumlrmlicher und duumlmmer als sich im Voraus zufuumlrchtenlaquo es sei geradezu ein Zeichen geistiger Umnachtung sich so zu ver-haltensup1 Fuumlr die die sich staumlndig vor der Zukunft fuumlrchten bringt Seneca keinVerstaumlndnis auf er schimpft sie (988) raquoKummerleider die sich selbst im Wegestehenlaquo (satagii ac sibi molestos) und raquoLeute ohne Selbstkontrollelaquo (intemperan-tes) Kurz Was im 13 Brief noch ein unverbindliches Angebot zum Nachdenkenwar das ist hier zur unverhandelbaren Forderung geworden die Angst vor derZukunft ist nicht mehr salonfaumlhig

Konsequenterweise wird das was im 13 Brief lediglich als rsaquohoumlherelsaquo Hand-lungsoption charakterisiert wurde (oben S 129) im 98 Brief als rsaquoalternativloslsaquofuumlr einen guten Charakter dargestellt und dichotomisch vom Unvermoumlgen desschlechten Charakters unterschieden

1 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est malum suum antece-dere (987)

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982ndash3 2 Valentior enim omni fortuna animus est et in utramque partem ipse res suas du-cit beataeque ac miserae vitae sibi causa est 3 Malus omnia in malum vertit etiam quaecum specie optimi venerant rectus atque integer corrigit prava fortunae et dura atque asperaferendi scientia mollit eqs

2 Der Geist ist naumlmlich staumlrker als alles Schicksal er selbst lenkt seine Geschicke in dieeine oder die andere Richtung und ist fuumlr sich selbst die Ursache eines gluumlcklichen oder un-gluumlcklichen Lebens 3 Der Schlechte verwandelt alles in Schlechtes selbst das was mitdem Schein des Bestmoumlglichen eingetreten war der Aufrechte und Unbeirrte (demgegen-uumlber) berichtigt die Maumlngel des Schicksals und macht durch seine Faumlhigkeit zum Ertragendas Harte und Raue weich usw

Aber noch in einemanderenPunkt tritt der bis zum im98 Brief erreichteTherapie-fortschritt deutlich hervor Waumlhrend im 13 Brief der Gegenpol zur rsaquostarkenlsaquo stoi-schen Sicht nur in der rsaquoschwachenlsaquo epikureischen bestand so warnt der 98 Briefnicht minder vor dem entgegengesetzten Extrem naumlmlich (in einseitiger Ausle-gung der stoischen Guumlterlehre) aumluszligere Guumlter gar nicht mehr zu achten Vielmehrfordert Seneca ausdruumlcklich dazu auf gefaumlhrlichen Situationen aus dem Wegezu gehen Direkt vor der oben erwaumlhnten Verurteilung des Sich-vorher-Fuumlrchtensheiszligt es

987 Nec ideo praecipio tibi neglegentiam Tu vero metuenda decl ina quidquid consilioprospici potest prospice quodcumque laesurum est multo ante quam accidat speculare etaverte In hoc ipsum tibi plurimum conferet fiducia et ad tolerandum omne obfirmata mensPotest fortunam cavere qui potest ferre certe in tranquillo non tumultuatur

Doch ich schreibe dir deshalbnichtNachlaumlssigkeit [ imUmgang mit den ἀδιάφοραndash (Anm UD)

] vor Du sollst durchaus den fuumlrchtenswerten Ereignissen aus dem Wege gehen was auchimmer rational vorausgesehen werden kann das sieh voraus was auch immer verletzenkann das fasse weit fruumlher als es passiert ins Auge und wende es ab Gerade dafuumlr wird dirdein Selbstvertrauen und dein alles zu ertragen gefestigter Sinn sehr zugute kommen Derkann dem Schicksal ausweichen der es tragen kann zumindest gibt es bei einem ruhigenMenschen keinen Aufruhr

Welches Fazit koumlnnen wir hieraus ziehen Seneca empfiehlt zwar sowohl in fruuml-heren Briefen als auch im 98 Brief sich erstens das Leben nicht durch verfruumlhteAngst selbst schwer zu machen und zweitens gefaumlhrlichen Situationen ndash wennmoumlglich ndash aus dem Weg zu gehen Doch erstens treten nur in den fruumlheren Brie-fen dazu Ratschlaumlge die mit der stoischen Lehre in keinster Weise vereinbar sind(zB epist 1310 interim tibi meliora promitte 1312 spe metum tempera)sup1 Zweitens

1 Verschweigen dieses Mittels im 98 Brief richtig gesehen bei Hachmann Leserfuumlhrung 131raquoDie scheinbare Hilfe durch Verdraumlngung [] wird in Brief 98 gar nicht erwaumlhntlaquo Hachmannscheint aber nicht zu bemerken dass der Grund fuumlr dieseAuslassung eben in derUnvereinbarkeit

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31 Strategien gegen die Angst | 135

laumlsst Seneca inden fruumlhenBriefendieseArt vonRatschlaumlgenausderRuumlcksicht aufdie Schwaumlche des Lucilius entstehensup1 oder formuliert sie nach Art einer epikurei-schen Lust-Schmerz-Bilanzsup2 Demgegenuumlber werden die Ratschlaumlge im 98 Briefallein aus der stoischen Guumlterlehre abgeleitet Zwar verwendet Seneca noch im-mer epikureische Argumentationsmuster (989 laumlsst er zudem Metrodor als Kron-zeuge auftreten) jedoch tut er das nicht mehr in mit der stoischen Lehre inkom-patibler sondern ausschlieszliglich in komplementaumlrer und streng untergeordneterWeise Epikur ist kein Konkurrent mehr kein Gegenmodell Er ist zum Helfer her-abgesunken der die Luumlcken ausfuumlllen darf die ihm die stoische Lehre gelassenhat

Der zuletzt zitierte Gedanke (Potest fortunam cavere qui potest ferre) illustriertdieses Selbstverstaumlndnis in hervorragender Weise Wenn Seneca die Erfuumlllungder epikureischen Forderung dem Schicksal auszuweichen (fortunam cavere) aneinen Charakter knuumlpft der dem Schicksal auch standhalten kann (qui potest fer-re) ndash der also die stoische Selbstbeherrschung verinnerlicht hat ndash dann sagt erdamit rsaquoKein Epikureer kann die epikureischen Forderungen so gut erfuumlllen wiewir Stoikerlsaquosup3

Diese Einverleibung Epikurs als eines im praktischen Bereich nuumltzlichenrsaquoKnechtslsaquo fuumlr die Erziehung zur stoischen Lebensweise ist wie ich spaumlter nochdeutlicher zeigen moumlchte (Kapitel 431) ein Hauptcharakteristikum fuumlr Senecas

mit der stoischen Lehre liegt (130 raquoAndererseits wird ein Argument das in den ersten Briefenbenutzt in ep 98 aber nicht verwendet wurde wahrscheinl ich mit Absicht ausgelassenworden seinlaquo [meine Hervorhebung])1 Vgl zB 135 Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes2 zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere Vgl auch 241 Quid enim necesse est [] praesenstempus futuri metu perdere3 Auch an dieser Stelle bringt Hachmann Leserfuumlhrung 132 die Sache zu wenig auf den PunktraquoHier geht der Brief 98 weit uumlber die Anfangsbriefe hinaus wenn er einen ursaumlchlichen Zusam-menhang sieht wo die Anfangsbriefe lediglich ein Nebeneinander sahen Nur der seelisch Star-ke welcher der Gefahr klar ins Auge sehen kann besitzt auch die notwendige Gelassenheit ver-nuumlnftige Gegenmaszlignahmen zu ergreifenlaquo Hachmann sieht im 98 Brief (bis auf die Auslassungder Verdraumlngungstaktik) offenbar wieder nur einen quantitativen Unterschied zu den fruumlherenraquoEinVergleich vonep 986mit ep 138ndash11 zeigt dass indemfruumlhenBrief die zukritisierendeFehl-haltung imVerhaumlltnis zu den echten Versuchender Heilung breiter dargestellt wurde Dagegenuumlberwiegt in ep 98 die Darstellung der Bewaumlltigunglaquo (ebd (Hervorhebung UD) ) MaurachBau 73f erkennt richtig dass im 98 Brief der systematische Zusammenhang erkennbar ist denSeneca in denBriefen 13 und 14 nicht erwaumlhnt der aber der dortigen Gedankenfuumlhrung zugrundeliegt Maurach geht es dabei darum die verdeckten inhaltlichen Beziehungen aufzudecken diedie Briefe 12ndash15 enger zusammenschlieszligen (eine wichtige Funktion kommt dabei der im 14 Briefangesprochenen οἰϰείωσις-Lehre zu) Die Frage nach Epikur- und Stoa-Kompatibilitaumlt der Argu-mente und damit nach Therapiestufen steht auszligerhalb seines Blickwinkels auf den Text

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Briefe Nur hieraus und nicht aus persoumlnlichen Faktoren (vermeintlicher Ek-lektizismus Senecas Beeinflussung durch Luciliusrsquo Epikureismus) erklaumlrt sicheinerseits die Affinitaumlt zu Epikur (wo er zu brauchen ist bedient sich Seneca sei-ner gern) andererseits die scharfe Abgrenzung von ihm (Epikurs Prinzipien sindund bleiben aus Senecas Sicht untragbar)

Um herauszufinden auf welchem Therapieniveau Seneca operiert genuumlgt esalsonicht dieHerkunft bestimmterArgumentationsmuster ausder epikureischenSchule aufzuzeigen Diese verwendet er immersup1 so geniert sich Seneca zB auchim 98 Brief nicht unmittelbar vor einer stoischen exempla-Serie als Trostmittelfuumlr etwaige Verluste die epikureische Ruumlckbesinnung auf die Vergangenheit zuempfehlen (9811) Habere eripitur habuisse numquam Die entscheidende Frageist vielmehr inwiefern Seneca dabei gegen das stoische Wertesystem verstoumlszligt

Ein aufschlussreicher Schritt auf diesemWege ist der 24 Brief Vonunserembishe-rigen Befund aus mag ein kurzer Blick auf ihn genuumlgensup2 Der 13 Brief hatte durchdie Gegenuumlberstellung der rsaquohoumlherenlsaquosup3 stoischen zur rsaquoniedrigerenlsaquo epikureischenSicht zum ersten Mal auf die Abloumlsung der epikureisierenden Ratschlagstopik des5 Briefes hingearbeitet Auch der 14 Brief wirkte zwar ndash mit ersten Anklaumlngen andie Oikeiosislehre ndash auf eine Relativierung der Angstausloumlser hin blieb aber inseinen Methoden unentschieden So klingt beispielsweise gegenuumlber der helden-haften Aufforderung den Koumlrper notfalls auch ins Feuer zu schicken wenn es dieVernunft die Wuumlrde oder die Treue fordere (142) der unmittelbar folgende Satzdoch wieder sehr nach dem epikureischen Ausweichgedanken

143 Nihilominus quantum possumus evitemus incommoda quoque non tantum pericula etin tutum nos reducamus excogitantes subinde quibus possint timenda depelli

Nichtsdestotrotz wollen wir auch Unannehmlichkeiten nicht nur Gefahren nach Kraumlftenaus dem Wege gehen und uns auf sicheres Gebiet zuruumlckziehen indem wir uns immer wie-der ausdenken wodurch angsterregende Situationen entschaumlrft werden koumlnnen

Den endguumlltigen Bruch mit einer von stoischen Prinzipien abgeloumlsten epikurei-schen Behandlung vollzieht erst der 24 Brief indem er erstmals auch bei derFurchtbekaumlmpfung der praemeditatio-Technik den eindeutigen Vorzug vor derepikureischen Verdraumlngungsloumlsung gibt Ein Meisterstuumlck ist dabei wie Senecazum Schein die epikureische Loumlsung vorbringt und zunaumlchst auf sie eingeht so

1 Siehe dazu oben S 392 Als weitere Wegmarken koumlnnte man insbesondere 316 (vgl unten S 203) anfuumlhren3 Zu diesen Kategorien und ihrer Etablierung im philosophischen Denken Ciceros Goumlrler Un-tersuchungen zu Ciceros Philosophie vgl oben Anm 1 auf S 127

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31 Strategien gegen die Angst | 137

dass jeder von seinen Lesern der noch mit Epikurs Lehre liebaumlugelt sich auf demrichtigen Weg waumlhnen darf wie er dann aber diese Ratschlaumlge mit einem Wischzur Seite legt und zwar mit genau dem Argument das auch im 13 Brief schon alsKritik an Epikur anklang Das Verdraumlngen einer schlimmen Zukunft kann nichtjede Sorge nehmen (weil es durchaus Situationen gibt in denen das Eintreten desUumlbels aumluszligerst wahrscheinlich ist)sup1

241ndash2 1 Sollicitum esse te scribis de iudicicirc eventu quod tibi furor inimici denuntiat existi-masme suasurumutmeliora tibi ipse proponas et adquiescas spei blandae Quid enimnecesseest mala accersere satis cito patienda cum venerint praesumere ac praesens tempus futurimetu perdere Est sine dubio stultum quia quandoque sis futurus miser esse iam miserum2 Sed ego alia te ad securitatem via ducam si vis omnem sollicitudinem exuere quidquidvereris ne eveniat eventurum utique propone et quodcumque est illud malum tecum ipse me-tire ac timorem tuum taxa

1 Du schreibst du seist beunruhigt in Betreff des Ausgangs eines Prozesses den dir die Ra-serei deines Widersachers ankuumlndigt du glaubst ich werde dir nun raten dass du dir selbstBesseres vor Augen stellst und bei einer verlockenden Hoffnung zur Ruhe kommst Wozuist es naumlmlich notwendig Ungluumlckssituationen herbeizurufen das vorauszunehmen waswenn es gekommen ist immer noch fruumlh genughinzunehmen ist und die gegenwaumlrtige Zeitdurch die Angst vor der zukuumlnftigen schon zu verderben 2 Es ist ohne Zweifel unsinnigjetzt schon ungluumlcklich zu sein weil du irgendwann einmal ungluumlcklich sein wirst Aber ichwill dich auf einem anderen Weg zur Sicherheit fuumlhren Wenndu alleUnruhe ablegen willstdann stelle dir alles dessen Eintreten du befuumlrchtest erst recht vor Augen und miss wasauch immer es fuumlr ein Ungluumlck ist bei dir selbst nach und schaumltze das Ausmaszligdeiner Furchtein

Es kann kein Zweifel daran bestehen dass dieser Beginn des 24 Briefes als Ge-genstuumlck und Fortentwicklung der Therapie des 13 Briefes gelten musssup2

Unverstaumlndlich ist mir in diesem Punkt die Deutung Canciks Untersuchungen 73f Sie ver-sucht ndash gegen Misch Autobiographie 433 ndash zu beweisen dass weder zwischen dem 13 und dem24 Brief noch zwischen dem5 unddem24 Brief eine Entwicklung des rsaquoLuciliuslsaquo stattfindet raquoVoneinem Ansatz zur Darstellung einer seelischen Entwicklung in Mischs Sinne kann also hier [ dhim 13 Brief ndash (AnmUD) ] nicht die Rede sein Genausowenig bezeichnet ep 24 eine gegenuumlber ep 13fortgeschrittene Stufe in der Entwicklung des Luciliuslaquo (74) Sie folgert das zum einen (a) dar-aus dass auch im 13 Brief beide Sichtweisen vertreten werden zum andern (b) weil sie meintdass auch 57 schon raquodie stoische Vorstellung von der Uumlberwindung der Leidenschaften [] rein

1 Siehe oben S 1282 RichtigMaurach Bau 97 sowieHachmann Leserfuumlhrung 182ndash190 (der zu Recht konstatiertdass die Notmethode der Angstbekaumlmpfung durch einen Gegenaffekt also das vitio vitium repel-lere von 1312 (s oben S 129) von epist 24 an nicht mehr zum Repertoire Senecas gehoumlrt) fernerWacht Angst in Senecas Briefen 527 raquoWas also zunaumlchst grundsaumltzlich vereinbar und als mil-dere Form der Angstbewaumlltigung akzeptiert schien muss hier einer Methode weichen die zumsicheren Erfolg zu fuumlhren versprichtlaquo

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138 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und eindeutiglaquo zum Ausdruck bringe (ebd) Doch wir haben gesehen dass (a) im 13 Brief beideSichtweisen noch miteinander wetteifernd auftreten und die stoische Loumlsung als die edlere dieepikureische aber als die derzeit wirkungsvollere dargestellt wird Die edlere Loumlsung legt sich da-bei wie ein Ring um die primitivere Canciks Deutung des 13 Briefes ist demnach verfehlt wennsie (ebd) behauptet raquoEine Interpretation von ep 13 im Ganzen zeigt dass ihr Gedankengangauf Steigerung angelegt istlaquo Denn der Brief enthaumllt nicht eine kontinuierliche Steigerung derphilosophischen Argumentationshoumlhe sondern beginnt in stoischer Houmlhe wird dann von 133bis 1313 durch eine epikureische Phase abgeloumlst und kehrt dann mit 1314 und den angedeutetenexempla wieder zum Ausgangsniveau zuruumlck Ganz anders ist das im 24 Brief Die epikureischeVerdraumlngungsloumlsung wird nur eingangs erwaumlhnt und zwar nur dazu um desto wirkungsvollerbeiseite gelegt werden zu koumlnnen Sie spielt im uumlbrigenBrief keine Rollemehr und ist vonAnfangan keine ernsthafte Alternative Die praemeditatio-Methode beherrscht von Beginn das Feld underhaumllt spaumltestens durch die lange exempla-Serie ab 243 ein erdruumlckendes Uumlbergewicht Einenfast schon verzweifelt zu nennenden opportunistischen Ratschlag wie 1313 crede quod mavis ndashraquoGlaube was du lieber willst (sc wenn du nur dadurch zur Ruhe kommst)laquo wird man nicht im24 und auch in keinem spaumlteren Brief mehr finden

Was (b) den 5 Brief angeht so muss man klar feststellen dass zwar der Zusammenhangzwischen Furcht und Hoffnung von dem Seneca dort spricht als Vorbereitung fuumlr eine spaumltereἀπάϑεια-Forderung gesehen werden kann Doch in der Hinsicht die wir als Indiz fuumlr eine Ent-wicklung des Lucilius angesehen haben naumlmlich in der Frage ob man zukuumlnftigen Uumlbeln ge-genuumlber eher die epikureische rsaquoKopf-in-den-Sand-Taktiklsaquo oder die kyrenaisch-stoische praemedi-tatio anwenden soll steht der 5 Brief wie wir gesehen habensup1 ganz eindeutig auf epikureischerSeitesup2 Abgesehen davon ist der Zusammenhang zur stoischen ἀπάϑεια auch nur fuumlr ein philo-sophisch bereits geuumlbtes Auge zu erkennen der Ratschlag erst ein Aufhoumlren des Hoffens werdeauch zum Ende des Fuumlrchtens fuumlhren laumlsst sich auch als gegen ein jeweiliges Zuviel im Einzel-fall gesprochen denken von einem raquoreinen und eindeutigenlaquo Propagieren der Uumlberwindung derLeidenschaften kann jedenfalls keine Rede sein

Doch obwohl er sich in der Entscheidung fuumlr die praemeditatio jetzt konse-quent zeigt ndash oder eben deshalb ndash sorgt Seneca umgehend dafuumlr dass die Bruumlckezum Epikureismus nicht gaumlnzlich abgerissen wird Er wolle sagt er Lucilius zursecuritas fuumlhren im Gegensatz zu Begriffen wie etwa constantia oder gar invulne-rabilitaswaumlhlt er damit einen Ausdruck der das epikureische Ideal der Sorglosig-keit (se+cura) uumlberdeutlich anklingen laumlsstsup3 Und die von Lucilius befuumlrchteten

1 S oben S 1312 Zu Recht skeptisch bereits Maurach Bau 97 Anm 78 ndash Hachmanns Widerlegungsversuch(Leserfuumlhrung 189) gegen diese Deutung von 57 durch Cancik speist sich allein aus dem Um-stand dass sich der 5 Brief noch im raquoEinleitungsteil des Werkeslaquo befinde Das allein halte ich fuumlrwenig schlagkraumlftig entscheidend ist die Stellung zur praemeditatio da diese wirklich ein Un-terscheidungskriterium zwischen Epikureismus und Stoa bietet vgl Abel Bauformen 38 undMaurach Bau 97 mit Anm 803 Das Wort kommt aus metrischen Gruumlnden bei Lukrez nicht vor inhaltlich ist es gleichwohlfast omnipraumlsent vgl zB im Prooumlm des zweiten Buches (216ndash19) nonne videre | nihil aliud sibi

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31 Strategien gegen die Angst | 139

Ereignisse bezeichnet Seneca so wie die breite Bevoumllkerung auch naumlmlich mitmalasup1

Doch es kommt noch besser Denn man duumlrfte nach der Ankuumlndigung diesesrsaquoanderen Weges zur Sorglosigkeitlsaquo erwarten dass Seneca jetzt wenn er jetzt mitden Worten intelleges profecto fortfaumlhrt ganz in stoischem Fahrwasser etwa sa-gen wird raquoDu wirst erkennen dass all diese Bedrohungen und Gefahren nichtigund nicht schwer zu ertragen sind und dass es allein auf unsere innere Haltungankommt Denn das einzige echte Uumlbel ist es sich verwerflich zu verhalten daseinzige Uumlbel ist die turpitudo Alle anderen Ereignisse vor denen du Angst hastsind keine wirklichen mala Das alles sind ἀδιάφορα also indifferente ethischambivalente Dingelaquo Stattdessen sagt er

242 intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis

du wirst ganz sicher erkennen dass es nicht groszlig oder aber nicht langdauernd ist wasdu fuumlrchtest

Das ist ndash worauf ua auch Wachtsup2 zu Recht hinweist ndash nichts anderes als Epikurswohlbekannte Formel gegen die Angst vor dem Schmerzsup3 die Cicero (fin 222) mitfast denselben Worten wie spaumlter Seneca zusammenfasst Si gravis [sc dolor] bre-vis si longus levis⁴

Die geschickte Wendung in der Formulierung laumlsst sich sicherlich wie ge-sagt als raquoRuumlcksicht auf den epikureischen Freundlaquo verstehen⁵ Doch sie ist mehrals das Die epikureische Schmerzformel ist ein nicht nur akutes sondern vonvornherein auch vorausschauendes Trostmittel Sie hat die Funktion die Angstvor einer schmerzhaften Zukunft zu verringern und enthaumllt damit schon von sichaus eine praumlmeditative Komponente Diesen fuumlr den Uumlbergang zur stoischen Leh-re guumlnstigen Umstand hat Seneca geschickt ausgenutzt Die Schmerzformel istein ideales Bindeglied um dem praemeditatio-Gedanken auch von epikureischerWarte aus Ruumlckhalt zu verschaffen

naturam latrare nisi ut qui | corpore seiunctus dolor absit mente fruatur | iucundo sensu curasemota metuque1 Anstelle einer stoisierenden Umschreibung vgl unten Kapitel 512 Angst in Senecas Briefen 528f3 Epic KD 4 GV 44 Vgl Sen epist 2414 Levis es si ferre possum brevis es si ferre non possum sowie ferner epist3014 ( nullum enim dolorem longum esse qui magnus est)5 Wacht Angst in Senecas Briefen 528 freilich darf dabei ndash wie oben (Kapitel 132 ab S 35)ausgefuumlhrt ndash unter rsaquoFreundlsaquo nicht die reale Person Lucilius verstanden werden sondern es gehtum die Integration des epikureisch orientierten Leserpublikums

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140 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Auch ein Stoiker wie Mark Aurel weiszlig uumlbrigens um den praktischen Wert die-ser Formel Und fuumlr die Bestimmung von Senecas Taktik ist es hochinteressant zusehen wie sich die Einbettung dieses Gedankens bei dem Philosophenkaiser imUnterschied zu Seneca darstellt Denn zum einen laumlsst Mark Aurel die stoischeSicht eben nicht fort sondern setzt sie in guter Ordnung an den Anfang

MarkAurel 764 ᾿Επὶ μὲνπαντὸς πόνου πρόχειρον ἔστω ὅτι οὐϰ αἰσχρὸνοὐδὲ τὴνδιάνοιαντὴν ϰυβερνῶσαν χείρω ποιεῖ οὔτε γὰρ ϰαϑὸ λογιϰή ἐστιν οὔτε ϰαϑὸ ϰοινωνιϰὴ διαφϑείρειαὐτήνBei jedem Ungemach sei Dir dieses Argument griffbereit dass es nicht moralisch verwerf-lich ist und die leitende Vernunft nicht schwaumlcht Denn weder insoweit sie vernuumlnftig nochinsoweit sie gemeinschaftsbezogen ist verdirbt es sie

Zum anderen kennzeichnet er den nun folgenden epikureischen Gedanken expli-zit als solchen und schraumlnkt ihn insoweit ein als er sagt dass diese Maxime nichtimmer sondern nur in den meisten Faumlllen anwendbar sei

Mark Aurel 764 Fortssup1 ἐπὶ μέντοι τῶν πλείστων πόνων ϰαὶ τὸ τοῦ ᾿Επιϰούρου σοι βοη-ϑείτω ὅτι οὔτε ἀφόρητον οὔτε αἰώνιον ἐὰν τῶν ὅρων μνημονεύῃς ϰαὶ μὴ προσδοξάζῃςBei den meisten Formen von Ungemach moumlge dir indes schon das Wort Epikurs helfen dasses weder unertraumlglich noch unendlich ist sofern du dich an die Fakten haumlltst und nichtschon im Vorhinein schlimme Erwartungen hegst

Insgesamt koumlnnenwir in Senecas Briefen bezogen auf die Frage der Angsttherapiefolgende Entwicklung feststellen Angefangen von epist 5 (= epikureische Thera-peutik) gibt es eine Entwicklung uumlber epist 13 und 14 (Mischform) epist 24 (vor-wiegend stoische Argumentation mit epikureischer Motivation jedoch vermischtmit epikureischer avocatio) hin zu epist 98 in der eine im Kern rein stoische Ar-gumentation vorliegt die sich jedoch nach wie vor epikureischer Hilfsargumentebedient

Senecas Taktik besteht demnach nicht darin die gegnerische rsaquoFestunglsaquo mitseinen Argumenten rsaquoim Handstreichlsaquo oder uumlberhaupt in der Schlacht zu nehmenVielmehr legt er es ndash um im Bild zu bleiben ndash darauf an sie nach und nach davonzu uumlberzeugen freiwillig ihre Tore zu oumlffnen Er will eine Transformation des Le-sers aber er will sie nicht auf dem Weg der Konfrontation sondern lieber auf demPfad schleichender Integration

Auch der 105 Brief fuumlgt sich in diese Ordnung ein Zwar legt Seneca seinem Freund hiernahezudie gleichenRatschlaumlgevor die er auch schon im13 14 und 24Brief gegebenhatteDoches geht uumlberhaupt nicht um Angstvermeidung sondern um aumluszligere Sicherheit Lucilius hat ndash so

1 = Epicur fr 447 Us

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 141

die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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144 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 3: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

122 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

131 Multum tibi esse animi scio nametiamantequam instrueres te praeceptis salutaribus etdura vincentibus satis adversus fortunamplacebas tibi etmultomagis postquamcum illama-num conseruisti viresque expertus es tuas quae numquam certam dare fiduciam sui possuntnisi cummultae difficultates hinc et illinc apparuerunt aliquando vero et propius accesseruntSic verus ille animus et in alienum non venturus arbitrium probatur haec eius obrussa est

Ich weiszlig dass du uumlber groszlige mentale Staumlrke verfuumlgst denn schon bevor du dich mit heil-samen und auch harten Lebenslagen standhaltenden Leitsaumltzen ausgeruumlstet hast durftestdu mit deiner Haltung gegenuumlber den Launen des Schicksals zufrieden sein und erst rechtnachdemdudichmit ihmangelegt unddeineKraumlfte kennengelernt hast die ja nie ein siche-res Zeugnis von sich ablegen koumlnnen wenn nicht allerlei Schwierigkeiten sich von hier unddort gezeigt haben und manchmal auch schon naumlher geruumlckt sind Genau so beweist sich je-nes wahrhaft standhafte und auch in Zukunft sich nicht unter ein fremdes Urteil beugendeGemuumlt das ist seine Feuerprobe

Unter dem Gesichtspunkt der Werbung fuumlr die Stoa geht dieser Abschnitt aumluszligerstgeschickt vor Die stoischen Bezuumlge liegen auf der Hand Wir erkennen die Be-waumlhrung gegen das (und nicht im) Schicksal (dura vincentibus)sup1 das Umdeutenungluumlcklicher Situationen zu hervorragenden Bewaumlhrungsmoumlglichkeiten fuumlr deneigenen Charaktersup2 sowie die Selbstbestimmtheit und Freiheit der Vernunft (verusille animus et in alienum non venturus arbitrium)sup3 Doch die Raffinesse liegt darinwie Seneca ndash und dh wie unverbindlich ndash er diese Werte lanciert Die Formulie-rungen zur Staumlrke des animus sind Stoa-typisch aber eben nicht terminologischfestgelegt und kein Epikureer wuumlrde zu bestreiten haben dass Epikurs Leitsaumlt-ze nicht auch rsaquoheilsamlsaquo sind und helfen rsaquoharten Lebenslagen standzuhaltenlsaquo⁴

1 Auch ohne den Gebrauch stoischer Terminologie ist die Anspielung auf die stoische Lehre un-verkennbar vgl zB prov 59 Contra fortunam illi tenendus est cursus Siehe auch Griffin Se-neca 351 mit Anm 1 (Verweis auf const sap 21ndash2 ndash Zur Herausbildung und Bedeutung des stoi-schen Gedankens des fortunae resistere vgl Busch Fortunae resistere2 Vgl ndash als ein Beispiel unter vielen ndash Sen prov 22 wo es vom Weisen heiszligt Omnia adversaexercitationes putat3 Aus stoischer Sicht steckt hinter diesen Worten das Konzept vom λόγος der sich nie den auf-kommenden Vorstellungen (φαντασίαι) uumlberlaumlsst auchwenn sie noch souumlberzeugend auftretenDieses Konzept bleibt aber eben verborgen die unterminologische Sprache ist beabsichtigt Mankann schon das stoische Konzept mithoumlren muss aber nicht Es ist zunaumlchst nur von einem un-beugsamen standhaften Gemuumlt die Rede ndash wie dies zustande kommen kann davon ist noch garnichts gesagt4 Wie eine deutlicher stoische und nicht mehr epikurkonforme Formulierung des gleichen Ge-dankens klingen koumlnnte zeigt zB prov 66 wo Seneca auf den Einwand rsaquoAt multa incidunt tris-tia horrenda dura toleratulsaquo Gott aus stoischer providentia-Perspektive antworten laumlsst Quia nonpoteram vos istis subducere animos vestros adversos omnia armavi Ferte fortiter Hoc est quodeum antecedatis ille extra patientiam malorum est vos supra patientiam ndash Waumlhrend die Stoikerin ihrer Wortwahl eher auf die innere Staumlrkung im Kampf mit den aumluszligeren Anfechtungen abzie-

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31 Strategien gegen die Angst | 123

ebensogut koumlnnte jede andere Philosophenschule dieseWirkungen fuumlr sich rekla-mieren Ferner Die ndash aus stoischer Sicht zu Unrecht so genannten ndash mala nenntSeneca ausweichend difficultates (und bereitet damit die stoische Einordnung alsincommoda vor) und er deutet sie zwar in stoischer Manier zu Bewaumlhrungsmoumlg-lichkeiten um jedoch spricht er zunaumlchst nicht von der Bewaumlhrung fuumlr die virtus ndashdiesen Gedanken hebt er sich fuumlr den Abschluss des Lobes in 133 auf ndash sondernstattdessen etwas offener vom rsaquoErproben der vireslsaquo der eigenen Kraumlfte Diesen Ge-danken baut Seneca im Folgenden aus

132ndash3 2 Non potest athleta magnos spiritus ad certamen adferre qui numquam sugillatusest ille qui sanguinem suum vidit cuius dentes crepuere sub pugno ille qui subplantatus ad-versarium toto tulit corpore nec proiecit animum proiectus qui quotiens cecidit contumaciorresurrexit cummagna spe descendit ad pugnam 3 Ergo ut similitudinem istam prosequarsaepe iam fortuna supra te fuit nec tamen tradidisti te sed subsiluisti et acrior constitistimultum enim adicit sibi virtus lacessita

2 Kein Ringkaumlmpfer kann mit groszligem Kampfesmut zum Wettkampf antreten der niemalsverbleut worden ist Jener (aber) der sein eigenes Blut gesehen hat und dessen Zaumlhne unterdem Faustschlag des Gegners geknirscht haben jener der obwohl schon unter dem Fuszligdes Feindes liegend ihn mitsamt seinem ganzen Koumlrpergewicht hochgestemmt und seinenMut nicht obgleich selbst zu Boden geworfen weggeworfen hat und der sooft er auch hin-stuumlrzte nur umso kampfeslustigersup1 wieder aufgesprungen ist ndash nur der steigt mit groszligerHoffnung in den Ring hinab zum Kampf 3 Also umbei diesem Bild zu bleiben Schon oftstand das Ungluumlck auf dir und dennoch hast du dich ihm nicht ausgeliefert sondern bistaufgesprungen und hast dich nur umso trotziger zum Kampf aufgestellt viel (Kraft) steuertsich naumlmlich die virtus bei wenn sie angestachelt worden ist

War schon der erste Abschnitt von Kampfmetaphorik gepraumlgt (multum animi es-se ndash se instruere ndash adversus fortunam ndash vincere ndash manum conserere ndash vires experi-ri) so konkretisiert diese der zweite Abschnitt hin zum Pankration (magnos spiri-tus ad certamen adferre ndash sugillari ndash sanguinem suum videre ndash cuius dentes crepu-ere sub pugno ndash subplantatus ndash contumax ndash resurgere)sup2 In hymnischem Stil feiertSeneca den Athleten in nach dem Gesetz der wachsenden Glieder immer laumlnge-ren Attributsaumltzen wobei die erste mit ille begonnene Reihe (ille qui sanguinem

len setzen die epikureischen Argumentationen auf der Seite der aumluszligeren Anfechtungen an undversuchen ihnen durch rationale Erklaumlrung ihren furchteinfloumlszligenden Charakter zu nehmen zBLucr 624f veridicis igitur purgavit [ Epicurus ] pectora dictis | et finem statuit cuppedinis atque ti-moris1 woumlrtlich raquo und der () kampfeslustiger (als je zuvor) wieder aufspranglaquo2 Dies ist nicht nur einer groumlszligeren Anschaulichkeit geschuldet Das Bild des Zweikampfes sug-geriert zugleich dass die Fortuna nicht mit Heeresstaumlrke daherkommt und dass Lucilius (bzwjeder Leser) ein ebenbuumlrtiger Gegner fuumlr sie sein kann

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124 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

suum vidit cuius dentes crepuere sub pugno) sein Ertragen vonVerletzungenpreistund die zweite auch stilistisch durch das Polyptoton (proiecit proiectus) unddurch die t- und k-Alliterationen hervorgehobene ille-Reihe (ille qui subplantatusadversarium toto tulit corpore nec proiecit animum proiectus qui quotiens ceciditcontumacior resurrexit) sein Lob durch die Schilderung seines unbezwingbarenSiegeswillens in houmlchste Houmlhen fuumlhrt

In einem zweiten Schritt uumlbertraumlgt Seneca nun diese Metaphorik direkt aufLucilius rsaquoauch dulsaquo sagt er rsaquobist unter dem Fuszlig des Schicksals wieder hervorge-sprungen (subsiluisti) hast dich nicht ergeben (nec tamen tradidisti te) und hastdich ebenfalls nach jeder scheinbarenNiederlage nur umso trotziger zum Kampfeaufgestellt (acrior constitisti)lsaquo und jetzt auf demHoumlhepunkt setzt Seneca in einerSentenz in betonter Endstellung auch den Leitbegriff ergaumlnzt um den wichtigs-ten Aspekt der stoischen Schicksalsdeutung Vermeintliche Uumlbel sind bei Lichtbetrachtet rsaquoAnstachelungenlsaquo fuumlr die virtussup1

Die psychagogische Strategie bis hierher liegt auf der Hand Seneca benutztden Verweis auf bereits erfolgreich gemeisterte Bewaumlhrungssituationen und diehymnische Diktion um Lucilius zu einem Helden aufzubauen fuumlr den ndash wie fuumlrden Pankratiasten im Gleichnis des Panaitios (oben S 81) ndash keine Herausforde-rung zu groszlig ist Mit andern Worten Es ist ein Versuch Lucilius auf sehr schmei-chelhafte Weise an die stoische Sichtweise auf die Herausforderungen des Lebensheranzufuumlhren und ihn darauf zu verpflichtensup2

Umso armseliger wirkt die Handlungskasuistik zu der sich Seneca nun ur-ploumltzlich ndash allein wie er sagt Lucilius zuliebe ndash herablaumlsst

133ndash5 3 (Forts) Tamen si tibi videtur accipe a me auxilia quibus munire te possis4 Plura sunt Lucili quae nos terrent quam quae premunt et saepius opinione quam relaboramus Non loquor tecum Stoica l ingua sed hac summissiore nos enim di-cimus omnia ista quae gemitus mugitusque exprimunt levia esse et contemnenda Omittamushaec magna verba sed di boni vera illud tibi praecipio ne sis miser ante tempus cum illaquae velut inminentia expavisti fortasse nunquam ventura sint certe non venerint 5 Quae-dam ergo nos magis torquent quam debent quaedam ante torquent quam debent quaedamtorquent cum omnino non debeant aut augemus dolorem aut praecipimus aut fingimus

1 Ein Gedanke der die gesamte Schrift De providentia durchzieht So laumlsst Seneca zB den auchdort gewaumlhlten Athletenvergleich (prov 23) in der Sentenz gipfeln Marcet sine adversario vir-tus tunc apparet quanta sit quantumque polleat cum quid possit patientia ostendit (24) oder 46calamitas virtutis occasio est2 Diese Technik des rsaquoUumlberzeugensdurchKomplimentelsaquo koumlnnen wirmehrfach in denBriefen wie-derfinden Besonders deutlich tritt sie auch im6 Brief (in Verbindungmit dem9 Brief) in Erschei-nung vgl unten S 238

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31 Strategien gegen die Angst | 125

3 (Forts) Dennochvernimm wenndumagst vonmir Ratschlaumlgemit denen dudich schuumlt-zen kannst 4 Es sind mehr Dinge Lucilius die uns einen Schrecken einjagen als diedie uns (tatsaumlchlich) beeintraumlchtigen und oumlfter leiden wir aufgrund unserer Vorstellung alsaufgrund des Sachverhaltes Ich spreche jetzt nicht in der stoischen Redeweisemit dir sondern in dieser zuruumlckhaltenderen wir sagen naumlmlich dass all dieseDinge die Klagenund Jammern hervorrufen leicht zu ertragen und zu verachten sind Dochlassen wir diese groszligen aber bei Gott wahren Worte Jenes schreibe ich dir vor dass dunicht schon vor der Zeit ungluumlcklich bist da doch jene Dinge die du wie unmittelbar dro-hende gefuumlrchtest hast vielleicht nie eintreten werden auf jeden Fall aber nicht eingetretensind 5 Manche Gefahren quaumllen uns alsomehr als siemuumlssenmanche fruumlher als siemuumls-sen undmanche obwohl sie uns uumlberhaupt nicht quaumllen duumlrften wir vermehren das Leidennehmen es voraus oder bilden es uns nur ein

Das ist wirklich eine Kehrtwende um 180 Gradsup1 Keine Rede mehr von einemrsaquoDem-Schicksal-die-Stirn-Bietenlsaquo Statt dessen epikureisches Klein-Klein tau-send Tipps wie man die Aumlngste vor der Zukunft verringern kann Denn es istkeineswegs so dass Seneca wie Wacht glaubt diese Lehren wenn auch mitGewalt aus der stoischen Lehrtradition herausziehtsup2

Fuumlr einen Epikureer sind und bleiben Ungluumlcksfaumllle Momente der Anfechtung er soll ihnenmoumlglichst aus dem Wege gehen ndash man denke an den Grundsatz λάϑε βιώσαςsup3 ndash wenn aber etwas

1 Viel schwaumlcher scheint den Umschwung Maurach Bau 67 zu beurteilen raquoUnd doch so faumlhrtSeneca fort obschon der Freund solche Kraft hat es gibt wirksame Hilfen die eine Anwendungdieses animus erleichternlaquo Das klingt als sei das was ab 134 folgt nur die praktische Ergaumln-zung zu dem was Seneca vorher gesagt hat Auch Hachmann Leserfuumlhrung 126 will hier of-fenbar keinen Bruch sehen raquoDabei will er (zunaumlchst) nicht die harte unverbluumlmte Sprache derStoa sondern eine leisere Sprechweise benutzenlaquo (das gleiche Bild schon bei Maurach Bau69 raquoBeide Briefe [ 12 und 13 ] reden nicht mit lauter Stimme sondern remissiore vocelaquo) Senecaredet aber nicht nur rsaquoleiserlsaquo dh weniger drastisch oder weniger deutlich sondern definitiv ineiner anderen philosophischen Sprache als der der Stoa Was er eigentlich von derlei remediahaumllt zeigen spaumltere Stellen wie diese (706) Itaque effeminatiss imam vocem illius Rhodiiexistimo qui cum in caveam coniectus esset a tyranno et tamquam ferum aliquod animal aleretursuadenti cuidam ut abstineret cibo rsaquoomnialsaquo inquit rsaquohomini dum vivi t speranda suntlsaquondashCancik Untersuchungen 74 laumlsst diese Stelle ganz unter den Tisch fallen obwohl sie groumlszligteRelevanz fuumlr die von ihr vorgenommene Zuruumlckweisung der These von einer Entwicklung desLucilius gehabt haumltte s dazu S 138 ndash Vollkommen verfehlt Peter Brief 231 der diese WorteSenecas als Programm fuumlr die Briefe insgesamt missversteht (raquoDem Programm des rsaquoprodesselsaquo ge-maumlszlig verschmaumlht er die ernste Sprache der Philosophie als fuumlr einen Brief ungeeignetlaquo es folgenals Belegstellen 134 und 381)2 Wacht Angst in Senecas Briefen 526 raquoAngst so bestimmten die Stoa und andere vor ihr be-steht in der Erwartung eines zukuumlnftigen Uumlbels Seneca leitet daraus ab ne sis miser ante tempus(ep 134)laquo (meine Hervorhebung) Natuumlrlich ist auch Wacht die Herkunft der lenia remedia ausder Schule Epikurs bewusst Aber gerade deswegen meine ich dass man hier nicht eine Bruumlckezur stoischen Definition suchen sollte3 Plut mor 1128ff

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126 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Unvermeidliches eintritt oder bevorsteht dann muss er sich mit der Methode der avocatio undrevocatio also der Ablenkung vom gegenwaumlrtigen bzw zukuumlnftigen Zustand und der Ruumlckbesin-nung auf erfreulichere Zeiten behelfensup1

Schon der Vorschlag ne sis miser ante tempus (134) ist genuin epikureisch(avocatio) und ist der Lehre der Stoiker die wie die Kyrenaiker die Technik derpraemeditatio favorisiert haben diametral entgegengesetzt Dabei hatte Sene-ca die praemeditatio-Lehre doch selbst im vierten Brief ausdruumlcklich empfohlen(s oben S 42) Hier im 13 Brief liegt er jedoch auf epikureischer Linie wenn erkritisiert aut augemus dolorem aut praecipimus aut fingimus (135)sup2

AuchdieKritikaut augemusdolorem ist genaugenommennicht Stoa-konformsie passt nicht zum Postulat der Unempfindlichkeit (ἀπάϑεια) des stoischen Wei-sen gegenuumlber den Versuchungen des Schicksals Der Stoiker versucht nicht dieBeeinflussung durch den Schmerz zu verringern sondern er strebt danach sieganz abzuschaffen Anstelle dieser harten Forderung verbuumlndet sich Seneca hierdurch seine Formulierung noch mit der dem Volksempfinden naumlher stehendenperipatetischen Guumlterlehre

Doch zunaumlchst moumlchte Seneca Lucilius nur davon uumlberzeugen dass es sinn-voll ist seineAffekte zu drosseln Das ist derwichtigste Schritt in die richtige Rich-tung (Affektminderung) Ob das Ziel dabei nun in weiter Ferne (zB Epikur) odergar hinten am Horizont (Stoa) liegt ist erst einmal zweitrangig Dieses ganze Pro-blemfeld kann auf spaumlter vertagt werden Wir koumlnnen jedoch festhalten Hier inden Briefen gibt es bei Seneca einen Vorrang der Taktik vor der Systematik

Weder moumlchte Seneca allen Ernstes die praemeditatio- oder die ἀπάϑεια-Lehre grundsaumltzlich in Frage stellen Schon aufgrund des kaumlmpferischen Briefbe-ginns ist das unwahrscheinlich und gegen Ende des Briefes wird er wieder ganzoffen empfehlen der Zukunft ins Auge zu blicken (1314 Alius dicat rsaquofortasse nonvenietlsaquo tu dic rsaquoquid porro si veniet Videbimus uter vincat lsaquo)sup3 Mit dem epiku-reischen Schwenk in der Briefmitte duumlrfte Seneca eher auf folgende Alternative

1 Cic Tusc 333 s oben S 802 Seneca verknuumlpft die selben beiden Kritikpunkte (1 ein erwartetes bevorstehendes Uumlbel mussnicht unbedingt eintreten 2 auchwenn es eintritt ist es nicht sinnvoll den Schmerz durch seineVorerwartung schon in die Gegenwart hinein zu verlaumlngern) die auch Epikur Ciceros Bericht zu-folge verbundenhaben soll Cic Tusc 332 ( qui censet necesse esse omnis in aegritudine essequi se in malis esse arbitrentur sive illa ante provisa et expectata sint sive inveteraverint Namneve vetustate minui mala nec fieri praemeditata leviora stultamque etiam esse meditationemfuturi mali aut fortasse ne futuri quidem satis esse odiosum malum omne cum venisset qui au-tem semper cogitavisset accidere posse aliquid adversi ei fieri illud sempiternum malum si verone futurum quidem sit frustra suscipi miseriam voluntariam ita semper angi aut accipiendo autcogitando malo3 S dazu unten S 129

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31 Strategien gegen die Angst | 127

hinauswollen rsaquoWenn du stark genug bist dann schaue dem Schicksal ins Augeund uumlberwinde es wenn nicht ndash dann schaue eben nicht voraus damit du dirimmerhin nicht die Lebenszeit bis dahin verdirbstlsaquo

Der Kontrast des Umschwungs (oder besser Abschwungs) von derHoumlhe des Brief-beginns zu den jetzigen Niederungen popularer Alltagsratschlaumlge ist gewollt Erbietet Seneca die Moumlglichkeit die stoische Weltsicht in ein guumlnstiges Licht zuruumlcken sie in einer starken Position zu zeigen und trotzdem den Vorbehalten undauch Wuumlnschen der Leserschaft nach praktischen Ratschlaumlgen Raum zu gebenZugleich kann er auf diese Weise einem sehr breiten Leserspektrum gerecht wer-den Die Kontrastierung beider Sichten gibt ihm zudem die Moumlglichkeit auch in-nerhalb der Ratschlaumlge immer wieder in Richtung der stoischen Sichtweise aufden Leser einzuwirken

135 Primum illud quia res in controversia est et litem contestatam habemus in praesentiadifferatur Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes scio alios inter flagella riderealios gemere sub colapho Postea videbimus utrum ista suis viribus valeant an inbecillitatenostra

Aber jener erste Punkt soll weil die Angelegenheit (unter uns) umstritten ist und wir denProzess eingereicht haben jetzt erst einmal vertagt werden Das was ich unbedeutend nen-nen werde wirst du nachdruumlcklich fuumlr aumluszligerst gewichtig erklaumlren ich weiszlig dass die einenunter Geiszligelhieben lachen die anderen (schon) bei einer Ohrfeige jammern Spaumlter werdenwir sehen ob diese Dinge aufgrund ihrer eigenen Beschaffenheit Bedeutung fuumlr uns habenoder nur durch unsere Schwaumlche

Wie der Einschub si tibi videtur (133) dient dieser Abschnitt dazu die rsaquohoumlherelsaquoSicht der Stoa als Gegenfolie praumlsent zu haltensup1 Geschickt bezeichnet Seneca denGegensatz zwischender stoischen Sicht undder des Lucilius nicht als einen quali-tativen zwischen Unempfindlichkeit (ἀπάϑεια) und Empfindsamkeit sondern als

1 Diese Technik ist wie Goumlrler Untersuchungen zu Ciceros Philosophie gezeigt hat omniprauml-sent bei Cicero und uumlberdeutlich in seinen Tuskulanen in denen er immer wieder versucht ne-ben der rsaquoniedrigenlsaquo sicheren Position die rsaquohoumlherelsaquo aber schwerer beweisbare und nicht uumlberZweifel erhabene Ebene zur Geltung zu bringen vgl ebd zB 206 raquoWenn Cicero im erstenTuskulanenbuch [] zunaumlchst Beweise fuumlr die Unsterblichkeit der Seele gibt dann aber diesenStandpunkt aufgibt und nur noch daran festhaumllt dass der Tod auch bei voumllligem Untergang derSeele kein Uumlbel ist so liegen beide Argumentationen nicht auf derselben Ebenelaquo oder (25) raquoWieder Glaube an die Unsterblichkeit der Seele immer wieder von Zweifeln erschuumlttert wird ist esschwer die stoische Uumlberzeugung (nihil bonum nisi virtus) allen Versuchungen zum Trotz auf-rechtzuerhalten Der stoische Standpunkt ist zwar erhabener (im gleichen Sinne wie der Glaubean die Unsterblichkeit) aber der theophrastische steht dem Boden der beweisbaren Tatsachennaumlherlaquo

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128 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

einen quantitativen zwischen Mehr- oder Weniger-Leidensup1 zugleich waumlhlt er einBeispiel bei demdasWeniger-Leidenals erstrebenswert angesehenwerdenmussMit inbecillitate nostra bereitet Seneca den Leser (ohne dass er allzutief in diersaquograue Theorielsaquo eintauchen muss) darauf vor dass die Ursache fuumlr die Relativitaumltder Bewertung von Uumlbeln vor allem in unserer eigenen Sicht auf sie zu sehen ist

Auch in 7ndash8 koumlnnen wir beobachten wie Seneca geschickt beide philosophi-sche Richtungen einander gegenuumlberstellt wobei wiederum die Stoa in der houmlhe-ren Position erscheint Auf die fiktive Frage des Lucilius wie er wahre von einge-bildeten Gefahren unterscheiden koumlnne (rsaquoQuomodolsaquo inquis rsaquointellegam vana sintan vera quibus angorlsaquo) antwortet Seneca zunaumlchst ganz im Sinne Epikurs

137 Accipe huius rei regulam aut praesentibus torquemur aut futuris aut utrisque De prae-sentibus facile iudicium est si corpus tuum liberum et sanum est nec ullus ex iniuria dolor estvidebimus quid futurum sit hodie nihil negotii habetsup2

Hier hast du ein Richtmaszlig fuumlr diese Situation Wir werden entweder durch Gegenwaumlrtigesoder durch Zukuumlnftiges oder durch beides gequaumllt In Bezug auf Gegenwaumlrtiges ist die Ent-scheidung leicht Wenn dein Koumlrper frei und gesund ist und es keinen Schmerz aufgrundeines (erlittenen oder getanen) Unrechts gibt werden wir sehen was die Zukunft bringtHeute (jedenfalls) hat er kein Problemsup2

Diese epikureische Loumlsung hat nochnie recht zu uumlberzeugen vermocht und Sene-ca nutzt dieUnzufriedenheit des Interlokutors (bzw des Lucilius) umdie stoischeLehre von der Zustimmung zum Affektimpuls (συγϰατάϑεσις assensio) vorzube-reiten

138 rsaquoAt enim futurum estlsaquo ndash Primum dispice an certa argumenta sint venturi mali plerum-que enim suspicionibus laboramus et illudit nobis illa quae conficere bellum solet fama multoautem magis singulos conficit Ita est mi Lucili c i to accedimus opinioni non coargui-mus illa quae nos in metum adducunt nec excutimus []

rsaquoAber (das Unheil) wird doch eintretenlsaquo ndash Erstens schau genau hin ob es sichere Anzeichenfuumlr ein kommendes Unheil gibt meistens leiden wir naumlmlich aufgrund unserer Verdaumlchti-gungen und uns narrt jenes Geruumlcht das einen Krieg vom Zaune zu brechen pflegt nochmehr aber die einzelnen Leute zugrunderichtet So ist es mein Lucilius Wir pflichten un-

1 Also in genau der Weise wie er es in 135 schon vorbereitet hatte quaedam ergo nosmagis tor-quent quam debent Auch das dazugehoumlrige Fazit augemus dolorem legte ja nur eine quantitativeDeutung nahe s dazu oben auf Seite 1262 Vgl zu diesem Gedanken oben Anm 2 auf Seite 126 Nicht ganz deutlich gibt diesen GedankenCiceros Torquatus wieder (fin 159) accedunt aegritudines molestiae maerores qui exedunt ani-mos conficiuntque curis hominum non intellegentium nihil dolendum esse animo quod sit a dolorecorporis praesenti futurove seiunctum ndash Danach koumlnnte man meinen Epikur lasse die Angstvor zukuumlnftigen Uumlbeln zu

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31 Strategien gegen die Angst | 129

serer Meinung zu schnell bei wir pruumlfen jene Dinge nicht die uns in Furcht versetzen unduntersuchen sie nicht genau []

Das ist nicht viel mehr als eine Andeutung aber sie hilft die stoische Loumlsungrsaquoim Spiellsaquo zu halten ohne auf die Kasuistik verzichten zu muumlssen Und bei dieserscheut sich Seneca nicht sogleich wieder unter das stoische Niveau zu zufallennochmals therapiert er die Furcht vor dem kommenden Unheil epikureisch undim offenen Widerspruch zur stoischen praemeditatio-Empfehlung

1310f 10 Verisimile est aliquid futurum mali non statim verum est Quam multa nonexspectata venerunt Quam multa exspectata nusquam conparuerunt Etiam si futurum estquid iuvat dolor i suo occurrere Satis cito dolebis cum venerit interim tibi meliorapromitte 11 Quid facies lucri Tempus

10 Es ist sehr wahrscheinlich dass ein Unheil eintreten wird (deshalb) ist es (aber) nichtsogleich (auch schon)wahrWie vieleDinge sind eingetreten obwohl sie nicht erwartetwur-den Wie viele Dinge die erwartet wurden sind nirgendwo erschienen Und wenn es docheintreten wird Was nuumltzt es dann seinem Schmerz zuvorzukommen Du wirst fruumlh genugSchmerz empfinden wenn es eingetreten ist Bis dahin stelle dir bessere Perspektiven vorAugen 11 Was du dadurch gewinnen wirst Zeit

Noch mehr fuumlhrt es von der stoischen Lehre weg wenn Seneca Lucilius fuumlr denFall dass er die Furcht nicht niederhalten kann sogar den Griff zu einem ent-gegengesetzten Laster empfiehlt (1312) si minus vitio vitium repelle spe metumtempera ndash raquowenn (es) weniger (gut moumlglich ist) dann draumlnge eine Fehlhaltungdurch eine andere zuruumlck und maumlszligige die Furcht durch die Hoffnunglaquo

Mit solchen Gedanken und offenkundigen Notloumlsungen mag sich der rsaquoschwa-chelsaquo Patient der noch keine rsaquostaumlrkere Medizinlsaquo vertraumlgt behelfensup1 Doch Senecahat durchdie staumlndige Praumlsenzder stoischenGegensicht dafuumlr gesorgt dass er be-reits ein schlechtes Gewissen dabei haben muss Und falls er es doch noch nichthaben sollte so sorgt der Briefabschluss dafuumlr der mit 1314 eingelaumlutet wird undwieder die Anfangsperspektive uumlbernimmt

1314 Pudet me daggeribidaggersic tecum loqui et tam lenibus te remediis focilare Alius dicat rsaquofortassenon venietlsaquo tu dic rsaquoquid porro si veniet videbimus uter vincat fortasse pro me venit et morsista vitam honestabitlsaquo

Ich schaumlme mich an dieser Stelle so mit dir zu reden und dich mit so sanften Heilmitteln zuhaumltschelnsup2 Ein anderer soll vonmir aus sagen rsaquovielleicht tritt es gar nicht einlsaquo Duaber sollstsagen rsaquoNaundWas ist wenn es kommen wird Wir werden sehen wer siegt vielleicht trittes zu meinen Gunsten ein und jener Tod wird mein Leben adelnlsaquo

1 Vgl zu diesem Gedanken die oben (S 114) angefuumlhrte Stelle aus const sap2 focilare steht eigentlich fuumlr rsaquodurch Waumlrme wieder ins Leben zuruumlckbringenlsaquo

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130 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Seneca laumlsst ndash als peroratio in Kurzform ndash die Standard-exempla Sokrates und Ca-to folgen und schlieszligt einen Appell an damit ist die stoische Perspektive durchzwei rsaquoBruumlckenkoumlpfelsaquo am Anfang und Ende des eigentlichen Briefes gesichert undSeneca kann zum Epikur-dictum uumlbergehen

312 Angsttherapie im Wandel

Der 13 Brief zeigt keine Angstbehandlung aus einheitlicher philosophischer Per-spektive sondern arbeitet mit dem Hilfsmittel des philosophischen Perspektiven-wechsels Dabei wird die stoische Sicht zwar favorisiert die eigentliche Therapiearbeitet aber mit epikureisch gepraumlgten Handreichungen

Aus diesem Mischbefund heraus ergibt sich die Frage ob sich das Kraumlftever-haumlltnis zwischen Epikureismus und Stoizismus im Verlauf der Briefe zugunsteneiner der beidenSeitenverschiebt Amehesten laumlsst sichdas andemgerade schonangesprochenen Themenkomplex des Umganges mit der Angst uumlberpruumlfen weilSeneca diesen ausreichend oft und in breiter Streuung uumlber das Briefcorpus hin-wegwiederkehren laumlsst Eine Entwicklungmuumlsste sichhier besonders gut ablesenlassen

Der ganze Bereich ist inhaltlich und systematisch bereits durch die gruumlnd-liche Untersuchung Wachts erschlossen Leider laumlsst dieser jedoch die Fragenach der philosophischen Entwicklung weitgehend auszliger Betracht Zwar nimmtWacht vor allem im Verhaumlltnis zwischen Brief 13 und 24 eine deutliche Veraumln-derung der Argumentationsweise wahr (527) doch scheint er nicht zu erwaumlgendass dahinter eine kompositorische bzw therapeutische Absicht stecken koumlnntejedenfalls stellt er nirgendwo die Frage inwiefern zB fruumlhe Aumluszligerungen wirk-lich Senecas Meinung wiedergeben Daher kombiniert er in seiner DarstellungArgumentationen aus weit auseinanderliegenden Briefen ohne verschiedenersaquoTherapiestufenlsaquo zu unterscheiden Doch diese unterscheiden sich wie ein Ver-gleich zeigen soll erheblich voneinander

Im letztenBriefabschnitt des fuumlnftenBriefes (57ndash9) entwickelt Seneca imRah-men seiner Auslegung des Briefdictums (Hekaton Desines timere si sperare de-sieris) den Gedanken dass Hoffnung und Furcht wie Waumlchter und Gefangeneraneinander gekettet sind das sei auch ganz logisch weil beide Affekte besorgteProjektionen auf die Zukunft seien (utrumque pendentis animi est utrumque futuriexpectatione solliciti) So weit so gut ndash dieser Gedanke ist was die Zuordnung zuEpikur oder zur Stoa betrifft neutral Doch die Analyse die folgt ist epikureisch

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31 Strategien gegen die Angst | 131

58 Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed cogitationes inlonginqua praemittimus itaque providentia maximum bonum condicionis humanae in ma-lum versa est

Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht auf die ge-genwaumlrtigenDinge konzentrieren sondern unsereUumlberlegungen aufweit Entferntes voraus-senden und so hat sich die Faumlhigkeit zur Voraussicht der groumlszligte Vorzug der menschlichenNatur zum Uumlblen hin verwandelt

Damit seien wir noch schlechter beraten als die Tiere die sich nur durch Gegen-waumlrtiges bedruumlcken lieszligen bei uns fuumlhle sichniemandnicht nur aufgrund gegen-waumlrtiger Uumlbel bedruumlckt (nemo tantum praesentibus miser est)

Mit diesen Worten endet der Brief es gibt ndash anders als in der 13 Epistel ndash keinstoisierendes kein zu einer houmlheren Sicht aufrufendes Finale und keine exem-pla die den Leser auffordern sich zu ermannen und den Gefahren mit Mut entge-genzutreten Und auch vor dem soeben angesprochenen Abschnitt sucht man diestoische Position vergebens Der Gedankengang ist voll und ganz epikureischundsteht in unausgeglichenem Gegensatz zur praemeditatio-Lehre einzig im unauf-faumlllig eingewobenen itaque providentia maximumbonumcondicionis humanae inmalum versa est koumlnnte man bei gutem Willen einen aufglimmenden Funken desin 46 eingefuumlhrten praemeditatio-Gedankens erkennen Doch Seneca huumltet sichauf diesen Widerspruch aufmerksam zu machen Nur fuumlr den der schon fuumlr ihnempfaumlnglich ist ist dieser Schimmer einer stoischen Sicht uumlberhaupt wahrnehm-bar

Wie geht Seneca diese Thematik in spaumlteren Briefen anNehmenwir zunaumlchst einweit entferntes Beispiel Im 98 Briefsup1 lesen wir Saumltze die den epikureisierendenPassagen des 5 aber auch denen des 13 Briefes durchaus aumlhnlich klingen zB(Beruumlhrungen zur epikureischen Lehre hervorgehoben)

986 Calamitosus est animus futuri anxius et ante miser ias misersup2 qui sol l ic i tus estut ea quibus delectatur ad extremum usque permaneant nullo enim tempore conquiescit etexpectat ione ventur i praesentia quibus frui poterat amittet

Schlimm dran ist ein Mensch der um die Zukunft besorgt und (schon) vor dem Ungluumlckungluumlcklich ist der besorgt ist dass das woran er sich freut bis an sein Lebensende erhal-ten bleibt er wird naumlmlich zu keiner Zeit zur Ruhe kommen und wird in der Erwartung derZukunft das Gegenwaumlrtige das er haumltte genieszligen koumlnnen verlieren

1 Die thematische Verwandtschaft der Briefe 5 13 14 24 und 98 ist in der Forschung oft gesehenworden zB Cancik Untersuchungen 72ndash75 (geht auf die ersten vier der genannten Briefe ein)Maurach Bau 73f und 97 mit Anm 78 Hachmann Leserfuumlhrung 130ndash1342 Vgl epist 134 illud tibi praecipio ne sis miser ante tempus

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132 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Oder

987f 7 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est ma-lum suum antecedere 8 [] Plus dolet quam necesse est qui ante dolet quam ne-cesse est

7 Nichts ist erbaumlrmlicher und nichts unsinniger als sich schon vorher zu fuumlrchten Was istdas fuumlr ein Wahnsinn seinem Ungluumlck zuvorzukommen 8 [] Mehr als noumltig leidet werfruumlher als noumltig leidet

Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied Der 98 Brief zeichnet eine vollkom-men andere Situation Waumlhrend im 5 und vor allem im 13 Brief die Ratschlaumlgeeinem (vermuteten) Bedarf auf Seiten des rsaquoLuciliuslsaquo entsprechen er also selbstihr Adressat ist sind sie im 98 Brief Beiprodukt einer anderen Thematik naumlm-lich der allgemeinen Eroumlrterung von Fragen der stoischen Guumlterlehre Aus demEingangssatz raquoMan sollte nie einen fuumlr gluumlcklich halten der vom (aumluszligeren) Gluumlckabhaumlngig istlaquosup1 hatte Seneca die Frage entstehen lassen ob aumluszligere Guumlter dennnicht trotzdem angenehm und nuumltzlich sein koumlnnten (Eine solche auf der stoi-schen ἀδιάφορα-Lehre basierende Frage ist uumlbrigens das sei vorweggenommenvor dem 65 Brief undenkbar) Zwar bejaht Seneca diessup2 doch knuumlpft er das anein entsprechendes mentales Training sich dabei staumlndig der eigentlichen Guumlterbewusst zu sein

984 Sive alios observare volueris (liberius enim inter aliena iudicium est) sive te ipsum fa-vore seposito et senties hoc et confiteberis nihil ex his optabilibus et caris utile esse nisi tecontra levitatem casus rerumque casum sequentium instruxeris nisi illud frequenter et sinequerella inter singula damna dixeris raquodis aliter visum estlaquo [Verg Aen 2428]

Sei es dass du andere (das Urteil ist naumlmlich bei fremden Angelegenheiten unbefangener)oder dass du unter Beiseitelegen von Selbstgefaumllligkeit dich selbst daraufhin ansehenwillstDu wirst dies bemerken und anerkennen dass nichts von diesen wuumlnschenswerten undwertvollen Dingen nuumltzlich ist wenn du dich nicht gegen die Unbestaumlndigkeit des Zufallsund derjenigen Dinge die dem Zufallsgesetz folgen wappnest und wenn du nicht oft undohne Klagen bei einzelnen Ungluumlcksfaumlllen jenen Satz vorbringst rsaquoDie Goumltter wollten es an-derslsaquo

1 Numquam credideris felicem quemquam ex felicitate suspensum2 Uumlbrigens wieder unter reichlicher Beimischung epikureischer Stimulanzien (s oben S 39) andieser Stelle (981f) wird die Verknuumlpfung genuin stoischer Gedanken mit diesen Sekundaumlrmoti-ven besonders deutlich rsaquoQuid ergo non usui ac voluptati esse possuntlsaquoQuis negat sed itasi lla ex nobis pendent non ex illis nos Omnia quae fortuna intuetur ita fruct i fera ac iucundafiunt si qui habet illa se quoque habet nec in rerum suarum potestate est

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31 Strategien gegen die Angst | 133

Die Passage zeigt deutlich dass die Aufforderungen zur praemeditatio (und eben-so zur Schicksalsergebenheit sozusagen einermeditatio in ipso eventu) in diesemBrief weder einen konkreten Anlass haben noch einer konkreten Person geltenEs geht bei diesen Uumlberlegungen nicht um Luciliusrsquo Gemuumltslage sondern um dierichtige Bewertung der Guumlter

Seneca glaubt im 98 Brief auch nicht mehr dass Lucilius hier noch einenNachholebedarf hat Das wird schon daraus ersichtlich dass Seneca anders alsim 5 Brief Lucilius und sich nicht mehr einschlieszligt in die Menge derer die denFehler machen sich durch Vergangenes und Zukuumlnftiges bedruumlcken zu lassenIm 5 Brief hieszlig es noch

58ndash9 8 [] Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed co-gitationes in longinqua praemittimus[] 9 Ferae pericula quae vident fugiunt cum effu-gere securae sunt nos et venturo torquemur et praeterito

8 [] Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht aufdie gegenwaumlrtigen Dinge konzentrieren sondern unsere Uumlberlegungen auf weit Entferntesvoraussenden [] 9 Die wilden Tiere fliehen vor den Gefahren die sie (gerade) sehenwir aber lassen uns von Zukuumlnftigem und Vergangenem peinigen

Auch der 13 Brief formulierte einschlieszligend und die dort bereits erkennbareMissbilligung dieser Haltung war noch in die Form des freundlichen Hinweisesgegossen (zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere) Nun aber im 98 Brief di-stanziert Seneca sich Lucilius und damit den Leser von einer solchen Positionindem er diese (in der dritten Person) mit beiszligendem Hohn uumlberzieht Wenigmitfuumlhlend haumllt er nichts fuumlr raquoerbaumlrmlicher und duumlmmer als sich im Voraus zufuumlrchtenlaquo es sei geradezu ein Zeichen geistiger Umnachtung sich so zu ver-haltensup1 Fuumlr die die sich staumlndig vor der Zukunft fuumlrchten bringt Seneca keinVerstaumlndnis auf er schimpft sie (988) raquoKummerleider die sich selbst im Wegestehenlaquo (satagii ac sibi molestos) und raquoLeute ohne Selbstkontrollelaquo (intemperan-tes) Kurz Was im 13 Brief noch ein unverbindliches Angebot zum Nachdenkenwar das ist hier zur unverhandelbaren Forderung geworden die Angst vor derZukunft ist nicht mehr salonfaumlhig

Konsequenterweise wird das was im 13 Brief lediglich als rsaquohoumlherelsaquo Hand-lungsoption charakterisiert wurde (oben S 129) im 98 Brief als rsaquoalternativloslsaquofuumlr einen guten Charakter dargestellt und dichotomisch vom Unvermoumlgen desschlechten Charakters unterschieden

1 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est malum suum antece-dere (987)

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134 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

982ndash3 2 Valentior enim omni fortuna animus est et in utramque partem ipse res suas du-cit beataeque ac miserae vitae sibi causa est 3 Malus omnia in malum vertit etiam quaecum specie optimi venerant rectus atque integer corrigit prava fortunae et dura atque asperaferendi scientia mollit eqs

2 Der Geist ist naumlmlich staumlrker als alles Schicksal er selbst lenkt seine Geschicke in dieeine oder die andere Richtung und ist fuumlr sich selbst die Ursache eines gluumlcklichen oder un-gluumlcklichen Lebens 3 Der Schlechte verwandelt alles in Schlechtes selbst das was mitdem Schein des Bestmoumlglichen eingetreten war der Aufrechte und Unbeirrte (demgegen-uumlber) berichtigt die Maumlngel des Schicksals und macht durch seine Faumlhigkeit zum Ertragendas Harte und Raue weich usw

Aber noch in einemanderenPunkt tritt der bis zum im98 Brief erreichteTherapie-fortschritt deutlich hervor Waumlhrend im 13 Brief der Gegenpol zur rsaquostarkenlsaquo stoi-schen Sicht nur in der rsaquoschwachenlsaquo epikureischen bestand so warnt der 98 Briefnicht minder vor dem entgegengesetzten Extrem naumlmlich (in einseitiger Ausle-gung der stoischen Guumlterlehre) aumluszligere Guumlter gar nicht mehr zu achten Vielmehrfordert Seneca ausdruumlcklich dazu auf gefaumlhrlichen Situationen aus dem Wegezu gehen Direkt vor der oben erwaumlhnten Verurteilung des Sich-vorher-Fuumlrchtensheiszligt es

987 Nec ideo praecipio tibi neglegentiam Tu vero metuenda decl ina quidquid consilioprospici potest prospice quodcumque laesurum est multo ante quam accidat speculare etaverte In hoc ipsum tibi plurimum conferet fiducia et ad tolerandum omne obfirmata mensPotest fortunam cavere qui potest ferre certe in tranquillo non tumultuatur

Doch ich schreibe dir deshalbnichtNachlaumlssigkeit [ imUmgang mit den ἀδιάφοραndash (Anm UD)

] vor Du sollst durchaus den fuumlrchtenswerten Ereignissen aus dem Wege gehen was auchimmer rational vorausgesehen werden kann das sieh voraus was auch immer verletzenkann das fasse weit fruumlher als es passiert ins Auge und wende es ab Gerade dafuumlr wird dirdein Selbstvertrauen und dein alles zu ertragen gefestigter Sinn sehr zugute kommen Derkann dem Schicksal ausweichen der es tragen kann zumindest gibt es bei einem ruhigenMenschen keinen Aufruhr

Welches Fazit koumlnnen wir hieraus ziehen Seneca empfiehlt zwar sowohl in fruuml-heren Briefen als auch im 98 Brief sich erstens das Leben nicht durch verfruumlhteAngst selbst schwer zu machen und zweitens gefaumlhrlichen Situationen ndash wennmoumlglich ndash aus dem Weg zu gehen Doch erstens treten nur in den fruumlheren Brie-fen dazu Ratschlaumlge die mit der stoischen Lehre in keinster Weise vereinbar sind(zB epist 1310 interim tibi meliora promitte 1312 spe metum tempera)sup1 Zweitens

1 Verschweigen dieses Mittels im 98 Brief richtig gesehen bei Hachmann Leserfuumlhrung 131raquoDie scheinbare Hilfe durch Verdraumlngung [] wird in Brief 98 gar nicht erwaumlhntlaquo Hachmannscheint aber nicht zu bemerken dass der Grund fuumlr dieseAuslassung eben in derUnvereinbarkeit

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31 Strategien gegen die Angst | 135

laumlsst Seneca inden fruumlhenBriefendieseArt vonRatschlaumlgenausderRuumlcksicht aufdie Schwaumlche des Lucilius entstehensup1 oder formuliert sie nach Art einer epikurei-schen Lust-Schmerz-Bilanzsup2 Demgegenuumlber werden die Ratschlaumlge im 98 Briefallein aus der stoischen Guumlterlehre abgeleitet Zwar verwendet Seneca noch im-mer epikureische Argumentationsmuster (989 laumlsst er zudem Metrodor als Kron-zeuge auftreten) jedoch tut er das nicht mehr in mit der stoischen Lehre inkom-patibler sondern ausschlieszliglich in komplementaumlrer und streng untergeordneterWeise Epikur ist kein Konkurrent mehr kein Gegenmodell Er ist zum Helfer her-abgesunken der die Luumlcken ausfuumlllen darf die ihm die stoische Lehre gelassenhat

Der zuletzt zitierte Gedanke (Potest fortunam cavere qui potest ferre) illustriertdieses Selbstverstaumlndnis in hervorragender Weise Wenn Seneca die Erfuumlllungder epikureischen Forderung dem Schicksal auszuweichen (fortunam cavere) aneinen Charakter knuumlpft der dem Schicksal auch standhalten kann (qui potest fer-re) ndash der also die stoische Selbstbeherrschung verinnerlicht hat ndash dann sagt erdamit rsaquoKein Epikureer kann die epikureischen Forderungen so gut erfuumlllen wiewir Stoikerlsaquosup3

Diese Einverleibung Epikurs als eines im praktischen Bereich nuumltzlichenrsaquoKnechtslsaquo fuumlr die Erziehung zur stoischen Lebensweise ist wie ich spaumlter nochdeutlicher zeigen moumlchte (Kapitel 431) ein Hauptcharakteristikum fuumlr Senecas

mit der stoischen Lehre liegt (130 raquoAndererseits wird ein Argument das in den ersten Briefenbenutzt in ep 98 aber nicht verwendet wurde wahrscheinl ich mit Absicht ausgelassenworden seinlaquo [meine Hervorhebung])1 Vgl zB 135 Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes2 zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere Vgl auch 241 Quid enim necesse est [] praesenstempus futuri metu perdere3 Auch an dieser Stelle bringt Hachmann Leserfuumlhrung 132 die Sache zu wenig auf den PunktraquoHier geht der Brief 98 weit uumlber die Anfangsbriefe hinaus wenn er einen ursaumlchlichen Zusam-menhang sieht wo die Anfangsbriefe lediglich ein Nebeneinander sahen Nur der seelisch Star-ke welcher der Gefahr klar ins Auge sehen kann besitzt auch die notwendige Gelassenheit ver-nuumlnftige Gegenmaszlignahmen zu ergreifenlaquo Hachmann sieht im 98 Brief (bis auf die Auslassungder Verdraumlngungstaktik) offenbar wieder nur einen quantitativen Unterschied zu den fruumlherenraquoEinVergleich vonep 986mit ep 138ndash11 zeigt dass indemfruumlhenBrief die zukritisierendeFehl-haltung imVerhaumlltnis zu den echten Versuchender Heilung breiter dargestellt wurde Dagegenuumlberwiegt in ep 98 die Darstellung der Bewaumlltigunglaquo (ebd (Hervorhebung UD) ) MaurachBau 73f erkennt richtig dass im 98 Brief der systematische Zusammenhang erkennbar ist denSeneca in denBriefen 13 und 14 nicht erwaumlhnt der aber der dortigen Gedankenfuumlhrung zugrundeliegt Maurach geht es dabei darum die verdeckten inhaltlichen Beziehungen aufzudecken diedie Briefe 12ndash15 enger zusammenschlieszligen (eine wichtige Funktion kommt dabei der im 14 Briefangesprochenen οἰϰείωσις-Lehre zu) Die Frage nach Epikur- und Stoa-Kompatibilitaumlt der Argu-mente und damit nach Therapiestufen steht auszligerhalb seines Blickwinkels auf den Text

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136 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Briefe Nur hieraus und nicht aus persoumlnlichen Faktoren (vermeintlicher Ek-lektizismus Senecas Beeinflussung durch Luciliusrsquo Epikureismus) erklaumlrt sicheinerseits die Affinitaumlt zu Epikur (wo er zu brauchen ist bedient sich Seneca sei-ner gern) andererseits die scharfe Abgrenzung von ihm (Epikurs Prinzipien sindund bleiben aus Senecas Sicht untragbar)

Um herauszufinden auf welchem Therapieniveau Seneca operiert genuumlgt esalsonicht dieHerkunft bestimmterArgumentationsmuster ausder epikureischenSchule aufzuzeigen Diese verwendet er immersup1 so geniert sich Seneca zB auchim 98 Brief nicht unmittelbar vor einer stoischen exempla-Serie als Trostmittelfuumlr etwaige Verluste die epikureische Ruumlckbesinnung auf die Vergangenheit zuempfehlen (9811) Habere eripitur habuisse numquam Die entscheidende Frageist vielmehr inwiefern Seneca dabei gegen das stoische Wertesystem verstoumlszligt

Ein aufschlussreicher Schritt auf diesemWege ist der 24 Brief Vonunserembishe-rigen Befund aus mag ein kurzer Blick auf ihn genuumlgensup2 Der 13 Brief hatte durchdie Gegenuumlberstellung der rsaquohoumlherenlsaquosup3 stoischen zur rsaquoniedrigerenlsaquo epikureischenSicht zum ersten Mal auf die Abloumlsung der epikureisierenden Ratschlagstopik des5 Briefes hingearbeitet Auch der 14 Brief wirkte zwar ndash mit ersten Anklaumlngen andie Oikeiosislehre ndash auf eine Relativierung der Angstausloumlser hin blieb aber inseinen Methoden unentschieden So klingt beispielsweise gegenuumlber der helden-haften Aufforderung den Koumlrper notfalls auch ins Feuer zu schicken wenn es dieVernunft die Wuumlrde oder die Treue fordere (142) der unmittelbar folgende Satzdoch wieder sehr nach dem epikureischen Ausweichgedanken

143 Nihilominus quantum possumus evitemus incommoda quoque non tantum pericula etin tutum nos reducamus excogitantes subinde quibus possint timenda depelli

Nichtsdestotrotz wollen wir auch Unannehmlichkeiten nicht nur Gefahren nach Kraumlftenaus dem Wege gehen und uns auf sicheres Gebiet zuruumlckziehen indem wir uns immer wie-der ausdenken wodurch angsterregende Situationen entschaumlrft werden koumlnnen

Den endguumlltigen Bruch mit einer von stoischen Prinzipien abgeloumlsten epikurei-schen Behandlung vollzieht erst der 24 Brief indem er erstmals auch bei derFurchtbekaumlmpfung der praemeditatio-Technik den eindeutigen Vorzug vor derepikureischen Verdraumlngungsloumlsung gibt Ein Meisterstuumlck ist dabei wie Senecazum Schein die epikureische Loumlsung vorbringt und zunaumlchst auf sie eingeht so

1 Siehe dazu oben S 392 Als weitere Wegmarken koumlnnte man insbesondere 316 (vgl unten S 203) anfuumlhren3 Zu diesen Kategorien und ihrer Etablierung im philosophischen Denken Ciceros Goumlrler Un-tersuchungen zu Ciceros Philosophie vgl oben Anm 1 auf S 127

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31 Strategien gegen die Angst | 137

dass jeder von seinen Lesern der noch mit Epikurs Lehre liebaumlugelt sich auf demrichtigen Weg waumlhnen darf wie er dann aber diese Ratschlaumlge mit einem Wischzur Seite legt und zwar mit genau dem Argument das auch im 13 Brief schon alsKritik an Epikur anklang Das Verdraumlngen einer schlimmen Zukunft kann nichtjede Sorge nehmen (weil es durchaus Situationen gibt in denen das Eintreten desUumlbels aumluszligerst wahrscheinlich ist)sup1

241ndash2 1 Sollicitum esse te scribis de iudicicirc eventu quod tibi furor inimici denuntiat existi-masme suasurumutmeliora tibi ipse proponas et adquiescas spei blandae Quid enimnecesseest mala accersere satis cito patienda cum venerint praesumere ac praesens tempus futurimetu perdere Est sine dubio stultum quia quandoque sis futurus miser esse iam miserum2 Sed ego alia te ad securitatem via ducam si vis omnem sollicitudinem exuere quidquidvereris ne eveniat eventurum utique propone et quodcumque est illud malum tecum ipse me-tire ac timorem tuum taxa

1 Du schreibst du seist beunruhigt in Betreff des Ausgangs eines Prozesses den dir die Ra-serei deines Widersachers ankuumlndigt du glaubst ich werde dir nun raten dass du dir selbstBesseres vor Augen stellst und bei einer verlockenden Hoffnung zur Ruhe kommst Wozuist es naumlmlich notwendig Ungluumlckssituationen herbeizurufen das vorauszunehmen waswenn es gekommen ist immer noch fruumlh genughinzunehmen ist und die gegenwaumlrtige Zeitdurch die Angst vor der zukuumlnftigen schon zu verderben 2 Es ist ohne Zweifel unsinnigjetzt schon ungluumlcklich zu sein weil du irgendwann einmal ungluumlcklich sein wirst Aber ichwill dich auf einem anderen Weg zur Sicherheit fuumlhren Wenndu alleUnruhe ablegen willstdann stelle dir alles dessen Eintreten du befuumlrchtest erst recht vor Augen und miss wasauch immer es fuumlr ein Ungluumlck ist bei dir selbst nach und schaumltze das Ausmaszligdeiner Furchtein

Es kann kein Zweifel daran bestehen dass dieser Beginn des 24 Briefes als Ge-genstuumlck und Fortentwicklung der Therapie des 13 Briefes gelten musssup2

Unverstaumlndlich ist mir in diesem Punkt die Deutung Canciks Untersuchungen 73f Sie ver-sucht ndash gegen Misch Autobiographie 433 ndash zu beweisen dass weder zwischen dem 13 und dem24 Brief noch zwischen dem5 unddem24 Brief eine Entwicklung des rsaquoLuciliuslsaquo stattfindet raquoVoneinem Ansatz zur Darstellung einer seelischen Entwicklung in Mischs Sinne kann also hier [ dhim 13 Brief ndash (AnmUD) ] nicht die Rede sein Genausowenig bezeichnet ep 24 eine gegenuumlber ep 13fortgeschrittene Stufe in der Entwicklung des Luciliuslaquo (74) Sie folgert das zum einen (a) dar-aus dass auch im 13 Brief beide Sichtweisen vertreten werden zum andern (b) weil sie meintdass auch 57 schon raquodie stoische Vorstellung von der Uumlberwindung der Leidenschaften [] rein

1 Siehe oben S 1282 RichtigMaurach Bau 97 sowieHachmann Leserfuumlhrung 182ndash190 (der zu Recht konstatiertdass die Notmethode der Angstbekaumlmpfung durch einen Gegenaffekt also das vitio vitium repel-lere von 1312 (s oben S 129) von epist 24 an nicht mehr zum Repertoire Senecas gehoumlrt) fernerWacht Angst in Senecas Briefen 527 raquoWas also zunaumlchst grundsaumltzlich vereinbar und als mil-dere Form der Angstbewaumlltigung akzeptiert schien muss hier einer Methode weichen die zumsicheren Erfolg zu fuumlhren versprichtlaquo

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138 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und eindeutiglaquo zum Ausdruck bringe (ebd) Doch wir haben gesehen dass (a) im 13 Brief beideSichtweisen noch miteinander wetteifernd auftreten und die stoische Loumlsung als die edlere dieepikureische aber als die derzeit wirkungsvollere dargestellt wird Die edlere Loumlsung legt sich da-bei wie ein Ring um die primitivere Canciks Deutung des 13 Briefes ist demnach verfehlt wennsie (ebd) behauptet raquoEine Interpretation von ep 13 im Ganzen zeigt dass ihr Gedankengangauf Steigerung angelegt istlaquo Denn der Brief enthaumllt nicht eine kontinuierliche Steigerung derphilosophischen Argumentationshoumlhe sondern beginnt in stoischer Houmlhe wird dann von 133bis 1313 durch eine epikureische Phase abgeloumlst und kehrt dann mit 1314 und den angedeutetenexempla wieder zum Ausgangsniveau zuruumlck Ganz anders ist das im 24 Brief Die epikureischeVerdraumlngungsloumlsung wird nur eingangs erwaumlhnt und zwar nur dazu um desto wirkungsvollerbeiseite gelegt werden zu koumlnnen Sie spielt im uumlbrigenBrief keine Rollemehr und ist vonAnfangan keine ernsthafte Alternative Die praemeditatio-Methode beherrscht von Beginn das Feld underhaumllt spaumltestens durch die lange exempla-Serie ab 243 ein erdruumlckendes Uumlbergewicht Einenfast schon verzweifelt zu nennenden opportunistischen Ratschlag wie 1313 crede quod mavis ndashraquoGlaube was du lieber willst (sc wenn du nur dadurch zur Ruhe kommst)laquo wird man nicht im24 und auch in keinem spaumlteren Brief mehr finden

Was (b) den 5 Brief angeht so muss man klar feststellen dass zwar der Zusammenhangzwischen Furcht und Hoffnung von dem Seneca dort spricht als Vorbereitung fuumlr eine spaumltereἀπάϑεια-Forderung gesehen werden kann Doch in der Hinsicht die wir als Indiz fuumlr eine Ent-wicklung des Lucilius angesehen haben naumlmlich in der Frage ob man zukuumlnftigen Uumlbeln ge-genuumlber eher die epikureische rsaquoKopf-in-den-Sand-Taktiklsaquo oder die kyrenaisch-stoische praemedi-tatio anwenden soll steht der 5 Brief wie wir gesehen habensup1 ganz eindeutig auf epikureischerSeitesup2 Abgesehen davon ist der Zusammenhang zur stoischen ἀπάϑεια auch nur fuumlr ein philo-sophisch bereits geuumlbtes Auge zu erkennen der Ratschlag erst ein Aufhoumlren des Hoffens werdeauch zum Ende des Fuumlrchtens fuumlhren laumlsst sich auch als gegen ein jeweiliges Zuviel im Einzel-fall gesprochen denken von einem raquoreinen und eindeutigenlaquo Propagieren der Uumlberwindung derLeidenschaften kann jedenfalls keine Rede sein

Doch obwohl er sich in der Entscheidung fuumlr die praemeditatio jetzt konse-quent zeigt ndash oder eben deshalb ndash sorgt Seneca umgehend dafuumlr dass die Bruumlckezum Epikureismus nicht gaumlnzlich abgerissen wird Er wolle sagt er Lucilius zursecuritas fuumlhren im Gegensatz zu Begriffen wie etwa constantia oder gar invulne-rabilitaswaumlhlt er damit einen Ausdruck der das epikureische Ideal der Sorglosig-keit (se+cura) uumlberdeutlich anklingen laumlsstsup3 Und die von Lucilius befuumlrchteten

1 S oben S 1312 Zu Recht skeptisch bereits Maurach Bau 97 Anm 78 ndash Hachmanns Widerlegungsversuch(Leserfuumlhrung 189) gegen diese Deutung von 57 durch Cancik speist sich allein aus dem Um-stand dass sich der 5 Brief noch im raquoEinleitungsteil des Werkeslaquo befinde Das allein halte ich fuumlrwenig schlagkraumlftig entscheidend ist die Stellung zur praemeditatio da diese wirklich ein Un-terscheidungskriterium zwischen Epikureismus und Stoa bietet vgl Abel Bauformen 38 undMaurach Bau 97 mit Anm 803 Das Wort kommt aus metrischen Gruumlnden bei Lukrez nicht vor inhaltlich ist es gleichwohlfast omnipraumlsent vgl zB im Prooumlm des zweiten Buches (216ndash19) nonne videre | nihil aliud sibi

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31 Strategien gegen die Angst | 139

Ereignisse bezeichnet Seneca so wie die breite Bevoumllkerung auch naumlmlich mitmalasup1

Doch es kommt noch besser Denn man duumlrfte nach der Ankuumlndigung diesesrsaquoanderen Weges zur Sorglosigkeitlsaquo erwarten dass Seneca jetzt wenn er jetzt mitden Worten intelleges profecto fortfaumlhrt ganz in stoischem Fahrwasser etwa sa-gen wird raquoDu wirst erkennen dass all diese Bedrohungen und Gefahren nichtigund nicht schwer zu ertragen sind und dass es allein auf unsere innere Haltungankommt Denn das einzige echte Uumlbel ist es sich verwerflich zu verhalten daseinzige Uumlbel ist die turpitudo Alle anderen Ereignisse vor denen du Angst hastsind keine wirklichen mala Das alles sind ἀδιάφορα also indifferente ethischambivalente Dingelaquo Stattdessen sagt er

242 intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis

du wirst ganz sicher erkennen dass es nicht groszlig oder aber nicht langdauernd ist wasdu fuumlrchtest

Das ist ndash worauf ua auch Wachtsup2 zu Recht hinweist ndash nichts anderes als Epikurswohlbekannte Formel gegen die Angst vor dem Schmerzsup3 die Cicero (fin 222) mitfast denselben Worten wie spaumlter Seneca zusammenfasst Si gravis [sc dolor] bre-vis si longus levis⁴

Die geschickte Wendung in der Formulierung laumlsst sich sicherlich wie ge-sagt als raquoRuumlcksicht auf den epikureischen Freundlaquo verstehen⁵ Doch sie ist mehrals das Die epikureische Schmerzformel ist ein nicht nur akutes sondern vonvornherein auch vorausschauendes Trostmittel Sie hat die Funktion die Angstvor einer schmerzhaften Zukunft zu verringern und enthaumllt damit schon von sichaus eine praumlmeditative Komponente Diesen fuumlr den Uumlbergang zur stoischen Leh-re guumlnstigen Umstand hat Seneca geschickt ausgenutzt Die Schmerzformel istein ideales Bindeglied um dem praemeditatio-Gedanken auch von epikureischerWarte aus Ruumlckhalt zu verschaffen

naturam latrare nisi ut qui | corpore seiunctus dolor absit mente fruatur | iucundo sensu curasemota metuque1 Anstelle einer stoisierenden Umschreibung vgl unten Kapitel 512 Angst in Senecas Briefen 528f3 Epic KD 4 GV 44 Vgl Sen epist 2414 Levis es si ferre possum brevis es si ferre non possum sowie ferner epist3014 ( nullum enim dolorem longum esse qui magnus est)5 Wacht Angst in Senecas Briefen 528 freilich darf dabei ndash wie oben (Kapitel 132 ab S 35)ausgefuumlhrt ndash unter rsaquoFreundlsaquo nicht die reale Person Lucilius verstanden werden sondern es gehtum die Integration des epikureisch orientierten Leserpublikums

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140 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Auch ein Stoiker wie Mark Aurel weiszlig uumlbrigens um den praktischen Wert die-ser Formel Und fuumlr die Bestimmung von Senecas Taktik ist es hochinteressant zusehen wie sich die Einbettung dieses Gedankens bei dem Philosophenkaiser imUnterschied zu Seneca darstellt Denn zum einen laumlsst Mark Aurel die stoischeSicht eben nicht fort sondern setzt sie in guter Ordnung an den Anfang

MarkAurel 764 ᾿Επὶ μὲνπαντὸς πόνου πρόχειρον ἔστω ὅτι οὐϰ αἰσχρὸνοὐδὲ τὴνδιάνοιαντὴν ϰυβερνῶσαν χείρω ποιεῖ οὔτε γὰρ ϰαϑὸ λογιϰή ἐστιν οὔτε ϰαϑὸ ϰοινωνιϰὴ διαφϑείρειαὐτήνBei jedem Ungemach sei Dir dieses Argument griffbereit dass es nicht moralisch verwerf-lich ist und die leitende Vernunft nicht schwaumlcht Denn weder insoweit sie vernuumlnftig nochinsoweit sie gemeinschaftsbezogen ist verdirbt es sie

Zum anderen kennzeichnet er den nun folgenden epikureischen Gedanken expli-zit als solchen und schraumlnkt ihn insoweit ein als er sagt dass diese Maxime nichtimmer sondern nur in den meisten Faumlllen anwendbar sei

Mark Aurel 764 Fortssup1 ἐπὶ μέντοι τῶν πλείστων πόνων ϰαὶ τὸ τοῦ ᾿Επιϰούρου σοι βοη-ϑείτω ὅτι οὔτε ἀφόρητον οὔτε αἰώνιον ἐὰν τῶν ὅρων μνημονεύῃς ϰαὶ μὴ προσδοξάζῃςBei den meisten Formen von Ungemach moumlge dir indes schon das Wort Epikurs helfen dasses weder unertraumlglich noch unendlich ist sofern du dich an die Fakten haumlltst und nichtschon im Vorhinein schlimme Erwartungen hegst

Insgesamt koumlnnenwir in Senecas Briefen bezogen auf die Frage der Angsttherapiefolgende Entwicklung feststellen Angefangen von epist 5 (= epikureische Thera-peutik) gibt es eine Entwicklung uumlber epist 13 und 14 (Mischform) epist 24 (vor-wiegend stoische Argumentation mit epikureischer Motivation jedoch vermischtmit epikureischer avocatio) hin zu epist 98 in der eine im Kern rein stoische Ar-gumentation vorliegt die sich jedoch nach wie vor epikureischer Hilfsargumentebedient

Senecas Taktik besteht demnach nicht darin die gegnerische rsaquoFestunglsaquo mitseinen Argumenten rsaquoim Handstreichlsaquo oder uumlberhaupt in der Schlacht zu nehmenVielmehr legt er es ndash um im Bild zu bleiben ndash darauf an sie nach und nach davonzu uumlberzeugen freiwillig ihre Tore zu oumlffnen Er will eine Transformation des Le-sers aber er will sie nicht auf dem Weg der Konfrontation sondern lieber auf demPfad schleichender Integration

Auch der 105 Brief fuumlgt sich in diese Ordnung ein Zwar legt Seneca seinem Freund hiernahezudie gleichenRatschlaumlgevor die er auch schon im13 14 und 24Brief gegebenhatteDoches geht uumlberhaupt nicht um Angstvermeidung sondern um aumluszligere Sicherheit Lucilius hat ndash so

1 = Epicur fr 447 Us

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 141

die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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142 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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144 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 145

psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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146 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 4: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

31 Strategien gegen die Angst | 123

ebensogut koumlnnte jede andere Philosophenschule dieseWirkungen fuumlr sich rekla-mieren Ferner Die ndash aus stoischer Sicht zu Unrecht so genannten ndash mala nenntSeneca ausweichend difficultates (und bereitet damit die stoische Einordnung alsincommoda vor) und er deutet sie zwar in stoischer Manier zu Bewaumlhrungsmoumlg-lichkeiten um jedoch spricht er zunaumlchst nicht von der Bewaumlhrung fuumlr die virtus ndashdiesen Gedanken hebt er sich fuumlr den Abschluss des Lobes in 133 auf ndash sondernstattdessen etwas offener vom rsaquoErproben der vireslsaquo der eigenen Kraumlfte Diesen Ge-danken baut Seneca im Folgenden aus

132ndash3 2 Non potest athleta magnos spiritus ad certamen adferre qui numquam sugillatusest ille qui sanguinem suum vidit cuius dentes crepuere sub pugno ille qui subplantatus ad-versarium toto tulit corpore nec proiecit animum proiectus qui quotiens cecidit contumaciorresurrexit cummagna spe descendit ad pugnam 3 Ergo ut similitudinem istam prosequarsaepe iam fortuna supra te fuit nec tamen tradidisti te sed subsiluisti et acrior constitistimultum enim adicit sibi virtus lacessita

2 Kein Ringkaumlmpfer kann mit groszligem Kampfesmut zum Wettkampf antreten der niemalsverbleut worden ist Jener (aber) der sein eigenes Blut gesehen hat und dessen Zaumlhne unterdem Faustschlag des Gegners geknirscht haben jener der obwohl schon unter dem Fuszligdes Feindes liegend ihn mitsamt seinem ganzen Koumlrpergewicht hochgestemmt und seinenMut nicht obgleich selbst zu Boden geworfen weggeworfen hat und der sooft er auch hin-stuumlrzte nur umso kampfeslustigersup1 wieder aufgesprungen ist ndash nur der steigt mit groszligerHoffnung in den Ring hinab zum Kampf 3 Also umbei diesem Bild zu bleiben Schon oftstand das Ungluumlck auf dir und dennoch hast du dich ihm nicht ausgeliefert sondern bistaufgesprungen und hast dich nur umso trotziger zum Kampf aufgestellt viel (Kraft) steuertsich naumlmlich die virtus bei wenn sie angestachelt worden ist

War schon der erste Abschnitt von Kampfmetaphorik gepraumlgt (multum animi es-se ndash se instruere ndash adversus fortunam ndash vincere ndash manum conserere ndash vires experi-ri) so konkretisiert diese der zweite Abschnitt hin zum Pankration (magnos spiri-tus ad certamen adferre ndash sugillari ndash sanguinem suum videre ndash cuius dentes crepu-ere sub pugno ndash subplantatus ndash contumax ndash resurgere)sup2 In hymnischem Stil feiertSeneca den Athleten in nach dem Gesetz der wachsenden Glieder immer laumlnge-ren Attributsaumltzen wobei die erste mit ille begonnene Reihe (ille qui sanguinem

len setzen die epikureischen Argumentationen auf der Seite der aumluszligeren Anfechtungen an undversuchen ihnen durch rationale Erklaumlrung ihren furchteinfloumlszligenden Charakter zu nehmen zBLucr 624f veridicis igitur purgavit [ Epicurus ] pectora dictis | et finem statuit cuppedinis atque ti-moris1 woumlrtlich raquo und der () kampfeslustiger (als je zuvor) wieder aufspranglaquo2 Dies ist nicht nur einer groumlszligeren Anschaulichkeit geschuldet Das Bild des Zweikampfes sug-geriert zugleich dass die Fortuna nicht mit Heeresstaumlrke daherkommt und dass Lucilius (bzwjeder Leser) ein ebenbuumlrtiger Gegner fuumlr sie sein kann

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124 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

suum vidit cuius dentes crepuere sub pugno) sein Ertragen vonVerletzungenpreistund die zweite auch stilistisch durch das Polyptoton (proiecit proiectus) unddurch die t- und k-Alliterationen hervorgehobene ille-Reihe (ille qui subplantatusadversarium toto tulit corpore nec proiecit animum proiectus qui quotiens ceciditcontumacior resurrexit) sein Lob durch die Schilderung seines unbezwingbarenSiegeswillens in houmlchste Houmlhen fuumlhrt

In einem zweiten Schritt uumlbertraumlgt Seneca nun diese Metaphorik direkt aufLucilius rsaquoauch dulsaquo sagt er rsaquobist unter dem Fuszlig des Schicksals wieder hervorge-sprungen (subsiluisti) hast dich nicht ergeben (nec tamen tradidisti te) und hastdich ebenfalls nach jeder scheinbarenNiederlage nur umso trotziger zum Kampfeaufgestellt (acrior constitisti)lsaquo und jetzt auf demHoumlhepunkt setzt Seneca in einerSentenz in betonter Endstellung auch den Leitbegriff ergaumlnzt um den wichtigs-ten Aspekt der stoischen Schicksalsdeutung Vermeintliche Uumlbel sind bei Lichtbetrachtet rsaquoAnstachelungenlsaquo fuumlr die virtussup1

Die psychagogische Strategie bis hierher liegt auf der Hand Seneca benutztden Verweis auf bereits erfolgreich gemeisterte Bewaumlhrungssituationen und diehymnische Diktion um Lucilius zu einem Helden aufzubauen fuumlr den ndash wie fuumlrden Pankratiasten im Gleichnis des Panaitios (oben S 81) ndash keine Herausforde-rung zu groszlig ist Mit andern Worten Es ist ein Versuch Lucilius auf sehr schmei-chelhafte Weise an die stoische Sichtweise auf die Herausforderungen des Lebensheranzufuumlhren und ihn darauf zu verpflichtensup2

Umso armseliger wirkt die Handlungskasuistik zu der sich Seneca nun ur-ploumltzlich ndash allein wie er sagt Lucilius zuliebe ndash herablaumlsst

133ndash5 3 (Forts) Tamen si tibi videtur accipe a me auxilia quibus munire te possis4 Plura sunt Lucili quae nos terrent quam quae premunt et saepius opinione quam relaboramus Non loquor tecum Stoica l ingua sed hac summissiore nos enim di-cimus omnia ista quae gemitus mugitusque exprimunt levia esse et contemnenda Omittamushaec magna verba sed di boni vera illud tibi praecipio ne sis miser ante tempus cum illaquae velut inminentia expavisti fortasse nunquam ventura sint certe non venerint 5 Quae-dam ergo nos magis torquent quam debent quaedam ante torquent quam debent quaedamtorquent cum omnino non debeant aut augemus dolorem aut praecipimus aut fingimus

1 Ein Gedanke der die gesamte Schrift De providentia durchzieht So laumlsst Seneca zB den auchdort gewaumlhlten Athletenvergleich (prov 23) in der Sentenz gipfeln Marcet sine adversario vir-tus tunc apparet quanta sit quantumque polleat cum quid possit patientia ostendit (24) oder 46calamitas virtutis occasio est2 Diese Technik des rsaquoUumlberzeugensdurchKomplimentelsaquo koumlnnen wirmehrfach in denBriefen wie-derfinden Besonders deutlich tritt sie auch im6 Brief (in Verbindungmit dem9 Brief) in Erschei-nung vgl unten S 238

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3 (Forts) Dennochvernimm wenndumagst vonmir Ratschlaumlgemit denen dudich schuumlt-zen kannst 4 Es sind mehr Dinge Lucilius die uns einen Schrecken einjagen als diedie uns (tatsaumlchlich) beeintraumlchtigen und oumlfter leiden wir aufgrund unserer Vorstellung alsaufgrund des Sachverhaltes Ich spreche jetzt nicht in der stoischen Redeweisemit dir sondern in dieser zuruumlckhaltenderen wir sagen naumlmlich dass all dieseDinge die Klagenund Jammern hervorrufen leicht zu ertragen und zu verachten sind Dochlassen wir diese groszligen aber bei Gott wahren Worte Jenes schreibe ich dir vor dass dunicht schon vor der Zeit ungluumlcklich bist da doch jene Dinge die du wie unmittelbar dro-hende gefuumlrchtest hast vielleicht nie eintreten werden auf jeden Fall aber nicht eingetretensind 5 Manche Gefahren quaumllen uns alsomehr als siemuumlssenmanche fruumlher als siemuumls-sen undmanche obwohl sie uns uumlberhaupt nicht quaumllen duumlrften wir vermehren das Leidennehmen es voraus oder bilden es uns nur ein

Das ist wirklich eine Kehrtwende um 180 Gradsup1 Keine Rede mehr von einemrsaquoDem-Schicksal-die-Stirn-Bietenlsaquo Statt dessen epikureisches Klein-Klein tau-send Tipps wie man die Aumlngste vor der Zukunft verringern kann Denn es istkeineswegs so dass Seneca wie Wacht glaubt diese Lehren wenn auch mitGewalt aus der stoischen Lehrtradition herausziehtsup2

Fuumlr einen Epikureer sind und bleiben Ungluumlcksfaumllle Momente der Anfechtung er soll ihnenmoumlglichst aus dem Wege gehen ndash man denke an den Grundsatz λάϑε βιώσαςsup3 ndash wenn aber etwas

1 Viel schwaumlcher scheint den Umschwung Maurach Bau 67 zu beurteilen raquoUnd doch so faumlhrtSeneca fort obschon der Freund solche Kraft hat es gibt wirksame Hilfen die eine Anwendungdieses animus erleichternlaquo Das klingt als sei das was ab 134 folgt nur die praktische Ergaumln-zung zu dem was Seneca vorher gesagt hat Auch Hachmann Leserfuumlhrung 126 will hier of-fenbar keinen Bruch sehen raquoDabei will er (zunaumlchst) nicht die harte unverbluumlmte Sprache derStoa sondern eine leisere Sprechweise benutzenlaquo (das gleiche Bild schon bei Maurach Bau69 raquoBeide Briefe [ 12 und 13 ] reden nicht mit lauter Stimme sondern remissiore vocelaquo) Senecaredet aber nicht nur rsaquoleiserlsaquo dh weniger drastisch oder weniger deutlich sondern definitiv ineiner anderen philosophischen Sprache als der der Stoa Was er eigentlich von derlei remediahaumllt zeigen spaumltere Stellen wie diese (706) Itaque effeminatiss imam vocem illius Rhodiiexistimo qui cum in caveam coniectus esset a tyranno et tamquam ferum aliquod animal aleretursuadenti cuidam ut abstineret cibo rsaquoomnialsaquo inquit rsaquohomini dum vivi t speranda suntlsaquondashCancik Untersuchungen 74 laumlsst diese Stelle ganz unter den Tisch fallen obwohl sie groumlszligteRelevanz fuumlr die von ihr vorgenommene Zuruumlckweisung der These von einer Entwicklung desLucilius gehabt haumltte s dazu S 138 ndash Vollkommen verfehlt Peter Brief 231 der diese WorteSenecas als Programm fuumlr die Briefe insgesamt missversteht (raquoDem Programm des rsaquoprodesselsaquo ge-maumlszlig verschmaumlht er die ernste Sprache der Philosophie als fuumlr einen Brief ungeeignetlaquo es folgenals Belegstellen 134 und 381)2 Wacht Angst in Senecas Briefen 526 raquoAngst so bestimmten die Stoa und andere vor ihr be-steht in der Erwartung eines zukuumlnftigen Uumlbels Seneca leitet daraus ab ne sis miser ante tempus(ep 134)laquo (meine Hervorhebung) Natuumlrlich ist auch Wacht die Herkunft der lenia remedia ausder Schule Epikurs bewusst Aber gerade deswegen meine ich dass man hier nicht eine Bruumlckezur stoischen Definition suchen sollte3 Plut mor 1128ff

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Unvermeidliches eintritt oder bevorsteht dann muss er sich mit der Methode der avocatio undrevocatio also der Ablenkung vom gegenwaumlrtigen bzw zukuumlnftigen Zustand und der Ruumlckbesin-nung auf erfreulichere Zeiten behelfensup1

Schon der Vorschlag ne sis miser ante tempus (134) ist genuin epikureisch(avocatio) und ist der Lehre der Stoiker die wie die Kyrenaiker die Technik derpraemeditatio favorisiert haben diametral entgegengesetzt Dabei hatte Sene-ca die praemeditatio-Lehre doch selbst im vierten Brief ausdruumlcklich empfohlen(s oben S 42) Hier im 13 Brief liegt er jedoch auf epikureischer Linie wenn erkritisiert aut augemus dolorem aut praecipimus aut fingimus (135)sup2

AuchdieKritikaut augemusdolorem ist genaugenommennicht Stoa-konformsie passt nicht zum Postulat der Unempfindlichkeit (ἀπάϑεια) des stoischen Wei-sen gegenuumlber den Versuchungen des Schicksals Der Stoiker versucht nicht dieBeeinflussung durch den Schmerz zu verringern sondern er strebt danach sieganz abzuschaffen Anstelle dieser harten Forderung verbuumlndet sich Seneca hierdurch seine Formulierung noch mit der dem Volksempfinden naumlher stehendenperipatetischen Guumlterlehre

Doch zunaumlchst moumlchte Seneca Lucilius nur davon uumlberzeugen dass es sinn-voll ist seineAffekte zu drosseln Das ist derwichtigste Schritt in die richtige Rich-tung (Affektminderung) Ob das Ziel dabei nun in weiter Ferne (zB Epikur) odergar hinten am Horizont (Stoa) liegt ist erst einmal zweitrangig Dieses ganze Pro-blemfeld kann auf spaumlter vertagt werden Wir koumlnnen jedoch festhalten Hier inden Briefen gibt es bei Seneca einen Vorrang der Taktik vor der Systematik

Weder moumlchte Seneca allen Ernstes die praemeditatio- oder die ἀπάϑεια-Lehre grundsaumltzlich in Frage stellen Schon aufgrund des kaumlmpferischen Briefbe-ginns ist das unwahrscheinlich und gegen Ende des Briefes wird er wieder ganzoffen empfehlen der Zukunft ins Auge zu blicken (1314 Alius dicat rsaquofortasse nonvenietlsaquo tu dic rsaquoquid porro si veniet Videbimus uter vincat lsaquo)sup3 Mit dem epiku-reischen Schwenk in der Briefmitte duumlrfte Seneca eher auf folgende Alternative

1 Cic Tusc 333 s oben S 802 Seneca verknuumlpft die selben beiden Kritikpunkte (1 ein erwartetes bevorstehendes Uumlbel mussnicht unbedingt eintreten 2 auchwenn es eintritt ist es nicht sinnvoll den Schmerz durch seineVorerwartung schon in die Gegenwart hinein zu verlaumlngern) die auch Epikur Ciceros Bericht zu-folge verbundenhaben soll Cic Tusc 332 ( qui censet necesse esse omnis in aegritudine essequi se in malis esse arbitrentur sive illa ante provisa et expectata sint sive inveteraverint Namneve vetustate minui mala nec fieri praemeditata leviora stultamque etiam esse meditationemfuturi mali aut fortasse ne futuri quidem satis esse odiosum malum omne cum venisset qui au-tem semper cogitavisset accidere posse aliquid adversi ei fieri illud sempiternum malum si verone futurum quidem sit frustra suscipi miseriam voluntariam ita semper angi aut accipiendo autcogitando malo3 S dazu unten S 129

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hinauswollen rsaquoWenn du stark genug bist dann schaue dem Schicksal ins Augeund uumlberwinde es wenn nicht ndash dann schaue eben nicht voraus damit du dirimmerhin nicht die Lebenszeit bis dahin verdirbstlsaquo

Der Kontrast des Umschwungs (oder besser Abschwungs) von derHoumlhe des Brief-beginns zu den jetzigen Niederungen popularer Alltagsratschlaumlge ist gewollt Erbietet Seneca die Moumlglichkeit die stoische Weltsicht in ein guumlnstiges Licht zuruumlcken sie in einer starken Position zu zeigen und trotzdem den Vorbehalten undauch Wuumlnschen der Leserschaft nach praktischen Ratschlaumlgen Raum zu gebenZugleich kann er auf diese Weise einem sehr breiten Leserspektrum gerecht wer-den Die Kontrastierung beider Sichten gibt ihm zudem die Moumlglichkeit auch in-nerhalb der Ratschlaumlge immer wieder in Richtung der stoischen Sichtweise aufden Leser einzuwirken

135 Primum illud quia res in controversia est et litem contestatam habemus in praesentiadifferatur Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes scio alios inter flagella riderealios gemere sub colapho Postea videbimus utrum ista suis viribus valeant an inbecillitatenostra

Aber jener erste Punkt soll weil die Angelegenheit (unter uns) umstritten ist und wir denProzess eingereicht haben jetzt erst einmal vertagt werden Das was ich unbedeutend nen-nen werde wirst du nachdruumlcklich fuumlr aumluszligerst gewichtig erklaumlren ich weiszlig dass die einenunter Geiszligelhieben lachen die anderen (schon) bei einer Ohrfeige jammern Spaumlter werdenwir sehen ob diese Dinge aufgrund ihrer eigenen Beschaffenheit Bedeutung fuumlr uns habenoder nur durch unsere Schwaumlche

Wie der Einschub si tibi videtur (133) dient dieser Abschnitt dazu die rsaquohoumlherelsaquoSicht der Stoa als Gegenfolie praumlsent zu haltensup1 Geschickt bezeichnet Seneca denGegensatz zwischender stoischen Sicht undder des Lucilius nicht als einen quali-tativen zwischen Unempfindlichkeit (ἀπάϑεια) und Empfindsamkeit sondern als

1 Diese Technik ist wie Goumlrler Untersuchungen zu Ciceros Philosophie gezeigt hat omniprauml-sent bei Cicero und uumlberdeutlich in seinen Tuskulanen in denen er immer wieder versucht ne-ben der rsaquoniedrigenlsaquo sicheren Position die rsaquohoumlherelsaquo aber schwerer beweisbare und nicht uumlberZweifel erhabene Ebene zur Geltung zu bringen vgl ebd zB 206 raquoWenn Cicero im erstenTuskulanenbuch [] zunaumlchst Beweise fuumlr die Unsterblichkeit der Seele gibt dann aber diesenStandpunkt aufgibt und nur noch daran festhaumllt dass der Tod auch bei voumllligem Untergang derSeele kein Uumlbel ist so liegen beide Argumentationen nicht auf derselben Ebenelaquo oder (25) raquoWieder Glaube an die Unsterblichkeit der Seele immer wieder von Zweifeln erschuumlttert wird ist esschwer die stoische Uumlberzeugung (nihil bonum nisi virtus) allen Versuchungen zum Trotz auf-rechtzuerhalten Der stoische Standpunkt ist zwar erhabener (im gleichen Sinne wie der Glaubean die Unsterblichkeit) aber der theophrastische steht dem Boden der beweisbaren Tatsachennaumlherlaquo

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einen quantitativen zwischen Mehr- oder Weniger-Leidensup1 zugleich waumlhlt er einBeispiel bei demdasWeniger-Leidenals erstrebenswert angesehenwerdenmussMit inbecillitate nostra bereitet Seneca den Leser (ohne dass er allzutief in diersaquograue Theorielsaquo eintauchen muss) darauf vor dass die Ursache fuumlr die Relativitaumltder Bewertung von Uumlbeln vor allem in unserer eigenen Sicht auf sie zu sehen ist

Auch in 7ndash8 koumlnnen wir beobachten wie Seneca geschickt beide philosophi-sche Richtungen einander gegenuumlberstellt wobei wiederum die Stoa in der houmlhe-ren Position erscheint Auf die fiktive Frage des Lucilius wie er wahre von einge-bildeten Gefahren unterscheiden koumlnne (rsaquoQuomodolsaquo inquis rsaquointellegam vana sintan vera quibus angorlsaquo) antwortet Seneca zunaumlchst ganz im Sinne Epikurs

137 Accipe huius rei regulam aut praesentibus torquemur aut futuris aut utrisque De prae-sentibus facile iudicium est si corpus tuum liberum et sanum est nec ullus ex iniuria dolor estvidebimus quid futurum sit hodie nihil negotii habetsup2

Hier hast du ein Richtmaszlig fuumlr diese Situation Wir werden entweder durch Gegenwaumlrtigesoder durch Zukuumlnftiges oder durch beides gequaumllt In Bezug auf Gegenwaumlrtiges ist die Ent-scheidung leicht Wenn dein Koumlrper frei und gesund ist und es keinen Schmerz aufgrundeines (erlittenen oder getanen) Unrechts gibt werden wir sehen was die Zukunft bringtHeute (jedenfalls) hat er kein Problemsup2

Diese epikureische Loumlsung hat nochnie recht zu uumlberzeugen vermocht und Sene-ca nutzt dieUnzufriedenheit des Interlokutors (bzw des Lucilius) umdie stoischeLehre von der Zustimmung zum Affektimpuls (συγϰατάϑεσις assensio) vorzube-reiten

138 rsaquoAt enim futurum estlsaquo ndash Primum dispice an certa argumenta sint venturi mali plerum-que enim suspicionibus laboramus et illudit nobis illa quae conficere bellum solet fama multoautem magis singulos conficit Ita est mi Lucili c i to accedimus opinioni non coargui-mus illa quae nos in metum adducunt nec excutimus []

rsaquoAber (das Unheil) wird doch eintretenlsaquo ndash Erstens schau genau hin ob es sichere Anzeichenfuumlr ein kommendes Unheil gibt meistens leiden wir naumlmlich aufgrund unserer Verdaumlchti-gungen und uns narrt jenes Geruumlcht das einen Krieg vom Zaune zu brechen pflegt nochmehr aber die einzelnen Leute zugrunderichtet So ist es mein Lucilius Wir pflichten un-

1 Also in genau der Weise wie er es in 135 schon vorbereitet hatte quaedam ergo nosmagis tor-quent quam debent Auch das dazugehoumlrige Fazit augemus dolorem legte ja nur eine quantitativeDeutung nahe s dazu oben auf Seite 1262 Vgl zu diesem Gedanken oben Anm 2 auf Seite 126 Nicht ganz deutlich gibt diesen GedankenCiceros Torquatus wieder (fin 159) accedunt aegritudines molestiae maerores qui exedunt ani-mos conficiuntque curis hominum non intellegentium nihil dolendum esse animo quod sit a dolorecorporis praesenti futurove seiunctum ndash Danach koumlnnte man meinen Epikur lasse die Angstvor zukuumlnftigen Uumlbeln zu

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serer Meinung zu schnell bei wir pruumlfen jene Dinge nicht die uns in Furcht versetzen unduntersuchen sie nicht genau []

Das ist nicht viel mehr als eine Andeutung aber sie hilft die stoische Loumlsungrsaquoim Spiellsaquo zu halten ohne auf die Kasuistik verzichten zu muumlssen Und bei dieserscheut sich Seneca nicht sogleich wieder unter das stoische Niveau zu zufallennochmals therapiert er die Furcht vor dem kommenden Unheil epikureisch undim offenen Widerspruch zur stoischen praemeditatio-Empfehlung

1310f 10 Verisimile est aliquid futurum mali non statim verum est Quam multa nonexspectata venerunt Quam multa exspectata nusquam conparuerunt Etiam si futurum estquid iuvat dolor i suo occurrere Satis cito dolebis cum venerit interim tibi meliorapromitte 11 Quid facies lucri Tempus

10 Es ist sehr wahrscheinlich dass ein Unheil eintreten wird (deshalb) ist es (aber) nichtsogleich (auch schon)wahrWie vieleDinge sind eingetreten obwohl sie nicht erwartetwur-den Wie viele Dinge die erwartet wurden sind nirgendwo erschienen Und wenn es docheintreten wird Was nuumltzt es dann seinem Schmerz zuvorzukommen Du wirst fruumlh genugSchmerz empfinden wenn es eingetreten ist Bis dahin stelle dir bessere Perspektiven vorAugen 11 Was du dadurch gewinnen wirst Zeit

Noch mehr fuumlhrt es von der stoischen Lehre weg wenn Seneca Lucilius fuumlr denFall dass er die Furcht nicht niederhalten kann sogar den Griff zu einem ent-gegengesetzten Laster empfiehlt (1312) si minus vitio vitium repelle spe metumtempera ndash raquowenn (es) weniger (gut moumlglich ist) dann draumlnge eine Fehlhaltungdurch eine andere zuruumlck und maumlszligige die Furcht durch die Hoffnunglaquo

Mit solchen Gedanken und offenkundigen Notloumlsungen mag sich der rsaquoschwa-chelsaquo Patient der noch keine rsaquostaumlrkere Medizinlsaquo vertraumlgt behelfensup1 Doch Senecahat durchdie staumlndige Praumlsenzder stoischenGegensicht dafuumlr gesorgt dass er be-reits ein schlechtes Gewissen dabei haben muss Und falls er es doch noch nichthaben sollte so sorgt der Briefabschluss dafuumlr der mit 1314 eingelaumlutet wird undwieder die Anfangsperspektive uumlbernimmt

1314 Pudet me daggeribidaggersic tecum loqui et tam lenibus te remediis focilare Alius dicat rsaquofortassenon venietlsaquo tu dic rsaquoquid porro si veniet videbimus uter vincat fortasse pro me venit et morsista vitam honestabitlsaquo

Ich schaumlme mich an dieser Stelle so mit dir zu reden und dich mit so sanften Heilmitteln zuhaumltschelnsup2 Ein anderer soll vonmir aus sagen rsaquovielleicht tritt es gar nicht einlsaquo Duaber sollstsagen rsaquoNaundWas ist wenn es kommen wird Wir werden sehen wer siegt vielleicht trittes zu meinen Gunsten ein und jener Tod wird mein Leben adelnlsaquo

1 Vgl zu diesem Gedanken die oben (S 114) angefuumlhrte Stelle aus const sap2 focilare steht eigentlich fuumlr rsaquodurch Waumlrme wieder ins Leben zuruumlckbringenlsaquo

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130 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Seneca laumlsst ndash als peroratio in Kurzform ndash die Standard-exempla Sokrates und Ca-to folgen und schlieszligt einen Appell an damit ist die stoische Perspektive durchzwei rsaquoBruumlckenkoumlpfelsaquo am Anfang und Ende des eigentlichen Briefes gesichert undSeneca kann zum Epikur-dictum uumlbergehen

312 Angsttherapie im Wandel

Der 13 Brief zeigt keine Angstbehandlung aus einheitlicher philosophischer Per-spektive sondern arbeitet mit dem Hilfsmittel des philosophischen Perspektiven-wechsels Dabei wird die stoische Sicht zwar favorisiert die eigentliche Therapiearbeitet aber mit epikureisch gepraumlgten Handreichungen

Aus diesem Mischbefund heraus ergibt sich die Frage ob sich das Kraumlftever-haumlltnis zwischen Epikureismus und Stoizismus im Verlauf der Briefe zugunsteneiner der beidenSeitenverschiebt Amehesten laumlsst sichdas andemgerade schonangesprochenen Themenkomplex des Umganges mit der Angst uumlberpruumlfen weilSeneca diesen ausreichend oft und in breiter Streuung uumlber das Briefcorpus hin-wegwiederkehren laumlsst Eine Entwicklungmuumlsste sichhier besonders gut ablesenlassen

Der ganze Bereich ist inhaltlich und systematisch bereits durch die gruumlnd-liche Untersuchung Wachts erschlossen Leider laumlsst dieser jedoch die Fragenach der philosophischen Entwicklung weitgehend auszliger Betracht Zwar nimmtWacht vor allem im Verhaumlltnis zwischen Brief 13 und 24 eine deutliche Veraumln-derung der Argumentationsweise wahr (527) doch scheint er nicht zu erwaumlgendass dahinter eine kompositorische bzw therapeutische Absicht stecken koumlnntejedenfalls stellt er nirgendwo die Frage inwiefern zB fruumlhe Aumluszligerungen wirk-lich Senecas Meinung wiedergeben Daher kombiniert er in seiner DarstellungArgumentationen aus weit auseinanderliegenden Briefen ohne verschiedenersaquoTherapiestufenlsaquo zu unterscheiden Doch diese unterscheiden sich wie ein Ver-gleich zeigen soll erheblich voneinander

Im letztenBriefabschnitt des fuumlnftenBriefes (57ndash9) entwickelt Seneca imRah-men seiner Auslegung des Briefdictums (Hekaton Desines timere si sperare de-sieris) den Gedanken dass Hoffnung und Furcht wie Waumlchter und Gefangeneraneinander gekettet sind das sei auch ganz logisch weil beide Affekte besorgteProjektionen auf die Zukunft seien (utrumque pendentis animi est utrumque futuriexpectatione solliciti) So weit so gut ndash dieser Gedanke ist was die Zuordnung zuEpikur oder zur Stoa betrifft neutral Doch die Analyse die folgt ist epikureisch

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31 Strategien gegen die Angst | 131

58 Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed cogitationes inlonginqua praemittimus itaque providentia maximum bonum condicionis humanae in ma-lum versa est

Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht auf die ge-genwaumlrtigenDinge konzentrieren sondern unsereUumlberlegungen aufweit Entferntes voraus-senden und so hat sich die Faumlhigkeit zur Voraussicht der groumlszligte Vorzug der menschlichenNatur zum Uumlblen hin verwandelt

Damit seien wir noch schlechter beraten als die Tiere die sich nur durch Gegen-waumlrtiges bedruumlcken lieszligen bei uns fuumlhle sichniemandnicht nur aufgrund gegen-waumlrtiger Uumlbel bedruumlckt (nemo tantum praesentibus miser est)

Mit diesen Worten endet der Brief es gibt ndash anders als in der 13 Epistel ndash keinstoisierendes kein zu einer houmlheren Sicht aufrufendes Finale und keine exem-pla die den Leser auffordern sich zu ermannen und den Gefahren mit Mut entge-genzutreten Und auch vor dem soeben angesprochenen Abschnitt sucht man diestoische Position vergebens Der Gedankengang ist voll und ganz epikureischundsteht in unausgeglichenem Gegensatz zur praemeditatio-Lehre einzig im unauf-faumlllig eingewobenen itaque providentia maximumbonumcondicionis humanae inmalum versa est koumlnnte man bei gutem Willen einen aufglimmenden Funken desin 46 eingefuumlhrten praemeditatio-Gedankens erkennen Doch Seneca huumltet sichauf diesen Widerspruch aufmerksam zu machen Nur fuumlr den der schon fuumlr ihnempfaumlnglich ist ist dieser Schimmer einer stoischen Sicht uumlberhaupt wahrnehm-bar

Wie geht Seneca diese Thematik in spaumlteren Briefen anNehmenwir zunaumlchst einweit entferntes Beispiel Im 98 Briefsup1 lesen wir Saumltze die den epikureisierendenPassagen des 5 aber auch denen des 13 Briefes durchaus aumlhnlich klingen zB(Beruumlhrungen zur epikureischen Lehre hervorgehoben)

986 Calamitosus est animus futuri anxius et ante miser ias misersup2 qui sol l ic i tus estut ea quibus delectatur ad extremum usque permaneant nullo enim tempore conquiescit etexpectat ione ventur i praesentia quibus frui poterat amittet

Schlimm dran ist ein Mensch der um die Zukunft besorgt und (schon) vor dem Ungluumlckungluumlcklich ist der besorgt ist dass das woran er sich freut bis an sein Lebensende erhal-ten bleibt er wird naumlmlich zu keiner Zeit zur Ruhe kommen und wird in der Erwartung derZukunft das Gegenwaumlrtige das er haumltte genieszligen koumlnnen verlieren

1 Die thematische Verwandtschaft der Briefe 5 13 14 24 und 98 ist in der Forschung oft gesehenworden zB Cancik Untersuchungen 72ndash75 (geht auf die ersten vier der genannten Briefe ein)Maurach Bau 73f und 97 mit Anm 78 Hachmann Leserfuumlhrung 130ndash1342 Vgl epist 134 illud tibi praecipio ne sis miser ante tempus

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132 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Oder

987f 7 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est ma-lum suum antecedere 8 [] Plus dolet quam necesse est qui ante dolet quam ne-cesse est

7 Nichts ist erbaumlrmlicher und nichts unsinniger als sich schon vorher zu fuumlrchten Was istdas fuumlr ein Wahnsinn seinem Ungluumlck zuvorzukommen 8 [] Mehr als noumltig leidet werfruumlher als noumltig leidet

Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied Der 98 Brief zeichnet eine vollkom-men andere Situation Waumlhrend im 5 und vor allem im 13 Brief die Ratschlaumlgeeinem (vermuteten) Bedarf auf Seiten des rsaquoLuciliuslsaquo entsprechen er also selbstihr Adressat ist sind sie im 98 Brief Beiprodukt einer anderen Thematik naumlm-lich der allgemeinen Eroumlrterung von Fragen der stoischen Guumlterlehre Aus demEingangssatz raquoMan sollte nie einen fuumlr gluumlcklich halten der vom (aumluszligeren) Gluumlckabhaumlngig istlaquosup1 hatte Seneca die Frage entstehen lassen ob aumluszligere Guumlter dennnicht trotzdem angenehm und nuumltzlich sein koumlnnten (Eine solche auf der stoi-schen ἀδιάφορα-Lehre basierende Frage ist uumlbrigens das sei vorweggenommenvor dem 65 Brief undenkbar) Zwar bejaht Seneca diessup2 doch knuumlpft er das anein entsprechendes mentales Training sich dabei staumlndig der eigentlichen Guumlterbewusst zu sein

984 Sive alios observare volueris (liberius enim inter aliena iudicium est) sive te ipsum fa-vore seposito et senties hoc et confiteberis nihil ex his optabilibus et caris utile esse nisi tecontra levitatem casus rerumque casum sequentium instruxeris nisi illud frequenter et sinequerella inter singula damna dixeris raquodis aliter visum estlaquo [Verg Aen 2428]

Sei es dass du andere (das Urteil ist naumlmlich bei fremden Angelegenheiten unbefangener)oder dass du unter Beiseitelegen von Selbstgefaumllligkeit dich selbst daraufhin ansehenwillstDu wirst dies bemerken und anerkennen dass nichts von diesen wuumlnschenswerten undwertvollen Dingen nuumltzlich ist wenn du dich nicht gegen die Unbestaumlndigkeit des Zufallsund derjenigen Dinge die dem Zufallsgesetz folgen wappnest und wenn du nicht oft undohne Klagen bei einzelnen Ungluumlcksfaumlllen jenen Satz vorbringst rsaquoDie Goumltter wollten es an-derslsaquo

1 Numquam credideris felicem quemquam ex felicitate suspensum2 Uumlbrigens wieder unter reichlicher Beimischung epikureischer Stimulanzien (s oben S 39) andieser Stelle (981f) wird die Verknuumlpfung genuin stoischer Gedanken mit diesen Sekundaumlrmoti-ven besonders deutlich rsaquoQuid ergo non usui ac voluptati esse possuntlsaquoQuis negat sed itasi lla ex nobis pendent non ex illis nos Omnia quae fortuna intuetur ita fruct i fera ac iucundafiunt si qui habet illa se quoque habet nec in rerum suarum potestate est

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31 Strategien gegen die Angst | 133

Die Passage zeigt deutlich dass die Aufforderungen zur praemeditatio (und eben-so zur Schicksalsergebenheit sozusagen einermeditatio in ipso eventu) in diesemBrief weder einen konkreten Anlass haben noch einer konkreten Person geltenEs geht bei diesen Uumlberlegungen nicht um Luciliusrsquo Gemuumltslage sondern um dierichtige Bewertung der Guumlter

Seneca glaubt im 98 Brief auch nicht mehr dass Lucilius hier noch einenNachholebedarf hat Das wird schon daraus ersichtlich dass Seneca anders alsim 5 Brief Lucilius und sich nicht mehr einschlieszligt in die Menge derer die denFehler machen sich durch Vergangenes und Zukuumlnftiges bedruumlcken zu lassenIm 5 Brief hieszlig es noch

58ndash9 8 [] Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed co-gitationes in longinqua praemittimus[] 9 Ferae pericula quae vident fugiunt cum effu-gere securae sunt nos et venturo torquemur et praeterito

8 [] Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht aufdie gegenwaumlrtigen Dinge konzentrieren sondern unsere Uumlberlegungen auf weit Entferntesvoraussenden [] 9 Die wilden Tiere fliehen vor den Gefahren die sie (gerade) sehenwir aber lassen uns von Zukuumlnftigem und Vergangenem peinigen

Auch der 13 Brief formulierte einschlieszligend und die dort bereits erkennbareMissbilligung dieser Haltung war noch in die Form des freundlichen Hinweisesgegossen (zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere) Nun aber im 98 Brief di-stanziert Seneca sich Lucilius und damit den Leser von einer solchen Positionindem er diese (in der dritten Person) mit beiszligendem Hohn uumlberzieht Wenigmitfuumlhlend haumllt er nichts fuumlr raquoerbaumlrmlicher und duumlmmer als sich im Voraus zufuumlrchtenlaquo es sei geradezu ein Zeichen geistiger Umnachtung sich so zu ver-haltensup1 Fuumlr die die sich staumlndig vor der Zukunft fuumlrchten bringt Seneca keinVerstaumlndnis auf er schimpft sie (988) raquoKummerleider die sich selbst im Wegestehenlaquo (satagii ac sibi molestos) und raquoLeute ohne Selbstkontrollelaquo (intemperan-tes) Kurz Was im 13 Brief noch ein unverbindliches Angebot zum Nachdenkenwar das ist hier zur unverhandelbaren Forderung geworden die Angst vor derZukunft ist nicht mehr salonfaumlhig

Konsequenterweise wird das was im 13 Brief lediglich als rsaquohoumlherelsaquo Hand-lungsoption charakterisiert wurde (oben S 129) im 98 Brief als rsaquoalternativloslsaquofuumlr einen guten Charakter dargestellt und dichotomisch vom Unvermoumlgen desschlechten Charakters unterschieden

1 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est malum suum antece-dere (987)

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134 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

982ndash3 2 Valentior enim omni fortuna animus est et in utramque partem ipse res suas du-cit beataeque ac miserae vitae sibi causa est 3 Malus omnia in malum vertit etiam quaecum specie optimi venerant rectus atque integer corrigit prava fortunae et dura atque asperaferendi scientia mollit eqs

2 Der Geist ist naumlmlich staumlrker als alles Schicksal er selbst lenkt seine Geschicke in dieeine oder die andere Richtung und ist fuumlr sich selbst die Ursache eines gluumlcklichen oder un-gluumlcklichen Lebens 3 Der Schlechte verwandelt alles in Schlechtes selbst das was mitdem Schein des Bestmoumlglichen eingetreten war der Aufrechte und Unbeirrte (demgegen-uumlber) berichtigt die Maumlngel des Schicksals und macht durch seine Faumlhigkeit zum Ertragendas Harte und Raue weich usw

Aber noch in einemanderenPunkt tritt der bis zum im98 Brief erreichteTherapie-fortschritt deutlich hervor Waumlhrend im 13 Brief der Gegenpol zur rsaquostarkenlsaquo stoi-schen Sicht nur in der rsaquoschwachenlsaquo epikureischen bestand so warnt der 98 Briefnicht minder vor dem entgegengesetzten Extrem naumlmlich (in einseitiger Ausle-gung der stoischen Guumlterlehre) aumluszligere Guumlter gar nicht mehr zu achten Vielmehrfordert Seneca ausdruumlcklich dazu auf gefaumlhrlichen Situationen aus dem Wegezu gehen Direkt vor der oben erwaumlhnten Verurteilung des Sich-vorher-Fuumlrchtensheiszligt es

987 Nec ideo praecipio tibi neglegentiam Tu vero metuenda decl ina quidquid consilioprospici potest prospice quodcumque laesurum est multo ante quam accidat speculare etaverte In hoc ipsum tibi plurimum conferet fiducia et ad tolerandum omne obfirmata mensPotest fortunam cavere qui potest ferre certe in tranquillo non tumultuatur

Doch ich schreibe dir deshalbnichtNachlaumlssigkeit [ imUmgang mit den ἀδιάφοραndash (Anm UD)

] vor Du sollst durchaus den fuumlrchtenswerten Ereignissen aus dem Wege gehen was auchimmer rational vorausgesehen werden kann das sieh voraus was auch immer verletzenkann das fasse weit fruumlher als es passiert ins Auge und wende es ab Gerade dafuumlr wird dirdein Selbstvertrauen und dein alles zu ertragen gefestigter Sinn sehr zugute kommen Derkann dem Schicksal ausweichen der es tragen kann zumindest gibt es bei einem ruhigenMenschen keinen Aufruhr

Welches Fazit koumlnnen wir hieraus ziehen Seneca empfiehlt zwar sowohl in fruuml-heren Briefen als auch im 98 Brief sich erstens das Leben nicht durch verfruumlhteAngst selbst schwer zu machen und zweitens gefaumlhrlichen Situationen ndash wennmoumlglich ndash aus dem Weg zu gehen Doch erstens treten nur in den fruumlheren Brie-fen dazu Ratschlaumlge die mit der stoischen Lehre in keinster Weise vereinbar sind(zB epist 1310 interim tibi meliora promitte 1312 spe metum tempera)sup1 Zweitens

1 Verschweigen dieses Mittels im 98 Brief richtig gesehen bei Hachmann Leserfuumlhrung 131raquoDie scheinbare Hilfe durch Verdraumlngung [] wird in Brief 98 gar nicht erwaumlhntlaquo Hachmannscheint aber nicht zu bemerken dass der Grund fuumlr dieseAuslassung eben in derUnvereinbarkeit

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31 Strategien gegen die Angst | 135

laumlsst Seneca inden fruumlhenBriefendieseArt vonRatschlaumlgenausderRuumlcksicht aufdie Schwaumlche des Lucilius entstehensup1 oder formuliert sie nach Art einer epikurei-schen Lust-Schmerz-Bilanzsup2 Demgegenuumlber werden die Ratschlaumlge im 98 Briefallein aus der stoischen Guumlterlehre abgeleitet Zwar verwendet Seneca noch im-mer epikureische Argumentationsmuster (989 laumlsst er zudem Metrodor als Kron-zeuge auftreten) jedoch tut er das nicht mehr in mit der stoischen Lehre inkom-patibler sondern ausschlieszliglich in komplementaumlrer und streng untergeordneterWeise Epikur ist kein Konkurrent mehr kein Gegenmodell Er ist zum Helfer her-abgesunken der die Luumlcken ausfuumlllen darf die ihm die stoische Lehre gelassenhat

Der zuletzt zitierte Gedanke (Potest fortunam cavere qui potest ferre) illustriertdieses Selbstverstaumlndnis in hervorragender Weise Wenn Seneca die Erfuumlllungder epikureischen Forderung dem Schicksal auszuweichen (fortunam cavere) aneinen Charakter knuumlpft der dem Schicksal auch standhalten kann (qui potest fer-re) ndash der also die stoische Selbstbeherrschung verinnerlicht hat ndash dann sagt erdamit rsaquoKein Epikureer kann die epikureischen Forderungen so gut erfuumlllen wiewir Stoikerlsaquosup3

Diese Einverleibung Epikurs als eines im praktischen Bereich nuumltzlichenrsaquoKnechtslsaquo fuumlr die Erziehung zur stoischen Lebensweise ist wie ich spaumlter nochdeutlicher zeigen moumlchte (Kapitel 431) ein Hauptcharakteristikum fuumlr Senecas

mit der stoischen Lehre liegt (130 raquoAndererseits wird ein Argument das in den ersten Briefenbenutzt in ep 98 aber nicht verwendet wurde wahrscheinl ich mit Absicht ausgelassenworden seinlaquo [meine Hervorhebung])1 Vgl zB 135 Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes2 zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere Vgl auch 241 Quid enim necesse est [] praesenstempus futuri metu perdere3 Auch an dieser Stelle bringt Hachmann Leserfuumlhrung 132 die Sache zu wenig auf den PunktraquoHier geht der Brief 98 weit uumlber die Anfangsbriefe hinaus wenn er einen ursaumlchlichen Zusam-menhang sieht wo die Anfangsbriefe lediglich ein Nebeneinander sahen Nur der seelisch Star-ke welcher der Gefahr klar ins Auge sehen kann besitzt auch die notwendige Gelassenheit ver-nuumlnftige Gegenmaszlignahmen zu ergreifenlaquo Hachmann sieht im 98 Brief (bis auf die Auslassungder Verdraumlngungstaktik) offenbar wieder nur einen quantitativen Unterschied zu den fruumlherenraquoEinVergleich vonep 986mit ep 138ndash11 zeigt dass indemfruumlhenBrief die zukritisierendeFehl-haltung imVerhaumlltnis zu den echten Versuchender Heilung breiter dargestellt wurde Dagegenuumlberwiegt in ep 98 die Darstellung der Bewaumlltigunglaquo (ebd (Hervorhebung UD) ) MaurachBau 73f erkennt richtig dass im 98 Brief der systematische Zusammenhang erkennbar ist denSeneca in denBriefen 13 und 14 nicht erwaumlhnt der aber der dortigen Gedankenfuumlhrung zugrundeliegt Maurach geht es dabei darum die verdeckten inhaltlichen Beziehungen aufzudecken diedie Briefe 12ndash15 enger zusammenschlieszligen (eine wichtige Funktion kommt dabei der im 14 Briefangesprochenen οἰϰείωσις-Lehre zu) Die Frage nach Epikur- und Stoa-Kompatibilitaumlt der Argu-mente und damit nach Therapiestufen steht auszligerhalb seines Blickwinkels auf den Text

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Briefe Nur hieraus und nicht aus persoumlnlichen Faktoren (vermeintlicher Ek-lektizismus Senecas Beeinflussung durch Luciliusrsquo Epikureismus) erklaumlrt sicheinerseits die Affinitaumlt zu Epikur (wo er zu brauchen ist bedient sich Seneca sei-ner gern) andererseits die scharfe Abgrenzung von ihm (Epikurs Prinzipien sindund bleiben aus Senecas Sicht untragbar)

Um herauszufinden auf welchem Therapieniveau Seneca operiert genuumlgt esalsonicht dieHerkunft bestimmterArgumentationsmuster ausder epikureischenSchule aufzuzeigen Diese verwendet er immersup1 so geniert sich Seneca zB auchim 98 Brief nicht unmittelbar vor einer stoischen exempla-Serie als Trostmittelfuumlr etwaige Verluste die epikureische Ruumlckbesinnung auf die Vergangenheit zuempfehlen (9811) Habere eripitur habuisse numquam Die entscheidende Frageist vielmehr inwiefern Seneca dabei gegen das stoische Wertesystem verstoumlszligt

Ein aufschlussreicher Schritt auf diesemWege ist der 24 Brief Vonunserembishe-rigen Befund aus mag ein kurzer Blick auf ihn genuumlgensup2 Der 13 Brief hatte durchdie Gegenuumlberstellung der rsaquohoumlherenlsaquosup3 stoischen zur rsaquoniedrigerenlsaquo epikureischenSicht zum ersten Mal auf die Abloumlsung der epikureisierenden Ratschlagstopik des5 Briefes hingearbeitet Auch der 14 Brief wirkte zwar ndash mit ersten Anklaumlngen andie Oikeiosislehre ndash auf eine Relativierung der Angstausloumlser hin blieb aber inseinen Methoden unentschieden So klingt beispielsweise gegenuumlber der helden-haften Aufforderung den Koumlrper notfalls auch ins Feuer zu schicken wenn es dieVernunft die Wuumlrde oder die Treue fordere (142) der unmittelbar folgende Satzdoch wieder sehr nach dem epikureischen Ausweichgedanken

143 Nihilominus quantum possumus evitemus incommoda quoque non tantum pericula etin tutum nos reducamus excogitantes subinde quibus possint timenda depelli

Nichtsdestotrotz wollen wir auch Unannehmlichkeiten nicht nur Gefahren nach Kraumlftenaus dem Wege gehen und uns auf sicheres Gebiet zuruumlckziehen indem wir uns immer wie-der ausdenken wodurch angsterregende Situationen entschaumlrft werden koumlnnen

Den endguumlltigen Bruch mit einer von stoischen Prinzipien abgeloumlsten epikurei-schen Behandlung vollzieht erst der 24 Brief indem er erstmals auch bei derFurchtbekaumlmpfung der praemeditatio-Technik den eindeutigen Vorzug vor derepikureischen Verdraumlngungsloumlsung gibt Ein Meisterstuumlck ist dabei wie Senecazum Schein die epikureische Loumlsung vorbringt und zunaumlchst auf sie eingeht so

1 Siehe dazu oben S 392 Als weitere Wegmarken koumlnnte man insbesondere 316 (vgl unten S 203) anfuumlhren3 Zu diesen Kategorien und ihrer Etablierung im philosophischen Denken Ciceros Goumlrler Un-tersuchungen zu Ciceros Philosophie vgl oben Anm 1 auf S 127

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31 Strategien gegen die Angst | 137

dass jeder von seinen Lesern der noch mit Epikurs Lehre liebaumlugelt sich auf demrichtigen Weg waumlhnen darf wie er dann aber diese Ratschlaumlge mit einem Wischzur Seite legt und zwar mit genau dem Argument das auch im 13 Brief schon alsKritik an Epikur anklang Das Verdraumlngen einer schlimmen Zukunft kann nichtjede Sorge nehmen (weil es durchaus Situationen gibt in denen das Eintreten desUumlbels aumluszligerst wahrscheinlich ist)sup1

241ndash2 1 Sollicitum esse te scribis de iudicicirc eventu quod tibi furor inimici denuntiat existi-masme suasurumutmeliora tibi ipse proponas et adquiescas spei blandae Quid enimnecesseest mala accersere satis cito patienda cum venerint praesumere ac praesens tempus futurimetu perdere Est sine dubio stultum quia quandoque sis futurus miser esse iam miserum2 Sed ego alia te ad securitatem via ducam si vis omnem sollicitudinem exuere quidquidvereris ne eveniat eventurum utique propone et quodcumque est illud malum tecum ipse me-tire ac timorem tuum taxa

1 Du schreibst du seist beunruhigt in Betreff des Ausgangs eines Prozesses den dir die Ra-serei deines Widersachers ankuumlndigt du glaubst ich werde dir nun raten dass du dir selbstBesseres vor Augen stellst und bei einer verlockenden Hoffnung zur Ruhe kommst Wozuist es naumlmlich notwendig Ungluumlckssituationen herbeizurufen das vorauszunehmen waswenn es gekommen ist immer noch fruumlh genughinzunehmen ist und die gegenwaumlrtige Zeitdurch die Angst vor der zukuumlnftigen schon zu verderben 2 Es ist ohne Zweifel unsinnigjetzt schon ungluumlcklich zu sein weil du irgendwann einmal ungluumlcklich sein wirst Aber ichwill dich auf einem anderen Weg zur Sicherheit fuumlhren Wenndu alleUnruhe ablegen willstdann stelle dir alles dessen Eintreten du befuumlrchtest erst recht vor Augen und miss wasauch immer es fuumlr ein Ungluumlck ist bei dir selbst nach und schaumltze das Ausmaszligdeiner Furchtein

Es kann kein Zweifel daran bestehen dass dieser Beginn des 24 Briefes als Ge-genstuumlck und Fortentwicklung der Therapie des 13 Briefes gelten musssup2

Unverstaumlndlich ist mir in diesem Punkt die Deutung Canciks Untersuchungen 73f Sie ver-sucht ndash gegen Misch Autobiographie 433 ndash zu beweisen dass weder zwischen dem 13 und dem24 Brief noch zwischen dem5 unddem24 Brief eine Entwicklung des rsaquoLuciliuslsaquo stattfindet raquoVoneinem Ansatz zur Darstellung einer seelischen Entwicklung in Mischs Sinne kann also hier [ dhim 13 Brief ndash (AnmUD) ] nicht die Rede sein Genausowenig bezeichnet ep 24 eine gegenuumlber ep 13fortgeschrittene Stufe in der Entwicklung des Luciliuslaquo (74) Sie folgert das zum einen (a) dar-aus dass auch im 13 Brief beide Sichtweisen vertreten werden zum andern (b) weil sie meintdass auch 57 schon raquodie stoische Vorstellung von der Uumlberwindung der Leidenschaften [] rein

1 Siehe oben S 1282 RichtigMaurach Bau 97 sowieHachmann Leserfuumlhrung 182ndash190 (der zu Recht konstatiertdass die Notmethode der Angstbekaumlmpfung durch einen Gegenaffekt also das vitio vitium repel-lere von 1312 (s oben S 129) von epist 24 an nicht mehr zum Repertoire Senecas gehoumlrt) fernerWacht Angst in Senecas Briefen 527 raquoWas also zunaumlchst grundsaumltzlich vereinbar und als mil-dere Form der Angstbewaumlltigung akzeptiert schien muss hier einer Methode weichen die zumsicheren Erfolg zu fuumlhren versprichtlaquo

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und eindeutiglaquo zum Ausdruck bringe (ebd) Doch wir haben gesehen dass (a) im 13 Brief beideSichtweisen noch miteinander wetteifernd auftreten und die stoische Loumlsung als die edlere dieepikureische aber als die derzeit wirkungsvollere dargestellt wird Die edlere Loumlsung legt sich da-bei wie ein Ring um die primitivere Canciks Deutung des 13 Briefes ist demnach verfehlt wennsie (ebd) behauptet raquoEine Interpretation von ep 13 im Ganzen zeigt dass ihr Gedankengangauf Steigerung angelegt istlaquo Denn der Brief enthaumllt nicht eine kontinuierliche Steigerung derphilosophischen Argumentationshoumlhe sondern beginnt in stoischer Houmlhe wird dann von 133bis 1313 durch eine epikureische Phase abgeloumlst und kehrt dann mit 1314 und den angedeutetenexempla wieder zum Ausgangsniveau zuruumlck Ganz anders ist das im 24 Brief Die epikureischeVerdraumlngungsloumlsung wird nur eingangs erwaumlhnt und zwar nur dazu um desto wirkungsvollerbeiseite gelegt werden zu koumlnnen Sie spielt im uumlbrigenBrief keine Rollemehr und ist vonAnfangan keine ernsthafte Alternative Die praemeditatio-Methode beherrscht von Beginn das Feld underhaumllt spaumltestens durch die lange exempla-Serie ab 243 ein erdruumlckendes Uumlbergewicht Einenfast schon verzweifelt zu nennenden opportunistischen Ratschlag wie 1313 crede quod mavis ndashraquoGlaube was du lieber willst (sc wenn du nur dadurch zur Ruhe kommst)laquo wird man nicht im24 und auch in keinem spaumlteren Brief mehr finden

Was (b) den 5 Brief angeht so muss man klar feststellen dass zwar der Zusammenhangzwischen Furcht und Hoffnung von dem Seneca dort spricht als Vorbereitung fuumlr eine spaumltereἀπάϑεια-Forderung gesehen werden kann Doch in der Hinsicht die wir als Indiz fuumlr eine Ent-wicklung des Lucilius angesehen haben naumlmlich in der Frage ob man zukuumlnftigen Uumlbeln ge-genuumlber eher die epikureische rsaquoKopf-in-den-Sand-Taktiklsaquo oder die kyrenaisch-stoische praemedi-tatio anwenden soll steht der 5 Brief wie wir gesehen habensup1 ganz eindeutig auf epikureischerSeitesup2 Abgesehen davon ist der Zusammenhang zur stoischen ἀπάϑεια auch nur fuumlr ein philo-sophisch bereits geuumlbtes Auge zu erkennen der Ratschlag erst ein Aufhoumlren des Hoffens werdeauch zum Ende des Fuumlrchtens fuumlhren laumlsst sich auch als gegen ein jeweiliges Zuviel im Einzel-fall gesprochen denken von einem raquoreinen und eindeutigenlaquo Propagieren der Uumlberwindung derLeidenschaften kann jedenfalls keine Rede sein

Doch obwohl er sich in der Entscheidung fuumlr die praemeditatio jetzt konse-quent zeigt ndash oder eben deshalb ndash sorgt Seneca umgehend dafuumlr dass die Bruumlckezum Epikureismus nicht gaumlnzlich abgerissen wird Er wolle sagt er Lucilius zursecuritas fuumlhren im Gegensatz zu Begriffen wie etwa constantia oder gar invulne-rabilitaswaumlhlt er damit einen Ausdruck der das epikureische Ideal der Sorglosig-keit (se+cura) uumlberdeutlich anklingen laumlsstsup3 Und die von Lucilius befuumlrchteten

1 S oben S 1312 Zu Recht skeptisch bereits Maurach Bau 97 Anm 78 ndash Hachmanns Widerlegungsversuch(Leserfuumlhrung 189) gegen diese Deutung von 57 durch Cancik speist sich allein aus dem Um-stand dass sich der 5 Brief noch im raquoEinleitungsteil des Werkeslaquo befinde Das allein halte ich fuumlrwenig schlagkraumlftig entscheidend ist die Stellung zur praemeditatio da diese wirklich ein Un-terscheidungskriterium zwischen Epikureismus und Stoa bietet vgl Abel Bauformen 38 undMaurach Bau 97 mit Anm 803 Das Wort kommt aus metrischen Gruumlnden bei Lukrez nicht vor inhaltlich ist es gleichwohlfast omnipraumlsent vgl zB im Prooumlm des zweiten Buches (216ndash19) nonne videre | nihil aliud sibi

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31 Strategien gegen die Angst | 139

Ereignisse bezeichnet Seneca so wie die breite Bevoumllkerung auch naumlmlich mitmalasup1

Doch es kommt noch besser Denn man duumlrfte nach der Ankuumlndigung diesesrsaquoanderen Weges zur Sorglosigkeitlsaquo erwarten dass Seneca jetzt wenn er jetzt mitden Worten intelleges profecto fortfaumlhrt ganz in stoischem Fahrwasser etwa sa-gen wird raquoDu wirst erkennen dass all diese Bedrohungen und Gefahren nichtigund nicht schwer zu ertragen sind und dass es allein auf unsere innere Haltungankommt Denn das einzige echte Uumlbel ist es sich verwerflich zu verhalten daseinzige Uumlbel ist die turpitudo Alle anderen Ereignisse vor denen du Angst hastsind keine wirklichen mala Das alles sind ἀδιάφορα also indifferente ethischambivalente Dingelaquo Stattdessen sagt er

242 intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis

du wirst ganz sicher erkennen dass es nicht groszlig oder aber nicht langdauernd ist wasdu fuumlrchtest

Das ist ndash worauf ua auch Wachtsup2 zu Recht hinweist ndash nichts anderes als Epikurswohlbekannte Formel gegen die Angst vor dem Schmerzsup3 die Cicero (fin 222) mitfast denselben Worten wie spaumlter Seneca zusammenfasst Si gravis [sc dolor] bre-vis si longus levis⁴

Die geschickte Wendung in der Formulierung laumlsst sich sicherlich wie ge-sagt als raquoRuumlcksicht auf den epikureischen Freundlaquo verstehen⁵ Doch sie ist mehrals das Die epikureische Schmerzformel ist ein nicht nur akutes sondern vonvornherein auch vorausschauendes Trostmittel Sie hat die Funktion die Angstvor einer schmerzhaften Zukunft zu verringern und enthaumllt damit schon von sichaus eine praumlmeditative Komponente Diesen fuumlr den Uumlbergang zur stoischen Leh-re guumlnstigen Umstand hat Seneca geschickt ausgenutzt Die Schmerzformel istein ideales Bindeglied um dem praemeditatio-Gedanken auch von epikureischerWarte aus Ruumlckhalt zu verschaffen

naturam latrare nisi ut qui | corpore seiunctus dolor absit mente fruatur | iucundo sensu curasemota metuque1 Anstelle einer stoisierenden Umschreibung vgl unten Kapitel 512 Angst in Senecas Briefen 528f3 Epic KD 4 GV 44 Vgl Sen epist 2414 Levis es si ferre possum brevis es si ferre non possum sowie ferner epist3014 ( nullum enim dolorem longum esse qui magnus est)5 Wacht Angst in Senecas Briefen 528 freilich darf dabei ndash wie oben (Kapitel 132 ab S 35)ausgefuumlhrt ndash unter rsaquoFreundlsaquo nicht die reale Person Lucilius verstanden werden sondern es gehtum die Integration des epikureisch orientierten Leserpublikums

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140 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Auch ein Stoiker wie Mark Aurel weiszlig uumlbrigens um den praktischen Wert die-ser Formel Und fuumlr die Bestimmung von Senecas Taktik ist es hochinteressant zusehen wie sich die Einbettung dieses Gedankens bei dem Philosophenkaiser imUnterschied zu Seneca darstellt Denn zum einen laumlsst Mark Aurel die stoischeSicht eben nicht fort sondern setzt sie in guter Ordnung an den Anfang

MarkAurel 764 ᾿Επὶ μὲνπαντὸς πόνου πρόχειρον ἔστω ὅτι οὐϰ αἰσχρὸνοὐδὲ τὴνδιάνοιαντὴν ϰυβερνῶσαν χείρω ποιεῖ οὔτε γὰρ ϰαϑὸ λογιϰή ἐστιν οὔτε ϰαϑὸ ϰοινωνιϰὴ διαφϑείρειαὐτήνBei jedem Ungemach sei Dir dieses Argument griffbereit dass es nicht moralisch verwerf-lich ist und die leitende Vernunft nicht schwaumlcht Denn weder insoweit sie vernuumlnftig nochinsoweit sie gemeinschaftsbezogen ist verdirbt es sie

Zum anderen kennzeichnet er den nun folgenden epikureischen Gedanken expli-zit als solchen und schraumlnkt ihn insoweit ein als er sagt dass diese Maxime nichtimmer sondern nur in den meisten Faumlllen anwendbar sei

Mark Aurel 764 Fortssup1 ἐπὶ μέντοι τῶν πλείστων πόνων ϰαὶ τὸ τοῦ ᾿Επιϰούρου σοι βοη-ϑείτω ὅτι οὔτε ἀφόρητον οὔτε αἰώνιον ἐὰν τῶν ὅρων μνημονεύῃς ϰαὶ μὴ προσδοξάζῃςBei den meisten Formen von Ungemach moumlge dir indes schon das Wort Epikurs helfen dasses weder unertraumlglich noch unendlich ist sofern du dich an die Fakten haumlltst und nichtschon im Vorhinein schlimme Erwartungen hegst

Insgesamt koumlnnenwir in Senecas Briefen bezogen auf die Frage der Angsttherapiefolgende Entwicklung feststellen Angefangen von epist 5 (= epikureische Thera-peutik) gibt es eine Entwicklung uumlber epist 13 und 14 (Mischform) epist 24 (vor-wiegend stoische Argumentation mit epikureischer Motivation jedoch vermischtmit epikureischer avocatio) hin zu epist 98 in der eine im Kern rein stoische Ar-gumentation vorliegt die sich jedoch nach wie vor epikureischer Hilfsargumentebedient

Senecas Taktik besteht demnach nicht darin die gegnerische rsaquoFestunglsaquo mitseinen Argumenten rsaquoim Handstreichlsaquo oder uumlberhaupt in der Schlacht zu nehmenVielmehr legt er es ndash um im Bild zu bleiben ndash darauf an sie nach und nach davonzu uumlberzeugen freiwillig ihre Tore zu oumlffnen Er will eine Transformation des Le-sers aber er will sie nicht auf dem Weg der Konfrontation sondern lieber auf demPfad schleichender Integration

Auch der 105 Brief fuumlgt sich in diese Ordnung ein Zwar legt Seneca seinem Freund hiernahezudie gleichenRatschlaumlgevor die er auch schon im13 14 und 24Brief gegebenhatteDoches geht uumlberhaupt nicht um Angstvermeidung sondern um aumluszligere Sicherheit Lucilius hat ndash so

1 = Epicur fr 447 Us

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 141

die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 5: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

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suum vidit cuius dentes crepuere sub pugno) sein Ertragen vonVerletzungenpreistund die zweite auch stilistisch durch das Polyptoton (proiecit proiectus) unddurch die t- und k-Alliterationen hervorgehobene ille-Reihe (ille qui subplantatusadversarium toto tulit corpore nec proiecit animum proiectus qui quotiens ceciditcontumacior resurrexit) sein Lob durch die Schilderung seines unbezwingbarenSiegeswillens in houmlchste Houmlhen fuumlhrt

In einem zweiten Schritt uumlbertraumlgt Seneca nun diese Metaphorik direkt aufLucilius rsaquoauch dulsaquo sagt er rsaquobist unter dem Fuszlig des Schicksals wieder hervorge-sprungen (subsiluisti) hast dich nicht ergeben (nec tamen tradidisti te) und hastdich ebenfalls nach jeder scheinbarenNiederlage nur umso trotziger zum Kampfeaufgestellt (acrior constitisti)lsaquo und jetzt auf demHoumlhepunkt setzt Seneca in einerSentenz in betonter Endstellung auch den Leitbegriff ergaumlnzt um den wichtigs-ten Aspekt der stoischen Schicksalsdeutung Vermeintliche Uumlbel sind bei Lichtbetrachtet rsaquoAnstachelungenlsaquo fuumlr die virtussup1

Die psychagogische Strategie bis hierher liegt auf der Hand Seneca benutztden Verweis auf bereits erfolgreich gemeisterte Bewaumlhrungssituationen und diehymnische Diktion um Lucilius zu einem Helden aufzubauen fuumlr den ndash wie fuumlrden Pankratiasten im Gleichnis des Panaitios (oben S 81) ndash keine Herausforde-rung zu groszlig ist Mit andern Worten Es ist ein Versuch Lucilius auf sehr schmei-chelhafte Weise an die stoische Sichtweise auf die Herausforderungen des Lebensheranzufuumlhren und ihn darauf zu verpflichtensup2

Umso armseliger wirkt die Handlungskasuistik zu der sich Seneca nun ur-ploumltzlich ndash allein wie er sagt Lucilius zuliebe ndash herablaumlsst

133ndash5 3 (Forts) Tamen si tibi videtur accipe a me auxilia quibus munire te possis4 Plura sunt Lucili quae nos terrent quam quae premunt et saepius opinione quam relaboramus Non loquor tecum Stoica l ingua sed hac summissiore nos enim di-cimus omnia ista quae gemitus mugitusque exprimunt levia esse et contemnenda Omittamushaec magna verba sed di boni vera illud tibi praecipio ne sis miser ante tempus cum illaquae velut inminentia expavisti fortasse nunquam ventura sint certe non venerint 5 Quae-dam ergo nos magis torquent quam debent quaedam ante torquent quam debent quaedamtorquent cum omnino non debeant aut augemus dolorem aut praecipimus aut fingimus

1 Ein Gedanke der die gesamte Schrift De providentia durchzieht So laumlsst Seneca zB den auchdort gewaumlhlten Athletenvergleich (prov 23) in der Sentenz gipfeln Marcet sine adversario vir-tus tunc apparet quanta sit quantumque polleat cum quid possit patientia ostendit (24) oder 46calamitas virtutis occasio est2 Diese Technik des rsaquoUumlberzeugensdurchKomplimentelsaquo koumlnnen wirmehrfach in denBriefen wie-derfinden Besonders deutlich tritt sie auch im6 Brief (in Verbindungmit dem9 Brief) in Erschei-nung vgl unten S 238

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31 Strategien gegen die Angst | 125

3 (Forts) Dennochvernimm wenndumagst vonmir Ratschlaumlgemit denen dudich schuumlt-zen kannst 4 Es sind mehr Dinge Lucilius die uns einen Schrecken einjagen als diedie uns (tatsaumlchlich) beeintraumlchtigen und oumlfter leiden wir aufgrund unserer Vorstellung alsaufgrund des Sachverhaltes Ich spreche jetzt nicht in der stoischen Redeweisemit dir sondern in dieser zuruumlckhaltenderen wir sagen naumlmlich dass all dieseDinge die Klagenund Jammern hervorrufen leicht zu ertragen und zu verachten sind Dochlassen wir diese groszligen aber bei Gott wahren Worte Jenes schreibe ich dir vor dass dunicht schon vor der Zeit ungluumlcklich bist da doch jene Dinge die du wie unmittelbar dro-hende gefuumlrchtest hast vielleicht nie eintreten werden auf jeden Fall aber nicht eingetretensind 5 Manche Gefahren quaumllen uns alsomehr als siemuumlssenmanche fruumlher als siemuumls-sen undmanche obwohl sie uns uumlberhaupt nicht quaumllen duumlrften wir vermehren das Leidennehmen es voraus oder bilden es uns nur ein

Das ist wirklich eine Kehrtwende um 180 Gradsup1 Keine Rede mehr von einemrsaquoDem-Schicksal-die-Stirn-Bietenlsaquo Statt dessen epikureisches Klein-Klein tau-send Tipps wie man die Aumlngste vor der Zukunft verringern kann Denn es istkeineswegs so dass Seneca wie Wacht glaubt diese Lehren wenn auch mitGewalt aus der stoischen Lehrtradition herausziehtsup2

Fuumlr einen Epikureer sind und bleiben Ungluumlcksfaumllle Momente der Anfechtung er soll ihnenmoumlglichst aus dem Wege gehen ndash man denke an den Grundsatz λάϑε βιώσαςsup3 ndash wenn aber etwas

1 Viel schwaumlcher scheint den Umschwung Maurach Bau 67 zu beurteilen raquoUnd doch so faumlhrtSeneca fort obschon der Freund solche Kraft hat es gibt wirksame Hilfen die eine Anwendungdieses animus erleichternlaquo Das klingt als sei das was ab 134 folgt nur die praktische Ergaumln-zung zu dem was Seneca vorher gesagt hat Auch Hachmann Leserfuumlhrung 126 will hier of-fenbar keinen Bruch sehen raquoDabei will er (zunaumlchst) nicht die harte unverbluumlmte Sprache derStoa sondern eine leisere Sprechweise benutzenlaquo (das gleiche Bild schon bei Maurach Bau69 raquoBeide Briefe [ 12 und 13 ] reden nicht mit lauter Stimme sondern remissiore vocelaquo) Senecaredet aber nicht nur rsaquoleiserlsaquo dh weniger drastisch oder weniger deutlich sondern definitiv ineiner anderen philosophischen Sprache als der der Stoa Was er eigentlich von derlei remediahaumllt zeigen spaumltere Stellen wie diese (706) Itaque effeminatiss imam vocem illius Rhodiiexistimo qui cum in caveam coniectus esset a tyranno et tamquam ferum aliquod animal aleretursuadenti cuidam ut abstineret cibo rsaquoomnialsaquo inquit rsaquohomini dum vivi t speranda suntlsaquondashCancik Untersuchungen 74 laumlsst diese Stelle ganz unter den Tisch fallen obwohl sie groumlszligteRelevanz fuumlr die von ihr vorgenommene Zuruumlckweisung der These von einer Entwicklung desLucilius gehabt haumltte s dazu S 138 ndash Vollkommen verfehlt Peter Brief 231 der diese WorteSenecas als Programm fuumlr die Briefe insgesamt missversteht (raquoDem Programm des rsaquoprodesselsaquo ge-maumlszlig verschmaumlht er die ernste Sprache der Philosophie als fuumlr einen Brief ungeeignetlaquo es folgenals Belegstellen 134 und 381)2 Wacht Angst in Senecas Briefen 526 raquoAngst so bestimmten die Stoa und andere vor ihr be-steht in der Erwartung eines zukuumlnftigen Uumlbels Seneca leitet daraus ab ne sis miser ante tempus(ep 134)laquo (meine Hervorhebung) Natuumlrlich ist auch Wacht die Herkunft der lenia remedia ausder Schule Epikurs bewusst Aber gerade deswegen meine ich dass man hier nicht eine Bruumlckezur stoischen Definition suchen sollte3 Plut mor 1128ff

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Unvermeidliches eintritt oder bevorsteht dann muss er sich mit der Methode der avocatio undrevocatio also der Ablenkung vom gegenwaumlrtigen bzw zukuumlnftigen Zustand und der Ruumlckbesin-nung auf erfreulichere Zeiten behelfensup1

Schon der Vorschlag ne sis miser ante tempus (134) ist genuin epikureisch(avocatio) und ist der Lehre der Stoiker die wie die Kyrenaiker die Technik derpraemeditatio favorisiert haben diametral entgegengesetzt Dabei hatte Sene-ca die praemeditatio-Lehre doch selbst im vierten Brief ausdruumlcklich empfohlen(s oben S 42) Hier im 13 Brief liegt er jedoch auf epikureischer Linie wenn erkritisiert aut augemus dolorem aut praecipimus aut fingimus (135)sup2

AuchdieKritikaut augemusdolorem ist genaugenommennicht Stoa-konformsie passt nicht zum Postulat der Unempfindlichkeit (ἀπάϑεια) des stoischen Wei-sen gegenuumlber den Versuchungen des Schicksals Der Stoiker versucht nicht dieBeeinflussung durch den Schmerz zu verringern sondern er strebt danach sieganz abzuschaffen Anstelle dieser harten Forderung verbuumlndet sich Seneca hierdurch seine Formulierung noch mit der dem Volksempfinden naumlher stehendenperipatetischen Guumlterlehre

Doch zunaumlchst moumlchte Seneca Lucilius nur davon uumlberzeugen dass es sinn-voll ist seineAffekte zu drosseln Das ist derwichtigste Schritt in die richtige Rich-tung (Affektminderung) Ob das Ziel dabei nun in weiter Ferne (zB Epikur) odergar hinten am Horizont (Stoa) liegt ist erst einmal zweitrangig Dieses ganze Pro-blemfeld kann auf spaumlter vertagt werden Wir koumlnnen jedoch festhalten Hier inden Briefen gibt es bei Seneca einen Vorrang der Taktik vor der Systematik

Weder moumlchte Seneca allen Ernstes die praemeditatio- oder die ἀπάϑεια-Lehre grundsaumltzlich in Frage stellen Schon aufgrund des kaumlmpferischen Briefbe-ginns ist das unwahrscheinlich und gegen Ende des Briefes wird er wieder ganzoffen empfehlen der Zukunft ins Auge zu blicken (1314 Alius dicat rsaquofortasse nonvenietlsaquo tu dic rsaquoquid porro si veniet Videbimus uter vincat lsaquo)sup3 Mit dem epiku-reischen Schwenk in der Briefmitte duumlrfte Seneca eher auf folgende Alternative

1 Cic Tusc 333 s oben S 802 Seneca verknuumlpft die selben beiden Kritikpunkte (1 ein erwartetes bevorstehendes Uumlbel mussnicht unbedingt eintreten 2 auchwenn es eintritt ist es nicht sinnvoll den Schmerz durch seineVorerwartung schon in die Gegenwart hinein zu verlaumlngern) die auch Epikur Ciceros Bericht zu-folge verbundenhaben soll Cic Tusc 332 ( qui censet necesse esse omnis in aegritudine essequi se in malis esse arbitrentur sive illa ante provisa et expectata sint sive inveteraverint Namneve vetustate minui mala nec fieri praemeditata leviora stultamque etiam esse meditationemfuturi mali aut fortasse ne futuri quidem satis esse odiosum malum omne cum venisset qui au-tem semper cogitavisset accidere posse aliquid adversi ei fieri illud sempiternum malum si verone futurum quidem sit frustra suscipi miseriam voluntariam ita semper angi aut accipiendo autcogitando malo3 S dazu unten S 129

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31 Strategien gegen die Angst | 127

hinauswollen rsaquoWenn du stark genug bist dann schaue dem Schicksal ins Augeund uumlberwinde es wenn nicht ndash dann schaue eben nicht voraus damit du dirimmerhin nicht die Lebenszeit bis dahin verdirbstlsaquo

Der Kontrast des Umschwungs (oder besser Abschwungs) von derHoumlhe des Brief-beginns zu den jetzigen Niederungen popularer Alltagsratschlaumlge ist gewollt Erbietet Seneca die Moumlglichkeit die stoische Weltsicht in ein guumlnstiges Licht zuruumlcken sie in einer starken Position zu zeigen und trotzdem den Vorbehalten undauch Wuumlnschen der Leserschaft nach praktischen Ratschlaumlgen Raum zu gebenZugleich kann er auf diese Weise einem sehr breiten Leserspektrum gerecht wer-den Die Kontrastierung beider Sichten gibt ihm zudem die Moumlglichkeit auch in-nerhalb der Ratschlaumlge immer wieder in Richtung der stoischen Sichtweise aufden Leser einzuwirken

135 Primum illud quia res in controversia est et litem contestatam habemus in praesentiadifferatur Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes scio alios inter flagella riderealios gemere sub colapho Postea videbimus utrum ista suis viribus valeant an inbecillitatenostra

Aber jener erste Punkt soll weil die Angelegenheit (unter uns) umstritten ist und wir denProzess eingereicht haben jetzt erst einmal vertagt werden Das was ich unbedeutend nen-nen werde wirst du nachdruumlcklich fuumlr aumluszligerst gewichtig erklaumlren ich weiszlig dass die einenunter Geiszligelhieben lachen die anderen (schon) bei einer Ohrfeige jammern Spaumlter werdenwir sehen ob diese Dinge aufgrund ihrer eigenen Beschaffenheit Bedeutung fuumlr uns habenoder nur durch unsere Schwaumlche

Wie der Einschub si tibi videtur (133) dient dieser Abschnitt dazu die rsaquohoumlherelsaquoSicht der Stoa als Gegenfolie praumlsent zu haltensup1 Geschickt bezeichnet Seneca denGegensatz zwischender stoischen Sicht undder des Lucilius nicht als einen quali-tativen zwischen Unempfindlichkeit (ἀπάϑεια) und Empfindsamkeit sondern als

1 Diese Technik ist wie Goumlrler Untersuchungen zu Ciceros Philosophie gezeigt hat omniprauml-sent bei Cicero und uumlberdeutlich in seinen Tuskulanen in denen er immer wieder versucht ne-ben der rsaquoniedrigenlsaquo sicheren Position die rsaquohoumlherelsaquo aber schwerer beweisbare und nicht uumlberZweifel erhabene Ebene zur Geltung zu bringen vgl ebd zB 206 raquoWenn Cicero im erstenTuskulanenbuch [] zunaumlchst Beweise fuumlr die Unsterblichkeit der Seele gibt dann aber diesenStandpunkt aufgibt und nur noch daran festhaumllt dass der Tod auch bei voumllligem Untergang derSeele kein Uumlbel ist so liegen beide Argumentationen nicht auf derselben Ebenelaquo oder (25) raquoWieder Glaube an die Unsterblichkeit der Seele immer wieder von Zweifeln erschuumlttert wird ist esschwer die stoische Uumlberzeugung (nihil bonum nisi virtus) allen Versuchungen zum Trotz auf-rechtzuerhalten Der stoische Standpunkt ist zwar erhabener (im gleichen Sinne wie der Glaubean die Unsterblichkeit) aber der theophrastische steht dem Boden der beweisbaren Tatsachennaumlherlaquo

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128 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

einen quantitativen zwischen Mehr- oder Weniger-Leidensup1 zugleich waumlhlt er einBeispiel bei demdasWeniger-Leidenals erstrebenswert angesehenwerdenmussMit inbecillitate nostra bereitet Seneca den Leser (ohne dass er allzutief in diersaquograue Theorielsaquo eintauchen muss) darauf vor dass die Ursache fuumlr die Relativitaumltder Bewertung von Uumlbeln vor allem in unserer eigenen Sicht auf sie zu sehen ist

Auch in 7ndash8 koumlnnen wir beobachten wie Seneca geschickt beide philosophi-sche Richtungen einander gegenuumlberstellt wobei wiederum die Stoa in der houmlhe-ren Position erscheint Auf die fiktive Frage des Lucilius wie er wahre von einge-bildeten Gefahren unterscheiden koumlnne (rsaquoQuomodolsaquo inquis rsaquointellegam vana sintan vera quibus angorlsaquo) antwortet Seneca zunaumlchst ganz im Sinne Epikurs

137 Accipe huius rei regulam aut praesentibus torquemur aut futuris aut utrisque De prae-sentibus facile iudicium est si corpus tuum liberum et sanum est nec ullus ex iniuria dolor estvidebimus quid futurum sit hodie nihil negotii habetsup2

Hier hast du ein Richtmaszlig fuumlr diese Situation Wir werden entweder durch Gegenwaumlrtigesoder durch Zukuumlnftiges oder durch beides gequaumllt In Bezug auf Gegenwaumlrtiges ist die Ent-scheidung leicht Wenn dein Koumlrper frei und gesund ist und es keinen Schmerz aufgrundeines (erlittenen oder getanen) Unrechts gibt werden wir sehen was die Zukunft bringtHeute (jedenfalls) hat er kein Problemsup2

Diese epikureische Loumlsung hat nochnie recht zu uumlberzeugen vermocht und Sene-ca nutzt dieUnzufriedenheit des Interlokutors (bzw des Lucilius) umdie stoischeLehre von der Zustimmung zum Affektimpuls (συγϰατάϑεσις assensio) vorzube-reiten

138 rsaquoAt enim futurum estlsaquo ndash Primum dispice an certa argumenta sint venturi mali plerum-que enim suspicionibus laboramus et illudit nobis illa quae conficere bellum solet fama multoautem magis singulos conficit Ita est mi Lucili c i to accedimus opinioni non coargui-mus illa quae nos in metum adducunt nec excutimus []

rsaquoAber (das Unheil) wird doch eintretenlsaquo ndash Erstens schau genau hin ob es sichere Anzeichenfuumlr ein kommendes Unheil gibt meistens leiden wir naumlmlich aufgrund unserer Verdaumlchti-gungen und uns narrt jenes Geruumlcht das einen Krieg vom Zaune zu brechen pflegt nochmehr aber die einzelnen Leute zugrunderichtet So ist es mein Lucilius Wir pflichten un-

1 Also in genau der Weise wie er es in 135 schon vorbereitet hatte quaedam ergo nosmagis tor-quent quam debent Auch das dazugehoumlrige Fazit augemus dolorem legte ja nur eine quantitativeDeutung nahe s dazu oben auf Seite 1262 Vgl zu diesem Gedanken oben Anm 2 auf Seite 126 Nicht ganz deutlich gibt diesen GedankenCiceros Torquatus wieder (fin 159) accedunt aegritudines molestiae maerores qui exedunt ani-mos conficiuntque curis hominum non intellegentium nihil dolendum esse animo quod sit a dolorecorporis praesenti futurove seiunctum ndash Danach koumlnnte man meinen Epikur lasse die Angstvor zukuumlnftigen Uumlbeln zu

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31 Strategien gegen die Angst | 129

serer Meinung zu schnell bei wir pruumlfen jene Dinge nicht die uns in Furcht versetzen unduntersuchen sie nicht genau []

Das ist nicht viel mehr als eine Andeutung aber sie hilft die stoische Loumlsungrsaquoim Spiellsaquo zu halten ohne auf die Kasuistik verzichten zu muumlssen Und bei dieserscheut sich Seneca nicht sogleich wieder unter das stoische Niveau zu zufallennochmals therapiert er die Furcht vor dem kommenden Unheil epikureisch undim offenen Widerspruch zur stoischen praemeditatio-Empfehlung

1310f 10 Verisimile est aliquid futurum mali non statim verum est Quam multa nonexspectata venerunt Quam multa exspectata nusquam conparuerunt Etiam si futurum estquid iuvat dolor i suo occurrere Satis cito dolebis cum venerit interim tibi meliorapromitte 11 Quid facies lucri Tempus

10 Es ist sehr wahrscheinlich dass ein Unheil eintreten wird (deshalb) ist es (aber) nichtsogleich (auch schon)wahrWie vieleDinge sind eingetreten obwohl sie nicht erwartetwur-den Wie viele Dinge die erwartet wurden sind nirgendwo erschienen Und wenn es docheintreten wird Was nuumltzt es dann seinem Schmerz zuvorzukommen Du wirst fruumlh genugSchmerz empfinden wenn es eingetreten ist Bis dahin stelle dir bessere Perspektiven vorAugen 11 Was du dadurch gewinnen wirst Zeit

Noch mehr fuumlhrt es von der stoischen Lehre weg wenn Seneca Lucilius fuumlr denFall dass er die Furcht nicht niederhalten kann sogar den Griff zu einem ent-gegengesetzten Laster empfiehlt (1312) si minus vitio vitium repelle spe metumtempera ndash raquowenn (es) weniger (gut moumlglich ist) dann draumlnge eine Fehlhaltungdurch eine andere zuruumlck und maumlszligige die Furcht durch die Hoffnunglaquo

Mit solchen Gedanken und offenkundigen Notloumlsungen mag sich der rsaquoschwa-chelsaquo Patient der noch keine rsaquostaumlrkere Medizinlsaquo vertraumlgt behelfensup1 Doch Senecahat durchdie staumlndige Praumlsenzder stoischenGegensicht dafuumlr gesorgt dass er be-reits ein schlechtes Gewissen dabei haben muss Und falls er es doch noch nichthaben sollte so sorgt der Briefabschluss dafuumlr der mit 1314 eingelaumlutet wird undwieder die Anfangsperspektive uumlbernimmt

1314 Pudet me daggeribidaggersic tecum loqui et tam lenibus te remediis focilare Alius dicat rsaquofortassenon venietlsaquo tu dic rsaquoquid porro si veniet videbimus uter vincat fortasse pro me venit et morsista vitam honestabitlsaquo

Ich schaumlme mich an dieser Stelle so mit dir zu reden und dich mit so sanften Heilmitteln zuhaumltschelnsup2 Ein anderer soll vonmir aus sagen rsaquovielleicht tritt es gar nicht einlsaquo Duaber sollstsagen rsaquoNaundWas ist wenn es kommen wird Wir werden sehen wer siegt vielleicht trittes zu meinen Gunsten ein und jener Tod wird mein Leben adelnlsaquo

1 Vgl zu diesem Gedanken die oben (S 114) angefuumlhrte Stelle aus const sap2 focilare steht eigentlich fuumlr rsaquodurch Waumlrme wieder ins Leben zuruumlckbringenlsaquo

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130 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Seneca laumlsst ndash als peroratio in Kurzform ndash die Standard-exempla Sokrates und Ca-to folgen und schlieszligt einen Appell an damit ist die stoische Perspektive durchzwei rsaquoBruumlckenkoumlpfelsaquo am Anfang und Ende des eigentlichen Briefes gesichert undSeneca kann zum Epikur-dictum uumlbergehen

312 Angsttherapie im Wandel

Der 13 Brief zeigt keine Angstbehandlung aus einheitlicher philosophischer Per-spektive sondern arbeitet mit dem Hilfsmittel des philosophischen Perspektiven-wechsels Dabei wird die stoische Sicht zwar favorisiert die eigentliche Therapiearbeitet aber mit epikureisch gepraumlgten Handreichungen

Aus diesem Mischbefund heraus ergibt sich die Frage ob sich das Kraumlftever-haumlltnis zwischen Epikureismus und Stoizismus im Verlauf der Briefe zugunsteneiner der beidenSeitenverschiebt Amehesten laumlsst sichdas andemgerade schonangesprochenen Themenkomplex des Umganges mit der Angst uumlberpruumlfen weilSeneca diesen ausreichend oft und in breiter Streuung uumlber das Briefcorpus hin-wegwiederkehren laumlsst Eine Entwicklungmuumlsste sichhier besonders gut ablesenlassen

Der ganze Bereich ist inhaltlich und systematisch bereits durch die gruumlnd-liche Untersuchung Wachts erschlossen Leider laumlsst dieser jedoch die Fragenach der philosophischen Entwicklung weitgehend auszliger Betracht Zwar nimmtWacht vor allem im Verhaumlltnis zwischen Brief 13 und 24 eine deutliche Veraumln-derung der Argumentationsweise wahr (527) doch scheint er nicht zu erwaumlgendass dahinter eine kompositorische bzw therapeutische Absicht stecken koumlnntejedenfalls stellt er nirgendwo die Frage inwiefern zB fruumlhe Aumluszligerungen wirk-lich Senecas Meinung wiedergeben Daher kombiniert er in seiner DarstellungArgumentationen aus weit auseinanderliegenden Briefen ohne verschiedenersaquoTherapiestufenlsaquo zu unterscheiden Doch diese unterscheiden sich wie ein Ver-gleich zeigen soll erheblich voneinander

Im letztenBriefabschnitt des fuumlnftenBriefes (57ndash9) entwickelt Seneca imRah-men seiner Auslegung des Briefdictums (Hekaton Desines timere si sperare de-sieris) den Gedanken dass Hoffnung und Furcht wie Waumlchter und Gefangeneraneinander gekettet sind das sei auch ganz logisch weil beide Affekte besorgteProjektionen auf die Zukunft seien (utrumque pendentis animi est utrumque futuriexpectatione solliciti) So weit so gut ndash dieser Gedanke ist was die Zuordnung zuEpikur oder zur Stoa betrifft neutral Doch die Analyse die folgt ist epikureisch

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31 Strategien gegen die Angst | 131

58 Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed cogitationes inlonginqua praemittimus itaque providentia maximum bonum condicionis humanae in ma-lum versa est

Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht auf die ge-genwaumlrtigenDinge konzentrieren sondern unsereUumlberlegungen aufweit Entferntes voraus-senden und so hat sich die Faumlhigkeit zur Voraussicht der groumlszligte Vorzug der menschlichenNatur zum Uumlblen hin verwandelt

Damit seien wir noch schlechter beraten als die Tiere die sich nur durch Gegen-waumlrtiges bedruumlcken lieszligen bei uns fuumlhle sichniemandnicht nur aufgrund gegen-waumlrtiger Uumlbel bedruumlckt (nemo tantum praesentibus miser est)

Mit diesen Worten endet der Brief es gibt ndash anders als in der 13 Epistel ndash keinstoisierendes kein zu einer houmlheren Sicht aufrufendes Finale und keine exem-pla die den Leser auffordern sich zu ermannen und den Gefahren mit Mut entge-genzutreten Und auch vor dem soeben angesprochenen Abschnitt sucht man diestoische Position vergebens Der Gedankengang ist voll und ganz epikureischundsteht in unausgeglichenem Gegensatz zur praemeditatio-Lehre einzig im unauf-faumlllig eingewobenen itaque providentia maximumbonumcondicionis humanae inmalum versa est koumlnnte man bei gutem Willen einen aufglimmenden Funken desin 46 eingefuumlhrten praemeditatio-Gedankens erkennen Doch Seneca huumltet sichauf diesen Widerspruch aufmerksam zu machen Nur fuumlr den der schon fuumlr ihnempfaumlnglich ist ist dieser Schimmer einer stoischen Sicht uumlberhaupt wahrnehm-bar

Wie geht Seneca diese Thematik in spaumlteren Briefen anNehmenwir zunaumlchst einweit entferntes Beispiel Im 98 Briefsup1 lesen wir Saumltze die den epikureisierendenPassagen des 5 aber auch denen des 13 Briefes durchaus aumlhnlich klingen zB(Beruumlhrungen zur epikureischen Lehre hervorgehoben)

986 Calamitosus est animus futuri anxius et ante miser ias misersup2 qui sol l ic i tus estut ea quibus delectatur ad extremum usque permaneant nullo enim tempore conquiescit etexpectat ione ventur i praesentia quibus frui poterat amittet

Schlimm dran ist ein Mensch der um die Zukunft besorgt und (schon) vor dem Ungluumlckungluumlcklich ist der besorgt ist dass das woran er sich freut bis an sein Lebensende erhal-ten bleibt er wird naumlmlich zu keiner Zeit zur Ruhe kommen und wird in der Erwartung derZukunft das Gegenwaumlrtige das er haumltte genieszligen koumlnnen verlieren

1 Die thematische Verwandtschaft der Briefe 5 13 14 24 und 98 ist in der Forschung oft gesehenworden zB Cancik Untersuchungen 72ndash75 (geht auf die ersten vier der genannten Briefe ein)Maurach Bau 73f und 97 mit Anm 78 Hachmann Leserfuumlhrung 130ndash1342 Vgl epist 134 illud tibi praecipio ne sis miser ante tempus

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132 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Oder

987f 7 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est ma-lum suum antecedere 8 [] Plus dolet quam necesse est qui ante dolet quam ne-cesse est

7 Nichts ist erbaumlrmlicher und nichts unsinniger als sich schon vorher zu fuumlrchten Was istdas fuumlr ein Wahnsinn seinem Ungluumlck zuvorzukommen 8 [] Mehr als noumltig leidet werfruumlher als noumltig leidet

Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied Der 98 Brief zeichnet eine vollkom-men andere Situation Waumlhrend im 5 und vor allem im 13 Brief die Ratschlaumlgeeinem (vermuteten) Bedarf auf Seiten des rsaquoLuciliuslsaquo entsprechen er also selbstihr Adressat ist sind sie im 98 Brief Beiprodukt einer anderen Thematik naumlm-lich der allgemeinen Eroumlrterung von Fragen der stoischen Guumlterlehre Aus demEingangssatz raquoMan sollte nie einen fuumlr gluumlcklich halten der vom (aumluszligeren) Gluumlckabhaumlngig istlaquosup1 hatte Seneca die Frage entstehen lassen ob aumluszligere Guumlter dennnicht trotzdem angenehm und nuumltzlich sein koumlnnten (Eine solche auf der stoi-schen ἀδιάφορα-Lehre basierende Frage ist uumlbrigens das sei vorweggenommenvor dem 65 Brief undenkbar) Zwar bejaht Seneca diessup2 doch knuumlpft er das anein entsprechendes mentales Training sich dabei staumlndig der eigentlichen Guumlterbewusst zu sein

984 Sive alios observare volueris (liberius enim inter aliena iudicium est) sive te ipsum fa-vore seposito et senties hoc et confiteberis nihil ex his optabilibus et caris utile esse nisi tecontra levitatem casus rerumque casum sequentium instruxeris nisi illud frequenter et sinequerella inter singula damna dixeris raquodis aliter visum estlaquo [Verg Aen 2428]

Sei es dass du andere (das Urteil ist naumlmlich bei fremden Angelegenheiten unbefangener)oder dass du unter Beiseitelegen von Selbstgefaumllligkeit dich selbst daraufhin ansehenwillstDu wirst dies bemerken und anerkennen dass nichts von diesen wuumlnschenswerten undwertvollen Dingen nuumltzlich ist wenn du dich nicht gegen die Unbestaumlndigkeit des Zufallsund derjenigen Dinge die dem Zufallsgesetz folgen wappnest und wenn du nicht oft undohne Klagen bei einzelnen Ungluumlcksfaumlllen jenen Satz vorbringst rsaquoDie Goumltter wollten es an-derslsaquo

1 Numquam credideris felicem quemquam ex felicitate suspensum2 Uumlbrigens wieder unter reichlicher Beimischung epikureischer Stimulanzien (s oben S 39) andieser Stelle (981f) wird die Verknuumlpfung genuin stoischer Gedanken mit diesen Sekundaumlrmoti-ven besonders deutlich rsaquoQuid ergo non usui ac voluptati esse possuntlsaquoQuis negat sed itasi lla ex nobis pendent non ex illis nos Omnia quae fortuna intuetur ita fruct i fera ac iucundafiunt si qui habet illa se quoque habet nec in rerum suarum potestate est

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31 Strategien gegen die Angst | 133

Die Passage zeigt deutlich dass die Aufforderungen zur praemeditatio (und eben-so zur Schicksalsergebenheit sozusagen einermeditatio in ipso eventu) in diesemBrief weder einen konkreten Anlass haben noch einer konkreten Person geltenEs geht bei diesen Uumlberlegungen nicht um Luciliusrsquo Gemuumltslage sondern um dierichtige Bewertung der Guumlter

Seneca glaubt im 98 Brief auch nicht mehr dass Lucilius hier noch einenNachholebedarf hat Das wird schon daraus ersichtlich dass Seneca anders alsim 5 Brief Lucilius und sich nicht mehr einschlieszligt in die Menge derer die denFehler machen sich durch Vergangenes und Zukuumlnftiges bedruumlcken zu lassenIm 5 Brief hieszlig es noch

58ndash9 8 [] Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed co-gitationes in longinqua praemittimus[] 9 Ferae pericula quae vident fugiunt cum effu-gere securae sunt nos et venturo torquemur et praeterito

8 [] Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht aufdie gegenwaumlrtigen Dinge konzentrieren sondern unsere Uumlberlegungen auf weit Entferntesvoraussenden [] 9 Die wilden Tiere fliehen vor den Gefahren die sie (gerade) sehenwir aber lassen uns von Zukuumlnftigem und Vergangenem peinigen

Auch der 13 Brief formulierte einschlieszligend und die dort bereits erkennbareMissbilligung dieser Haltung war noch in die Form des freundlichen Hinweisesgegossen (zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere) Nun aber im 98 Brief di-stanziert Seneca sich Lucilius und damit den Leser von einer solchen Positionindem er diese (in der dritten Person) mit beiszligendem Hohn uumlberzieht Wenigmitfuumlhlend haumllt er nichts fuumlr raquoerbaumlrmlicher und duumlmmer als sich im Voraus zufuumlrchtenlaquo es sei geradezu ein Zeichen geistiger Umnachtung sich so zu ver-haltensup1 Fuumlr die die sich staumlndig vor der Zukunft fuumlrchten bringt Seneca keinVerstaumlndnis auf er schimpft sie (988) raquoKummerleider die sich selbst im Wegestehenlaquo (satagii ac sibi molestos) und raquoLeute ohne Selbstkontrollelaquo (intemperan-tes) Kurz Was im 13 Brief noch ein unverbindliches Angebot zum Nachdenkenwar das ist hier zur unverhandelbaren Forderung geworden die Angst vor derZukunft ist nicht mehr salonfaumlhig

Konsequenterweise wird das was im 13 Brief lediglich als rsaquohoumlherelsaquo Hand-lungsoption charakterisiert wurde (oben S 129) im 98 Brief als rsaquoalternativloslsaquofuumlr einen guten Charakter dargestellt und dichotomisch vom Unvermoumlgen desschlechten Charakters unterschieden

1 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est malum suum antece-dere (987)

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134 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

982ndash3 2 Valentior enim omni fortuna animus est et in utramque partem ipse res suas du-cit beataeque ac miserae vitae sibi causa est 3 Malus omnia in malum vertit etiam quaecum specie optimi venerant rectus atque integer corrigit prava fortunae et dura atque asperaferendi scientia mollit eqs

2 Der Geist ist naumlmlich staumlrker als alles Schicksal er selbst lenkt seine Geschicke in dieeine oder die andere Richtung und ist fuumlr sich selbst die Ursache eines gluumlcklichen oder un-gluumlcklichen Lebens 3 Der Schlechte verwandelt alles in Schlechtes selbst das was mitdem Schein des Bestmoumlglichen eingetreten war der Aufrechte und Unbeirrte (demgegen-uumlber) berichtigt die Maumlngel des Schicksals und macht durch seine Faumlhigkeit zum Ertragendas Harte und Raue weich usw

Aber noch in einemanderenPunkt tritt der bis zum im98 Brief erreichteTherapie-fortschritt deutlich hervor Waumlhrend im 13 Brief der Gegenpol zur rsaquostarkenlsaquo stoi-schen Sicht nur in der rsaquoschwachenlsaquo epikureischen bestand so warnt der 98 Briefnicht minder vor dem entgegengesetzten Extrem naumlmlich (in einseitiger Ausle-gung der stoischen Guumlterlehre) aumluszligere Guumlter gar nicht mehr zu achten Vielmehrfordert Seneca ausdruumlcklich dazu auf gefaumlhrlichen Situationen aus dem Wegezu gehen Direkt vor der oben erwaumlhnten Verurteilung des Sich-vorher-Fuumlrchtensheiszligt es

987 Nec ideo praecipio tibi neglegentiam Tu vero metuenda decl ina quidquid consilioprospici potest prospice quodcumque laesurum est multo ante quam accidat speculare etaverte In hoc ipsum tibi plurimum conferet fiducia et ad tolerandum omne obfirmata mensPotest fortunam cavere qui potest ferre certe in tranquillo non tumultuatur

Doch ich schreibe dir deshalbnichtNachlaumlssigkeit [ imUmgang mit den ἀδιάφοραndash (Anm UD)

] vor Du sollst durchaus den fuumlrchtenswerten Ereignissen aus dem Wege gehen was auchimmer rational vorausgesehen werden kann das sieh voraus was auch immer verletzenkann das fasse weit fruumlher als es passiert ins Auge und wende es ab Gerade dafuumlr wird dirdein Selbstvertrauen und dein alles zu ertragen gefestigter Sinn sehr zugute kommen Derkann dem Schicksal ausweichen der es tragen kann zumindest gibt es bei einem ruhigenMenschen keinen Aufruhr

Welches Fazit koumlnnen wir hieraus ziehen Seneca empfiehlt zwar sowohl in fruuml-heren Briefen als auch im 98 Brief sich erstens das Leben nicht durch verfruumlhteAngst selbst schwer zu machen und zweitens gefaumlhrlichen Situationen ndash wennmoumlglich ndash aus dem Weg zu gehen Doch erstens treten nur in den fruumlheren Brie-fen dazu Ratschlaumlge die mit der stoischen Lehre in keinster Weise vereinbar sind(zB epist 1310 interim tibi meliora promitte 1312 spe metum tempera)sup1 Zweitens

1 Verschweigen dieses Mittels im 98 Brief richtig gesehen bei Hachmann Leserfuumlhrung 131raquoDie scheinbare Hilfe durch Verdraumlngung [] wird in Brief 98 gar nicht erwaumlhntlaquo Hachmannscheint aber nicht zu bemerken dass der Grund fuumlr dieseAuslassung eben in derUnvereinbarkeit

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31 Strategien gegen die Angst | 135

laumlsst Seneca inden fruumlhenBriefendieseArt vonRatschlaumlgenausderRuumlcksicht aufdie Schwaumlche des Lucilius entstehensup1 oder formuliert sie nach Art einer epikurei-schen Lust-Schmerz-Bilanzsup2 Demgegenuumlber werden die Ratschlaumlge im 98 Briefallein aus der stoischen Guumlterlehre abgeleitet Zwar verwendet Seneca noch im-mer epikureische Argumentationsmuster (989 laumlsst er zudem Metrodor als Kron-zeuge auftreten) jedoch tut er das nicht mehr in mit der stoischen Lehre inkom-patibler sondern ausschlieszliglich in komplementaumlrer und streng untergeordneterWeise Epikur ist kein Konkurrent mehr kein Gegenmodell Er ist zum Helfer her-abgesunken der die Luumlcken ausfuumlllen darf die ihm die stoische Lehre gelassenhat

Der zuletzt zitierte Gedanke (Potest fortunam cavere qui potest ferre) illustriertdieses Selbstverstaumlndnis in hervorragender Weise Wenn Seneca die Erfuumlllungder epikureischen Forderung dem Schicksal auszuweichen (fortunam cavere) aneinen Charakter knuumlpft der dem Schicksal auch standhalten kann (qui potest fer-re) ndash der also die stoische Selbstbeherrschung verinnerlicht hat ndash dann sagt erdamit rsaquoKein Epikureer kann die epikureischen Forderungen so gut erfuumlllen wiewir Stoikerlsaquosup3

Diese Einverleibung Epikurs als eines im praktischen Bereich nuumltzlichenrsaquoKnechtslsaquo fuumlr die Erziehung zur stoischen Lebensweise ist wie ich spaumlter nochdeutlicher zeigen moumlchte (Kapitel 431) ein Hauptcharakteristikum fuumlr Senecas

mit der stoischen Lehre liegt (130 raquoAndererseits wird ein Argument das in den ersten Briefenbenutzt in ep 98 aber nicht verwendet wurde wahrscheinl ich mit Absicht ausgelassenworden seinlaquo [meine Hervorhebung])1 Vgl zB 135 Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes2 zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere Vgl auch 241 Quid enim necesse est [] praesenstempus futuri metu perdere3 Auch an dieser Stelle bringt Hachmann Leserfuumlhrung 132 die Sache zu wenig auf den PunktraquoHier geht der Brief 98 weit uumlber die Anfangsbriefe hinaus wenn er einen ursaumlchlichen Zusam-menhang sieht wo die Anfangsbriefe lediglich ein Nebeneinander sahen Nur der seelisch Star-ke welcher der Gefahr klar ins Auge sehen kann besitzt auch die notwendige Gelassenheit ver-nuumlnftige Gegenmaszlignahmen zu ergreifenlaquo Hachmann sieht im 98 Brief (bis auf die Auslassungder Verdraumlngungstaktik) offenbar wieder nur einen quantitativen Unterschied zu den fruumlherenraquoEinVergleich vonep 986mit ep 138ndash11 zeigt dass indemfruumlhenBrief die zukritisierendeFehl-haltung imVerhaumlltnis zu den echten Versuchender Heilung breiter dargestellt wurde Dagegenuumlberwiegt in ep 98 die Darstellung der Bewaumlltigunglaquo (ebd (Hervorhebung UD) ) MaurachBau 73f erkennt richtig dass im 98 Brief der systematische Zusammenhang erkennbar ist denSeneca in denBriefen 13 und 14 nicht erwaumlhnt der aber der dortigen Gedankenfuumlhrung zugrundeliegt Maurach geht es dabei darum die verdeckten inhaltlichen Beziehungen aufzudecken diedie Briefe 12ndash15 enger zusammenschlieszligen (eine wichtige Funktion kommt dabei der im 14 Briefangesprochenen οἰϰείωσις-Lehre zu) Die Frage nach Epikur- und Stoa-Kompatibilitaumlt der Argu-mente und damit nach Therapiestufen steht auszligerhalb seines Blickwinkels auf den Text

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136 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Briefe Nur hieraus und nicht aus persoumlnlichen Faktoren (vermeintlicher Ek-lektizismus Senecas Beeinflussung durch Luciliusrsquo Epikureismus) erklaumlrt sicheinerseits die Affinitaumlt zu Epikur (wo er zu brauchen ist bedient sich Seneca sei-ner gern) andererseits die scharfe Abgrenzung von ihm (Epikurs Prinzipien sindund bleiben aus Senecas Sicht untragbar)

Um herauszufinden auf welchem Therapieniveau Seneca operiert genuumlgt esalsonicht dieHerkunft bestimmterArgumentationsmuster ausder epikureischenSchule aufzuzeigen Diese verwendet er immersup1 so geniert sich Seneca zB auchim 98 Brief nicht unmittelbar vor einer stoischen exempla-Serie als Trostmittelfuumlr etwaige Verluste die epikureische Ruumlckbesinnung auf die Vergangenheit zuempfehlen (9811) Habere eripitur habuisse numquam Die entscheidende Frageist vielmehr inwiefern Seneca dabei gegen das stoische Wertesystem verstoumlszligt

Ein aufschlussreicher Schritt auf diesemWege ist der 24 Brief Vonunserembishe-rigen Befund aus mag ein kurzer Blick auf ihn genuumlgensup2 Der 13 Brief hatte durchdie Gegenuumlberstellung der rsaquohoumlherenlsaquosup3 stoischen zur rsaquoniedrigerenlsaquo epikureischenSicht zum ersten Mal auf die Abloumlsung der epikureisierenden Ratschlagstopik des5 Briefes hingearbeitet Auch der 14 Brief wirkte zwar ndash mit ersten Anklaumlngen andie Oikeiosislehre ndash auf eine Relativierung der Angstausloumlser hin blieb aber inseinen Methoden unentschieden So klingt beispielsweise gegenuumlber der helden-haften Aufforderung den Koumlrper notfalls auch ins Feuer zu schicken wenn es dieVernunft die Wuumlrde oder die Treue fordere (142) der unmittelbar folgende Satzdoch wieder sehr nach dem epikureischen Ausweichgedanken

143 Nihilominus quantum possumus evitemus incommoda quoque non tantum pericula etin tutum nos reducamus excogitantes subinde quibus possint timenda depelli

Nichtsdestotrotz wollen wir auch Unannehmlichkeiten nicht nur Gefahren nach Kraumlftenaus dem Wege gehen und uns auf sicheres Gebiet zuruumlckziehen indem wir uns immer wie-der ausdenken wodurch angsterregende Situationen entschaumlrft werden koumlnnen

Den endguumlltigen Bruch mit einer von stoischen Prinzipien abgeloumlsten epikurei-schen Behandlung vollzieht erst der 24 Brief indem er erstmals auch bei derFurchtbekaumlmpfung der praemeditatio-Technik den eindeutigen Vorzug vor derepikureischen Verdraumlngungsloumlsung gibt Ein Meisterstuumlck ist dabei wie Senecazum Schein die epikureische Loumlsung vorbringt und zunaumlchst auf sie eingeht so

1 Siehe dazu oben S 392 Als weitere Wegmarken koumlnnte man insbesondere 316 (vgl unten S 203) anfuumlhren3 Zu diesen Kategorien und ihrer Etablierung im philosophischen Denken Ciceros Goumlrler Un-tersuchungen zu Ciceros Philosophie vgl oben Anm 1 auf S 127

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31 Strategien gegen die Angst | 137

dass jeder von seinen Lesern der noch mit Epikurs Lehre liebaumlugelt sich auf demrichtigen Weg waumlhnen darf wie er dann aber diese Ratschlaumlge mit einem Wischzur Seite legt und zwar mit genau dem Argument das auch im 13 Brief schon alsKritik an Epikur anklang Das Verdraumlngen einer schlimmen Zukunft kann nichtjede Sorge nehmen (weil es durchaus Situationen gibt in denen das Eintreten desUumlbels aumluszligerst wahrscheinlich ist)sup1

241ndash2 1 Sollicitum esse te scribis de iudicicirc eventu quod tibi furor inimici denuntiat existi-masme suasurumutmeliora tibi ipse proponas et adquiescas spei blandae Quid enimnecesseest mala accersere satis cito patienda cum venerint praesumere ac praesens tempus futurimetu perdere Est sine dubio stultum quia quandoque sis futurus miser esse iam miserum2 Sed ego alia te ad securitatem via ducam si vis omnem sollicitudinem exuere quidquidvereris ne eveniat eventurum utique propone et quodcumque est illud malum tecum ipse me-tire ac timorem tuum taxa

1 Du schreibst du seist beunruhigt in Betreff des Ausgangs eines Prozesses den dir die Ra-serei deines Widersachers ankuumlndigt du glaubst ich werde dir nun raten dass du dir selbstBesseres vor Augen stellst und bei einer verlockenden Hoffnung zur Ruhe kommst Wozuist es naumlmlich notwendig Ungluumlckssituationen herbeizurufen das vorauszunehmen waswenn es gekommen ist immer noch fruumlh genughinzunehmen ist und die gegenwaumlrtige Zeitdurch die Angst vor der zukuumlnftigen schon zu verderben 2 Es ist ohne Zweifel unsinnigjetzt schon ungluumlcklich zu sein weil du irgendwann einmal ungluumlcklich sein wirst Aber ichwill dich auf einem anderen Weg zur Sicherheit fuumlhren Wenndu alleUnruhe ablegen willstdann stelle dir alles dessen Eintreten du befuumlrchtest erst recht vor Augen und miss wasauch immer es fuumlr ein Ungluumlck ist bei dir selbst nach und schaumltze das Ausmaszligdeiner Furchtein

Es kann kein Zweifel daran bestehen dass dieser Beginn des 24 Briefes als Ge-genstuumlck und Fortentwicklung der Therapie des 13 Briefes gelten musssup2

Unverstaumlndlich ist mir in diesem Punkt die Deutung Canciks Untersuchungen 73f Sie ver-sucht ndash gegen Misch Autobiographie 433 ndash zu beweisen dass weder zwischen dem 13 und dem24 Brief noch zwischen dem5 unddem24 Brief eine Entwicklung des rsaquoLuciliuslsaquo stattfindet raquoVoneinem Ansatz zur Darstellung einer seelischen Entwicklung in Mischs Sinne kann also hier [ dhim 13 Brief ndash (AnmUD) ] nicht die Rede sein Genausowenig bezeichnet ep 24 eine gegenuumlber ep 13fortgeschrittene Stufe in der Entwicklung des Luciliuslaquo (74) Sie folgert das zum einen (a) dar-aus dass auch im 13 Brief beide Sichtweisen vertreten werden zum andern (b) weil sie meintdass auch 57 schon raquodie stoische Vorstellung von der Uumlberwindung der Leidenschaften [] rein

1 Siehe oben S 1282 RichtigMaurach Bau 97 sowieHachmann Leserfuumlhrung 182ndash190 (der zu Recht konstatiertdass die Notmethode der Angstbekaumlmpfung durch einen Gegenaffekt also das vitio vitium repel-lere von 1312 (s oben S 129) von epist 24 an nicht mehr zum Repertoire Senecas gehoumlrt) fernerWacht Angst in Senecas Briefen 527 raquoWas also zunaumlchst grundsaumltzlich vereinbar und als mil-dere Form der Angstbewaumlltigung akzeptiert schien muss hier einer Methode weichen die zumsicheren Erfolg zu fuumlhren versprichtlaquo

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und eindeutiglaquo zum Ausdruck bringe (ebd) Doch wir haben gesehen dass (a) im 13 Brief beideSichtweisen noch miteinander wetteifernd auftreten und die stoische Loumlsung als die edlere dieepikureische aber als die derzeit wirkungsvollere dargestellt wird Die edlere Loumlsung legt sich da-bei wie ein Ring um die primitivere Canciks Deutung des 13 Briefes ist demnach verfehlt wennsie (ebd) behauptet raquoEine Interpretation von ep 13 im Ganzen zeigt dass ihr Gedankengangauf Steigerung angelegt istlaquo Denn der Brief enthaumllt nicht eine kontinuierliche Steigerung derphilosophischen Argumentationshoumlhe sondern beginnt in stoischer Houmlhe wird dann von 133bis 1313 durch eine epikureische Phase abgeloumlst und kehrt dann mit 1314 und den angedeutetenexempla wieder zum Ausgangsniveau zuruumlck Ganz anders ist das im 24 Brief Die epikureischeVerdraumlngungsloumlsung wird nur eingangs erwaumlhnt und zwar nur dazu um desto wirkungsvollerbeiseite gelegt werden zu koumlnnen Sie spielt im uumlbrigenBrief keine Rollemehr und ist vonAnfangan keine ernsthafte Alternative Die praemeditatio-Methode beherrscht von Beginn das Feld underhaumllt spaumltestens durch die lange exempla-Serie ab 243 ein erdruumlckendes Uumlbergewicht Einenfast schon verzweifelt zu nennenden opportunistischen Ratschlag wie 1313 crede quod mavis ndashraquoGlaube was du lieber willst (sc wenn du nur dadurch zur Ruhe kommst)laquo wird man nicht im24 und auch in keinem spaumlteren Brief mehr finden

Was (b) den 5 Brief angeht so muss man klar feststellen dass zwar der Zusammenhangzwischen Furcht und Hoffnung von dem Seneca dort spricht als Vorbereitung fuumlr eine spaumltereἀπάϑεια-Forderung gesehen werden kann Doch in der Hinsicht die wir als Indiz fuumlr eine Ent-wicklung des Lucilius angesehen haben naumlmlich in der Frage ob man zukuumlnftigen Uumlbeln ge-genuumlber eher die epikureische rsaquoKopf-in-den-Sand-Taktiklsaquo oder die kyrenaisch-stoische praemedi-tatio anwenden soll steht der 5 Brief wie wir gesehen habensup1 ganz eindeutig auf epikureischerSeitesup2 Abgesehen davon ist der Zusammenhang zur stoischen ἀπάϑεια auch nur fuumlr ein philo-sophisch bereits geuumlbtes Auge zu erkennen der Ratschlag erst ein Aufhoumlren des Hoffens werdeauch zum Ende des Fuumlrchtens fuumlhren laumlsst sich auch als gegen ein jeweiliges Zuviel im Einzel-fall gesprochen denken von einem raquoreinen und eindeutigenlaquo Propagieren der Uumlberwindung derLeidenschaften kann jedenfalls keine Rede sein

Doch obwohl er sich in der Entscheidung fuumlr die praemeditatio jetzt konse-quent zeigt ndash oder eben deshalb ndash sorgt Seneca umgehend dafuumlr dass die Bruumlckezum Epikureismus nicht gaumlnzlich abgerissen wird Er wolle sagt er Lucilius zursecuritas fuumlhren im Gegensatz zu Begriffen wie etwa constantia oder gar invulne-rabilitaswaumlhlt er damit einen Ausdruck der das epikureische Ideal der Sorglosig-keit (se+cura) uumlberdeutlich anklingen laumlsstsup3 Und die von Lucilius befuumlrchteten

1 S oben S 1312 Zu Recht skeptisch bereits Maurach Bau 97 Anm 78 ndash Hachmanns Widerlegungsversuch(Leserfuumlhrung 189) gegen diese Deutung von 57 durch Cancik speist sich allein aus dem Um-stand dass sich der 5 Brief noch im raquoEinleitungsteil des Werkeslaquo befinde Das allein halte ich fuumlrwenig schlagkraumlftig entscheidend ist die Stellung zur praemeditatio da diese wirklich ein Un-terscheidungskriterium zwischen Epikureismus und Stoa bietet vgl Abel Bauformen 38 undMaurach Bau 97 mit Anm 803 Das Wort kommt aus metrischen Gruumlnden bei Lukrez nicht vor inhaltlich ist es gleichwohlfast omnipraumlsent vgl zB im Prooumlm des zweiten Buches (216ndash19) nonne videre | nihil aliud sibi

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31 Strategien gegen die Angst | 139

Ereignisse bezeichnet Seneca so wie die breite Bevoumllkerung auch naumlmlich mitmalasup1

Doch es kommt noch besser Denn man duumlrfte nach der Ankuumlndigung diesesrsaquoanderen Weges zur Sorglosigkeitlsaquo erwarten dass Seneca jetzt wenn er jetzt mitden Worten intelleges profecto fortfaumlhrt ganz in stoischem Fahrwasser etwa sa-gen wird raquoDu wirst erkennen dass all diese Bedrohungen und Gefahren nichtigund nicht schwer zu ertragen sind und dass es allein auf unsere innere Haltungankommt Denn das einzige echte Uumlbel ist es sich verwerflich zu verhalten daseinzige Uumlbel ist die turpitudo Alle anderen Ereignisse vor denen du Angst hastsind keine wirklichen mala Das alles sind ἀδιάφορα also indifferente ethischambivalente Dingelaquo Stattdessen sagt er

242 intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis

du wirst ganz sicher erkennen dass es nicht groszlig oder aber nicht langdauernd ist wasdu fuumlrchtest

Das ist ndash worauf ua auch Wachtsup2 zu Recht hinweist ndash nichts anderes als Epikurswohlbekannte Formel gegen die Angst vor dem Schmerzsup3 die Cicero (fin 222) mitfast denselben Worten wie spaumlter Seneca zusammenfasst Si gravis [sc dolor] bre-vis si longus levis⁴

Die geschickte Wendung in der Formulierung laumlsst sich sicherlich wie ge-sagt als raquoRuumlcksicht auf den epikureischen Freundlaquo verstehen⁵ Doch sie ist mehrals das Die epikureische Schmerzformel ist ein nicht nur akutes sondern vonvornherein auch vorausschauendes Trostmittel Sie hat die Funktion die Angstvor einer schmerzhaften Zukunft zu verringern und enthaumllt damit schon von sichaus eine praumlmeditative Komponente Diesen fuumlr den Uumlbergang zur stoischen Leh-re guumlnstigen Umstand hat Seneca geschickt ausgenutzt Die Schmerzformel istein ideales Bindeglied um dem praemeditatio-Gedanken auch von epikureischerWarte aus Ruumlckhalt zu verschaffen

naturam latrare nisi ut qui | corpore seiunctus dolor absit mente fruatur | iucundo sensu curasemota metuque1 Anstelle einer stoisierenden Umschreibung vgl unten Kapitel 512 Angst in Senecas Briefen 528f3 Epic KD 4 GV 44 Vgl Sen epist 2414 Levis es si ferre possum brevis es si ferre non possum sowie ferner epist3014 ( nullum enim dolorem longum esse qui magnus est)5 Wacht Angst in Senecas Briefen 528 freilich darf dabei ndash wie oben (Kapitel 132 ab S 35)ausgefuumlhrt ndash unter rsaquoFreundlsaquo nicht die reale Person Lucilius verstanden werden sondern es gehtum die Integration des epikureisch orientierten Leserpublikums

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Auch ein Stoiker wie Mark Aurel weiszlig uumlbrigens um den praktischen Wert die-ser Formel Und fuumlr die Bestimmung von Senecas Taktik ist es hochinteressant zusehen wie sich die Einbettung dieses Gedankens bei dem Philosophenkaiser imUnterschied zu Seneca darstellt Denn zum einen laumlsst Mark Aurel die stoischeSicht eben nicht fort sondern setzt sie in guter Ordnung an den Anfang

MarkAurel 764 ᾿Επὶ μὲνπαντὸς πόνου πρόχειρον ἔστω ὅτι οὐϰ αἰσχρὸνοὐδὲ τὴνδιάνοιαντὴν ϰυβερνῶσαν χείρω ποιεῖ οὔτε γὰρ ϰαϑὸ λογιϰή ἐστιν οὔτε ϰαϑὸ ϰοινωνιϰὴ διαφϑείρειαὐτήνBei jedem Ungemach sei Dir dieses Argument griffbereit dass es nicht moralisch verwerf-lich ist und die leitende Vernunft nicht schwaumlcht Denn weder insoweit sie vernuumlnftig nochinsoweit sie gemeinschaftsbezogen ist verdirbt es sie

Zum anderen kennzeichnet er den nun folgenden epikureischen Gedanken expli-zit als solchen und schraumlnkt ihn insoweit ein als er sagt dass diese Maxime nichtimmer sondern nur in den meisten Faumlllen anwendbar sei

Mark Aurel 764 Fortssup1 ἐπὶ μέντοι τῶν πλείστων πόνων ϰαὶ τὸ τοῦ ᾿Επιϰούρου σοι βοη-ϑείτω ὅτι οὔτε ἀφόρητον οὔτε αἰώνιον ἐὰν τῶν ὅρων μνημονεύῃς ϰαὶ μὴ προσδοξάζῃςBei den meisten Formen von Ungemach moumlge dir indes schon das Wort Epikurs helfen dasses weder unertraumlglich noch unendlich ist sofern du dich an die Fakten haumlltst und nichtschon im Vorhinein schlimme Erwartungen hegst

Insgesamt koumlnnenwir in Senecas Briefen bezogen auf die Frage der Angsttherapiefolgende Entwicklung feststellen Angefangen von epist 5 (= epikureische Thera-peutik) gibt es eine Entwicklung uumlber epist 13 und 14 (Mischform) epist 24 (vor-wiegend stoische Argumentation mit epikureischer Motivation jedoch vermischtmit epikureischer avocatio) hin zu epist 98 in der eine im Kern rein stoische Ar-gumentation vorliegt die sich jedoch nach wie vor epikureischer Hilfsargumentebedient

Senecas Taktik besteht demnach nicht darin die gegnerische rsaquoFestunglsaquo mitseinen Argumenten rsaquoim Handstreichlsaquo oder uumlberhaupt in der Schlacht zu nehmenVielmehr legt er es ndash um im Bild zu bleiben ndash darauf an sie nach und nach davonzu uumlberzeugen freiwillig ihre Tore zu oumlffnen Er will eine Transformation des Le-sers aber er will sie nicht auf dem Weg der Konfrontation sondern lieber auf demPfad schleichender Integration

Auch der 105 Brief fuumlgt sich in diese Ordnung ein Zwar legt Seneca seinem Freund hiernahezudie gleichenRatschlaumlgevor die er auch schon im13 14 und 24Brief gegebenhatteDoches geht uumlberhaupt nicht um Angstvermeidung sondern um aumluszligere Sicherheit Lucilius hat ndash so

1 = Epicur fr 447 Us

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 141

die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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142 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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144 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 145

psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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146 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 6: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

31 Strategien gegen die Angst | 125

3 (Forts) Dennochvernimm wenndumagst vonmir Ratschlaumlgemit denen dudich schuumlt-zen kannst 4 Es sind mehr Dinge Lucilius die uns einen Schrecken einjagen als diedie uns (tatsaumlchlich) beeintraumlchtigen und oumlfter leiden wir aufgrund unserer Vorstellung alsaufgrund des Sachverhaltes Ich spreche jetzt nicht in der stoischen Redeweisemit dir sondern in dieser zuruumlckhaltenderen wir sagen naumlmlich dass all dieseDinge die Klagenund Jammern hervorrufen leicht zu ertragen und zu verachten sind Dochlassen wir diese groszligen aber bei Gott wahren Worte Jenes schreibe ich dir vor dass dunicht schon vor der Zeit ungluumlcklich bist da doch jene Dinge die du wie unmittelbar dro-hende gefuumlrchtest hast vielleicht nie eintreten werden auf jeden Fall aber nicht eingetretensind 5 Manche Gefahren quaumllen uns alsomehr als siemuumlssenmanche fruumlher als siemuumls-sen undmanche obwohl sie uns uumlberhaupt nicht quaumllen duumlrften wir vermehren das Leidennehmen es voraus oder bilden es uns nur ein

Das ist wirklich eine Kehrtwende um 180 Gradsup1 Keine Rede mehr von einemrsaquoDem-Schicksal-die-Stirn-Bietenlsaquo Statt dessen epikureisches Klein-Klein tau-send Tipps wie man die Aumlngste vor der Zukunft verringern kann Denn es istkeineswegs so dass Seneca wie Wacht glaubt diese Lehren wenn auch mitGewalt aus der stoischen Lehrtradition herausziehtsup2

Fuumlr einen Epikureer sind und bleiben Ungluumlcksfaumllle Momente der Anfechtung er soll ihnenmoumlglichst aus dem Wege gehen ndash man denke an den Grundsatz λάϑε βιώσαςsup3 ndash wenn aber etwas

1 Viel schwaumlcher scheint den Umschwung Maurach Bau 67 zu beurteilen raquoUnd doch so faumlhrtSeneca fort obschon der Freund solche Kraft hat es gibt wirksame Hilfen die eine Anwendungdieses animus erleichternlaquo Das klingt als sei das was ab 134 folgt nur die praktische Ergaumln-zung zu dem was Seneca vorher gesagt hat Auch Hachmann Leserfuumlhrung 126 will hier of-fenbar keinen Bruch sehen raquoDabei will er (zunaumlchst) nicht die harte unverbluumlmte Sprache derStoa sondern eine leisere Sprechweise benutzenlaquo (das gleiche Bild schon bei Maurach Bau69 raquoBeide Briefe [ 12 und 13 ] reden nicht mit lauter Stimme sondern remissiore vocelaquo) Senecaredet aber nicht nur rsaquoleiserlsaquo dh weniger drastisch oder weniger deutlich sondern definitiv ineiner anderen philosophischen Sprache als der der Stoa Was er eigentlich von derlei remediahaumllt zeigen spaumltere Stellen wie diese (706) Itaque effeminatiss imam vocem illius Rhodiiexistimo qui cum in caveam coniectus esset a tyranno et tamquam ferum aliquod animal aleretursuadenti cuidam ut abstineret cibo rsaquoomnialsaquo inquit rsaquohomini dum vivi t speranda suntlsaquondashCancik Untersuchungen 74 laumlsst diese Stelle ganz unter den Tisch fallen obwohl sie groumlszligteRelevanz fuumlr die von ihr vorgenommene Zuruumlckweisung der These von einer Entwicklung desLucilius gehabt haumltte s dazu S 138 ndash Vollkommen verfehlt Peter Brief 231 der diese WorteSenecas als Programm fuumlr die Briefe insgesamt missversteht (raquoDem Programm des rsaquoprodesselsaquo ge-maumlszlig verschmaumlht er die ernste Sprache der Philosophie als fuumlr einen Brief ungeeignetlaquo es folgenals Belegstellen 134 und 381)2 Wacht Angst in Senecas Briefen 526 raquoAngst so bestimmten die Stoa und andere vor ihr be-steht in der Erwartung eines zukuumlnftigen Uumlbels Seneca leitet daraus ab ne sis miser ante tempus(ep 134)laquo (meine Hervorhebung) Natuumlrlich ist auch Wacht die Herkunft der lenia remedia ausder Schule Epikurs bewusst Aber gerade deswegen meine ich dass man hier nicht eine Bruumlckezur stoischen Definition suchen sollte3 Plut mor 1128ff

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Unvermeidliches eintritt oder bevorsteht dann muss er sich mit der Methode der avocatio undrevocatio also der Ablenkung vom gegenwaumlrtigen bzw zukuumlnftigen Zustand und der Ruumlckbesin-nung auf erfreulichere Zeiten behelfensup1

Schon der Vorschlag ne sis miser ante tempus (134) ist genuin epikureisch(avocatio) und ist der Lehre der Stoiker die wie die Kyrenaiker die Technik derpraemeditatio favorisiert haben diametral entgegengesetzt Dabei hatte Sene-ca die praemeditatio-Lehre doch selbst im vierten Brief ausdruumlcklich empfohlen(s oben S 42) Hier im 13 Brief liegt er jedoch auf epikureischer Linie wenn erkritisiert aut augemus dolorem aut praecipimus aut fingimus (135)sup2

AuchdieKritikaut augemusdolorem ist genaugenommennicht Stoa-konformsie passt nicht zum Postulat der Unempfindlichkeit (ἀπάϑεια) des stoischen Wei-sen gegenuumlber den Versuchungen des Schicksals Der Stoiker versucht nicht dieBeeinflussung durch den Schmerz zu verringern sondern er strebt danach sieganz abzuschaffen Anstelle dieser harten Forderung verbuumlndet sich Seneca hierdurch seine Formulierung noch mit der dem Volksempfinden naumlher stehendenperipatetischen Guumlterlehre

Doch zunaumlchst moumlchte Seneca Lucilius nur davon uumlberzeugen dass es sinn-voll ist seineAffekte zu drosseln Das ist derwichtigste Schritt in die richtige Rich-tung (Affektminderung) Ob das Ziel dabei nun in weiter Ferne (zB Epikur) odergar hinten am Horizont (Stoa) liegt ist erst einmal zweitrangig Dieses ganze Pro-blemfeld kann auf spaumlter vertagt werden Wir koumlnnen jedoch festhalten Hier inden Briefen gibt es bei Seneca einen Vorrang der Taktik vor der Systematik

Weder moumlchte Seneca allen Ernstes die praemeditatio- oder die ἀπάϑεια-Lehre grundsaumltzlich in Frage stellen Schon aufgrund des kaumlmpferischen Briefbe-ginns ist das unwahrscheinlich und gegen Ende des Briefes wird er wieder ganzoffen empfehlen der Zukunft ins Auge zu blicken (1314 Alius dicat rsaquofortasse nonvenietlsaquo tu dic rsaquoquid porro si veniet Videbimus uter vincat lsaquo)sup3 Mit dem epiku-reischen Schwenk in der Briefmitte duumlrfte Seneca eher auf folgende Alternative

1 Cic Tusc 333 s oben S 802 Seneca verknuumlpft die selben beiden Kritikpunkte (1 ein erwartetes bevorstehendes Uumlbel mussnicht unbedingt eintreten 2 auchwenn es eintritt ist es nicht sinnvoll den Schmerz durch seineVorerwartung schon in die Gegenwart hinein zu verlaumlngern) die auch Epikur Ciceros Bericht zu-folge verbundenhaben soll Cic Tusc 332 ( qui censet necesse esse omnis in aegritudine essequi se in malis esse arbitrentur sive illa ante provisa et expectata sint sive inveteraverint Namneve vetustate minui mala nec fieri praemeditata leviora stultamque etiam esse meditationemfuturi mali aut fortasse ne futuri quidem satis esse odiosum malum omne cum venisset qui au-tem semper cogitavisset accidere posse aliquid adversi ei fieri illud sempiternum malum si verone futurum quidem sit frustra suscipi miseriam voluntariam ita semper angi aut accipiendo autcogitando malo3 S dazu unten S 129

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hinauswollen rsaquoWenn du stark genug bist dann schaue dem Schicksal ins Augeund uumlberwinde es wenn nicht ndash dann schaue eben nicht voraus damit du dirimmerhin nicht die Lebenszeit bis dahin verdirbstlsaquo

Der Kontrast des Umschwungs (oder besser Abschwungs) von derHoumlhe des Brief-beginns zu den jetzigen Niederungen popularer Alltagsratschlaumlge ist gewollt Erbietet Seneca die Moumlglichkeit die stoische Weltsicht in ein guumlnstiges Licht zuruumlcken sie in einer starken Position zu zeigen und trotzdem den Vorbehalten undauch Wuumlnschen der Leserschaft nach praktischen Ratschlaumlgen Raum zu gebenZugleich kann er auf diese Weise einem sehr breiten Leserspektrum gerecht wer-den Die Kontrastierung beider Sichten gibt ihm zudem die Moumlglichkeit auch in-nerhalb der Ratschlaumlge immer wieder in Richtung der stoischen Sichtweise aufden Leser einzuwirken

135 Primum illud quia res in controversia est et litem contestatam habemus in praesentiadifferatur Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes scio alios inter flagella riderealios gemere sub colapho Postea videbimus utrum ista suis viribus valeant an inbecillitatenostra

Aber jener erste Punkt soll weil die Angelegenheit (unter uns) umstritten ist und wir denProzess eingereicht haben jetzt erst einmal vertagt werden Das was ich unbedeutend nen-nen werde wirst du nachdruumlcklich fuumlr aumluszligerst gewichtig erklaumlren ich weiszlig dass die einenunter Geiszligelhieben lachen die anderen (schon) bei einer Ohrfeige jammern Spaumlter werdenwir sehen ob diese Dinge aufgrund ihrer eigenen Beschaffenheit Bedeutung fuumlr uns habenoder nur durch unsere Schwaumlche

Wie der Einschub si tibi videtur (133) dient dieser Abschnitt dazu die rsaquohoumlherelsaquoSicht der Stoa als Gegenfolie praumlsent zu haltensup1 Geschickt bezeichnet Seneca denGegensatz zwischender stoischen Sicht undder des Lucilius nicht als einen quali-tativen zwischen Unempfindlichkeit (ἀπάϑεια) und Empfindsamkeit sondern als

1 Diese Technik ist wie Goumlrler Untersuchungen zu Ciceros Philosophie gezeigt hat omniprauml-sent bei Cicero und uumlberdeutlich in seinen Tuskulanen in denen er immer wieder versucht ne-ben der rsaquoniedrigenlsaquo sicheren Position die rsaquohoumlherelsaquo aber schwerer beweisbare und nicht uumlberZweifel erhabene Ebene zur Geltung zu bringen vgl ebd zB 206 raquoWenn Cicero im erstenTuskulanenbuch [] zunaumlchst Beweise fuumlr die Unsterblichkeit der Seele gibt dann aber diesenStandpunkt aufgibt und nur noch daran festhaumllt dass der Tod auch bei voumllligem Untergang derSeele kein Uumlbel ist so liegen beide Argumentationen nicht auf derselben Ebenelaquo oder (25) raquoWieder Glaube an die Unsterblichkeit der Seele immer wieder von Zweifeln erschuumlttert wird ist esschwer die stoische Uumlberzeugung (nihil bonum nisi virtus) allen Versuchungen zum Trotz auf-rechtzuerhalten Der stoische Standpunkt ist zwar erhabener (im gleichen Sinne wie der Glaubean die Unsterblichkeit) aber der theophrastische steht dem Boden der beweisbaren Tatsachennaumlherlaquo

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einen quantitativen zwischen Mehr- oder Weniger-Leidensup1 zugleich waumlhlt er einBeispiel bei demdasWeniger-Leidenals erstrebenswert angesehenwerdenmussMit inbecillitate nostra bereitet Seneca den Leser (ohne dass er allzutief in diersaquograue Theorielsaquo eintauchen muss) darauf vor dass die Ursache fuumlr die Relativitaumltder Bewertung von Uumlbeln vor allem in unserer eigenen Sicht auf sie zu sehen ist

Auch in 7ndash8 koumlnnen wir beobachten wie Seneca geschickt beide philosophi-sche Richtungen einander gegenuumlberstellt wobei wiederum die Stoa in der houmlhe-ren Position erscheint Auf die fiktive Frage des Lucilius wie er wahre von einge-bildeten Gefahren unterscheiden koumlnne (rsaquoQuomodolsaquo inquis rsaquointellegam vana sintan vera quibus angorlsaquo) antwortet Seneca zunaumlchst ganz im Sinne Epikurs

137 Accipe huius rei regulam aut praesentibus torquemur aut futuris aut utrisque De prae-sentibus facile iudicium est si corpus tuum liberum et sanum est nec ullus ex iniuria dolor estvidebimus quid futurum sit hodie nihil negotii habetsup2

Hier hast du ein Richtmaszlig fuumlr diese Situation Wir werden entweder durch Gegenwaumlrtigesoder durch Zukuumlnftiges oder durch beides gequaumllt In Bezug auf Gegenwaumlrtiges ist die Ent-scheidung leicht Wenn dein Koumlrper frei und gesund ist und es keinen Schmerz aufgrundeines (erlittenen oder getanen) Unrechts gibt werden wir sehen was die Zukunft bringtHeute (jedenfalls) hat er kein Problemsup2

Diese epikureische Loumlsung hat nochnie recht zu uumlberzeugen vermocht und Sene-ca nutzt dieUnzufriedenheit des Interlokutors (bzw des Lucilius) umdie stoischeLehre von der Zustimmung zum Affektimpuls (συγϰατάϑεσις assensio) vorzube-reiten

138 rsaquoAt enim futurum estlsaquo ndash Primum dispice an certa argumenta sint venturi mali plerum-que enim suspicionibus laboramus et illudit nobis illa quae conficere bellum solet fama multoautem magis singulos conficit Ita est mi Lucili c i to accedimus opinioni non coargui-mus illa quae nos in metum adducunt nec excutimus []

rsaquoAber (das Unheil) wird doch eintretenlsaquo ndash Erstens schau genau hin ob es sichere Anzeichenfuumlr ein kommendes Unheil gibt meistens leiden wir naumlmlich aufgrund unserer Verdaumlchti-gungen und uns narrt jenes Geruumlcht das einen Krieg vom Zaune zu brechen pflegt nochmehr aber die einzelnen Leute zugrunderichtet So ist es mein Lucilius Wir pflichten un-

1 Also in genau der Weise wie er es in 135 schon vorbereitet hatte quaedam ergo nosmagis tor-quent quam debent Auch das dazugehoumlrige Fazit augemus dolorem legte ja nur eine quantitativeDeutung nahe s dazu oben auf Seite 1262 Vgl zu diesem Gedanken oben Anm 2 auf Seite 126 Nicht ganz deutlich gibt diesen GedankenCiceros Torquatus wieder (fin 159) accedunt aegritudines molestiae maerores qui exedunt ani-mos conficiuntque curis hominum non intellegentium nihil dolendum esse animo quod sit a dolorecorporis praesenti futurove seiunctum ndash Danach koumlnnte man meinen Epikur lasse die Angstvor zukuumlnftigen Uumlbeln zu

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serer Meinung zu schnell bei wir pruumlfen jene Dinge nicht die uns in Furcht versetzen unduntersuchen sie nicht genau []

Das ist nicht viel mehr als eine Andeutung aber sie hilft die stoische Loumlsungrsaquoim Spiellsaquo zu halten ohne auf die Kasuistik verzichten zu muumlssen Und bei dieserscheut sich Seneca nicht sogleich wieder unter das stoische Niveau zu zufallennochmals therapiert er die Furcht vor dem kommenden Unheil epikureisch undim offenen Widerspruch zur stoischen praemeditatio-Empfehlung

1310f 10 Verisimile est aliquid futurum mali non statim verum est Quam multa nonexspectata venerunt Quam multa exspectata nusquam conparuerunt Etiam si futurum estquid iuvat dolor i suo occurrere Satis cito dolebis cum venerit interim tibi meliorapromitte 11 Quid facies lucri Tempus

10 Es ist sehr wahrscheinlich dass ein Unheil eintreten wird (deshalb) ist es (aber) nichtsogleich (auch schon)wahrWie vieleDinge sind eingetreten obwohl sie nicht erwartetwur-den Wie viele Dinge die erwartet wurden sind nirgendwo erschienen Und wenn es docheintreten wird Was nuumltzt es dann seinem Schmerz zuvorzukommen Du wirst fruumlh genugSchmerz empfinden wenn es eingetreten ist Bis dahin stelle dir bessere Perspektiven vorAugen 11 Was du dadurch gewinnen wirst Zeit

Noch mehr fuumlhrt es von der stoischen Lehre weg wenn Seneca Lucilius fuumlr denFall dass er die Furcht nicht niederhalten kann sogar den Griff zu einem ent-gegengesetzten Laster empfiehlt (1312) si minus vitio vitium repelle spe metumtempera ndash raquowenn (es) weniger (gut moumlglich ist) dann draumlnge eine Fehlhaltungdurch eine andere zuruumlck und maumlszligige die Furcht durch die Hoffnunglaquo

Mit solchen Gedanken und offenkundigen Notloumlsungen mag sich der rsaquoschwa-chelsaquo Patient der noch keine rsaquostaumlrkere Medizinlsaquo vertraumlgt behelfensup1 Doch Senecahat durchdie staumlndige Praumlsenzder stoischenGegensicht dafuumlr gesorgt dass er be-reits ein schlechtes Gewissen dabei haben muss Und falls er es doch noch nichthaben sollte so sorgt der Briefabschluss dafuumlr der mit 1314 eingelaumlutet wird undwieder die Anfangsperspektive uumlbernimmt

1314 Pudet me daggeribidaggersic tecum loqui et tam lenibus te remediis focilare Alius dicat rsaquofortassenon venietlsaquo tu dic rsaquoquid porro si veniet videbimus uter vincat fortasse pro me venit et morsista vitam honestabitlsaquo

Ich schaumlme mich an dieser Stelle so mit dir zu reden und dich mit so sanften Heilmitteln zuhaumltschelnsup2 Ein anderer soll vonmir aus sagen rsaquovielleicht tritt es gar nicht einlsaquo Duaber sollstsagen rsaquoNaundWas ist wenn es kommen wird Wir werden sehen wer siegt vielleicht trittes zu meinen Gunsten ein und jener Tod wird mein Leben adelnlsaquo

1 Vgl zu diesem Gedanken die oben (S 114) angefuumlhrte Stelle aus const sap2 focilare steht eigentlich fuumlr rsaquodurch Waumlrme wieder ins Leben zuruumlckbringenlsaquo

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Seneca laumlsst ndash als peroratio in Kurzform ndash die Standard-exempla Sokrates und Ca-to folgen und schlieszligt einen Appell an damit ist die stoische Perspektive durchzwei rsaquoBruumlckenkoumlpfelsaquo am Anfang und Ende des eigentlichen Briefes gesichert undSeneca kann zum Epikur-dictum uumlbergehen

312 Angsttherapie im Wandel

Der 13 Brief zeigt keine Angstbehandlung aus einheitlicher philosophischer Per-spektive sondern arbeitet mit dem Hilfsmittel des philosophischen Perspektiven-wechsels Dabei wird die stoische Sicht zwar favorisiert die eigentliche Therapiearbeitet aber mit epikureisch gepraumlgten Handreichungen

Aus diesem Mischbefund heraus ergibt sich die Frage ob sich das Kraumlftever-haumlltnis zwischen Epikureismus und Stoizismus im Verlauf der Briefe zugunsteneiner der beidenSeitenverschiebt Amehesten laumlsst sichdas andemgerade schonangesprochenen Themenkomplex des Umganges mit der Angst uumlberpruumlfen weilSeneca diesen ausreichend oft und in breiter Streuung uumlber das Briefcorpus hin-wegwiederkehren laumlsst Eine Entwicklungmuumlsste sichhier besonders gut ablesenlassen

Der ganze Bereich ist inhaltlich und systematisch bereits durch die gruumlnd-liche Untersuchung Wachts erschlossen Leider laumlsst dieser jedoch die Fragenach der philosophischen Entwicklung weitgehend auszliger Betracht Zwar nimmtWacht vor allem im Verhaumlltnis zwischen Brief 13 und 24 eine deutliche Veraumln-derung der Argumentationsweise wahr (527) doch scheint er nicht zu erwaumlgendass dahinter eine kompositorische bzw therapeutische Absicht stecken koumlnntejedenfalls stellt er nirgendwo die Frage inwiefern zB fruumlhe Aumluszligerungen wirk-lich Senecas Meinung wiedergeben Daher kombiniert er in seiner DarstellungArgumentationen aus weit auseinanderliegenden Briefen ohne verschiedenersaquoTherapiestufenlsaquo zu unterscheiden Doch diese unterscheiden sich wie ein Ver-gleich zeigen soll erheblich voneinander

Im letztenBriefabschnitt des fuumlnftenBriefes (57ndash9) entwickelt Seneca imRah-men seiner Auslegung des Briefdictums (Hekaton Desines timere si sperare de-sieris) den Gedanken dass Hoffnung und Furcht wie Waumlchter und Gefangeneraneinander gekettet sind das sei auch ganz logisch weil beide Affekte besorgteProjektionen auf die Zukunft seien (utrumque pendentis animi est utrumque futuriexpectatione solliciti) So weit so gut ndash dieser Gedanke ist was die Zuordnung zuEpikur oder zur Stoa betrifft neutral Doch die Analyse die folgt ist epikureisch

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58 Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed cogitationes inlonginqua praemittimus itaque providentia maximum bonum condicionis humanae in ma-lum versa est

Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht auf die ge-genwaumlrtigenDinge konzentrieren sondern unsereUumlberlegungen aufweit Entferntes voraus-senden und so hat sich die Faumlhigkeit zur Voraussicht der groumlszligte Vorzug der menschlichenNatur zum Uumlblen hin verwandelt

Damit seien wir noch schlechter beraten als die Tiere die sich nur durch Gegen-waumlrtiges bedruumlcken lieszligen bei uns fuumlhle sichniemandnicht nur aufgrund gegen-waumlrtiger Uumlbel bedruumlckt (nemo tantum praesentibus miser est)

Mit diesen Worten endet der Brief es gibt ndash anders als in der 13 Epistel ndash keinstoisierendes kein zu einer houmlheren Sicht aufrufendes Finale und keine exem-pla die den Leser auffordern sich zu ermannen und den Gefahren mit Mut entge-genzutreten Und auch vor dem soeben angesprochenen Abschnitt sucht man diestoische Position vergebens Der Gedankengang ist voll und ganz epikureischundsteht in unausgeglichenem Gegensatz zur praemeditatio-Lehre einzig im unauf-faumlllig eingewobenen itaque providentia maximumbonumcondicionis humanae inmalum versa est koumlnnte man bei gutem Willen einen aufglimmenden Funken desin 46 eingefuumlhrten praemeditatio-Gedankens erkennen Doch Seneca huumltet sichauf diesen Widerspruch aufmerksam zu machen Nur fuumlr den der schon fuumlr ihnempfaumlnglich ist ist dieser Schimmer einer stoischen Sicht uumlberhaupt wahrnehm-bar

Wie geht Seneca diese Thematik in spaumlteren Briefen anNehmenwir zunaumlchst einweit entferntes Beispiel Im 98 Briefsup1 lesen wir Saumltze die den epikureisierendenPassagen des 5 aber auch denen des 13 Briefes durchaus aumlhnlich klingen zB(Beruumlhrungen zur epikureischen Lehre hervorgehoben)

986 Calamitosus est animus futuri anxius et ante miser ias misersup2 qui sol l ic i tus estut ea quibus delectatur ad extremum usque permaneant nullo enim tempore conquiescit etexpectat ione ventur i praesentia quibus frui poterat amittet

Schlimm dran ist ein Mensch der um die Zukunft besorgt und (schon) vor dem Ungluumlckungluumlcklich ist der besorgt ist dass das woran er sich freut bis an sein Lebensende erhal-ten bleibt er wird naumlmlich zu keiner Zeit zur Ruhe kommen und wird in der Erwartung derZukunft das Gegenwaumlrtige das er haumltte genieszligen koumlnnen verlieren

1 Die thematische Verwandtschaft der Briefe 5 13 14 24 und 98 ist in der Forschung oft gesehenworden zB Cancik Untersuchungen 72ndash75 (geht auf die ersten vier der genannten Briefe ein)Maurach Bau 73f und 97 mit Anm 78 Hachmann Leserfuumlhrung 130ndash1342 Vgl epist 134 illud tibi praecipio ne sis miser ante tempus

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Oder

987f 7 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est ma-lum suum antecedere 8 [] Plus dolet quam necesse est qui ante dolet quam ne-cesse est

7 Nichts ist erbaumlrmlicher und nichts unsinniger als sich schon vorher zu fuumlrchten Was istdas fuumlr ein Wahnsinn seinem Ungluumlck zuvorzukommen 8 [] Mehr als noumltig leidet werfruumlher als noumltig leidet

Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied Der 98 Brief zeichnet eine vollkom-men andere Situation Waumlhrend im 5 und vor allem im 13 Brief die Ratschlaumlgeeinem (vermuteten) Bedarf auf Seiten des rsaquoLuciliuslsaquo entsprechen er also selbstihr Adressat ist sind sie im 98 Brief Beiprodukt einer anderen Thematik naumlm-lich der allgemeinen Eroumlrterung von Fragen der stoischen Guumlterlehre Aus demEingangssatz raquoMan sollte nie einen fuumlr gluumlcklich halten der vom (aumluszligeren) Gluumlckabhaumlngig istlaquosup1 hatte Seneca die Frage entstehen lassen ob aumluszligere Guumlter dennnicht trotzdem angenehm und nuumltzlich sein koumlnnten (Eine solche auf der stoi-schen ἀδιάφορα-Lehre basierende Frage ist uumlbrigens das sei vorweggenommenvor dem 65 Brief undenkbar) Zwar bejaht Seneca diessup2 doch knuumlpft er das anein entsprechendes mentales Training sich dabei staumlndig der eigentlichen Guumlterbewusst zu sein

984 Sive alios observare volueris (liberius enim inter aliena iudicium est) sive te ipsum fa-vore seposito et senties hoc et confiteberis nihil ex his optabilibus et caris utile esse nisi tecontra levitatem casus rerumque casum sequentium instruxeris nisi illud frequenter et sinequerella inter singula damna dixeris raquodis aliter visum estlaquo [Verg Aen 2428]

Sei es dass du andere (das Urteil ist naumlmlich bei fremden Angelegenheiten unbefangener)oder dass du unter Beiseitelegen von Selbstgefaumllligkeit dich selbst daraufhin ansehenwillstDu wirst dies bemerken und anerkennen dass nichts von diesen wuumlnschenswerten undwertvollen Dingen nuumltzlich ist wenn du dich nicht gegen die Unbestaumlndigkeit des Zufallsund derjenigen Dinge die dem Zufallsgesetz folgen wappnest und wenn du nicht oft undohne Klagen bei einzelnen Ungluumlcksfaumlllen jenen Satz vorbringst rsaquoDie Goumltter wollten es an-derslsaquo

1 Numquam credideris felicem quemquam ex felicitate suspensum2 Uumlbrigens wieder unter reichlicher Beimischung epikureischer Stimulanzien (s oben S 39) andieser Stelle (981f) wird die Verknuumlpfung genuin stoischer Gedanken mit diesen Sekundaumlrmoti-ven besonders deutlich rsaquoQuid ergo non usui ac voluptati esse possuntlsaquoQuis negat sed itasi lla ex nobis pendent non ex illis nos Omnia quae fortuna intuetur ita fruct i fera ac iucundafiunt si qui habet illa se quoque habet nec in rerum suarum potestate est

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31 Strategien gegen die Angst | 133

Die Passage zeigt deutlich dass die Aufforderungen zur praemeditatio (und eben-so zur Schicksalsergebenheit sozusagen einermeditatio in ipso eventu) in diesemBrief weder einen konkreten Anlass haben noch einer konkreten Person geltenEs geht bei diesen Uumlberlegungen nicht um Luciliusrsquo Gemuumltslage sondern um dierichtige Bewertung der Guumlter

Seneca glaubt im 98 Brief auch nicht mehr dass Lucilius hier noch einenNachholebedarf hat Das wird schon daraus ersichtlich dass Seneca anders alsim 5 Brief Lucilius und sich nicht mehr einschlieszligt in die Menge derer die denFehler machen sich durch Vergangenes und Zukuumlnftiges bedruumlcken zu lassenIm 5 Brief hieszlig es noch

58ndash9 8 [] Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed co-gitationes in longinqua praemittimus[] 9 Ferae pericula quae vident fugiunt cum effu-gere securae sunt nos et venturo torquemur et praeterito

8 [] Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht aufdie gegenwaumlrtigen Dinge konzentrieren sondern unsere Uumlberlegungen auf weit Entferntesvoraussenden [] 9 Die wilden Tiere fliehen vor den Gefahren die sie (gerade) sehenwir aber lassen uns von Zukuumlnftigem und Vergangenem peinigen

Auch der 13 Brief formulierte einschlieszligend und die dort bereits erkennbareMissbilligung dieser Haltung war noch in die Form des freundlichen Hinweisesgegossen (zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere) Nun aber im 98 Brief di-stanziert Seneca sich Lucilius und damit den Leser von einer solchen Positionindem er diese (in der dritten Person) mit beiszligendem Hohn uumlberzieht Wenigmitfuumlhlend haumllt er nichts fuumlr raquoerbaumlrmlicher und duumlmmer als sich im Voraus zufuumlrchtenlaquo es sei geradezu ein Zeichen geistiger Umnachtung sich so zu ver-haltensup1 Fuumlr die die sich staumlndig vor der Zukunft fuumlrchten bringt Seneca keinVerstaumlndnis auf er schimpft sie (988) raquoKummerleider die sich selbst im Wegestehenlaquo (satagii ac sibi molestos) und raquoLeute ohne Selbstkontrollelaquo (intemperan-tes) Kurz Was im 13 Brief noch ein unverbindliches Angebot zum Nachdenkenwar das ist hier zur unverhandelbaren Forderung geworden die Angst vor derZukunft ist nicht mehr salonfaumlhig

Konsequenterweise wird das was im 13 Brief lediglich als rsaquohoumlherelsaquo Hand-lungsoption charakterisiert wurde (oben S 129) im 98 Brief als rsaquoalternativloslsaquofuumlr einen guten Charakter dargestellt und dichotomisch vom Unvermoumlgen desschlechten Charakters unterschieden

1 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est malum suum antece-dere (987)

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134 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

982ndash3 2 Valentior enim omni fortuna animus est et in utramque partem ipse res suas du-cit beataeque ac miserae vitae sibi causa est 3 Malus omnia in malum vertit etiam quaecum specie optimi venerant rectus atque integer corrigit prava fortunae et dura atque asperaferendi scientia mollit eqs

2 Der Geist ist naumlmlich staumlrker als alles Schicksal er selbst lenkt seine Geschicke in dieeine oder die andere Richtung und ist fuumlr sich selbst die Ursache eines gluumlcklichen oder un-gluumlcklichen Lebens 3 Der Schlechte verwandelt alles in Schlechtes selbst das was mitdem Schein des Bestmoumlglichen eingetreten war der Aufrechte und Unbeirrte (demgegen-uumlber) berichtigt die Maumlngel des Schicksals und macht durch seine Faumlhigkeit zum Ertragendas Harte und Raue weich usw

Aber noch in einemanderenPunkt tritt der bis zum im98 Brief erreichteTherapie-fortschritt deutlich hervor Waumlhrend im 13 Brief der Gegenpol zur rsaquostarkenlsaquo stoi-schen Sicht nur in der rsaquoschwachenlsaquo epikureischen bestand so warnt der 98 Briefnicht minder vor dem entgegengesetzten Extrem naumlmlich (in einseitiger Ausle-gung der stoischen Guumlterlehre) aumluszligere Guumlter gar nicht mehr zu achten Vielmehrfordert Seneca ausdruumlcklich dazu auf gefaumlhrlichen Situationen aus dem Wegezu gehen Direkt vor der oben erwaumlhnten Verurteilung des Sich-vorher-Fuumlrchtensheiszligt es

987 Nec ideo praecipio tibi neglegentiam Tu vero metuenda decl ina quidquid consilioprospici potest prospice quodcumque laesurum est multo ante quam accidat speculare etaverte In hoc ipsum tibi plurimum conferet fiducia et ad tolerandum omne obfirmata mensPotest fortunam cavere qui potest ferre certe in tranquillo non tumultuatur

Doch ich schreibe dir deshalbnichtNachlaumlssigkeit [ imUmgang mit den ἀδιάφοραndash (Anm UD)

] vor Du sollst durchaus den fuumlrchtenswerten Ereignissen aus dem Wege gehen was auchimmer rational vorausgesehen werden kann das sieh voraus was auch immer verletzenkann das fasse weit fruumlher als es passiert ins Auge und wende es ab Gerade dafuumlr wird dirdein Selbstvertrauen und dein alles zu ertragen gefestigter Sinn sehr zugute kommen Derkann dem Schicksal ausweichen der es tragen kann zumindest gibt es bei einem ruhigenMenschen keinen Aufruhr

Welches Fazit koumlnnen wir hieraus ziehen Seneca empfiehlt zwar sowohl in fruuml-heren Briefen als auch im 98 Brief sich erstens das Leben nicht durch verfruumlhteAngst selbst schwer zu machen und zweitens gefaumlhrlichen Situationen ndash wennmoumlglich ndash aus dem Weg zu gehen Doch erstens treten nur in den fruumlheren Brie-fen dazu Ratschlaumlge die mit der stoischen Lehre in keinster Weise vereinbar sind(zB epist 1310 interim tibi meliora promitte 1312 spe metum tempera)sup1 Zweitens

1 Verschweigen dieses Mittels im 98 Brief richtig gesehen bei Hachmann Leserfuumlhrung 131raquoDie scheinbare Hilfe durch Verdraumlngung [] wird in Brief 98 gar nicht erwaumlhntlaquo Hachmannscheint aber nicht zu bemerken dass der Grund fuumlr dieseAuslassung eben in derUnvereinbarkeit

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31 Strategien gegen die Angst | 135

laumlsst Seneca inden fruumlhenBriefendieseArt vonRatschlaumlgenausderRuumlcksicht aufdie Schwaumlche des Lucilius entstehensup1 oder formuliert sie nach Art einer epikurei-schen Lust-Schmerz-Bilanzsup2 Demgegenuumlber werden die Ratschlaumlge im 98 Briefallein aus der stoischen Guumlterlehre abgeleitet Zwar verwendet Seneca noch im-mer epikureische Argumentationsmuster (989 laumlsst er zudem Metrodor als Kron-zeuge auftreten) jedoch tut er das nicht mehr in mit der stoischen Lehre inkom-patibler sondern ausschlieszliglich in komplementaumlrer und streng untergeordneterWeise Epikur ist kein Konkurrent mehr kein Gegenmodell Er ist zum Helfer her-abgesunken der die Luumlcken ausfuumlllen darf die ihm die stoische Lehre gelassenhat

Der zuletzt zitierte Gedanke (Potest fortunam cavere qui potest ferre) illustriertdieses Selbstverstaumlndnis in hervorragender Weise Wenn Seneca die Erfuumlllungder epikureischen Forderung dem Schicksal auszuweichen (fortunam cavere) aneinen Charakter knuumlpft der dem Schicksal auch standhalten kann (qui potest fer-re) ndash der also die stoische Selbstbeherrschung verinnerlicht hat ndash dann sagt erdamit rsaquoKein Epikureer kann die epikureischen Forderungen so gut erfuumlllen wiewir Stoikerlsaquosup3

Diese Einverleibung Epikurs als eines im praktischen Bereich nuumltzlichenrsaquoKnechtslsaquo fuumlr die Erziehung zur stoischen Lebensweise ist wie ich spaumlter nochdeutlicher zeigen moumlchte (Kapitel 431) ein Hauptcharakteristikum fuumlr Senecas

mit der stoischen Lehre liegt (130 raquoAndererseits wird ein Argument das in den ersten Briefenbenutzt in ep 98 aber nicht verwendet wurde wahrscheinl ich mit Absicht ausgelassenworden seinlaquo [meine Hervorhebung])1 Vgl zB 135 Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes2 zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere Vgl auch 241 Quid enim necesse est [] praesenstempus futuri metu perdere3 Auch an dieser Stelle bringt Hachmann Leserfuumlhrung 132 die Sache zu wenig auf den PunktraquoHier geht der Brief 98 weit uumlber die Anfangsbriefe hinaus wenn er einen ursaumlchlichen Zusam-menhang sieht wo die Anfangsbriefe lediglich ein Nebeneinander sahen Nur der seelisch Star-ke welcher der Gefahr klar ins Auge sehen kann besitzt auch die notwendige Gelassenheit ver-nuumlnftige Gegenmaszlignahmen zu ergreifenlaquo Hachmann sieht im 98 Brief (bis auf die Auslassungder Verdraumlngungstaktik) offenbar wieder nur einen quantitativen Unterschied zu den fruumlherenraquoEinVergleich vonep 986mit ep 138ndash11 zeigt dass indemfruumlhenBrief die zukritisierendeFehl-haltung imVerhaumlltnis zu den echten Versuchender Heilung breiter dargestellt wurde Dagegenuumlberwiegt in ep 98 die Darstellung der Bewaumlltigunglaquo (ebd (Hervorhebung UD) ) MaurachBau 73f erkennt richtig dass im 98 Brief der systematische Zusammenhang erkennbar ist denSeneca in denBriefen 13 und 14 nicht erwaumlhnt der aber der dortigen Gedankenfuumlhrung zugrundeliegt Maurach geht es dabei darum die verdeckten inhaltlichen Beziehungen aufzudecken diedie Briefe 12ndash15 enger zusammenschlieszligen (eine wichtige Funktion kommt dabei der im 14 Briefangesprochenen οἰϰείωσις-Lehre zu) Die Frage nach Epikur- und Stoa-Kompatibilitaumlt der Argu-mente und damit nach Therapiestufen steht auszligerhalb seines Blickwinkels auf den Text

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136 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Briefe Nur hieraus und nicht aus persoumlnlichen Faktoren (vermeintlicher Ek-lektizismus Senecas Beeinflussung durch Luciliusrsquo Epikureismus) erklaumlrt sicheinerseits die Affinitaumlt zu Epikur (wo er zu brauchen ist bedient sich Seneca sei-ner gern) andererseits die scharfe Abgrenzung von ihm (Epikurs Prinzipien sindund bleiben aus Senecas Sicht untragbar)

Um herauszufinden auf welchem Therapieniveau Seneca operiert genuumlgt esalsonicht dieHerkunft bestimmterArgumentationsmuster ausder epikureischenSchule aufzuzeigen Diese verwendet er immersup1 so geniert sich Seneca zB auchim 98 Brief nicht unmittelbar vor einer stoischen exempla-Serie als Trostmittelfuumlr etwaige Verluste die epikureische Ruumlckbesinnung auf die Vergangenheit zuempfehlen (9811) Habere eripitur habuisse numquam Die entscheidende Frageist vielmehr inwiefern Seneca dabei gegen das stoische Wertesystem verstoumlszligt

Ein aufschlussreicher Schritt auf diesemWege ist der 24 Brief Vonunserembishe-rigen Befund aus mag ein kurzer Blick auf ihn genuumlgensup2 Der 13 Brief hatte durchdie Gegenuumlberstellung der rsaquohoumlherenlsaquosup3 stoischen zur rsaquoniedrigerenlsaquo epikureischenSicht zum ersten Mal auf die Abloumlsung der epikureisierenden Ratschlagstopik des5 Briefes hingearbeitet Auch der 14 Brief wirkte zwar ndash mit ersten Anklaumlngen andie Oikeiosislehre ndash auf eine Relativierung der Angstausloumlser hin blieb aber inseinen Methoden unentschieden So klingt beispielsweise gegenuumlber der helden-haften Aufforderung den Koumlrper notfalls auch ins Feuer zu schicken wenn es dieVernunft die Wuumlrde oder die Treue fordere (142) der unmittelbar folgende Satzdoch wieder sehr nach dem epikureischen Ausweichgedanken

143 Nihilominus quantum possumus evitemus incommoda quoque non tantum pericula etin tutum nos reducamus excogitantes subinde quibus possint timenda depelli

Nichtsdestotrotz wollen wir auch Unannehmlichkeiten nicht nur Gefahren nach Kraumlftenaus dem Wege gehen und uns auf sicheres Gebiet zuruumlckziehen indem wir uns immer wie-der ausdenken wodurch angsterregende Situationen entschaumlrft werden koumlnnen

Den endguumlltigen Bruch mit einer von stoischen Prinzipien abgeloumlsten epikurei-schen Behandlung vollzieht erst der 24 Brief indem er erstmals auch bei derFurchtbekaumlmpfung der praemeditatio-Technik den eindeutigen Vorzug vor derepikureischen Verdraumlngungsloumlsung gibt Ein Meisterstuumlck ist dabei wie Senecazum Schein die epikureische Loumlsung vorbringt und zunaumlchst auf sie eingeht so

1 Siehe dazu oben S 392 Als weitere Wegmarken koumlnnte man insbesondere 316 (vgl unten S 203) anfuumlhren3 Zu diesen Kategorien und ihrer Etablierung im philosophischen Denken Ciceros Goumlrler Un-tersuchungen zu Ciceros Philosophie vgl oben Anm 1 auf S 127

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31 Strategien gegen die Angst | 137

dass jeder von seinen Lesern der noch mit Epikurs Lehre liebaumlugelt sich auf demrichtigen Weg waumlhnen darf wie er dann aber diese Ratschlaumlge mit einem Wischzur Seite legt und zwar mit genau dem Argument das auch im 13 Brief schon alsKritik an Epikur anklang Das Verdraumlngen einer schlimmen Zukunft kann nichtjede Sorge nehmen (weil es durchaus Situationen gibt in denen das Eintreten desUumlbels aumluszligerst wahrscheinlich ist)sup1

241ndash2 1 Sollicitum esse te scribis de iudicicirc eventu quod tibi furor inimici denuntiat existi-masme suasurumutmeliora tibi ipse proponas et adquiescas spei blandae Quid enimnecesseest mala accersere satis cito patienda cum venerint praesumere ac praesens tempus futurimetu perdere Est sine dubio stultum quia quandoque sis futurus miser esse iam miserum2 Sed ego alia te ad securitatem via ducam si vis omnem sollicitudinem exuere quidquidvereris ne eveniat eventurum utique propone et quodcumque est illud malum tecum ipse me-tire ac timorem tuum taxa

1 Du schreibst du seist beunruhigt in Betreff des Ausgangs eines Prozesses den dir die Ra-serei deines Widersachers ankuumlndigt du glaubst ich werde dir nun raten dass du dir selbstBesseres vor Augen stellst und bei einer verlockenden Hoffnung zur Ruhe kommst Wozuist es naumlmlich notwendig Ungluumlckssituationen herbeizurufen das vorauszunehmen waswenn es gekommen ist immer noch fruumlh genughinzunehmen ist und die gegenwaumlrtige Zeitdurch die Angst vor der zukuumlnftigen schon zu verderben 2 Es ist ohne Zweifel unsinnigjetzt schon ungluumlcklich zu sein weil du irgendwann einmal ungluumlcklich sein wirst Aber ichwill dich auf einem anderen Weg zur Sicherheit fuumlhren Wenndu alleUnruhe ablegen willstdann stelle dir alles dessen Eintreten du befuumlrchtest erst recht vor Augen und miss wasauch immer es fuumlr ein Ungluumlck ist bei dir selbst nach und schaumltze das Ausmaszligdeiner Furchtein

Es kann kein Zweifel daran bestehen dass dieser Beginn des 24 Briefes als Ge-genstuumlck und Fortentwicklung der Therapie des 13 Briefes gelten musssup2

Unverstaumlndlich ist mir in diesem Punkt die Deutung Canciks Untersuchungen 73f Sie ver-sucht ndash gegen Misch Autobiographie 433 ndash zu beweisen dass weder zwischen dem 13 und dem24 Brief noch zwischen dem5 unddem24 Brief eine Entwicklung des rsaquoLuciliuslsaquo stattfindet raquoVoneinem Ansatz zur Darstellung einer seelischen Entwicklung in Mischs Sinne kann also hier [ dhim 13 Brief ndash (AnmUD) ] nicht die Rede sein Genausowenig bezeichnet ep 24 eine gegenuumlber ep 13fortgeschrittene Stufe in der Entwicklung des Luciliuslaquo (74) Sie folgert das zum einen (a) dar-aus dass auch im 13 Brief beide Sichtweisen vertreten werden zum andern (b) weil sie meintdass auch 57 schon raquodie stoische Vorstellung von der Uumlberwindung der Leidenschaften [] rein

1 Siehe oben S 1282 RichtigMaurach Bau 97 sowieHachmann Leserfuumlhrung 182ndash190 (der zu Recht konstatiertdass die Notmethode der Angstbekaumlmpfung durch einen Gegenaffekt also das vitio vitium repel-lere von 1312 (s oben S 129) von epist 24 an nicht mehr zum Repertoire Senecas gehoumlrt) fernerWacht Angst in Senecas Briefen 527 raquoWas also zunaumlchst grundsaumltzlich vereinbar und als mil-dere Form der Angstbewaumlltigung akzeptiert schien muss hier einer Methode weichen die zumsicheren Erfolg zu fuumlhren versprichtlaquo

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138 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und eindeutiglaquo zum Ausdruck bringe (ebd) Doch wir haben gesehen dass (a) im 13 Brief beideSichtweisen noch miteinander wetteifernd auftreten und die stoische Loumlsung als die edlere dieepikureische aber als die derzeit wirkungsvollere dargestellt wird Die edlere Loumlsung legt sich da-bei wie ein Ring um die primitivere Canciks Deutung des 13 Briefes ist demnach verfehlt wennsie (ebd) behauptet raquoEine Interpretation von ep 13 im Ganzen zeigt dass ihr Gedankengangauf Steigerung angelegt istlaquo Denn der Brief enthaumllt nicht eine kontinuierliche Steigerung derphilosophischen Argumentationshoumlhe sondern beginnt in stoischer Houmlhe wird dann von 133bis 1313 durch eine epikureische Phase abgeloumlst und kehrt dann mit 1314 und den angedeutetenexempla wieder zum Ausgangsniveau zuruumlck Ganz anders ist das im 24 Brief Die epikureischeVerdraumlngungsloumlsung wird nur eingangs erwaumlhnt und zwar nur dazu um desto wirkungsvollerbeiseite gelegt werden zu koumlnnen Sie spielt im uumlbrigenBrief keine Rollemehr und ist vonAnfangan keine ernsthafte Alternative Die praemeditatio-Methode beherrscht von Beginn das Feld underhaumllt spaumltestens durch die lange exempla-Serie ab 243 ein erdruumlckendes Uumlbergewicht Einenfast schon verzweifelt zu nennenden opportunistischen Ratschlag wie 1313 crede quod mavis ndashraquoGlaube was du lieber willst (sc wenn du nur dadurch zur Ruhe kommst)laquo wird man nicht im24 und auch in keinem spaumlteren Brief mehr finden

Was (b) den 5 Brief angeht so muss man klar feststellen dass zwar der Zusammenhangzwischen Furcht und Hoffnung von dem Seneca dort spricht als Vorbereitung fuumlr eine spaumltereἀπάϑεια-Forderung gesehen werden kann Doch in der Hinsicht die wir als Indiz fuumlr eine Ent-wicklung des Lucilius angesehen haben naumlmlich in der Frage ob man zukuumlnftigen Uumlbeln ge-genuumlber eher die epikureische rsaquoKopf-in-den-Sand-Taktiklsaquo oder die kyrenaisch-stoische praemedi-tatio anwenden soll steht der 5 Brief wie wir gesehen habensup1 ganz eindeutig auf epikureischerSeitesup2 Abgesehen davon ist der Zusammenhang zur stoischen ἀπάϑεια auch nur fuumlr ein philo-sophisch bereits geuumlbtes Auge zu erkennen der Ratschlag erst ein Aufhoumlren des Hoffens werdeauch zum Ende des Fuumlrchtens fuumlhren laumlsst sich auch als gegen ein jeweiliges Zuviel im Einzel-fall gesprochen denken von einem raquoreinen und eindeutigenlaquo Propagieren der Uumlberwindung derLeidenschaften kann jedenfalls keine Rede sein

Doch obwohl er sich in der Entscheidung fuumlr die praemeditatio jetzt konse-quent zeigt ndash oder eben deshalb ndash sorgt Seneca umgehend dafuumlr dass die Bruumlckezum Epikureismus nicht gaumlnzlich abgerissen wird Er wolle sagt er Lucilius zursecuritas fuumlhren im Gegensatz zu Begriffen wie etwa constantia oder gar invulne-rabilitaswaumlhlt er damit einen Ausdruck der das epikureische Ideal der Sorglosig-keit (se+cura) uumlberdeutlich anklingen laumlsstsup3 Und die von Lucilius befuumlrchteten

1 S oben S 1312 Zu Recht skeptisch bereits Maurach Bau 97 Anm 78 ndash Hachmanns Widerlegungsversuch(Leserfuumlhrung 189) gegen diese Deutung von 57 durch Cancik speist sich allein aus dem Um-stand dass sich der 5 Brief noch im raquoEinleitungsteil des Werkeslaquo befinde Das allein halte ich fuumlrwenig schlagkraumlftig entscheidend ist die Stellung zur praemeditatio da diese wirklich ein Un-terscheidungskriterium zwischen Epikureismus und Stoa bietet vgl Abel Bauformen 38 undMaurach Bau 97 mit Anm 803 Das Wort kommt aus metrischen Gruumlnden bei Lukrez nicht vor inhaltlich ist es gleichwohlfast omnipraumlsent vgl zB im Prooumlm des zweiten Buches (216ndash19) nonne videre | nihil aliud sibi

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31 Strategien gegen die Angst | 139

Ereignisse bezeichnet Seneca so wie die breite Bevoumllkerung auch naumlmlich mitmalasup1

Doch es kommt noch besser Denn man duumlrfte nach der Ankuumlndigung diesesrsaquoanderen Weges zur Sorglosigkeitlsaquo erwarten dass Seneca jetzt wenn er jetzt mitden Worten intelleges profecto fortfaumlhrt ganz in stoischem Fahrwasser etwa sa-gen wird raquoDu wirst erkennen dass all diese Bedrohungen und Gefahren nichtigund nicht schwer zu ertragen sind und dass es allein auf unsere innere Haltungankommt Denn das einzige echte Uumlbel ist es sich verwerflich zu verhalten daseinzige Uumlbel ist die turpitudo Alle anderen Ereignisse vor denen du Angst hastsind keine wirklichen mala Das alles sind ἀδιάφορα also indifferente ethischambivalente Dingelaquo Stattdessen sagt er

242 intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis

du wirst ganz sicher erkennen dass es nicht groszlig oder aber nicht langdauernd ist wasdu fuumlrchtest

Das ist ndash worauf ua auch Wachtsup2 zu Recht hinweist ndash nichts anderes als Epikurswohlbekannte Formel gegen die Angst vor dem Schmerzsup3 die Cicero (fin 222) mitfast denselben Worten wie spaumlter Seneca zusammenfasst Si gravis [sc dolor] bre-vis si longus levis⁴

Die geschickte Wendung in der Formulierung laumlsst sich sicherlich wie ge-sagt als raquoRuumlcksicht auf den epikureischen Freundlaquo verstehen⁵ Doch sie ist mehrals das Die epikureische Schmerzformel ist ein nicht nur akutes sondern vonvornherein auch vorausschauendes Trostmittel Sie hat die Funktion die Angstvor einer schmerzhaften Zukunft zu verringern und enthaumllt damit schon von sichaus eine praumlmeditative Komponente Diesen fuumlr den Uumlbergang zur stoischen Leh-re guumlnstigen Umstand hat Seneca geschickt ausgenutzt Die Schmerzformel istein ideales Bindeglied um dem praemeditatio-Gedanken auch von epikureischerWarte aus Ruumlckhalt zu verschaffen

naturam latrare nisi ut qui | corpore seiunctus dolor absit mente fruatur | iucundo sensu curasemota metuque1 Anstelle einer stoisierenden Umschreibung vgl unten Kapitel 512 Angst in Senecas Briefen 528f3 Epic KD 4 GV 44 Vgl Sen epist 2414 Levis es si ferre possum brevis es si ferre non possum sowie ferner epist3014 ( nullum enim dolorem longum esse qui magnus est)5 Wacht Angst in Senecas Briefen 528 freilich darf dabei ndash wie oben (Kapitel 132 ab S 35)ausgefuumlhrt ndash unter rsaquoFreundlsaquo nicht die reale Person Lucilius verstanden werden sondern es gehtum die Integration des epikureisch orientierten Leserpublikums

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140 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Auch ein Stoiker wie Mark Aurel weiszlig uumlbrigens um den praktischen Wert die-ser Formel Und fuumlr die Bestimmung von Senecas Taktik ist es hochinteressant zusehen wie sich die Einbettung dieses Gedankens bei dem Philosophenkaiser imUnterschied zu Seneca darstellt Denn zum einen laumlsst Mark Aurel die stoischeSicht eben nicht fort sondern setzt sie in guter Ordnung an den Anfang

MarkAurel 764 ᾿Επὶ μὲνπαντὸς πόνου πρόχειρον ἔστω ὅτι οὐϰ αἰσχρὸνοὐδὲ τὴνδιάνοιαντὴν ϰυβερνῶσαν χείρω ποιεῖ οὔτε γὰρ ϰαϑὸ λογιϰή ἐστιν οὔτε ϰαϑὸ ϰοινωνιϰὴ διαφϑείρειαὐτήνBei jedem Ungemach sei Dir dieses Argument griffbereit dass es nicht moralisch verwerf-lich ist und die leitende Vernunft nicht schwaumlcht Denn weder insoweit sie vernuumlnftig nochinsoweit sie gemeinschaftsbezogen ist verdirbt es sie

Zum anderen kennzeichnet er den nun folgenden epikureischen Gedanken expli-zit als solchen und schraumlnkt ihn insoweit ein als er sagt dass diese Maxime nichtimmer sondern nur in den meisten Faumlllen anwendbar sei

Mark Aurel 764 Fortssup1 ἐπὶ μέντοι τῶν πλείστων πόνων ϰαὶ τὸ τοῦ ᾿Επιϰούρου σοι βοη-ϑείτω ὅτι οὔτε ἀφόρητον οὔτε αἰώνιον ἐὰν τῶν ὅρων μνημονεύῃς ϰαὶ μὴ προσδοξάζῃςBei den meisten Formen von Ungemach moumlge dir indes schon das Wort Epikurs helfen dasses weder unertraumlglich noch unendlich ist sofern du dich an die Fakten haumlltst und nichtschon im Vorhinein schlimme Erwartungen hegst

Insgesamt koumlnnenwir in Senecas Briefen bezogen auf die Frage der Angsttherapiefolgende Entwicklung feststellen Angefangen von epist 5 (= epikureische Thera-peutik) gibt es eine Entwicklung uumlber epist 13 und 14 (Mischform) epist 24 (vor-wiegend stoische Argumentation mit epikureischer Motivation jedoch vermischtmit epikureischer avocatio) hin zu epist 98 in der eine im Kern rein stoische Ar-gumentation vorliegt die sich jedoch nach wie vor epikureischer Hilfsargumentebedient

Senecas Taktik besteht demnach nicht darin die gegnerische rsaquoFestunglsaquo mitseinen Argumenten rsaquoim Handstreichlsaquo oder uumlberhaupt in der Schlacht zu nehmenVielmehr legt er es ndash um im Bild zu bleiben ndash darauf an sie nach und nach davonzu uumlberzeugen freiwillig ihre Tore zu oumlffnen Er will eine Transformation des Le-sers aber er will sie nicht auf dem Weg der Konfrontation sondern lieber auf demPfad schleichender Integration

Auch der 105 Brief fuumlgt sich in diese Ordnung ein Zwar legt Seneca seinem Freund hiernahezudie gleichenRatschlaumlgevor die er auch schon im13 14 und 24Brief gegebenhatteDoches geht uumlberhaupt nicht um Angstvermeidung sondern um aumluszligere Sicherheit Lucilius hat ndash so

1 = Epicur fr 447 Us

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 141

die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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142 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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144 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 145

psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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146 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 7: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

126 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Unvermeidliches eintritt oder bevorsteht dann muss er sich mit der Methode der avocatio undrevocatio also der Ablenkung vom gegenwaumlrtigen bzw zukuumlnftigen Zustand und der Ruumlckbesin-nung auf erfreulichere Zeiten behelfensup1

Schon der Vorschlag ne sis miser ante tempus (134) ist genuin epikureisch(avocatio) und ist der Lehre der Stoiker die wie die Kyrenaiker die Technik derpraemeditatio favorisiert haben diametral entgegengesetzt Dabei hatte Sene-ca die praemeditatio-Lehre doch selbst im vierten Brief ausdruumlcklich empfohlen(s oben S 42) Hier im 13 Brief liegt er jedoch auf epikureischer Linie wenn erkritisiert aut augemus dolorem aut praecipimus aut fingimus (135)sup2

AuchdieKritikaut augemusdolorem ist genaugenommennicht Stoa-konformsie passt nicht zum Postulat der Unempfindlichkeit (ἀπάϑεια) des stoischen Wei-sen gegenuumlber den Versuchungen des Schicksals Der Stoiker versucht nicht dieBeeinflussung durch den Schmerz zu verringern sondern er strebt danach sieganz abzuschaffen Anstelle dieser harten Forderung verbuumlndet sich Seneca hierdurch seine Formulierung noch mit der dem Volksempfinden naumlher stehendenperipatetischen Guumlterlehre

Doch zunaumlchst moumlchte Seneca Lucilius nur davon uumlberzeugen dass es sinn-voll ist seineAffekte zu drosseln Das ist derwichtigste Schritt in die richtige Rich-tung (Affektminderung) Ob das Ziel dabei nun in weiter Ferne (zB Epikur) odergar hinten am Horizont (Stoa) liegt ist erst einmal zweitrangig Dieses ganze Pro-blemfeld kann auf spaumlter vertagt werden Wir koumlnnen jedoch festhalten Hier inden Briefen gibt es bei Seneca einen Vorrang der Taktik vor der Systematik

Weder moumlchte Seneca allen Ernstes die praemeditatio- oder die ἀπάϑεια-Lehre grundsaumltzlich in Frage stellen Schon aufgrund des kaumlmpferischen Briefbe-ginns ist das unwahrscheinlich und gegen Ende des Briefes wird er wieder ganzoffen empfehlen der Zukunft ins Auge zu blicken (1314 Alius dicat rsaquofortasse nonvenietlsaquo tu dic rsaquoquid porro si veniet Videbimus uter vincat lsaquo)sup3 Mit dem epiku-reischen Schwenk in der Briefmitte duumlrfte Seneca eher auf folgende Alternative

1 Cic Tusc 333 s oben S 802 Seneca verknuumlpft die selben beiden Kritikpunkte (1 ein erwartetes bevorstehendes Uumlbel mussnicht unbedingt eintreten 2 auchwenn es eintritt ist es nicht sinnvoll den Schmerz durch seineVorerwartung schon in die Gegenwart hinein zu verlaumlngern) die auch Epikur Ciceros Bericht zu-folge verbundenhaben soll Cic Tusc 332 ( qui censet necesse esse omnis in aegritudine essequi se in malis esse arbitrentur sive illa ante provisa et expectata sint sive inveteraverint Namneve vetustate minui mala nec fieri praemeditata leviora stultamque etiam esse meditationemfuturi mali aut fortasse ne futuri quidem satis esse odiosum malum omne cum venisset qui au-tem semper cogitavisset accidere posse aliquid adversi ei fieri illud sempiternum malum si verone futurum quidem sit frustra suscipi miseriam voluntariam ita semper angi aut accipiendo autcogitando malo3 S dazu unten S 129

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31 Strategien gegen die Angst | 127

hinauswollen rsaquoWenn du stark genug bist dann schaue dem Schicksal ins Augeund uumlberwinde es wenn nicht ndash dann schaue eben nicht voraus damit du dirimmerhin nicht die Lebenszeit bis dahin verdirbstlsaquo

Der Kontrast des Umschwungs (oder besser Abschwungs) von derHoumlhe des Brief-beginns zu den jetzigen Niederungen popularer Alltagsratschlaumlge ist gewollt Erbietet Seneca die Moumlglichkeit die stoische Weltsicht in ein guumlnstiges Licht zuruumlcken sie in einer starken Position zu zeigen und trotzdem den Vorbehalten undauch Wuumlnschen der Leserschaft nach praktischen Ratschlaumlgen Raum zu gebenZugleich kann er auf diese Weise einem sehr breiten Leserspektrum gerecht wer-den Die Kontrastierung beider Sichten gibt ihm zudem die Moumlglichkeit auch in-nerhalb der Ratschlaumlge immer wieder in Richtung der stoischen Sichtweise aufden Leser einzuwirken

135 Primum illud quia res in controversia est et litem contestatam habemus in praesentiadifferatur Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes scio alios inter flagella riderealios gemere sub colapho Postea videbimus utrum ista suis viribus valeant an inbecillitatenostra

Aber jener erste Punkt soll weil die Angelegenheit (unter uns) umstritten ist und wir denProzess eingereicht haben jetzt erst einmal vertagt werden Das was ich unbedeutend nen-nen werde wirst du nachdruumlcklich fuumlr aumluszligerst gewichtig erklaumlren ich weiszlig dass die einenunter Geiszligelhieben lachen die anderen (schon) bei einer Ohrfeige jammern Spaumlter werdenwir sehen ob diese Dinge aufgrund ihrer eigenen Beschaffenheit Bedeutung fuumlr uns habenoder nur durch unsere Schwaumlche

Wie der Einschub si tibi videtur (133) dient dieser Abschnitt dazu die rsaquohoumlherelsaquoSicht der Stoa als Gegenfolie praumlsent zu haltensup1 Geschickt bezeichnet Seneca denGegensatz zwischender stoischen Sicht undder des Lucilius nicht als einen quali-tativen zwischen Unempfindlichkeit (ἀπάϑεια) und Empfindsamkeit sondern als

1 Diese Technik ist wie Goumlrler Untersuchungen zu Ciceros Philosophie gezeigt hat omniprauml-sent bei Cicero und uumlberdeutlich in seinen Tuskulanen in denen er immer wieder versucht ne-ben der rsaquoniedrigenlsaquo sicheren Position die rsaquohoumlherelsaquo aber schwerer beweisbare und nicht uumlberZweifel erhabene Ebene zur Geltung zu bringen vgl ebd zB 206 raquoWenn Cicero im erstenTuskulanenbuch [] zunaumlchst Beweise fuumlr die Unsterblichkeit der Seele gibt dann aber diesenStandpunkt aufgibt und nur noch daran festhaumllt dass der Tod auch bei voumllligem Untergang derSeele kein Uumlbel ist so liegen beide Argumentationen nicht auf derselben Ebenelaquo oder (25) raquoWieder Glaube an die Unsterblichkeit der Seele immer wieder von Zweifeln erschuumlttert wird ist esschwer die stoische Uumlberzeugung (nihil bonum nisi virtus) allen Versuchungen zum Trotz auf-rechtzuerhalten Der stoische Standpunkt ist zwar erhabener (im gleichen Sinne wie der Glaubean die Unsterblichkeit) aber der theophrastische steht dem Boden der beweisbaren Tatsachennaumlherlaquo

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128 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

einen quantitativen zwischen Mehr- oder Weniger-Leidensup1 zugleich waumlhlt er einBeispiel bei demdasWeniger-Leidenals erstrebenswert angesehenwerdenmussMit inbecillitate nostra bereitet Seneca den Leser (ohne dass er allzutief in diersaquograue Theorielsaquo eintauchen muss) darauf vor dass die Ursache fuumlr die Relativitaumltder Bewertung von Uumlbeln vor allem in unserer eigenen Sicht auf sie zu sehen ist

Auch in 7ndash8 koumlnnen wir beobachten wie Seneca geschickt beide philosophi-sche Richtungen einander gegenuumlberstellt wobei wiederum die Stoa in der houmlhe-ren Position erscheint Auf die fiktive Frage des Lucilius wie er wahre von einge-bildeten Gefahren unterscheiden koumlnne (rsaquoQuomodolsaquo inquis rsaquointellegam vana sintan vera quibus angorlsaquo) antwortet Seneca zunaumlchst ganz im Sinne Epikurs

137 Accipe huius rei regulam aut praesentibus torquemur aut futuris aut utrisque De prae-sentibus facile iudicium est si corpus tuum liberum et sanum est nec ullus ex iniuria dolor estvidebimus quid futurum sit hodie nihil negotii habetsup2

Hier hast du ein Richtmaszlig fuumlr diese Situation Wir werden entweder durch Gegenwaumlrtigesoder durch Zukuumlnftiges oder durch beides gequaumllt In Bezug auf Gegenwaumlrtiges ist die Ent-scheidung leicht Wenn dein Koumlrper frei und gesund ist und es keinen Schmerz aufgrundeines (erlittenen oder getanen) Unrechts gibt werden wir sehen was die Zukunft bringtHeute (jedenfalls) hat er kein Problemsup2

Diese epikureische Loumlsung hat nochnie recht zu uumlberzeugen vermocht und Sene-ca nutzt dieUnzufriedenheit des Interlokutors (bzw des Lucilius) umdie stoischeLehre von der Zustimmung zum Affektimpuls (συγϰατάϑεσις assensio) vorzube-reiten

138 rsaquoAt enim futurum estlsaquo ndash Primum dispice an certa argumenta sint venturi mali plerum-que enim suspicionibus laboramus et illudit nobis illa quae conficere bellum solet fama multoautem magis singulos conficit Ita est mi Lucili c i to accedimus opinioni non coargui-mus illa quae nos in metum adducunt nec excutimus []

rsaquoAber (das Unheil) wird doch eintretenlsaquo ndash Erstens schau genau hin ob es sichere Anzeichenfuumlr ein kommendes Unheil gibt meistens leiden wir naumlmlich aufgrund unserer Verdaumlchti-gungen und uns narrt jenes Geruumlcht das einen Krieg vom Zaune zu brechen pflegt nochmehr aber die einzelnen Leute zugrunderichtet So ist es mein Lucilius Wir pflichten un-

1 Also in genau der Weise wie er es in 135 schon vorbereitet hatte quaedam ergo nosmagis tor-quent quam debent Auch das dazugehoumlrige Fazit augemus dolorem legte ja nur eine quantitativeDeutung nahe s dazu oben auf Seite 1262 Vgl zu diesem Gedanken oben Anm 2 auf Seite 126 Nicht ganz deutlich gibt diesen GedankenCiceros Torquatus wieder (fin 159) accedunt aegritudines molestiae maerores qui exedunt ani-mos conficiuntque curis hominum non intellegentium nihil dolendum esse animo quod sit a dolorecorporis praesenti futurove seiunctum ndash Danach koumlnnte man meinen Epikur lasse die Angstvor zukuumlnftigen Uumlbeln zu

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31 Strategien gegen die Angst | 129

serer Meinung zu schnell bei wir pruumlfen jene Dinge nicht die uns in Furcht versetzen unduntersuchen sie nicht genau []

Das ist nicht viel mehr als eine Andeutung aber sie hilft die stoische Loumlsungrsaquoim Spiellsaquo zu halten ohne auf die Kasuistik verzichten zu muumlssen Und bei dieserscheut sich Seneca nicht sogleich wieder unter das stoische Niveau zu zufallennochmals therapiert er die Furcht vor dem kommenden Unheil epikureisch undim offenen Widerspruch zur stoischen praemeditatio-Empfehlung

1310f 10 Verisimile est aliquid futurum mali non statim verum est Quam multa nonexspectata venerunt Quam multa exspectata nusquam conparuerunt Etiam si futurum estquid iuvat dolor i suo occurrere Satis cito dolebis cum venerit interim tibi meliorapromitte 11 Quid facies lucri Tempus

10 Es ist sehr wahrscheinlich dass ein Unheil eintreten wird (deshalb) ist es (aber) nichtsogleich (auch schon)wahrWie vieleDinge sind eingetreten obwohl sie nicht erwartetwur-den Wie viele Dinge die erwartet wurden sind nirgendwo erschienen Und wenn es docheintreten wird Was nuumltzt es dann seinem Schmerz zuvorzukommen Du wirst fruumlh genugSchmerz empfinden wenn es eingetreten ist Bis dahin stelle dir bessere Perspektiven vorAugen 11 Was du dadurch gewinnen wirst Zeit

Noch mehr fuumlhrt es von der stoischen Lehre weg wenn Seneca Lucilius fuumlr denFall dass er die Furcht nicht niederhalten kann sogar den Griff zu einem ent-gegengesetzten Laster empfiehlt (1312) si minus vitio vitium repelle spe metumtempera ndash raquowenn (es) weniger (gut moumlglich ist) dann draumlnge eine Fehlhaltungdurch eine andere zuruumlck und maumlszligige die Furcht durch die Hoffnunglaquo

Mit solchen Gedanken und offenkundigen Notloumlsungen mag sich der rsaquoschwa-chelsaquo Patient der noch keine rsaquostaumlrkere Medizinlsaquo vertraumlgt behelfensup1 Doch Senecahat durchdie staumlndige Praumlsenzder stoischenGegensicht dafuumlr gesorgt dass er be-reits ein schlechtes Gewissen dabei haben muss Und falls er es doch noch nichthaben sollte so sorgt der Briefabschluss dafuumlr der mit 1314 eingelaumlutet wird undwieder die Anfangsperspektive uumlbernimmt

1314 Pudet me daggeribidaggersic tecum loqui et tam lenibus te remediis focilare Alius dicat rsaquofortassenon venietlsaquo tu dic rsaquoquid porro si veniet videbimus uter vincat fortasse pro me venit et morsista vitam honestabitlsaquo

Ich schaumlme mich an dieser Stelle so mit dir zu reden und dich mit so sanften Heilmitteln zuhaumltschelnsup2 Ein anderer soll vonmir aus sagen rsaquovielleicht tritt es gar nicht einlsaquo Duaber sollstsagen rsaquoNaundWas ist wenn es kommen wird Wir werden sehen wer siegt vielleicht trittes zu meinen Gunsten ein und jener Tod wird mein Leben adelnlsaquo

1 Vgl zu diesem Gedanken die oben (S 114) angefuumlhrte Stelle aus const sap2 focilare steht eigentlich fuumlr rsaquodurch Waumlrme wieder ins Leben zuruumlckbringenlsaquo

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130 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Seneca laumlsst ndash als peroratio in Kurzform ndash die Standard-exempla Sokrates und Ca-to folgen und schlieszligt einen Appell an damit ist die stoische Perspektive durchzwei rsaquoBruumlckenkoumlpfelsaquo am Anfang und Ende des eigentlichen Briefes gesichert undSeneca kann zum Epikur-dictum uumlbergehen

312 Angsttherapie im Wandel

Der 13 Brief zeigt keine Angstbehandlung aus einheitlicher philosophischer Per-spektive sondern arbeitet mit dem Hilfsmittel des philosophischen Perspektiven-wechsels Dabei wird die stoische Sicht zwar favorisiert die eigentliche Therapiearbeitet aber mit epikureisch gepraumlgten Handreichungen

Aus diesem Mischbefund heraus ergibt sich die Frage ob sich das Kraumlftever-haumlltnis zwischen Epikureismus und Stoizismus im Verlauf der Briefe zugunsteneiner der beidenSeitenverschiebt Amehesten laumlsst sichdas andemgerade schonangesprochenen Themenkomplex des Umganges mit der Angst uumlberpruumlfen weilSeneca diesen ausreichend oft und in breiter Streuung uumlber das Briefcorpus hin-wegwiederkehren laumlsst Eine Entwicklungmuumlsste sichhier besonders gut ablesenlassen

Der ganze Bereich ist inhaltlich und systematisch bereits durch die gruumlnd-liche Untersuchung Wachts erschlossen Leider laumlsst dieser jedoch die Fragenach der philosophischen Entwicklung weitgehend auszliger Betracht Zwar nimmtWacht vor allem im Verhaumlltnis zwischen Brief 13 und 24 eine deutliche Veraumln-derung der Argumentationsweise wahr (527) doch scheint er nicht zu erwaumlgendass dahinter eine kompositorische bzw therapeutische Absicht stecken koumlnntejedenfalls stellt er nirgendwo die Frage inwiefern zB fruumlhe Aumluszligerungen wirk-lich Senecas Meinung wiedergeben Daher kombiniert er in seiner DarstellungArgumentationen aus weit auseinanderliegenden Briefen ohne verschiedenersaquoTherapiestufenlsaquo zu unterscheiden Doch diese unterscheiden sich wie ein Ver-gleich zeigen soll erheblich voneinander

Im letztenBriefabschnitt des fuumlnftenBriefes (57ndash9) entwickelt Seneca imRah-men seiner Auslegung des Briefdictums (Hekaton Desines timere si sperare de-sieris) den Gedanken dass Hoffnung und Furcht wie Waumlchter und Gefangeneraneinander gekettet sind das sei auch ganz logisch weil beide Affekte besorgteProjektionen auf die Zukunft seien (utrumque pendentis animi est utrumque futuriexpectatione solliciti) So weit so gut ndash dieser Gedanke ist was die Zuordnung zuEpikur oder zur Stoa betrifft neutral Doch die Analyse die folgt ist epikureisch

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31 Strategien gegen die Angst | 131

58 Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed cogitationes inlonginqua praemittimus itaque providentia maximum bonum condicionis humanae in ma-lum versa est

Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht auf die ge-genwaumlrtigenDinge konzentrieren sondern unsereUumlberlegungen aufweit Entferntes voraus-senden und so hat sich die Faumlhigkeit zur Voraussicht der groumlszligte Vorzug der menschlichenNatur zum Uumlblen hin verwandelt

Damit seien wir noch schlechter beraten als die Tiere die sich nur durch Gegen-waumlrtiges bedruumlcken lieszligen bei uns fuumlhle sichniemandnicht nur aufgrund gegen-waumlrtiger Uumlbel bedruumlckt (nemo tantum praesentibus miser est)

Mit diesen Worten endet der Brief es gibt ndash anders als in der 13 Epistel ndash keinstoisierendes kein zu einer houmlheren Sicht aufrufendes Finale und keine exem-pla die den Leser auffordern sich zu ermannen und den Gefahren mit Mut entge-genzutreten Und auch vor dem soeben angesprochenen Abschnitt sucht man diestoische Position vergebens Der Gedankengang ist voll und ganz epikureischundsteht in unausgeglichenem Gegensatz zur praemeditatio-Lehre einzig im unauf-faumlllig eingewobenen itaque providentia maximumbonumcondicionis humanae inmalum versa est koumlnnte man bei gutem Willen einen aufglimmenden Funken desin 46 eingefuumlhrten praemeditatio-Gedankens erkennen Doch Seneca huumltet sichauf diesen Widerspruch aufmerksam zu machen Nur fuumlr den der schon fuumlr ihnempfaumlnglich ist ist dieser Schimmer einer stoischen Sicht uumlberhaupt wahrnehm-bar

Wie geht Seneca diese Thematik in spaumlteren Briefen anNehmenwir zunaumlchst einweit entferntes Beispiel Im 98 Briefsup1 lesen wir Saumltze die den epikureisierendenPassagen des 5 aber auch denen des 13 Briefes durchaus aumlhnlich klingen zB(Beruumlhrungen zur epikureischen Lehre hervorgehoben)

986 Calamitosus est animus futuri anxius et ante miser ias misersup2 qui sol l ic i tus estut ea quibus delectatur ad extremum usque permaneant nullo enim tempore conquiescit etexpectat ione ventur i praesentia quibus frui poterat amittet

Schlimm dran ist ein Mensch der um die Zukunft besorgt und (schon) vor dem Ungluumlckungluumlcklich ist der besorgt ist dass das woran er sich freut bis an sein Lebensende erhal-ten bleibt er wird naumlmlich zu keiner Zeit zur Ruhe kommen und wird in der Erwartung derZukunft das Gegenwaumlrtige das er haumltte genieszligen koumlnnen verlieren

1 Die thematische Verwandtschaft der Briefe 5 13 14 24 und 98 ist in der Forschung oft gesehenworden zB Cancik Untersuchungen 72ndash75 (geht auf die ersten vier der genannten Briefe ein)Maurach Bau 73f und 97 mit Anm 78 Hachmann Leserfuumlhrung 130ndash1342 Vgl epist 134 illud tibi praecipio ne sis miser ante tempus

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132 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Oder

987f 7 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est ma-lum suum antecedere 8 [] Plus dolet quam necesse est qui ante dolet quam ne-cesse est

7 Nichts ist erbaumlrmlicher und nichts unsinniger als sich schon vorher zu fuumlrchten Was istdas fuumlr ein Wahnsinn seinem Ungluumlck zuvorzukommen 8 [] Mehr als noumltig leidet werfruumlher als noumltig leidet

Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied Der 98 Brief zeichnet eine vollkom-men andere Situation Waumlhrend im 5 und vor allem im 13 Brief die Ratschlaumlgeeinem (vermuteten) Bedarf auf Seiten des rsaquoLuciliuslsaquo entsprechen er also selbstihr Adressat ist sind sie im 98 Brief Beiprodukt einer anderen Thematik naumlm-lich der allgemeinen Eroumlrterung von Fragen der stoischen Guumlterlehre Aus demEingangssatz raquoMan sollte nie einen fuumlr gluumlcklich halten der vom (aumluszligeren) Gluumlckabhaumlngig istlaquosup1 hatte Seneca die Frage entstehen lassen ob aumluszligere Guumlter dennnicht trotzdem angenehm und nuumltzlich sein koumlnnten (Eine solche auf der stoi-schen ἀδιάφορα-Lehre basierende Frage ist uumlbrigens das sei vorweggenommenvor dem 65 Brief undenkbar) Zwar bejaht Seneca diessup2 doch knuumlpft er das anein entsprechendes mentales Training sich dabei staumlndig der eigentlichen Guumlterbewusst zu sein

984 Sive alios observare volueris (liberius enim inter aliena iudicium est) sive te ipsum fa-vore seposito et senties hoc et confiteberis nihil ex his optabilibus et caris utile esse nisi tecontra levitatem casus rerumque casum sequentium instruxeris nisi illud frequenter et sinequerella inter singula damna dixeris raquodis aliter visum estlaquo [Verg Aen 2428]

Sei es dass du andere (das Urteil ist naumlmlich bei fremden Angelegenheiten unbefangener)oder dass du unter Beiseitelegen von Selbstgefaumllligkeit dich selbst daraufhin ansehenwillstDu wirst dies bemerken und anerkennen dass nichts von diesen wuumlnschenswerten undwertvollen Dingen nuumltzlich ist wenn du dich nicht gegen die Unbestaumlndigkeit des Zufallsund derjenigen Dinge die dem Zufallsgesetz folgen wappnest und wenn du nicht oft undohne Klagen bei einzelnen Ungluumlcksfaumlllen jenen Satz vorbringst rsaquoDie Goumltter wollten es an-derslsaquo

1 Numquam credideris felicem quemquam ex felicitate suspensum2 Uumlbrigens wieder unter reichlicher Beimischung epikureischer Stimulanzien (s oben S 39) andieser Stelle (981f) wird die Verknuumlpfung genuin stoischer Gedanken mit diesen Sekundaumlrmoti-ven besonders deutlich rsaquoQuid ergo non usui ac voluptati esse possuntlsaquoQuis negat sed itasi lla ex nobis pendent non ex illis nos Omnia quae fortuna intuetur ita fruct i fera ac iucundafiunt si qui habet illa se quoque habet nec in rerum suarum potestate est

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31 Strategien gegen die Angst | 133

Die Passage zeigt deutlich dass die Aufforderungen zur praemeditatio (und eben-so zur Schicksalsergebenheit sozusagen einermeditatio in ipso eventu) in diesemBrief weder einen konkreten Anlass haben noch einer konkreten Person geltenEs geht bei diesen Uumlberlegungen nicht um Luciliusrsquo Gemuumltslage sondern um dierichtige Bewertung der Guumlter

Seneca glaubt im 98 Brief auch nicht mehr dass Lucilius hier noch einenNachholebedarf hat Das wird schon daraus ersichtlich dass Seneca anders alsim 5 Brief Lucilius und sich nicht mehr einschlieszligt in die Menge derer die denFehler machen sich durch Vergangenes und Zukuumlnftiges bedruumlcken zu lassenIm 5 Brief hieszlig es noch

58ndash9 8 [] Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed co-gitationes in longinqua praemittimus[] 9 Ferae pericula quae vident fugiunt cum effu-gere securae sunt nos et venturo torquemur et praeterito

8 [] Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht aufdie gegenwaumlrtigen Dinge konzentrieren sondern unsere Uumlberlegungen auf weit Entferntesvoraussenden [] 9 Die wilden Tiere fliehen vor den Gefahren die sie (gerade) sehenwir aber lassen uns von Zukuumlnftigem und Vergangenem peinigen

Auch der 13 Brief formulierte einschlieszligend und die dort bereits erkennbareMissbilligung dieser Haltung war noch in die Form des freundlichen Hinweisesgegossen (zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere) Nun aber im 98 Brief di-stanziert Seneca sich Lucilius und damit den Leser von einer solchen Positionindem er diese (in der dritten Person) mit beiszligendem Hohn uumlberzieht Wenigmitfuumlhlend haumllt er nichts fuumlr raquoerbaumlrmlicher und duumlmmer als sich im Voraus zufuumlrchtenlaquo es sei geradezu ein Zeichen geistiger Umnachtung sich so zu ver-haltensup1 Fuumlr die die sich staumlndig vor der Zukunft fuumlrchten bringt Seneca keinVerstaumlndnis auf er schimpft sie (988) raquoKummerleider die sich selbst im Wegestehenlaquo (satagii ac sibi molestos) und raquoLeute ohne Selbstkontrollelaquo (intemperan-tes) Kurz Was im 13 Brief noch ein unverbindliches Angebot zum Nachdenkenwar das ist hier zur unverhandelbaren Forderung geworden die Angst vor derZukunft ist nicht mehr salonfaumlhig

Konsequenterweise wird das was im 13 Brief lediglich als rsaquohoumlherelsaquo Hand-lungsoption charakterisiert wurde (oben S 129) im 98 Brief als rsaquoalternativloslsaquofuumlr einen guten Charakter dargestellt und dichotomisch vom Unvermoumlgen desschlechten Charakters unterschieden

1 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est malum suum antece-dere (987)

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134 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

982ndash3 2 Valentior enim omni fortuna animus est et in utramque partem ipse res suas du-cit beataeque ac miserae vitae sibi causa est 3 Malus omnia in malum vertit etiam quaecum specie optimi venerant rectus atque integer corrigit prava fortunae et dura atque asperaferendi scientia mollit eqs

2 Der Geist ist naumlmlich staumlrker als alles Schicksal er selbst lenkt seine Geschicke in dieeine oder die andere Richtung und ist fuumlr sich selbst die Ursache eines gluumlcklichen oder un-gluumlcklichen Lebens 3 Der Schlechte verwandelt alles in Schlechtes selbst das was mitdem Schein des Bestmoumlglichen eingetreten war der Aufrechte und Unbeirrte (demgegen-uumlber) berichtigt die Maumlngel des Schicksals und macht durch seine Faumlhigkeit zum Ertragendas Harte und Raue weich usw

Aber noch in einemanderenPunkt tritt der bis zum im98 Brief erreichteTherapie-fortschritt deutlich hervor Waumlhrend im 13 Brief der Gegenpol zur rsaquostarkenlsaquo stoi-schen Sicht nur in der rsaquoschwachenlsaquo epikureischen bestand so warnt der 98 Briefnicht minder vor dem entgegengesetzten Extrem naumlmlich (in einseitiger Ausle-gung der stoischen Guumlterlehre) aumluszligere Guumlter gar nicht mehr zu achten Vielmehrfordert Seneca ausdruumlcklich dazu auf gefaumlhrlichen Situationen aus dem Wegezu gehen Direkt vor der oben erwaumlhnten Verurteilung des Sich-vorher-Fuumlrchtensheiszligt es

987 Nec ideo praecipio tibi neglegentiam Tu vero metuenda decl ina quidquid consilioprospici potest prospice quodcumque laesurum est multo ante quam accidat speculare etaverte In hoc ipsum tibi plurimum conferet fiducia et ad tolerandum omne obfirmata mensPotest fortunam cavere qui potest ferre certe in tranquillo non tumultuatur

Doch ich schreibe dir deshalbnichtNachlaumlssigkeit [ imUmgang mit den ἀδιάφοραndash (Anm UD)

] vor Du sollst durchaus den fuumlrchtenswerten Ereignissen aus dem Wege gehen was auchimmer rational vorausgesehen werden kann das sieh voraus was auch immer verletzenkann das fasse weit fruumlher als es passiert ins Auge und wende es ab Gerade dafuumlr wird dirdein Selbstvertrauen und dein alles zu ertragen gefestigter Sinn sehr zugute kommen Derkann dem Schicksal ausweichen der es tragen kann zumindest gibt es bei einem ruhigenMenschen keinen Aufruhr

Welches Fazit koumlnnen wir hieraus ziehen Seneca empfiehlt zwar sowohl in fruuml-heren Briefen als auch im 98 Brief sich erstens das Leben nicht durch verfruumlhteAngst selbst schwer zu machen und zweitens gefaumlhrlichen Situationen ndash wennmoumlglich ndash aus dem Weg zu gehen Doch erstens treten nur in den fruumlheren Brie-fen dazu Ratschlaumlge die mit der stoischen Lehre in keinster Weise vereinbar sind(zB epist 1310 interim tibi meliora promitte 1312 spe metum tempera)sup1 Zweitens

1 Verschweigen dieses Mittels im 98 Brief richtig gesehen bei Hachmann Leserfuumlhrung 131raquoDie scheinbare Hilfe durch Verdraumlngung [] wird in Brief 98 gar nicht erwaumlhntlaquo Hachmannscheint aber nicht zu bemerken dass der Grund fuumlr dieseAuslassung eben in derUnvereinbarkeit

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31 Strategien gegen die Angst | 135

laumlsst Seneca inden fruumlhenBriefendieseArt vonRatschlaumlgenausderRuumlcksicht aufdie Schwaumlche des Lucilius entstehensup1 oder formuliert sie nach Art einer epikurei-schen Lust-Schmerz-Bilanzsup2 Demgegenuumlber werden die Ratschlaumlge im 98 Briefallein aus der stoischen Guumlterlehre abgeleitet Zwar verwendet Seneca noch im-mer epikureische Argumentationsmuster (989 laumlsst er zudem Metrodor als Kron-zeuge auftreten) jedoch tut er das nicht mehr in mit der stoischen Lehre inkom-patibler sondern ausschlieszliglich in komplementaumlrer und streng untergeordneterWeise Epikur ist kein Konkurrent mehr kein Gegenmodell Er ist zum Helfer her-abgesunken der die Luumlcken ausfuumlllen darf die ihm die stoische Lehre gelassenhat

Der zuletzt zitierte Gedanke (Potest fortunam cavere qui potest ferre) illustriertdieses Selbstverstaumlndnis in hervorragender Weise Wenn Seneca die Erfuumlllungder epikureischen Forderung dem Schicksal auszuweichen (fortunam cavere) aneinen Charakter knuumlpft der dem Schicksal auch standhalten kann (qui potest fer-re) ndash der also die stoische Selbstbeherrschung verinnerlicht hat ndash dann sagt erdamit rsaquoKein Epikureer kann die epikureischen Forderungen so gut erfuumlllen wiewir Stoikerlsaquosup3

Diese Einverleibung Epikurs als eines im praktischen Bereich nuumltzlichenrsaquoKnechtslsaquo fuumlr die Erziehung zur stoischen Lebensweise ist wie ich spaumlter nochdeutlicher zeigen moumlchte (Kapitel 431) ein Hauptcharakteristikum fuumlr Senecas

mit der stoischen Lehre liegt (130 raquoAndererseits wird ein Argument das in den ersten Briefenbenutzt in ep 98 aber nicht verwendet wurde wahrscheinl ich mit Absicht ausgelassenworden seinlaquo [meine Hervorhebung])1 Vgl zB 135 Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes2 zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere Vgl auch 241 Quid enim necesse est [] praesenstempus futuri metu perdere3 Auch an dieser Stelle bringt Hachmann Leserfuumlhrung 132 die Sache zu wenig auf den PunktraquoHier geht der Brief 98 weit uumlber die Anfangsbriefe hinaus wenn er einen ursaumlchlichen Zusam-menhang sieht wo die Anfangsbriefe lediglich ein Nebeneinander sahen Nur der seelisch Star-ke welcher der Gefahr klar ins Auge sehen kann besitzt auch die notwendige Gelassenheit ver-nuumlnftige Gegenmaszlignahmen zu ergreifenlaquo Hachmann sieht im 98 Brief (bis auf die Auslassungder Verdraumlngungstaktik) offenbar wieder nur einen quantitativen Unterschied zu den fruumlherenraquoEinVergleich vonep 986mit ep 138ndash11 zeigt dass indemfruumlhenBrief die zukritisierendeFehl-haltung imVerhaumlltnis zu den echten Versuchender Heilung breiter dargestellt wurde Dagegenuumlberwiegt in ep 98 die Darstellung der Bewaumlltigunglaquo (ebd (Hervorhebung UD) ) MaurachBau 73f erkennt richtig dass im 98 Brief der systematische Zusammenhang erkennbar ist denSeneca in denBriefen 13 und 14 nicht erwaumlhnt der aber der dortigen Gedankenfuumlhrung zugrundeliegt Maurach geht es dabei darum die verdeckten inhaltlichen Beziehungen aufzudecken diedie Briefe 12ndash15 enger zusammenschlieszligen (eine wichtige Funktion kommt dabei der im 14 Briefangesprochenen οἰϰείωσις-Lehre zu) Die Frage nach Epikur- und Stoa-Kompatibilitaumlt der Argu-mente und damit nach Therapiestufen steht auszligerhalb seines Blickwinkels auf den Text

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136 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Briefe Nur hieraus und nicht aus persoumlnlichen Faktoren (vermeintlicher Ek-lektizismus Senecas Beeinflussung durch Luciliusrsquo Epikureismus) erklaumlrt sicheinerseits die Affinitaumlt zu Epikur (wo er zu brauchen ist bedient sich Seneca sei-ner gern) andererseits die scharfe Abgrenzung von ihm (Epikurs Prinzipien sindund bleiben aus Senecas Sicht untragbar)

Um herauszufinden auf welchem Therapieniveau Seneca operiert genuumlgt esalsonicht dieHerkunft bestimmterArgumentationsmuster ausder epikureischenSchule aufzuzeigen Diese verwendet er immersup1 so geniert sich Seneca zB auchim 98 Brief nicht unmittelbar vor einer stoischen exempla-Serie als Trostmittelfuumlr etwaige Verluste die epikureische Ruumlckbesinnung auf die Vergangenheit zuempfehlen (9811) Habere eripitur habuisse numquam Die entscheidende Frageist vielmehr inwiefern Seneca dabei gegen das stoische Wertesystem verstoumlszligt

Ein aufschlussreicher Schritt auf diesemWege ist der 24 Brief Vonunserembishe-rigen Befund aus mag ein kurzer Blick auf ihn genuumlgensup2 Der 13 Brief hatte durchdie Gegenuumlberstellung der rsaquohoumlherenlsaquosup3 stoischen zur rsaquoniedrigerenlsaquo epikureischenSicht zum ersten Mal auf die Abloumlsung der epikureisierenden Ratschlagstopik des5 Briefes hingearbeitet Auch der 14 Brief wirkte zwar ndash mit ersten Anklaumlngen andie Oikeiosislehre ndash auf eine Relativierung der Angstausloumlser hin blieb aber inseinen Methoden unentschieden So klingt beispielsweise gegenuumlber der helden-haften Aufforderung den Koumlrper notfalls auch ins Feuer zu schicken wenn es dieVernunft die Wuumlrde oder die Treue fordere (142) der unmittelbar folgende Satzdoch wieder sehr nach dem epikureischen Ausweichgedanken

143 Nihilominus quantum possumus evitemus incommoda quoque non tantum pericula etin tutum nos reducamus excogitantes subinde quibus possint timenda depelli

Nichtsdestotrotz wollen wir auch Unannehmlichkeiten nicht nur Gefahren nach Kraumlftenaus dem Wege gehen und uns auf sicheres Gebiet zuruumlckziehen indem wir uns immer wie-der ausdenken wodurch angsterregende Situationen entschaumlrft werden koumlnnen

Den endguumlltigen Bruch mit einer von stoischen Prinzipien abgeloumlsten epikurei-schen Behandlung vollzieht erst der 24 Brief indem er erstmals auch bei derFurchtbekaumlmpfung der praemeditatio-Technik den eindeutigen Vorzug vor derepikureischen Verdraumlngungsloumlsung gibt Ein Meisterstuumlck ist dabei wie Senecazum Schein die epikureische Loumlsung vorbringt und zunaumlchst auf sie eingeht so

1 Siehe dazu oben S 392 Als weitere Wegmarken koumlnnte man insbesondere 316 (vgl unten S 203) anfuumlhren3 Zu diesen Kategorien und ihrer Etablierung im philosophischen Denken Ciceros Goumlrler Un-tersuchungen zu Ciceros Philosophie vgl oben Anm 1 auf S 127

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dass jeder von seinen Lesern der noch mit Epikurs Lehre liebaumlugelt sich auf demrichtigen Weg waumlhnen darf wie er dann aber diese Ratschlaumlge mit einem Wischzur Seite legt und zwar mit genau dem Argument das auch im 13 Brief schon alsKritik an Epikur anklang Das Verdraumlngen einer schlimmen Zukunft kann nichtjede Sorge nehmen (weil es durchaus Situationen gibt in denen das Eintreten desUumlbels aumluszligerst wahrscheinlich ist)sup1

241ndash2 1 Sollicitum esse te scribis de iudicicirc eventu quod tibi furor inimici denuntiat existi-masme suasurumutmeliora tibi ipse proponas et adquiescas spei blandae Quid enimnecesseest mala accersere satis cito patienda cum venerint praesumere ac praesens tempus futurimetu perdere Est sine dubio stultum quia quandoque sis futurus miser esse iam miserum2 Sed ego alia te ad securitatem via ducam si vis omnem sollicitudinem exuere quidquidvereris ne eveniat eventurum utique propone et quodcumque est illud malum tecum ipse me-tire ac timorem tuum taxa

1 Du schreibst du seist beunruhigt in Betreff des Ausgangs eines Prozesses den dir die Ra-serei deines Widersachers ankuumlndigt du glaubst ich werde dir nun raten dass du dir selbstBesseres vor Augen stellst und bei einer verlockenden Hoffnung zur Ruhe kommst Wozuist es naumlmlich notwendig Ungluumlckssituationen herbeizurufen das vorauszunehmen waswenn es gekommen ist immer noch fruumlh genughinzunehmen ist und die gegenwaumlrtige Zeitdurch die Angst vor der zukuumlnftigen schon zu verderben 2 Es ist ohne Zweifel unsinnigjetzt schon ungluumlcklich zu sein weil du irgendwann einmal ungluumlcklich sein wirst Aber ichwill dich auf einem anderen Weg zur Sicherheit fuumlhren Wenndu alleUnruhe ablegen willstdann stelle dir alles dessen Eintreten du befuumlrchtest erst recht vor Augen und miss wasauch immer es fuumlr ein Ungluumlck ist bei dir selbst nach und schaumltze das Ausmaszligdeiner Furchtein

Es kann kein Zweifel daran bestehen dass dieser Beginn des 24 Briefes als Ge-genstuumlck und Fortentwicklung der Therapie des 13 Briefes gelten musssup2

Unverstaumlndlich ist mir in diesem Punkt die Deutung Canciks Untersuchungen 73f Sie ver-sucht ndash gegen Misch Autobiographie 433 ndash zu beweisen dass weder zwischen dem 13 und dem24 Brief noch zwischen dem5 unddem24 Brief eine Entwicklung des rsaquoLuciliuslsaquo stattfindet raquoVoneinem Ansatz zur Darstellung einer seelischen Entwicklung in Mischs Sinne kann also hier [ dhim 13 Brief ndash (AnmUD) ] nicht die Rede sein Genausowenig bezeichnet ep 24 eine gegenuumlber ep 13fortgeschrittene Stufe in der Entwicklung des Luciliuslaquo (74) Sie folgert das zum einen (a) dar-aus dass auch im 13 Brief beide Sichtweisen vertreten werden zum andern (b) weil sie meintdass auch 57 schon raquodie stoische Vorstellung von der Uumlberwindung der Leidenschaften [] rein

1 Siehe oben S 1282 RichtigMaurach Bau 97 sowieHachmann Leserfuumlhrung 182ndash190 (der zu Recht konstatiertdass die Notmethode der Angstbekaumlmpfung durch einen Gegenaffekt also das vitio vitium repel-lere von 1312 (s oben S 129) von epist 24 an nicht mehr zum Repertoire Senecas gehoumlrt) fernerWacht Angst in Senecas Briefen 527 raquoWas also zunaumlchst grundsaumltzlich vereinbar und als mil-dere Form der Angstbewaumlltigung akzeptiert schien muss hier einer Methode weichen die zumsicheren Erfolg zu fuumlhren versprichtlaquo

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138 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und eindeutiglaquo zum Ausdruck bringe (ebd) Doch wir haben gesehen dass (a) im 13 Brief beideSichtweisen noch miteinander wetteifernd auftreten und die stoische Loumlsung als die edlere dieepikureische aber als die derzeit wirkungsvollere dargestellt wird Die edlere Loumlsung legt sich da-bei wie ein Ring um die primitivere Canciks Deutung des 13 Briefes ist demnach verfehlt wennsie (ebd) behauptet raquoEine Interpretation von ep 13 im Ganzen zeigt dass ihr Gedankengangauf Steigerung angelegt istlaquo Denn der Brief enthaumllt nicht eine kontinuierliche Steigerung derphilosophischen Argumentationshoumlhe sondern beginnt in stoischer Houmlhe wird dann von 133bis 1313 durch eine epikureische Phase abgeloumlst und kehrt dann mit 1314 und den angedeutetenexempla wieder zum Ausgangsniveau zuruumlck Ganz anders ist das im 24 Brief Die epikureischeVerdraumlngungsloumlsung wird nur eingangs erwaumlhnt und zwar nur dazu um desto wirkungsvollerbeiseite gelegt werden zu koumlnnen Sie spielt im uumlbrigenBrief keine Rollemehr und ist vonAnfangan keine ernsthafte Alternative Die praemeditatio-Methode beherrscht von Beginn das Feld underhaumllt spaumltestens durch die lange exempla-Serie ab 243 ein erdruumlckendes Uumlbergewicht Einenfast schon verzweifelt zu nennenden opportunistischen Ratschlag wie 1313 crede quod mavis ndashraquoGlaube was du lieber willst (sc wenn du nur dadurch zur Ruhe kommst)laquo wird man nicht im24 und auch in keinem spaumlteren Brief mehr finden

Was (b) den 5 Brief angeht so muss man klar feststellen dass zwar der Zusammenhangzwischen Furcht und Hoffnung von dem Seneca dort spricht als Vorbereitung fuumlr eine spaumltereἀπάϑεια-Forderung gesehen werden kann Doch in der Hinsicht die wir als Indiz fuumlr eine Ent-wicklung des Lucilius angesehen haben naumlmlich in der Frage ob man zukuumlnftigen Uumlbeln ge-genuumlber eher die epikureische rsaquoKopf-in-den-Sand-Taktiklsaquo oder die kyrenaisch-stoische praemedi-tatio anwenden soll steht der 5 Brief wie wir gesehen habensup1 ganz eindeutig auf epikureischerSeitesup2 Abgesehen davon ist der Zusammenhang zur stoischen ἀπάϑεια auch nur fuumlr ein philo-sophisch bereits geuumlbtes Auge zu erkennen der Ratschlag erst ein Aufhoumlren des Hoffens werdeauch zum Ende des Fuumlrchtens fuumlhren laumlsst sich auch als gegen ein jeweiliges Zuviel im Einzel-fall gesprochen denken von einem raquoreinen und eindeutigenlaquo Propagieren der Uumlberwindung derLeidenschaften kann jedenfalls keine Rede sein

Doch obwohl er sich in der Entscheidung fuumlr die praemeditatio jetzt konse-quent zeigt ndash oder eben deshalb ndash sorgt Seneca umgehend dafuumlr dass die Bruumlckezum Epikureismus nicht gaumlnzlich abgerissen wird Er wolle sagt er Lucilius zursecuritas fuumlhren im Gegensatz zu Begriffen wie etwa constantia oder gar invulne-rabilitaswaumlhlt er damit einen Ausdruck der das epikureische Ideal der Sorglosig-keit (se+cura) uumlberdeutlich anklingen laumlsstsup3 Und die von Lucilius befuumlrchteten

1 S oben S 1312 Zu Recht skeptisch bereits Maurach Bau 97 Anm 78 ndash Hachmanns Widerlegungsversuch(Leserfuumlhrung 189) gegen diese Deutung von 57 durch Cancik speist sich allein aus dem Um-stand dass sich der 5 Brief noch im raquoEinleitungsteil des Werkeslaquo befinde Das allein halte ich fuumlrwenig schlagkraumlftig entscheidend ist die Stellung zur praemeditatio da diese wirklich ein Un-terscheidungskriterium zwischen Epikureismus und Stoa bietet vgl Abel Bauformen 38 undMaurach Bau 97 mit Anm 803 Das Wort kommt aus metrischen Gruumlnden bei Lukrez nicht vor inhaltlich ist es gleichwohlfast omnipraumlsent vgl zB im Prooumlm des zweiten Buches (216ndash19) nonne videre | nihil aliud sibi

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31 Strategien gegen die Angst | 139

Ereignisse bezeichnet Seneca so wie die breite Bevoumllkerung auch naumlmlich mitmalasup1

Doch es kommt noch besser Denn man duumlrfte nach der Ankuumlndigung diesesrsaquoanderen Weges zur Sorglosigkeitlsaquo erwarten dass Seneca jetzt wenn er jetzt mitden Worten intelleges profecto fortfaumlhrt ganz in stoischem Fahrwasser etwa sa-gen wird raquoDu wirst erkennen dass all diese Bedrohungen und Gefahren nichtigund nicht schwer zu ertragen sind und dass es allein auf unsere innere Haltungankommt Denn das einzige echte Uumlbel ist es sich verwerflich zu verhalten daseinzige Uumlbel ist die turpitudo Alle anderen Ereignisse vor denen du Angst hastsind keine wirklichen mala Das alles sind ἀδιάφορα also indifferente ethischambivalente Dingelaquo Stattdessen sagt er

242 intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis

du wirst ganz sicher erkennen dass es nicht groszlig oder aber nicht langdauernd ist wasdu fuumlrchtest

Das ist ndash worauf ua auch Wachtsup2 zu Recht hinweist ndash nichts anderes als Epikurswohlbekannte Formel gegen die Angst vor dem Schmerzsup3 die Cicero (fin 222) mitfast denselben Worten wie spaumlter Seneca zusammenfasst Si gravis [sc dolor] bre-vis si longus levis⁴

Die geschickte Wendung in der Formulierung laumlsst sich sicherlich wie ge-sagt als raquoRuumlcksicht auf den epikureischen Freundlaquo verstehen⁵ Doch sie ist mehrals das Die epikureische Schmerzformel ist ein nicht nur akutes sondern vonvornherein auch vorausschauendes Trostmittel Sie hat die Funktion die Angstvor einer schmerzhaften Zukunft zu verringern und enthaumllt damit schon von sichaus eine praumlmeditative Komponente Diesen fuumlr den Uumlbergang zur stoischen Leh-re guumlnstigen Umstand hat Seneca geschickt ausgenutzt Die Schmerzformel istein ideales Bindeglied um dem praemeditatio-Gedanken auch von epikureischerWarte aus Ruumlckhalt zu verschaffen

naturam latrare nisi ut qui | corpore seiunctus dolor absit mente fruatur | iucundo sensu curasemota metuque1 Anstelle einer stoisierenden Umschreibung vgl unten Kapitel 512 Angst in Senecas Briefen 528f3 Epic KD 4 GV 44 Vgl Sen epist 2414 Levis es si ferre possum brevis es si ferre non possum sowie ferner epist3014 ( nullum enim dolorem longum esse qui magnus est)5 Wacht Angst in Senecas Briefen 528 freilich darf dabei ndash wie oben (Kapitel 132 ab S 35)ausgefuumlhrt ndash unter rsaquoFreundlsaquo nicht die reale Person Lucilius verstanden werden sondern es gehtum die Integration des epikureisch orientierten Leserpublikums

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140 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Auch ein Stoiker wie Mark Aurel weiszlig uumlbrigens um den praktischen Wert die-ser Formel Und fuumlr die Bestimmung von Senecas Taktik ist es hochinteressant zusehen wie sich die Einbettung dieses Gedankens bei dem Philosophenkaiser imUnterschied zu Seneca darstellt Denn zum einen laumlsst Mark Aurel die stoischeSicht eben nicht fort sondern setzt sie in guter Ordnung an den Anfang

MarkAurel 764 ᾿Επὶ μὲνπαντὸς πόνου πρόχειρον ἔστω ὅτι οὐϰ αἰσχρὸνοὐδὲ τὴνδιάνοιαντὴν ϰυβερνῶσαν χείρω ποιεῖ οὔτε γὰρ ϰαϑὸ λογιϰή ἐστιν οὔτε ϰαϑὸ ϰοινωνιϰὴ διαφϑείρειαὐτήνBei jedem Ungemach sei Dir dieses Argument griffbereit dass es nicht moralisch verwerf-lich ist und die leitende Vernunft nicht schwaumlcht Denn weder insoweit sie vernuumlnftig nochinsoweit sie gemeinschaftsbezogen ist verdirbt es sie

Zum anderen kennzeichnet er den nun folgenden epikureischen Gedanken expli-zit als solchen und schraumlnkt ihn insoweit ein als er sagt dass diese Maxime nichtimmer sondern nur in den meisten Faumlllen anwendbar sei

Mark Aurel 764 Fortssup1 ἐπὶ μέντοι τῶν πλείστων πόνων ϰαὶ τὸ τοῦ ᾿Επιϰούρου σοι βοη-ϑείτω ὅτι οὔτε ἀφόρητον οὔτε αἰώνιον ἐὰν τῶν ὅρων μνημονεύῃς ϰαὶ μὴ προσδοξάζῃςBei den meisten Formen von Ungemach moumlge dir indes schon das Wort Epikurs helfen dasses weder unertraumlglich noch unendlich ist sofern du dich an die Fakten haumlltst und nichtschon im Vorhinein schlimme Erwartungen hegst

Insgesamt koumlnnenwir in Senecas Briefen bezogen auf die Frage der Angsttherapiefolgende Entwicklung feststellen Angefangen von epist 5 (= epikureische Thera-peutik) gibt es eine Entwicklung uumlber epist 13 und 14 (Mischform) epist 24 (vor-wiegend stoische Argumentation mit epikureischer Motivation jedoch vermischtmit epikureischer avocatio) hin zu epist 98 in der eine im Kern rein stoische Ar-gumentation vorliegt die sich jedoch nach wie vor epikureischer Hilfsargumentebedient

Senecas Taktik besteht demnach nicht darin die gegnerische rsaquoFestunglsaquo mitseinen Argumenten rsaquoim Handstreichlsaquo oder uumlberhaupt in der Schlacht zu nehmenVielmehr legt er es ndash um im Bild zu bleiben ndash darauf an sie nach und nach davonzu uumlberzeugen freiwillig ihre Tore zu oumlffnen Er will eine Transformation des Le-sers aber er will sie nicht auf dem Weg der Konfrontation sondern lieber auf demPfad schleichender Integration

Auch der 105 Brief fuumlgt sich in diese Ordnung ein Zwar legt Seneca seinem Freund hiernahezudie gleichenRatschlaumlgevor die er auch schon im13 14 und 24Brief gegebenhatteDoches geht uumlberhaupt nicht um Angstvermeidung sondern um aumluszligere Sicherheit Lucilius hat ndash so

1 = Epicur fr 447 Us

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 141

die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 8: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

31 Strategien gegen die Angst | 127

hinauswollen rsaquoWenn du stark genug bist dann schaue dem Schicksal ins Augeund uumlberwinde es wenn nicht ndash dann schaue eben nicht voraus damit du dirimmerhin nicht die Lebenszeit bis dahin verdirbstlsaquo

Der Kontrast des Umschwungs (oder besser Abschwungs) von derHoumlhe des Brief-beginns zu den jetzigen Niederungen popularer Alltagsratschlaumlge ist gewollt Erbietet Seneca die Moumlglichkeit die stoische Weltsicht in ein guumlnstiges Licht zuruumlcken sie in einer starken Position zu zeigen und trotzdem den Vorbehalten undauch Wuumlnschen der Leserschaft nach praktischen Ratschlaumlgen Raum zu gebenZugleich kann er auf diese Weise einem sehr breiten Leserspektrum gerecht wer-den Die Kontrastierung beider Sichten gibt ihm zudem die Moumlglichkeit auch in-nerhalb der Ratschlaumlge immer wieder in Richtung der stoischen Sichtweise aufden Leser einzuwirken

135 Primum illud quia res in controversia est et litem contestatam habemus in praesentiadifferatur Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes scio alios inter flagella riderealios gemere sub colapho Postea videbimus utrum ista suis viribus valeant an inbecillitatenostra

Aber jener erste Punkt soll weil die Angelegenheit (unter uns) umstritten ist und wir denProzess eingereicht haben jetzt erst einmal vertagt werden Das was ich unbedeutend nen-nen werde wirst du nachdruumlcklich fuumlr aumluszligerst gewichtig erklaumlren ich weiszlig dass die einenunter Geiszligelhieben lachen die anderen (schon) bei einer Ohrfeige jammern Spaumlter werdenwir sehen ob diese Dinge aufgrund ihrer eigenen Beschaffenheit Bedeutung fuumlr uns habenoder nur durch unsere Schwaumlche

Wie der Einschub si tibi videtur (133) dient dieser Abschnitt dazu die rsaquohoumlherelsaquoSicht der Stoa als Gegenfolie praumlsent zu haltensup1 Geschickt bezeichnet Seneca denGegensatz zwischender stoischen Sicht undder des Lucilius nicht als einen quali-tativen zwischen Unempfindlichkeit (ἀπάϑεια) und Empfindsamkeit sondern als

1 Diese Technik ist wie Goumlrler Untersuchungen zu Ciceros Philosophie gezeigt hat omniprauml-sent bei Cicero und uumlberdeutlich in seinen Tuskulanen in denen er immer wieder versucht ne-ben der rsaquoniedrigenlsaquo sicheren Position die rsaquohoumlherelsaquo aber schwerer beweisbare und nicht uumlberZweifel erhabene Ebene zur Geltung zu bringen vgl ebd zB 206 raquoWenn Cicero im erstenTuskulanenbuch [] zunaumlchst Beweise fuumlr die Unsterblichkeit der Seele gibt dann aber diesenStandpunkt aufgibt und nur noch daran festhaumllt dass der Tod auch bei voumllligem Untergang derSeele kein Uumlbel ist so liegen beide Argumentationen nicht auf derselben Ebenelaquo oder (25) raquoWieder Glaube an die Unsterblichkeit der Seele immer wieder von Zweifeln erschuumlttert wird ist esschwer die stoische Uumlberzeugung (nihil bonum nisi virtus) allen Versuchungen zum Trotz auf-rechtzuerhalten Der stoische Standpunkt ist zwar erhabener (im gleichen Sinne wie der Glaubean die Unsterblichkeit) aber der theophrastische steht dem Boden der beweisbaren Tatsachennaumlherlaquo

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128 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

einen quantitativen zwischen Mehr- oder Weniger-Leidensup1 zugleich waumlhlt er einBeispiel bei demdasWeniger-Leidenals erstrebenswert angesehenwerdenmussMit inbecillitate nostra bereitet Seneca den Leser (ohne dass er allzutief in diersaquograue Theorielsaquo eintauchen muss) darauf vor dass die Ursache fuumlr die Relativitaumltder Bewertung von Uumlbeln vor allem in unserer eigenen Sicht auf sie zu sehen ist

Auch in 7ndash8 koumlnnen wir beobachten wie Seneca geschickt beide philosophi-sche Richtungen einander gegenuumlberstellt wobei wiederum die Stoa in der houmlhe-ren Position erscheint Auf die fiktive Frage des Lucilius wie er wahre von einge-bildeten Gefahren unterscheiden koumlnne (rsaquoQuomodolsaquo inquis rsaquointellegam vana sintan vera quibus angorlsaquo) antwortet Seneca zunaumlchst ganz im Sinne Epikurs

137 Accipe huius rei regulam aut praesentibus torquemur aut futuris aut utrisque De prae-sentibus facile iudicium est si corpus tuum liberum et sanum est nec ullus ex iniuria dolor estvidebimus quid futurum sit hodie nihil negotii habetsup2

Hier hast du ein Richtmaszlig fuumlr diese Situation Wir werden entweder durch Gegenwaumlrtigesoder durch Zukuumlnftiges oder durch beides gequaumllt In Bezug auf Gegenwaumlrtiges ist die Ent-scheidung leicht Wenn dein Koumlrper frei und gesund ist und es keinen Schmerz aufgrundeines (erlittenen oder getanen) Unrechts gibt werden wir sehen was die Zukunft bringtHeute (jedenfalls) hat er kein Problemsup2

Diese epikureische Loumlsung hat nochnie recht zu uumlberzeugen vermocht und Sene-ca nutzt dieUnzufriedenheit des Interlokutors (bzw des Lucilius) umdie stoischeLehre von der Zustimmung zum Affektimpuls (συγϰατάϑεσις assensio) vorzube-reiten

138 rsaquoAt enim futurum estlsaquo ndash Primum dispice an certa argumenta sint venturi mali plerum-que enim suspicionibus laboramus et illudit nobis illa quae conficere bellum solet fama multoautem magis singulos conficit Ita est mi Lucili c i to accedimus opinioni non coargui-mus illa quae nos in metum adducunt nec excutimus []

rsaquoAber (das Unheil) wird doch eintretenlsaquo ndash Erstens schau genau hin ob es sichere Anzeichenfuumlr ein kommendes Unheil gibt meistens leiden wir naumlmlich aufgrund unserer Verdaumlchti-gungen und uns narrt jenes Geruumlcht das einen Krieg vom Zaune zu brechen pflegt nochmehr aber die einzelnen Leute zugrunderichtet So ist es mein Lucilius Wir pflichten un-

1 Also in genau der Weise wie er es in 135 schon vorbereitet hatte quaedam ergo nosmagis tor-quent quam debent Auch das dazugehoumlrige Fazit augemus dolorem legte ja nur eine quantitativeDeutung nahe s dazu oben auf Seite 1262 Vgl zu diesem Gedanken oben Anm 2 auf Seite 126 Nicht ganz deutlich gibt diesen GedankenCiceros Torquatus wieder (fin 159) accedunt aegritudines molestiae maerores qui exedunt ani-mos conficiuntque curis hominum non intellegentium nihil dolendum esse animo quod sit a dolorecorporis praesenti futurove seiunctum ndash Danach koumlnnte man meinen Epikur lasse die Angstvor zukuumlnftigen Uumlbeln zu

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31 Strategien gegen die Angst | 129

serer Meinung zu schnell bei wir pruumlfen jene Dinge nicht die uns in Furcht versetzen unduntersuchen sie nicht genau []

Das ist nicht viel mehr als eine Andeutung aber sie hilft die stoische Loumlsungrsaquoim Spiellsaquo zu halten ohne auf die Kasuistik verzichten zu muumlssen Und bei dieserscheut sich Seneca nicht sogleich wieder unter das stoische Niveau zu zufallennochmals therapiert er die Furcht vor dem kommenden Unheil epikureisch undim offenen Widerspruch zur stoischen praemeditatio-Empfehlung

1310f 10 Verisimile est aliquid futurum mali non statim verum est Quam multa nonexspectata venerunt Quam multa exspectata nusquam conparuerunt Etiam si futurum estquid iuvat dolor i suo occurrere Satis cito dolebis cum venerit interim tibi meliorapromitte 11 Quid facies lucri Tempus

10 Es ist sehr wahrscheinlich dass ein Unheil eintreten wird (deshalb) ist es (aber) nichtsogleich (auch schon)wahrWie vieleDinge sind eingetreten obwohl sie nicht erwartetwur-den Wie viele Dinge die erwartet wurden sind nirgendwo erschienen Und wenn es docheintreten wird Was nuumltzt es dann seinem Schmerz zuvorzukommen Du wirst fruumlh genugSchmerz empfinden wenn es eingetreten ist Bis dahin stelle dir bessere Perspektiven vorAugen 11 Was du dadurch gewinnen wirst Zeit

Noch mehr fuumlhrt es von der stoischen Lehre weg wenn Seneca Lucilius fuumlr denFall dass er die Furcht nicht niederhalten kann sogar den Griff zu einem ent-gegengesetzten Laster empfiehlt (1312) si minus vitio vitium repelle spe metumtempera ndash raquowenn (es) weniger (gut moumlglich ist) dann draumlnge eine Fehlhaltungdurch eine andere zuruumlck und maumlszligige die Furcht durch die Hoffnunglaquo

Mit solchen Gedanken und offenkundigen Notloumlsungen mag sich der rsaquoschwa-chelsaquo Patient der noch keine rsaquostaumlrkere Medizinlsaquo vertraumlgt behelfensup1 Doch Senecahat durchdie staumlndige Praumlsenzder stoischenGegensicht dafuumlr gesorgt dass er be-reits ein schlechtes Gewissen dabei haben muss Und falls er es doch noch nichthaben sollte so sorgt der Briefabschluss dafuumlr der mit 1314 eingelaumlutet wird undwieder die Anfangsperspektive uumlbernimmt

1314 Pudet me daggeribidaggersic tecum loqui et tam lenibus te remediis focilare Alius dicat rsaquofortassenon venietlsaquo tu dic rsaquoquid porro si veniet videbimus uter vincat fortasse pro me venit et morsista vitam honestabitlsaquo

Ich schaumlme mich an dieser Stelle so mit dir zu reden und dich mit so sanften Heilmitteln zuhaumltschelnsup2 Ein anderer soll vonmir aus sagen rsaquovielleicht tritt es gar nicht einlsaquo Duaber sollstsagen rsaquoNaundWas ist wenn es kommen wird Wir werden sehen wer siegt vielleicht trittes zu meinen Gunsten ein und jener Tod wird mein Leben adelnlsaquo

1 Vgl zu diesem Gedanken die oben (S 114) angefuumlhrte Stelle aus const sap2 focilare steht eigentlich fuumlr rsaquodurch Waumlrme wieder ins Leben zuruumlckbringenlsaquo

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130 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Seneca laumlsst ndash als peroratio in Kurzform ndash die Standard-exempla Sokrates und Ca-to folgen und schlieszligt einen Appell an damit ist die stoische Perspektive durchzwei rsaquoBruumlckenkoumlpfelsaquo am Anfang und Ende des eigentlichen Briefes gesichert undSeneca kann zum Epikur-dictum uumlbergehen

312 Angsttherapie im Wandel

Der 13 Brief zeigt keine Angstbehandlung aus einheitlicher philosophischer Per-spektive sondern arbeitet mit dem Hilfsmittel des philosophischen Perspektiven-wechsels Dabei wird die stoische Sicht zwar favorisiert die eigentliche Therapiearbeitet aber mit epikureisch gepraumlgten Handreichungen

Aus diesem Mischbefund heraus ergibt sich die Frage ob sich das Kraumlftever-haumlltnis zwischen Epikureismus und Stoizismus im Verlauf der Briefe zugunsteneiner der beidenSeitenverschiebt Amehesten laumlsst sichdas andemgerade schonangesprochenen Themenkomplex des Umganges mit der Angst uumlberpruumlfen weilSeneca diesen ausreichend oft und in breiter Streuung uumlber das Briefcorpus hin-wegwiederkehren laumlsst Eine Entwicklungmuumlsste sichhier besonders gut ablesenlassen

Der ganze Bereich ist inhaltlich und systematisch bereits durch die gruumlnd-liche Untersuchung Wachts erschlossen Leider laumlsst dieser jedoch die Fragenach der philosophischen Entwicklung weitgehend auszliger Betracht Zwar nimmtWacht vor allem im Verhaumlltnis zwischen Brief 13 und 24 eine deutliche Veraumln-derung der Argumentationsweise wahr (527) doch scheint er nicht zu erwaumlgendass dahinter eine kompositorische bzw therapeutische Absicht stecken koumlnntejedenfalls stellt er nirgendwo die Frage inwiefern zB fruumlhe Aumluszligerungen wirk-lich Senecas Meinung wiedergeben Daher kombiniert er in seiner DarstellungArgumentationen aus weit auseinanderliegenden Briefen ohne verschiedenersaquoTherapiestufenlsaquo zu unterscheiden Doch diese unterscheiden sich wie ein Ver-gleich zeigen soll erheblich voneinander

Im letztenBriefabschnitt des fuumlnftenBriefes (57ndash9) entwickelt Seneca imRah-men seiner Auslegung des Briefdictums (Hekaton Desines timere si sperare de-sieris) den Gedanken dass Hoffnung und Furcht wie Waumlchter und Gefangeneraneinander gekettet sind das sei auch ganz logisch weil beide Affekte besorgteProjektionen auf die Zukunft seien (utrumque pendentis animi est utrumque futuriexpectatione solliciti) So weit so gut ndash dieser Gedanke ist was die Zuordnung zuEpikur oder zur Stoa betrifft neutral Doch die Analyse die folgt ist epikureisch

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31 Strategien gegen die Angst | 131

58 Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed cogitationes inlonginqua praemittimus itaque providentia maximum bonum condicionis humanae in ma-lum versa est

Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht auf die ge-genwaumlrtigenDinge konzentrieren sondern unsereUumlberlegungen aufweit Entferntes voraus-senden und so hat sich die Faumlhigkeit zur Voraussicht der groumlszligte Vorzug der menschlichenNatur zum Uumlblen hin verwandelt

Damit seien wir noch schlechter beraten als die Tiere die sich nur durch Gegen-waumlrtiges bedruumlcken lieszligen bei uns fuumlhle sichniemandnicht nur aufgrund gegen-waumlrtiger Uumlbel bedruumlckt (nemo tantum praesentibus miser est)

Mit diesen Worten endet der Brief es gibt ndash anders als in der 13 Epistel ndash keinstoisierendes kein zu einer houmlheren Sicht aufrufendes Finale und keine exem-pla die den Leser auffordern sich zu ermannen und den Gefahren mit Mut entge-genzutreten Und auch vor dem soeben angesprochenen Abschnitt sucht man diestoische Position vergebens Der Gedankengang ist voll und ganz epikureischundsteht in unausgeglichenem Gegensatz zur praemeditatio-Lehre einzig im unauf-faumlllig eingewobenen itaque providentia maximumbonumcondicionis humanae inmalum versa est koumlnnte man bei gutem Willen einen aufglimmenden Funken desin 46 eingefuumlhrten praemeditatio-Gedankens erkennen Doch Seneca huumltet sichauf diesen Widerspruch aufmerksam zu machen Nur fuumlr den der schon fuumlr ihnempfaumlnglich ist ist dieser Schimmer einer stoischen Sicht uumlberhaupt wahrnehm-bar

Wie geht Seneca diese Thematik in spaumlteren Briefen anNehmenwir zunaumlchst einweit entferntes Beispiel Im 98 Briefsup1 lesen wir Saumltze die den epikureisierendenPassagen des 5 aber auch denen des 13 Briefes durchaus aumlhnlich klingen zB(Beruumlhrungen zur epikureischen Lehre hervorgehoben)

986 Calamitosus est animus futuri anxius et ante miser ias misersup2 qui sol l ic i tus estut ea quibus delectatur ad extremum usque permaneant nullo enim tempore conquiescit etexpectat ione ventur i praesentia quibus frui poterat amittet

Schlimm dran ist ein Mensch der um die Zukunft besorgt und (schon) vor dem Ungluumlckungluumlcklich ist der besorgt ist dass das woran er sich freut bis an sein Lebensende erhal-ten bleibt er wird naumlmlich zu keiner Zeit zur Ruhe kommen und wird in der Erwartung derZukunft das Gegenwaumlrtige das er haumltte genieszligen koumlnnen verlieren

1 Die thematische Verwandtschaft der Briefe 5 13 14 24 und 98 ist in der Forschung oft gesehenworden zB Cancik Untersuchungen 72ndash75 (geht auf die ersten vier der genannten Briefe ein)Maurach Bau 73f und 97 mit Anm 78 Hachmann Leserfuumlhrung 130ndash1342 Vgl epist 134 illud tibi praecipio ne sis miser ante tempus

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132 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Oder

987f 7 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est ma-lum suum antecedere 8 [] Plus dolet quam necesse est qui ante dolet quam ne-cesse est

7 Nichts ist erbaumlrmlicher und nichts unsinniger als sich schon vorher zu fuumlrchten Was istdas fuumlr ein Wahnsinn seinem Ungluumlck zuvorzukommen 8 [] Mehr als noumltig leidet werfruumlher als noumltig leidet

Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied Der 98 Brief zeichnet eine vollkom-men andere Situation Waumlhrend im 5 und vor allem im 13 Brief die Ratschlaumlgeeinem (vermuteten) Bedarf auf Seiten des rsaquoLuciliuslsaquo entsprechen er also selbstihr Adressat ist sind sie im 98 Brief Beiprodukt einer anderen Thematik naumlm-lich der allgemeinen Eroumlrterung von Fragen der stoischen Guumlterlehre Aus demEingangssatz raquoMan sollte nie einen fuumlr gluumlcklich halten der vom (aumluszligeren) Gluumlckabhaumlngig istlaquosup1 hatte Seneca die Frage entstehen lassen ob aumluszligere Guumlter dennnicht trotzdem angenehm und nuumltzlich sein koumlnnten (Eine solche auf der stoi-schen ἀδιάφορα-Lehre basierende Frage ist uumlbrigens das sei vorweggenommenvor dem 65 Brief undenkbar) Zwar bejaht Seneca diessup2 doch knuumlpft er das anein entsprechendes mentales Training sich dabei staumlndig der eigentlichen Guumlterbewusst zu sein

984 Sive alios observare volueris (liberius enim inter aliena iudicium est) sive te ipsum fa-vore seposito et senties hoc et confiteberis nihil ex his optabilibus et caris utile esse nisi tecontra levitatem casus rerumque casum sequentium instruxeris nisi illud frequenter et sinequerella inter singula damna dixeris raquodis aliter visum estlaquo [Verg Aen 2428]

Sei es dass du andere (das Urteil ist naumlmlich bei fremden Angelegenheiten unbefangener)oder dass du unter Beiseitelegen von Selbstgefaumllligkeit dich selbst daraufhin ansehenwillstDu wirst dies bemerken und anerkennen dass nichts von diesen wuumlnschenswerten undwertvollen Dingen nuumltzlich ist wenn du dich nicht gegen die Unbestaumlndigkeit des Zufallsund derjenigen Dinge die dem Zufallsgesetz folgen wappnest und wenn du nicht oft undohne Klagen bei einzelnen Ungluumlcksfaumlllen jenen Satz vorbringst rsaquoDie Goumltter wollten es an-derslsaquo

1 Numquam credideris felicem quemquam ex felicitate suspensum2 Uumlbrigens wieder unter reichlicher Beimischung epikureischer Stimulanzien (s oben S 39) andieser Stelle (981f) wird die Verknuumlpfung genuin stoischer Gedanken mit diesen Sekundaumlrmoti-ven besonders deutlich rsaquoQuid ergo non usui ac voluptati esse possuntlsaquoQuis negat sed itasi lla ex nobis pendent non ex illis nos Omnia quae fortuna intuetur ita fruct i fera ac iucundafiunt si qui habet illa se quoque habet nec in rerum suarum potestate est

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31 Strategien gegen die Angst | 133

Die Passage zeigt deutlich dass die Aufforderungen zur praemeditatio (und eben-so zur Schicksalsergebenheit sozusagen einermeditatio in ipso eventu) in diesemBrief weder einen konkreten Anlass haben noch einer konkreten Person geltenEs geht bei diesen Uumlberlegungen nicht um Luciliusrsquo Gemuumltslage sondern um dierichtige Bewertung der Guumlter

Seneca glaubt im 98 Brief auch nicht mehr dass Lucilius hier noch einenNachholebedarf hat Das wird schon daraus ersichtlich dass Seneca anders alsim 5 Brief Lucilius und sich nicht mehr einschlieszligt in die Menge derer die denFehler machen sich durch Vergangenes und Zukuumlnftiges bedruumlcken zu lassenIm 5 Brief hieszlig es noch

58ndash9 8 [] Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed co-gitationes in longinqua praemittimus[] 9 Ferae pericula quae vident fugiunt cum effu-gere securae sunt nos et venturo torquemur et praeterito

8 [] Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht aufdie gegenwaumlrtigen Dinge konzentrieren sondern unsere Uumlberlegungen auf weit Entferntesvoraussenden [] 9 Die wilden Tiere fliehen vor den Gefahren die sie (gerade) sehenwir aber lassen uns von Zukuumlnftigem und Vergangenem peinigen

Auch der 13 Brief formulierte einschlieszligend und die dort bereits erkennbareMissbilligung dieser Haltung war noch in die Form des freundlichen Hinweisesgegossen (zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere) Nun aber im 98 Brief di-stanziert Seneca sich Lucilius und damit den Leser von einer solchen Positionindem er diese (in der dritten Person) mit beiszligendem Hohn uumlberzieht Wenigmitfuumlhlend haumllt er nichts fuumlr raquoerbaumlrmlicher und duumlmmer als sich im Voraus zufuumlrchtenlaquo es sei geradezu ein Zeichen geistiger Umnachtung sich so zu ver-haltensup1 Fuumlr die die sich staumlndig vor der Zukunft fuumlrchten bringt Seneca keinVerstaumlndnis auf er schimpft sie (988) raquoKummerleider die sich selbst im Wegestehenlaquo (satagii ac sibi molestos) und raquoLeute ohne Selbstkontrollelaquo (intemperan-tes) Kurz Was im 13 Brief noch ein unverbindliches Angebot zum Nachdenkenwar das ist hier zur unverhandelbaren Forderung geworden die Angst vor derZukunft ist nicht mehr salonfaumlhig

Konsequenterweise wird das was im 13 Brief lediglich als rsaquohoumlherelsaquo Hand-lungsoption charakterisiert wurde (oben S 129) im 98 Brief als rsaquoalternativloslsaquofuumlr einen guten Charakter dargestellt und dichotomisch vom Unvermoumlgen desschlechten Charakters unterschieden

1 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est malum suum antece-dere (987)

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982ndash3 2 Valentior enim omni fortuna animus est et in utramque partem ipse res suas du-cit beataeque ac miserae vitae sibi causa est 3 Malus omnia in malum vertit etiam quaecum specie optimi venerant rectus atque integer corrigit prava fortunae et dura atque asperaferendi scientia mollit eqs

2 Der Geist ist naumlmlich staumlrker als alles Schicksal er selbst lenkt seine Geschicke in dieeine oder die andere Richtung und ist fuumlr sich selbst die Ursache eines gluumlcklichen oder un-gluumlcklichen Lebens 3 Der Schlechte verwandelt alles in Schlechtes selbst das was mitdem Schein des Bestmoumlglichen eingetreten war der Aufrechte und Unbeirrte (demgegen-uumlber) berichtigt die Maumlngel des Schicksals und macht durch seine Faumlhigkeit zum Ertragendas Harte und Raue weich usw

Aber noch in einemanderenPunkt tritt der bis zum im98 Brief erreichteTherapie-fortschritt deutlich hervor Waumlhrend im 13 Brief der Gegenpol zur rsaquostarkenlsaquo stoi-schen Sicht nur in der rsaquoschwachenlsaquo epikureischen bestand so warnt der 98 Briefnicht minder vor dem entgegengesetzten Extrem naumlmlich (in einseitiger Ausle-gung der stoischen Guumlterlehre) aumluszligere Guumlter gar nicht mehr zu achten Vielmehrfordert Seneca ausdruumlcklich dazu auf gefaumlhrlichen Situationen aus dem Wegezu gehen Direkt vor der oben erwaumlhnten Verurteilung des Sich-vorher-Fuumlrchtensheiszligt es

987 Nec ideo praecipio tibi neglegentiam Tu vero metuenda decl ina quidquid consilioprospici potest prospice quodcumque laesurum est multo ante quam accidat speculare etaverte In hoc ipsum tibi plurimum conferet fiducia et ad tolerandum omne obfirmata mensPotest fortunam cavere qui potest ferre certe in tranquillo non tumultuatur

Doch ich schreibe dir deshalbnichtNachlaumlssigkeit [ imUmgang mit den ἀδιάφοραndash (Anm UD)

] vor Du sollst durchaus den fuumlrchtenswerten Ereignissen aus dem Wege gehen was auchimmer rational vorausgesehen werden kann das sieh voraus was auch immer verletzenkann das fasse weit fruumlher als es passiert ins Auge und wende es ab Gerade dafuumlr wird dirdein Selbstvertrauen und dein alles zu ertragen gefestigter Sinn sehr zugute kommen Derkann dem Schicksal ausweichen der es tragen kann zumindest gibt es bei einem ruhigenMenschen keinen Aufruhr

Welches Fazit koumlnnen wir hieraus ziehen Seneca empfiehlt zwar sowohl in fruuml-heren Briefen als auch im 98 Brief sich erstens das Leben nicht durch verfruumlhteAngst selbst schwer zu machen und zweitens gefaumlhrlichen Situationen ndash wennmoumlglich ndash aus dem Weg zu gehen Doch erstens treten nur in den fruumlheren Brie-fen dazu Ratschlaumlge die mit der stoischen Lehre in keinster Weise vereinbar sind(zB epist 1310 interim tibi meliora promitte 1312 spe metum tempera)sup1 Zweitens

1 Verschweigen dieses Mittels im 98 Brief richtig gesehen bei Hachmann Leserfuumlhrung 131raquoDie scheinbare Hilfe durch Verdraumlngung [] wird in Brief 98 gar nicht erwaumlhntlaquo Hachmannscheint aber nicht zu bemerken dass der Grund fuumlr dieseAuslassung eben in derUnvereinbarkeit

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31 Strategien gegen die Angst | 135

laumlsst Seneca inden fruumlhenBriefendieseArt vonRatschlaumlgenausderRuumlcksicht aufdie Schwaumlche des Lucilius entstehensup1 oder formuliert sie nach Art einer epikurei-schen Lust-Schmerz-Bilanzsup2 Demgegenuumlber werden die Ratschlaumlge im 98 Briefallein aus der stoischen Guumlterlehre abgeleitet Zwar verwendet Seneca noch im-mer epikureische Argumentationsmuster (989 laumlsst er zudem Metrodor als Kron-zeuge auftreten) jedoch tut er das nicht mehr in mit der stoischen Lehre inkom-patibler sondern ausschlieszliglich in komplementaumlrer und streng untergeordneterWeise Epikur ist kein Konkurrent mehr kein Gegenmodell Er ist zum Helfer her-abgesunken der die Luumlcken ausfuumlllen darf die ihm die stoische Lehre gelassenhat

Der zuletzt zitierte Gedanke (Potest fortunam cavere qui potest ferre) illustriertdieses Selbstverstaumlndnis in hervorragender Weise Wenn Seneca die Erfuumlllungder epikureischen Forderung dem Schicksal auszuweichen (fortunam cavere) aneinen Charakter knuumlpft der dem Schicksal auch standhalten kann (qui potest fer-re) ndash der also die stoische Selbstbeherrschung verinnerlicht hat ndash dann sagt erdamit rsaquoKein Epikureer kann die epikureischen Forderungen so gut erfuumlllen wiewir Stoikerlsaquosup3

Diese Einverleibung Epikurs als eines im praktischen Bereich nuumltzlichenrsaquoKnechtslsaquo fuumlr die Erziehung zur stoischen Lebensweise ist wie ich spaumlter nochdeutlicher zeigen moumlchte (Kapitel 431) ein Hauptcharakteristikum fuumlr Senecas

mit der stoischen Lehre liegt (130 raquoAndererseits wird ein Argument das in den ersten Briefenbenutzt in ep 98 aber nicht verwendet wurde wahrscheinl ich mit Absicht ausgelassenworden seinlaquo [meine Hervorhebung])1 Vgl zB 135 Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes2 zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere Vgl auch 241 Quid enim necesse est [] praesenstempus futuri metu perdere3 Auch an dieser Stelle bringt Hachmann Leserfuumlhrung 132 die Sache zu wenig auf den PunktraquoHier geht der Brief 98 weit uumlber die Anfangsbriefe hinaus wenn er einen ursaumlchlichen Zusam-menhang sieht wo die Anfangsbriefe lediglich ein Nebeneinander sahen Nur der seelisch Star-ke welcher der Gefahr klar ins Auge sehen kann besitzt auch die notwendige Gelassenheit ver-nuumlnftige Gegenmaszlignahmen zu ergreifenlaquo Hachmann sieht im 98 Brief (bis auf die Auslassungder Verdraumlngungstaktik) offenbar wieder nur einen quantitativen Unterschied zu den fruumlherenraquoEinVergleich vonep 986mit ep 138ndash11 zeigt dass indemfruumlhenBrief die zukritisierendeFehl-haltung imVerhaumlltnis zu den echten Versuchender Heilung breiter dargestellt wurde Dagegenuumlberwiegt in ep 98 die Darstellung der Bewaumlltigunglaquo (ebd (Hervorhebung UD) ) MaurachBau 73f erkennt richtig dass im 98 Brief der systematische Zusammenhang erkennbar ist denSeneca in denBriefen 13 und 14 nicht erwaumlhnt der aber der dortigen Gedankenfuumlhrung zugrundeliegt Maurach geht es dabei darum die verdeckten inhaltlichen Beziehungen aufzudecken diedie Briefe 12ndash15 enger zusammenschlieszligen (eine wichtige Funktion kommt dabei der im 14 Briefangesprochenen οἰϰείωσις-Lehre zu) Die Frage nach Epikur- und Stoa-Kompatibilitaumlt der Argu-mente und damit nach Therapiestufen steht auszligerhalb seines Blickwinkels auf den Text

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Briefe Nur hieraus und nicht aus persoumlnlichen Faktoren (vermeintlicher Ek-lektizismus Senecas Beeinflussung durch Luciliusrsquo Epikureismus) erklaumlrt sicheinerseits die Affinitaumlt zu Epikur (wo er zu brauchen ist bedient sich Seneca sei-ner gern) andererseits die scharfe Abgrenzung von ihm (Epikurs Prinzipien sindund bleiben aus Senecas Sicht untragbar)

Um herauszufinden auf welchem Therapieniveau Seneca operiert genuumlgt esalsonicht dieHerkunft bestimmterArgumentationsmuster ausder epikureischenSchule aufzuzeigen Diese verwendet er immersup1 so geniert sich Seneca zB auchim 98 Brief nicht unmittelbar vor einer stoischen exempla-Serie als Trostmittelfuumlr etwaige Verluste die epikureische Ruumlckbesinnung auf die Vergangenheit zuempfehlen (9811) Habere eripitur habuisse numquam Die entscheidende Frageist vielmehr inwiefern Seneca dabei gegen das stoische Wertesystem verstoumlszligt

Ein aufschlussreicher Schritt auf diesemWege ist der 24 Brief Vonunserembishe-rigen Befund aus mag ein kurzer Blick auf ihn genuumlgensup2 Der 13 Brief hatte durchdie Gegenuumlberstellung der rsaquohoumlherenlsaquosup3 stoischen zur rsaquoniedrigerenlsaquo epikureischenSicht zum ersten Mal auf die Abloumlsung der epikureisierenden Ratschlagstopik des5 Briefes hingearbeitet Auch der 14 Brief wirkte zwar ndash mit ersten Anklaumlngen andie Oikeiosislehre ndash auf eine Relativierung der Angstausloumlser hin blieb aber inseinen Methoden unentschieden So klingt beispielsweise gegenuumlber der helden-haften Aufforderung den Koumlrper notfalls auch ins Feuer zu schicken wenn es dieVernunft die Wuumlrde oder die Treue fordere (142) der unmittelbar folgende Satzdoch wieder sehr nach dem epikureischen Ausweichgedanken

143 Nihilominus quantum possumus evitemus incommoda quoque non tantum pericula etin tutum nos reducamus excogitantes subinde quibus possint timenda depelli

Nichtsdestotrotz wollen wir auch Unannehmlichkeiten nicht nur Gefahren nach Kraumlftenaus dem Wege gehen und uns auf sicheres Gebiet zuruumlckziehen indem wir uns immer wie-der ausdenken wodurch angsterregende Situationen entschaumlrft werden koumlnnen

Den endguumlltigen Bruch mit einer von stoischen Prinzipien abgeloumlsten epikurei-schen Behandlung vollzieht erst der 24 Brief indem er erstmals auch bei derFurchtbekaumlmpfung der praemeditatio-Technik den eindeutigen Vorzug vor derepikureischen Verdraumlngungsloumlsung gibt Ein Meisterstuumlck ist dabei wie Senecazum Schein die epikureische Loumlsung vorbringt und zunaumlchst auf sie eingeht so

1 Siehe dazu oben S 392 Als weitere Wegmarken koumlnnte man insbesondere 316 (vgl unten S 203) anfuumlhren3 Zu diesen Kategorien und ihrer Etablierung im philosophischen Denken Ciceros Goumlrler Un-tersuchungen zu Ciceros Philosophie vgl oben Anm 1 auf S 127

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31 Strategien gegen die Angst | 137

dass jeder von seinen Lesern der noch mit Epikurs Lehre liebaumlugelt sich auf demrichtigen Weg waumlhnen darf wie er dann aber diese Ratschlaumlge mit einem Wischzur Seite legt und zwar mit genau dem Argument das auch im 13 Brief schon alsKritik an Epikur anklang Das Verdraumlngen einer schlimmen Zukunft kann nichtjede Sorge nehmen (weil es durchaus Situationen gibt in denen das Eintreten desUumlbels aumluszligerst wahrscheinlich ist)sup1

241ndash2 1 Sollicitum esse te scribis de iudicicirc eventu quod tibi furor inimici denuntiat existi-masme suasurumutmeliora tibi ipse proponas et adquiescas spei blandae Quid enimnecesseest mala accersere satis cito patienda cum venerint praesumere ac praesens tempus futurimetu perdere Est sine dubio stultum quia quandoque sis futurus miser esse iam miserum2 Sed ego alia te ad securitatem via ducam si vis omnem sollicitudinem exuere quidquidvereris ne eveniat eventurum utique propone et quodcumque est illud malum tecum ipse me-tire ac timorem tuum taxa

1 Du schreibst du seist beunruhigt in Betreff des Ausgangs eines Prozesses den dir die Ra-serei deines Widersachers ankuumlndigt du glaubst ich werde dir nun raten dass du dir selbstBesseres vor Augen stellst und bei einer verlockenden Hoffnung zur Ruhe kommst Wozuist es naumlmlich notwendig Ungluumlckssituationen herbeizurufen das vorauszunehmen waswenn es gekommen ist immer noch fruumlh genughinzunehmen ist und die gegenwaumlrtige Zeitdurch die Angst vor der zukuumlnftigen schon zu verderben 2 Es ist ohne Zweifel unsinnigjetzt schon ungluumlcklich zu sein weil du irgendwann einmal ungluumlcklich sein wirst Aber ichwill dich auf einem anderen Weg zur Sicherheit fuumlhren Wenndu alleUnruhe ablegen willstdann stelle dir alles dessen Eintreten du befuumlrchtest erst recht vor Augen und miss wasauch immer es fuumlr ein Ungluumlck ist bei dir selbst nach und schaumltze das Ausmaszligdeiner Furchtein

Es kann kein Zweifel daran bestehen dass dieser Beginn des 24 Briefes als Ge-genstuumlck und Fortentwicklung der Therapie des 13 Briefes gelten musssup2

Unverstaumlndlich ist mir in diesem Punkt die Deutung Canciks Untersuchungen 73f Sie ver-sucht ndash gegen Misch Autobiographie 433 ndash zu beweisen dass weder zwischen dem 13 und dem24 Brief noch zwischen dem5 unddem24 Brief eine Entwicklung des rsaquoLuciliuslsaquo stattfindet raquoVoneinem Ansatz zur Darstellung einer seelischen Entwicklung in Mischs Sinne kann also hier [ dhim 13 Brief ndash (AnmUD) ] nicht die Rede sein Genausowenig bezeichnet ep 24 eine gegenuumlber ep 13fortgeschrittene Stufe in der Entwicklung des Luciliuslaquo (74) Sie folgert das zum einen (a) dar-aus dass auch im 13 Brief beide Sichtweisen vertreten werden zum andern (b) weil sie meintdass auch 57 schon raquodie stoische Vorstellung von der Uumlberwindung der Leidenschaften [] rein

1 Siehe oben S 1282 RichtigMaurach Bau 97 sowieHachmann Leserfuumlhrung 182ndash190 (der zu Recht konstatiertdass die Notmethode der Angstbekaumlmpfung durch einen Gegenaffekt also das vitio vitium repel-lere von 1312 (s oben S 129) von epist 24 an nicht mehr zum Repertoire Senecas gehoumlrt) fernerWacht Angst in Senecas Briefen 527 raquoWas also zunaumlchst grundsaumltzlich vereinbar und als mil-dere Form der Angstbewaumlltigung akzeptiert schien muss hier einer Methode weichen die zumsicheren Erfolg zu fuumlhren versprichtlaquo

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138 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und eindeutiglaquo zum Ausdruck bringe (ebd) Doch wir haben gesehen dass (a) im 13 Brief beideSichtweisen noch miteinander wetteifernd auftreten und die stoische Loumlsung als die edlere dieepikureische aber als die derzeit wirkungsvollere dargestellt wird Die edlere Loumlsung legt sich da-bei wie ein Ring um die primitivere Canciks Deutung des 13 Briefes ist demnach verfehlt wennsie (ebd) behauptet raquoEine Interpretation von ep 13 im Ganzen zeigt dass ihr Gedankengangauf Steigerung angelegt istlaquo Denn der Brief enthaumllt nicht eine kontinuierliche Steigerung derphilosophischen Argumentationshoumlhe sondern beginnt in stoischer Houmlhe wird dann von 133bis 1313 durch eine epikureische Phase abgeloumlst und kehrt dann mit 1314 und den angedeutetenexempla wieder zum Ausgangsniveau zuruumlck Ganz anders ist das im 24 Brief Die epikureischeVerdraumlngungsloumlsung wird nur eingangs erwaumlhnt und zwar nur dazu um desto wirkungsvollerbeiseite gelegt werden zu koumlnnen Sie spielt im uumlbrigenBrief keine Rollemehr und ist vonAnfangan keine ernsthafte Alternative Die praemeditatio-Methode beherrscht von Beginn das Feld underhaumllt spaumltestens durch die lange exempla-Serie ab 243 ein erdruumlckendes Uumlbergewicht Einenfast schon verzweifelt zu nennenden opportunistischen Ratschlag wie 1313 crede quod mavis ndashraquoGlaube was du lieber willst (sc wenn du nur dadurch zur Ruhe kommst)laquo wird man nicht im24 und auch in keinem spaumlteren Brief mehr finden

Was (b) den 5 Brief angeht so muss man klar feststellen dass zwar der Zusammenhangzwischen Furcht und Hoffnung von dem Seneca dort spricht als Vorbereitung fuumlr eine spaumltereἀπάϑεια-Forderung gesehen werden kann Doch in der Hinsicht die wir als Indiz fuumlr eine Ent-wicklung des Lucilius angesehen haben naumlmlich in der Frage ob man zukuumlnftigen Uumlbeln ge-genuumlber eher die epikureische rsaquoKopf-in-den-Sand-Taktiklsaquo oder die kyrenaisch-stoische praemedi-tatio anwenden soll steht der 5 Brief wie wir gesehen habensup1 ganz eindeutig auf epikureischerSeitesup2 Abgesehen davon ist der Zusammenhang zur stoischen ἀπάϑεια auch nur fuumlr ein philo-sophisch bereits geuumlbtes Auge zu erkennen der Ratschlag erst ein Aufhoumlren des Hoffens werdeauch zum Ende des Fuumlrchtens fuumlhren laumlsst sich auch als gegen ein jeweiliges Zuviel im Einzel-fall gesprochen denken von einem raquoreinen und eindeutigenlaquo Propagieren der Uumlberwindung derLeidenschaften kann jedenfalls keine Rede sein

Doch obwohl er sich in der Entscheidung fuumlr die praemeditatio jetzt konse-quent zeigt ndash oder eben deshalb ndash sorgt Seneca umgehend dafuumlr dass die Bruumlckezum Epikureismus nicht gaumlnzlich abgerissen wird Er wolle sagt er Lucilius zursecuritas fuumlhren im Gegensatz zu Begriffen wie etwa constantia oder gar invulne-rabilitaswaumlhlt er damit einen Ausdruck der das epikureische Ideal der Sorglosig-keit (se+cura) uumlberdeutlich anklingen laumlsstsup3 Und die von Lucilius befuumlrchteten

1 S oben S 1312 Zu Recht skeptisch bereits Maurach Bau 97 Anm 78 ndash Hachmanns Widerlegungsversuch(Leserfuumlhrung 189) gegen diese Deutung von 57 durch Cancik speist sich allein aus dem Um-stand dass sich der 5 Brief noch im raquoEinleitungsteil des Werkeslaquo befinde Das allein halte ich fuumlrwenig schlagkraumlftig entscheidend ist die Stellung zur praemeditatio da diese wirklich ein Un-terscheidungskriterium zwischen Epikureismus und Stoa bietet vgl Abel Bauformen 38 undMaurach Bau 97 mit Anm 803 Das Wort kommt aus metrischen Gruumlnden bei Lukrez nicht vor inhaltlich ist es gleichwohlfast omnipraumlsent vgl zB im Prooumlm des zweiten Buches (216ndash19) nonne videre | nihil aliud sibi

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31 Strategien gegen die Angst | 139

Ereignisse bezeichnet Seneca so wie die breite Bevoumllkerung auch naumlmlich mitmalasup1

Doch es kommt noch besser Denn man duumlrfte nach der Ankuumlndigung diesesrsaquoanderen Weges zur Sorglosigkeitlsaquo erwarten dass Seneca jetzt wenn er jetzt mitden Worten intelleges profecto fortfaumlhrt ganz in stoischem Fahrwasser etwa sa-gen wird raquoDu wirst erkennen dass all diese Bedrohungen und Gefahren nichtigund nicht schwer zu ertragen sind und dass es allein auf unsere innere Haltungankommt Denn das einzige echte Uumlbel ist es sich verwerflich zu verhalten daseinzige Uumlbel ist die turpitudo Alle anderen Ereignisse vor denen du Angst hastsind keine wirklichen mala Das alles sind ἀδιάφορα also indifferente ethischambivalente Dingelaquo Stattdessen sagt er

242 intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis

du wirst ganz sicher erkennen dass es nicht groszlig oder aber nicht langdauernd ist wasdu fuumlrchtest

Das ist ndash worauf ua auch Wachtsup2 zu Recht hinweist ndash nichts anderes als Epikurswohlbekannte Formel gegen die Angst vor dem Schmerzsup3 die Cicero (fin 222) mitfast denselben Worten wie spaumlter Seneca zusammenfasst Si gravis [sc dolor] bre-vis si longus levis⁴

Die geschickte Wendung in der Formulierung laumlsst sich sicherlich wie ge-sagt als raquoRuumlcksicht auf den epikureischen Freundlaquo verstehen⁵ Doch sie ist mehrals das Die epikureische Schmerzformel ist ein nicht nur akutes sondern vonvornherein auch vorausschauendes Trostmittel Sie hat die Funktion die Angstvor einer schmerzhaften Zukunft zu verringern und enthaumllt damit schon von sichaus eine praumlmeditative Komponente Diesen fuumlr den Uumlbergang zur stoischen Leh-re guumlnstigen Umstand hat Seneca geschickt ausgenutzt Die Schmerzformel istein ideales Bindeglied um dem praemeditatio-Gedanken auch von epikureischerWarte aus Ruumlckhalt zu verschaffen

naturam latrare nisi ut qui | corpore seiunctus dolor absit mente fruatur | iucundo sensu curasemota metuque1 Anstelle einer stoisierenden Umschreibung vgl unten Kapitel 512 Angst in Senecas Briefen 528f3 Epic KD 4 GV 44 Vgl Sen epist 2414 Levis es si ferre possum brevis es si ferre non possum sowie ferner epist3014 ( nullum enim dolorem longum esse qui magnus est)5 Wacht Angst in Senecas Briefen 528 freilich darf dabei ndash wie oben (Kapitel 132 ab S 35)ausgefuumlhrt ndash unter rsaquoFreundlsaquo nicht die reale Person Lucilius verstanden werden sondern es gehtum die Integration des epikureisch orientierten Leserpublikums

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140 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Auch ein Stoiker wie Mark Aurel weiszlig uumlbrigens um den praktischen Wert die-ser Formel Und fuumlr die Bestimmung von Senecas Taktik ist es hochinteressant zusehen wie sich die Einbettung dieses Gedankens bei dem Philosophenkaiser imUnterschied zu Seneca darstellt Denn zum einen laumlsst Mark Aurel die stoischeSicht eben nicht fort sondern setzt sie in guter Ordnung an den Anfang

MarkAurel 764 ᾿Επὶ μὲνπαντὸς πόνου πρόχειρον ἔστω ὅτι οὐϰ αἰσχρὸνοὐδὲ τὴνδιάνοιαντὴν ϰυβερνῶσαν χείρω ποιεῖ οὔτε γὰρ ϰαϑὸ λογιϰή ἐστιν οὔτε ϰαϑὸ ϰοινωνιϰὴ διαφϑείρειαὐτήνBei jedem Ungemach sei Dir dieses Argument griffbereit dass es nicht moralisch verwerf-lich ist und die leitende Vernunft nicht schwaumlcht Denn weder insoweit sie vernuumlnftig nochinsoweit sie gemeinschaftsbezogen ist verdirbt es sie

Zum anderen kennzeichnet er den nun folgenden epikureischen Gedanken expli-zit als solchen und schraumlnkt ihn insoweit ein als er sagt dass diese Maxime nichtimmer sondern nur in den meisten Faumlllen anwendbar sei

Mark Aurel 764 Fortssup1 ἐπὶ μέντοι τῶν πλείστων πόνων ϰαὶ τὸ τοῦ ᾿Επιϰούρου σοι βοη-ϑείτω ὅτι οὔτε ἀφόρητον οὔτε αἰώνιον ἐὰν τῶν ὅρων μνημονεύῃς ϰαὶ μὴ προσδοξάζῃςBei den meisten Formen von Ungemach moumlge dir indes schon das Wort Epikurs helfen dasses weder unertraumlglich noch unendlich ist sofern du dich an die Fakten haumlltst und nichtschon im Vorhinein schlimme Erwartungen hegst

Insgesamt koumlnnenwir in Senecas Briefen bezogen auf die Frage der Angsttherapiefolgende Entwicklung feststellen Angefangen von epist 5 (= epikureische Thera-peutik) gibt es eine Entwicklung uumlber epist 13 und 14 (Mischform) epist 24 (vor-wiegend stoische Argumentation mit epikureischer Motivation jedoch vermischtmit epikureischer avocatio) hin zu epist 98 in der eine im Kern rein stoische Ar-gumentation vorliegt die sich jedoch nach wie vor epikureischer Hilfsargumentebedient

Senecas Taktik besteht demnach nicht darin die gegnerische rsaquoFestunglsaquo mitseinen Argumenten rsaquoim Handstreichlsaquo oder uumlberhaupt in der Schlacht zu nehmenVielmehr legt er es ndash um im Bild zu bleiben ndash darauf an sie nach und nach davonzu uumlberzeugen freiwillig ihre Tore zu oumlffnen Er will eine Transformation des Le-sers aber er will sie nicht auf dem Weg der Konfrontation sondern lieber auf demPfad schleichender Integration

Auch der 105 Brief fuumlgt sich in diese Ordnung ein Zwar legt Seneca seinem Freund hiernahezudie gleichenRatschlaumlgevor die er auch schon im13 14 und 24Brief gegebenhatteDoches geht uumlberhaupt nicht um Angstvermeidung sondern um aumluszligere Sicherheit Lucilius hat ndash so

1 = Epicur fr 447 Us

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 141

die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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144 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 9: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

128 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

einen quantitativen zwischen Mehr- oder Weniger-Leidensup1 zugleich waumlhlt er einBeispiel bei demdasWeniger-Leidenals erstrebenswert angesehenwerdenmussMit inbecillitate nostra bereitet Seneca den Leser (ohne dass er allzutief in diersaquograue Theorielsaquo eintauchen muss) darauf vor dass die Ursache fuumlr die Relativitaumltder Bewertung von Uumlbeln vor allem in unserer eigenen Sicht auf sie zu sehen ist

Auch in 7ndash8 koumlnnen wir beobachten wie Seneca geschickt beide philosophi-sche Richtungen einander gegenuumlberstellt wobei wiederum die Stoa in der houmlhe-ren Position erscheint Auf die fiktive Frage des Lucilius wie er wahre von einge-bildeten Gefahren unterscheiden koumlnne (rsaquoQuomodolsaquo inquis rsaquointellegam vana sintan vera quibus angorlsaquo) antwortet Seneca zunaumlchst ganz im Sinne Epikurs

137 Accipe huius rei regulam aut praesentibus torquemur aut futuris aut utrisque De prae-sentibus facile iudicium est si corpus tuum liberum et sanum est nec ullus ex iniuria dolor estvidebimus quid futurum sit hodie nihil negotii habetsup2

Hier hast du ein Richtmaszlig fuumlr diese Situation Wir werden entweder durch Gegenwaumlrtigesoder durch Zukuumlnftiges oder durch beides gequaumllt In Bezug auf Gegenwaumlrtiges ist die Ent-scheidung leicht Wenn dein Koumlrper frei und gesund ist und es keinen Schmerz aufgrundeines (erlittenen oder getanen) Unrechts gibt werden wir sehen was die Zukunft bringtHeute (jedenfalls) hat er kein Problemsup2

Diese epikureische Loumlsung hat nochnie recht zu uumlberzeugen vermocht und Sene-ca nutzt dieUnzufriedenheit des Interlokutors (bzw des Lucilius) umdie stoischeLehre von der Zustimmung zum Affektimpuls (συγϰατάϑεσις assensio) vorzube-reiten

138 rsaquoAt enim futurum estlsaquo ndash Primum dispice an certa argumenta sint venturi mali plerum-que enim suspicionibus laboramus et illudit nobis illa quae conficere bellum solet fama multoautem magis singulos conficit Ita est mi Lucili c i to accedimus opinioni non coargui-mus illa quae nos in metum adducunt nec excutimus []

rsaquoAber (das Unheil) wird doch eintretenlsaquo ndash Erstens schau genau hin ob es sichere Anzeichenfuumlr ein kommendes Unheil gibt meistens leiden wir naumlmlich aufgrund unserer Verdaumlchti-gungen und uns narrt jenes Geruumlcht das einen Krieg vom Zaune zu brechen pflegt nochmehr aber die einzelnen Leute zugrunderichtet So ist es mein Lucilius Wir pflichten un-

1 Also in genau der Weise wie er es in 135 schon vorbereitet hatte quaedam ergo nosmagis tor-quent quam debent Auch das dazugehoumlrige Fazit augemus dolorem legte ja nur eine quantitativeDeutung nahe s dazu oben auf Seite 1262 Vgl zu diesem Gedanken oben Anm 2 auf Seite 126 Nicht ganz deutlich gibt diesen GedankenCiceros Torquatus wieder (fin 159) accedunt aegritudines molestiae maerores qui exedunt ani-mos conficiuntque curis hominum non intellegentium nihil dolendum esse animo quod sit a dolorecorporis praesenti futurove seiunctum ndash Danach koumlnnte man meinen Epikur lasse die Angstvor zukuumlnftigen Uumlbeln zu

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31 Strategien gegen die Angst | 129

serer Meinung zu schnell bei wir pruumlfen jene Dinge nicht die uns in Furcht versetzen unduntersuchen sie nicht genau []

Das ist nicht viel mehr als eine Andeutung aber sie hilft die stoische Loumlsungrsaquoim Spiellsaquo zu halten ohne auf die Kasuistik verzichten zu muumlssen Und bei dieserscheut sich Seneca nicht sogleich wieder unter das stoische Niveau zu zufallennochmals therapiert er die Furcht vor dem kommenden Unheil epikureisch undim offenen Widerspruch zur stoischen praemeditatio-Empfehlung

1310f 10 Verisimile est aliquid futurum mali non statim verum est Quam multa nonexspectata venerunt Quam multa exspectata nusquam conparuerunt Etiam si futurum estquid iuvat dolor i suo occurrere Satis cito dolebis cum venerit interim tibi meliorapromitte 11 Quid facies lucri Tempus

10 Es ist sehr wahrscheinlich dass ein Unheil eintreten wird (deshalb) ist es (aber) nichtsogleich (auch schon)wahrWie vieleDinge sind eingetreten obwohl sie nicht erwartetwur-den Wie viele Dinge die erwartet wurden sind nirgendwo erschienen Und wenn es docheintreten wird Was nuumltzt es dann seinem Schmerz zuvorzukommen Du wirst fruumlh genugSchmerz empfinden wenn es eingetreten ist Bis dahin stelle dir bessere Perspektiven vorAugen 11 Was du dadurch gewinnen wirst Zeit

Noch mehr fuumlhrt es von der stoischen Lehre weg wenn Seneca Lucilius fuumlr denFall dass er die Furcht nicht niederhalten kann sogar den Griff zu einem ent-gegengesetzten Laster empfiehlt (1312) si minus vitio vitium repelle spe metumtempera ndash raquowenn (es) weniger (gut moumlglich ist) dann draumlnge eine Fehlhaltungdurch eine andere zuruumlck und maumlszligige die Furcht durch die Hoffnunglaquo

Mit solchen Gedanken und offenkundigen Notloumlsungen mag sich der rsaquoschwa-chelsaquo Patient der noch keine rsaquostaumlrkere Medizinlsaquo vertraumlgt behelfensup1 Doch Senecahat durchdie staumlndige Praumlsenzder stoischenGegensicht dafuumlr gesorgt dass er be-reits ein schlechtes Gewissen dabei haben muss Und falls er es doch noch nichthaben sollte so sorgt der Briefabschluss dafuumlr der mit 1314 eingelaumlutet wird undwieder die Anfangsperspektive uumlbernimmt

1314 Pudet me daggeribidaggersic tecum loqui et tam lenibus te remediis focilare Alius dicat rsaquofortassenon venietlsaquo tu dic rsaquoquid porro si veniet videbimus uter vincat fortasse pro me venit et morsista vitam honestabitlsaquo

Ich schaumlme mich an dieser Stelle so mit dir zu reden und dich mit so sanften Heilmitteln zuhaumltschelnsup2 Ein anderer soll vonmir aus sagen rsaquovielleicht tritt es gar nicht einlsaquo Duaber sollstsagen rsaquoNaundWas ist wenn es kommen wird Wir werden sehen wer siegt vielleicht trittes zu meinen Gunsten ein und jener Tod wird mein Leben adelnlsaquo

1 Vgl zu diesem Gedanken die oben (S 114) angefuumlhrte Stelle aus const sap2 focilare steht eigentlich fuumlr rsaquodurch Waumlrme wieder ins Leben zuruumlckbringenlsaquo

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130 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Seneca laumlsst ndash als peroratio in Kurzform ndash die Standard-exempla Sokrates und Ca-to folgen und schlieszligt einen Appell an damit ist die stoische Perspektive durchzwei rsaquoBruumlckenkoumlpfelsaquo am Anfang und Ende des eigentlichen Briefes gesichert undSeneca kann zum Epikur-dictum uumlbergehen

312 Angsttherapie im Wandel

Der 13 Brief zeigt keine Angstbehandlung aus einheitlicher philosophischer Per-spektive sondern arbeitet mit dem Hilfsmittel des philosophischen Perspektiven-wechsels Dabei wird die stoische Sicht zwar favorisiert die eigentliche Therapiearbeitet aber mit epikureisch gepraumlgten Handreichungen

Aus diesem Mischbefund heraus ergibt sich die Frage ob sich das Kraumlftever-haumlltnis zwischen Epikureismus und Stoizismus im Verlauf der Briefe zugunsteneiner der beidenSeitenverschiebt Amehesten laumlsst sichdas andemgerade schonangesprochenen Themenkomplex des Umganges mit der Angst uumlberpruumlfen weilSeneca diesen ausreichend oft und in breiter Streuung uumlber das Briefcorpus hin-wegwiederkehren laumlsst Eine Entwicklungmuumlsste sichhier besonders gut ablesenlassen

Der ganze Bereich ist inhaltlich und systematisch bereits durch die gruumlnd-liche Untersuchung Wachts erschlossen Leider laumlsst dieser jedoch die Fragenach der philosophischen Entwicklung weitgehend auszliger Betracht Zwar nimmtWacht vor allem im Verhaumlltnis zwischen Brief 13 und 24 eine deutliche Veraumln-derung der Argumentationsweise wahr (527) doch scheint er nicht zu erwaumlgendass dahinter eine kompositorische bzw therapeutische Absicht stecken koumlnntejedenfalls stellt er nirgendwo die Frage inwiefern zB fruumlhe Aumluszligerungen wirk-lich Senecas Meinung wiedergeben Daher kombiniert er in seiner DarstellungArgumentationen aus weit auseinanderliegenden Briefen ohne verschiedenersaquoTherapiestufenlsaquo zu unterscheiden Doch diese unterscheiden sich wie ein Ver-gleich zeigen soll erheblich voneinander

Im letztenBriefabschnitt des fuumlnftenBriefes (57ndash9) entwickelt Seneca imRah-men seiner Auslegung des Briefdictums (Hekaton Desines timere si sperare de-sieris) den Gedanken dass Hoffnung und Furcht wie Waumlchter und Gefangeneraneinander gekettet sind das sei auch ganz logisch weil beide Affekte besorgteProjektionen auf die Zukunft seien (utrumque pendentis animi est utrumque futuriexpectatione solliciti) So weit so gut ndash dieser Gedanke ist was die Zuordnung zuEpikur oder zur Stoa betrifft neutral Doch die Analyse die folgt ist epikureisch

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31 Strategien gegen die Angst | 131

58 Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed cogitationes inlonginqua praemittimus itaque providentia maximum bonum condicionis humanae in ma-lum versa est

Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht auf die ge-genwaumlrtigenDinge konzentrieren sondern unsereUumlberlegungen aufweit Entferntes voraus-senden und so hat sich die Faumlhigkeit zur Voraussicht der groumlszligte Vorzug der menschlichenNatur zum Uumlblen hin verwandelt

Damit seien wir noch schlechter beraten als die Tiere die sich nur durch Gegen-waumlrtiges bedruumlcken lieszligen bei uns fuumlhle sichniemandnicht nur aufgrund gegen-waumlrtiger Uumlbel bedruumlckt (nemo tantum praesentibus miser est)

Mit diesen Worten endet der Brief es gibt ndash anders als in der 13 Epistel ndash keinstoisierendes kein zu einer houmlheren Sicht aufrufendes Finale und keine exem-pla die den Leser auffordern sich zu ermannen und den Gefahren mit Mut entge-genzutreten Und auch vor dem soeben angesprochenen Abschnitt sucht man diestoische Position vergebens Der Gedankengang ist voll und ganz epikureischundsteht in unausgeglichenem Gegensatz zur praemeditatio-Lehre einzig im unauf-faumlllig eingewobenen itaque providentia maximumbonumcondicionis humanae inmalum versa est koumlnnte man bei gutem Willen einen aufglimmenden Funken desin 46 eingefuumlhrten praemeditatio-Gedankens erkennen Doch Seneca huumltet sichauf diesen Widerspruch aufmerksam zu machen Nur fuumlr den der schon fuumlr ihnempfaumlnglich ist ist dieser Schimmer einer stoischen Sicht uumlberhaupt wahrnehm-bar

Wie geht Seneca diese Thematik in spaumlteren Briefen anNehmenwir zunaumlchst einweit entferntes Beispiel Im 98 Briefsup1 lesen wir Saumltze die den epikureisierendenPassagen des 5 aber auch denen des 13 Briefes durchaus aumlhnlich klingen zB(Beruumlhrungen zur epikureischen Lehre hervorgehoben)

986 Calamitosus est animus futuri anxius et ante miser ias misersup2 qui sol l ic i tus estut ea quibus delectatur ad extremum usque permaneant nullo enim tempore conquiescit etexpectat ione ventur i praesentia quibus frui poterat amittet

Schlimm dran ist ein Mensch der um die Zukunft besorgt und (schon) vor dem Ungluumlckungluumlcklich ist der besorgt ist dass das woran er sich freut bis an sein Lebensende erhal-ten bleibt er wird naumlmlich zu keiner Zeit zur Ruhe kommen und wird in der Erwartung derZukunft das Gegenwaumlrtige das er haumltte genieszligen koumlnnen verlieren

1 Die thematische Verwandtschaft der Briefe 5 13 14 24 und 98 ist in der Forschung oft gesehenworden zB Cancik Untersuchungen 72ndash75 (geht auf die ersten vier der genannten Briefe ein)Maurach Bau 73f und 97 mit Anm 78 Hachmann Leserfuumlhrung 130ndash1342 Vgl epist 134 illud tibi praecipio ne sis miser ante tempus

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132 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Oder

987f 7 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est ma-lum suum antecedere 8 [] Plus dolet quam necesse est qui ante dolet quam ne-cesse est

7 Nichts ist erbaumlrmlicher und nichts unsinniger als sich schon vorher zu fuumlrchten Was istdas fuumlr ein Wahnsinn seinem Ungluumlck zuvorzukommen 8 [] Mehr als noumltig leidet werfruumlher als noumltig leidet

Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied Der 98 Brief zeichnet eine vollkom-men andere Situation Waumlhrend im 5 und vor allem im 13 Brief die Ratschlaumlgeeinem (vermuteten) Bedarf auf Seiten des rsaquoLuciliuslsaquo entsprechen er also selbstihr Adressat ist sind sie im 98 Brief Beiprodukt einer anderen Thematik naumlm-lich der allgemeinen Eroumlrterung von Fragen der stoischen Guumlterlehre Aus demEingangssatz raquoMan sollte nie einen fuumlr gluumlcklich halten der vom (aumluszligeren) Gluumlckabhaumlngig istlaquosup1 hatte Seneca die Frage entstehen lassen ob aumluszligere Guumlter dennnicht trotzdem angenehm und nuumltzlich sein koumlnnten (Eine solche auf der stoi-schen ἀδιάφορα-Lehre basierende Frage ist uumlbrigens das sei vorweggenommenvor dem 65 Brief undenkbar) Zwar bejaht Seneca diessup2 doch knuumlpft er das anein entsprechendes mentales Training sich dabei staumlndig der eigentlichen Guumlterbewusst zu sein

984 Sive alios observare volueris (liberius enim inter aliena iudicium est) sive te ipsum fa-vore seposito et senties hoc et confiteberis nihil ex his optabilibus et caris utile esse nisi tecontra levitatem casus rerumque casum sequentium instruxeris nisi illud frequenter et sinequerella inter singula damna dixeris raquodis aliter visum estlaquo [Verg Aen 2428]

Sei es dass du andere (das Urteil ist naumlmlich bei fremden Angelegenheiten unbefangener)oder dass du unter Beiseitelegen von Selbstgefaumllligkeit dich selbst daraufhin ansehenwillstDu wirst dies bemerken und anerkennen dass nichts von diesen wuumlnschenswerten undwertvollen Dingen nuumltzlich ist wenn du dich nicht gegen die Unbestaumlndigkeit des Zufallsund derjenigen Dinge die dem Zufallsgesetz folgen wappnest und wenn du nicht oft undohne Klagen bei einzelnen Ungluumlcksfaumlllen jenen Satz vorbringst rsaquoDie Goumltter wollten es an-derslsaquo

1 Numquam credideris felicem quemquam ex felicitate suspensum2 Uumlbrigens wieder unter reichlicher Beimischung epikureischer Stimulanzien (s oben S 39) andieser Stelle (981f) wird die Verknuumlpfung genuin stoischer Gedanken mit diesen Sekundaumlrmoti-ven besonders deutlich rsaquoQuid ergo non usui ac voluptati esse possuntlsaquoQuis negat sed itasi lla ex nobis pendent non ex illis nos Omnia quae fortuna intuetur ita fruct i fera ac iucundafiunt si qui habet illa se quoque habet nec in rerum suarum potestate est

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31 Strategien gegen die Angst | 133

Die Passage zeigt deutlich dass die Aufforderungen zur praemeditatio (und eben-so zur Schicksalsergebenheit sozusagen einermeditatio in ipso eventu) in diesemBrief weder einen konkreten Anlass haben noch einer konkreten Person geltenEs geht bei diesen Uumlberlegungen nicht um Luciliusrsquo Gemuumltslage sondern um dierichtige Bewertung der Guumlter

Seneca glaubt im 98 Brief auch nicht mehr dass Lucilius hier noch einenNachholebedarf hat Das wird schon daraus ersichtlich dass Seneca anders alsim 5 Brief Lucilius und sich nicht mehr einschlieszligt in die Menge derer die denFehler machen sich durch Vergangenes und Zukuumlnftiges bedruumlcken zu lassenIm 5 Brief hieszlig es noch

58ndash9 8 [] Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed co-gitationes in longinqua praemittimus[] 9 Ferae pericula quae vident fugiunt cum effu-gere securae sunt nos et venturo torquemur et praeterito

8 [] Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht aufdie gegenwaumlrtigen Dinge konzentrieren sondern unsere Uumlberlegungen auf weit Entferntesvoraussenden [] 9 Die wilden Tiere fliehen vor den Gefahren die sie (gerade) sehenwir aber lassen uns von Zukuumlnftigem und Vergangenem peinigen

Auch der 13 Brief formulierte einschlieszligend und die dort bereits erkennbareMissbilligung dieser Haltung war noch in die Form des freundlichen Hinweisesgegossen (zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere) Nun aber im 98 Brief di-stanziert Seneca sich Lucilius und damit den Leser von einer solchen Positionindem er diese (in der dritten Person) mit beiszligendem Hohn uumlberzieht Wenigmitfuumlhlend haumllt er nichts fuumlr raquoerbaumlrmlicher und duumlmmer als sich im Voraus zufuumlrchtenlaquo es sei geradezu ein Zeichen geistiger Umnachtung sich so zu ver-haltensup1 Fuumlr die die sich staumlndig vor der Zukunft fuumlrchten bringt Seneca keinVerstaumlndnis auf er schimpft sie (988) raquoKummerleider die sich selbst im Wegestehenlaquo (satagii ac sibi molestos) und raquoLeute ohne Selbstkontrollelaquo (intemperan-tes) Kurz Was im 13 Brief noch ein unverbindliches Angebot zum Nachdenkenwar das ist hier zur unverhandelbaren Forderung geworden die Angst vor derZukunft ist nicht mehr salonfaumlhig

Konsequenterweise wird das was im 13 Brief lediglich als rsaquohoumlherelsaquo Hand-lungsoption charakterisiert wurde (oben S 129) im 98 Brief als rsaquoalternativloslsaquofuumlr einen guten Charakter dargestellt und dichotomisch vom Unvermoumlgen desschlechten Charakters unterschieden

1 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est malum suum antece-dere (987)

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134 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

982ndash3 2 Valentior enim omni fortuna animus est et in utramque partem ipse res suas du-cit beataeque ac miserae vitae sibi causa est 3 Malus omnia in malum vertit etiam quaecum specie optimi venerant rectus atque integer corrigit prava fortunae et dura atque asperaferendi scientia mollit eqs

2 Der Geist ist naumlmlich staumlrker als alles Schicksal er selbst lenkt seine Geschicke in dieeine oder die andere Richtung und ist fuumlr sich selbst die Ursache eines gluumlcklichen oder un-gluumlcklichen Lebens 3 Der Schlechte verwandelt alles in Schlechtes selbst das was mitdem Schein des Bestmoumlglichen eingetreten war der Aufrechte und Unbeirrte (demgegen-uumlber) berichtigt die Maumlngel des Schicksals und macht durch seine Faumlhigkeit zum Ertragendas Harte und Raue weich usw

Aber noch in einemanderenPunkt tritt der bis zum im98 Brief erreichteTherapie-fortschritt deutlich hervor Waumlhrend im 13 Brief der Gegenpol zur rsaquostarkenlsaquo stoi-schen Sicht nur in der rsaquoschwachenlsaquo epikureischen bestand so warnt der 98 Briefnicht minder vor dem entgegengesetzten Extrem naumlmlich (in einseitiger Ausle-gung der stoischen Guumlterlehre) aumluszligere Guumlter gar nicht mehr zu achten Vielmehrfordert Seneca ausdruumlcklich dazu auf gefaumlhrlichen Situationen aus dem Wegezu gehen Direkt vor der oben erwaumlhnten Verurteilung des Sich-vorher-Fuumlrchtensheiszligt es

987 Nec ideo praecipio tibi neglegentiam Tu vero metuenda decl ina quidquid consilioprospici potest prospice quodcumque laesurum est multo ante quam accidat speculare etaverte In hoc ipsum tibi plurimum conferet fiducia et ad tolerandum omne obfirmata mensPotest fortunam cavere qui potest ferre certe in tranquillo non tumultuatur

Doch ich schreibe dir deshalbnichtNachlaumlssigkeit [ imUmgang mit den ἀδιάφοραndash (Anm UD)

] vor Du sollst durchaus den fuumlrchtenswerten Ereignissen aus dem Wege gehen was auchimmer rational vorausgesehen werden kann das sieh voraus was auch immer verletzenkann das fasse weit fruumlher als es passiert ins Auge und wende es ab Gerade dafuumlr wird dirdein Selbstvertrauen und dein alles zu ertragen gefestigter Sinn sehr zugute kommen Derkann dem Schicksal ausweichen der es tragen kann zumindest gibt es bei einem ruhigenMenschen keinen Aufruhr

Welches Fazit koumlnnen wir hieraus ziehen Seneca empfiehlt zwar sowohl in fruuml-heren Briefen als auch im 98 Brief sich erstens das Leben nicht durch verfruumlhteAngst selbst schwer zu machen und zweitens gefaumlhrlichen Situationen ndash wennmoumlglich ndash aus dem Weg zu gehen Doch erstens treten nur in den fruumlheren Brie-fen dazu Ratschlaumlge die mit der stoischen Lehre in keinster Weise vereinbar sind(zB epist 1310 interim tibi meliora promitte 1312 spe metum tempera)sup1 Zweitens

1 Verschweigen dieses Mittels im 98 Brief richtig gesehen bei Hachmann Leserfuumlhrung 131raquoDie scheinbare Hilfe durch Verdraumlngung [] wird in Brief 98 gar nicht erwaumlhntlaquo Hachmannscheint aber nicht zu bemerken dass der Grund fuumlr dieseAuslassung eben in derUnvereinbarkeit

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31 Strategien gegen die Angst | 135

laumlsst Seneca inden fruumlhenBriefendieseArt vonRatschlaumlgenausderRuumlcksicht aufdie Schwaumlche des Lucilius entstehensup1 oder formuliert sie nach Art einer epikurei-schen Lust-Schmerz-Bilanzsup2 Demgegenuumlber werden die Ratschlaumlge im 98 Briefallein aus der stoischen Guumlterlehre abgeleitet Zwar verwendet Seneca noch im-mer epikureische Argumentationsmuster (989 laumlsst er zudem Metrodor als Kron-zeuge auftreten) jedoch tut er das nicht mehr in mit der stoischen Lehre inkom-patibler sondern ausschlieszliglich in komplementaumlrer und streng untergeordneterWeise Epikur ist kein Konkurrent mehr kein Gegenmodell Er ist zum Helfer her-abgesunken der die Luumlcken ausfuumlllen darf die ihm die stoische Lehre gelassenhat

Der zuletzt zitierte Gedanke (Potest fortunam cavere qui potest ferre) illustriertdieses Selbstverstaumlndnis in hervorragender Weise Wenn Seneca die Erfuumlllungder epikureischen Forderung dem Schicksal auszuweichen (fortunam cavere) aneinen Charakter knuumlpft der dem Schicksal auch standhalten kann (qui potest fer-re) ndash der also die stoische Selbstbeherrschung verinnerlicht hat ndash dann sagt erdamit rsaquoKein Epikureer kann die epikureischen Forderungen so gut erfuumlllen wiewir Stoikerlsaquosup3

Diese Einverleibung Epikurs als eines im praktischen Bereich nuumltzlichenrsaquoKnechtslsaquo fuumlr die Erziehung zur stoischen Lebensweise ist wie ich spaumlter nochdeutlicher zeigen moumlchte (Kapitel 431) ein Hauptcharakteristikum fuumlr Senecas

mit der stoischen Lehre liegt (130 raquoAndererseits wird ein Argument das in den ersten Briefenbenutzt in ep 98 aber nicht verwendet wurde wahrscheinl ich mit Absicht ausgelassenworden seinlaquo [meine Hervorhebung])1 Vgl zB 135 Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes2 zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere Vgl auch 241 Quid enim necesse est [] praesenstempus futuri metu perdere3 Auch an dieser Stelle bringt Hachmann Leserfuumlhrung 132 die Sache zu wenig auf den PunktraquoHier geht der Brief 98 weit uumlber die Anfangsbriefe hinaus wenn er einen ursaumlchlichen Zusam-menhang sieht wo die Anfangsbriefe lediglich ein Nebeneinander sahen Nur der seelisch Star-ke welcher der Gefahr klar ins Auge sehen kann besitzt auch die notwendige Gelassenheit ver-nuumlnftige Gegenmaszlignahmen zu ergreifenlaquo Hachmann sieht im 98 Brief (bis auf die Auslassungder Verdraumlngungstaktik) offenbar wieder nur einen quantitativen Unterschied zu den fruumlherenraquoEinVergleich vonep 986mit ep 138ndash11 zeigt dass indemfruumlhenBrief die zukritisierendeFehl-haltung imVerhaumlltnis zu den echten Versuchender Heilung breiter dargestellt wurde Dagegenuumlberwiegt in ep 98 die Darstellung der Bewaumlltigunglaquo (ebd (Hervorhebung UD) ) MaurachBau 73f erkennt richtig dass im 98 Brief der systematische Zusammenhang erkennbar ist denSeneca in denBriefen 13 und 14 nicht erwaumlhnt der aber der dortigen Gedankenfuumlhrung zugrundeliegt Maurach geht es dabei darum die verdeckten inhaltlichen Beziehungen aufzudecken diedie Briefe 12ndash15 enger zusammenschlieszligen (eine wichtige Funktion kommt dabei der im 14 Briefangesprochenen οἰϰείωσις-Lehre zu) Die Frage nach Epikur- und Stoa-Kompatibilitaumlt der Argu-mente und damit nach Therapiestufen steht auszligerhalb seines Blickwinkels auf den Text

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136 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Briefe Nur hieraus und nicht aus persoumlnlichen Faktoren (vermeintlicher Ek-lektizismus Senecas Beeinflussung durch Luciliusrsquo Epikureismus) erklaumlrt sicheinerseits die Affinitaumlt zu Epikur (wo er zu brauchen ist bedient sich Seneca sei-ner gern) andererseits die scharfe Abgrenzung von ihm (Epikurs Prinzipien sindund bleiben aus Senecas Sicht untragbar)

Um herauszufinden auf welchem Therapieniveau Seneca operiert genuumlgt esalsonicht dieHerkunft bestimmterArgumentationsmuster ausder epikureischenSchule aufzuzeigen Diese verwendet er immersup1 so geniert sich Seneca zB auchim 98 Brief nicht unmittelbar vor einer stoischen exempla-Serie als Trostmittelfuumlr etwaige Verluste die epikureische Ruumlckbesinnung auf die Vergangenheit zuempfehlen (9811) Habere eripitur habuisse numquam Die entscheidende Frageist vielmehr inwiefern Seneca dabei gegen das stoische Wertesystem verstoumlszligt

Ein aufschlussreicher Schritt auf diesemWege ist der 24 Brief Vonunserembishe-rigen Befund aus mag ein kurzer Blick auf ihn genuumlgensup2 Der 13 Brief hatte durchdie Gegenuumlberstellung der rsaquohoumlherenlsaquosup3 stoischen zur rsaquoniedrigerenlsaquo epikureischenSicht zum ersten Mal auf die Abloumlsung der epikureisierenden Ratschlagstopik des5 Briefes hingearbeitet Auch der 14 Brief wirkte zwar ndash mit ersten Anklaumlngen andie Oikeiosislehre ndash auf eine Relativierung der Angstausloumlser hin blieb aber inseinen Methoden unentschieden So klingt beispielsweise gegenuumlber der helden-haften Aufforderung den Koumlrper notfalls auch ins Feuer zu schicken wenn es dieVernunft die Wuumlrde oder die Treue fordere (142) der unmittelbar folgende Satzdoch wieder sehr nach dem epikureischen Ausweichgedanken

143 Nihilominus quantum possumus evitemus incommoda quoque non tantum pericula etin tutum nos reducamus excogitantes subinde quibus possint timenda depelli

Nichtsdestotrotz wollen wir auch Unannehmlichkeiten nicht nur Gefahren nach Kraumlftenaus dem Wege gehen und uns auf sicheres Gebiet zuruumlckziehen indem wir uns immer wie-der ausdenken wodurch angsterregende Situationen entschaumlrft werden koumlnnen

Den endguumlltigen Bruch mit einer von stoischen Prinzipien abgeloumlsten epikurei-schen Behandlung vollzieht erst der 24 Brief indem er erstmals auch bei derFurchtbekaumlmpfung der praemeditatio-Technik den eindeutigen Vorzug vor derepikureischen Verdraumlngungsloumlsung gibt Ein Meisterstuumlck ist dabei wie Senecazum Schein die epikureische Loumlsung vorbringt und zunaumlchst auf sie eingeht so

1 Siehe dazu oben S 392 Als weitere Wegmarken koumlnnte man insbesondere 316 (vgl unten S 203) anfuumlhren3 Zu diesen Kategorien und ihrer Etablierung im philosophischen Denken Ciceros Goumlrler Un-tersuchungen zu Ciceros Philosophie vgl oben Anm 1 auf S 127

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31 Strategien gegen die Angst | 137

dass jeder von seinen Lesern der noch mit Epikurs Lehre liebaumlugelt sich auf demrichtigen Weg waumlhnen darf wie er dann aber diese Ratschlaumlge mit einem Wischzur Seite legt und zwar mit genau dem Argument das auch im 13 Brief schon alsKritik an Epikur anklang Das Verdraumlngen einer schlimmen Zukunft kann nichtjede Sorge nehmen (weil es durchaus Situationen gibt in denen das Eintreten desUumlbels aumluszligerst wahrscheinlich ist)sup1

241ndash2 1 Sollicitum esse te scribis de iudicicirc eventu quod tibi furor inimici denuntiat existi-masme suasurumutmeliora tibi ipse proponas et adquiescas spei blandae Quid enimnecesseest mala accersere satis cito patienda cum venerint praesumere ac praesens tempus futurimetu perdere Est sine dubio stultum quia quandoque sis futurus miser esse iam miserum2 Sed ego alia te ad securitatem via ducam si vis omnem sollicitudinem exuere quidquidvereris ne eveniat eventurum utique propone et quodcumque est illud malum tecum ipse me-tire ac timorem tuum taxa

1 Du schreibst du seist beunruhigt in Betreff des Ausgangs eines Prozesses den dir die Ra-serei deines Widersachers ankuumlndigt du glaubst ich werde dir nun raten dass du dir selbstBesseres vor Augen stellst und bei einer verlockenden Hoffnung zur Ruhe kommst Wozuist es naumlmlich notwendig Ungluumlckssituationen herbeizurufen das vorauszunehmen waswenn es gekommen ist immer noch fruumlh genughinzunehmen ist und die gegenwaumlrtige Zeitdurch die Angst vor der zukuumlnftigen schon zu verderben 2 Es ist ohne Zweifel unsinnigjetzt schon ungluumlcklich zu sein weil du irgendwann einmal ungluumlcklich sein wirst Aber ichwill dich auf einem anderen Weg zur Sicherheit fuumlhren Wenndu alleUnruhe ablegen willstdann stelle dir alles dessen Eintreten du befuumlrchtest erst recht vor Augen und miss wasauch immer es fuumlr ein Ungluumlck ist bei dir selbst nach und schaumltze das Ausmaszligdeiner Furchtein

Es kann kein Zweifel daran bestehen dass dieser Beginn des 24 Briefes als Ge-genstuumlck und Fortentwicklung der Therapie des 13 Briefes gelten musssup2

Unverstaumlndlich ist mir in diesem Punkt die Deutung Canciks Untersuchungen 73f Sie ver-sucht ndash gegen Misch Autobiographie 433 ndash zu beweisen dass weder zwischen dem 13 und dem24 Brief noch zwischen dem5 unddem24 Brief eine Entwicklung des rsaquoLuciliuslsaquo stattfindet raquoVoneinem Ansatz zur Darstellung einer seelischen Entwicklung in Mischs Sinne kann also hier [ dhim 13 Brief ndash (AnmUD) ] nicht die Rede sein Genausowenig bezeichnet ep 24 eine gegenuumlber ep 13fortgeschrittene Stufe in der Entwicklung des Luciliuslaquo (74) Sie folgert das zum einen (a) dar-aus dass auch im 13 Brief beide Sichtweisen vertreten werden zum andern (b) weil sie meintdass auch 57 schon raquodie stoische Vorstellung von der Uumlberwindung der Leidenschaften [] rein

1 Siehe oben S 1282 RichtigMaurach Bau 97 sowieHachmann Leserfuumlhrung 182ndash190 (der zu Recht konstatiertdass die Notmethode der Angstbekaumlmpfung durch einen Gegenaffekt also das vitio vitium repel-lere von 1312 (s oben S 129) von epist 24 an nicht mehr zum Repertoire Senecas gehoumlrt) fernerWacht Angst in Senecas Briefen 527 raquoWas also zunaumlchst grundsaumltzlich vereinbar und als mil-dere Form der Angstbewaumlltigung akzeptiert schien muss hier einer Methode weichen die zumsicheren Erfolg zu fuumlhren versprichtlaquo

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138 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und eindeutiglaquo zum Ausdruck bringe (ebd) Doch wir haben gesehen dass (a) im 13 Brief beideSichtweisen noch miteinander wetteifernd auftreten und die stoische Loumlsung als die edlere dieepikureische aber als die derzeit wirkungsvollere dargestellt wird Die edlere Loumlsung legt sich da-bei wie ein Ring um die primitivere Canciks Deutung des 13 Briefes ist demnach verfehlt wennsie (ebd) behauptet raquoEine Interpretation von ep 13 im Ganzen zeigt dass ihr Gedankengangauf Steigerung angelegt istlaquo Denn der Brief enthaumllt nicht eine kontinuierliche Steigerung derphilosophischen Argumentationshoumlhe sondern beginnt in stoischer Houmlhe wird dann von 133bis 1313 durch eine epikureische Phase abgeloumlst und kehrt dann mit 1314 und den angedeutetenexempla wieder zum Ausgangsniveau zuruumlck Ganz anders ist das im 24 Brief Die epikureischeVerdraumlngungsloumlsung wird nur eingangs erwaumlhnt und zwar nur dazu um desto wirkungsvollerbeiseite gelegt werden zu koumlnnen Sie spielt im uumlbrigenBrief keine Rollemehr und ist vonAnfangan keine ernsthafte Alternative Die praemeditatio-Methode beherrscht von Beginn das Feld underhaumllt spaumltestens durch die lange exempla-Serie ab 243 ein erdruumlckendes Uumlbergewicht Einenfast schon verzweifelt zu nennenden opportunistischen Ratschlag wie 1313 crede quod mavis ndashraquoGlaube was du lieber willst (sc wenn du nur dadurch zur Ruhe kommst)laquo wird man nicht im24 und auch in keinem spaumlteren Brief mehr finden

Was (b) den 5 Brief angeht so muss man klar feststellen dass zwar der Zusammenhangzwischen Furcht und Hoffnung von dem Seneca dort spricht als Vorbereitung fuumlr eine spaumltereἀπάϑεια-Forderung gesehen werden kann Doch in der Hinsicht die wir als Indiz fuumlr eine Ent-wicklung des Lucilius angesehen haben naumlmlich in der Frage ob man zukuumlnftigen Uumlbeln ge-genuumlber eher die epikureische rsaquoKopf-in-den-Sand-Taktiklsaquo oder die kyrenaisch-stoische praemedi-tatio anwenden soll steht der 5 Brief wie wir gesehen habensup1 ganz eindeutig auf epikureischerSeitesup2 Abgesehen davon ist der Zusammenhang zur stoischen ἀπάϑεια auch nur fuumlr ein philo-sophisch bereits geuumlbtes Auge zu erkennen der Ratschlag erst ein Aufhoumlren des Hoffens werdeauch zum Ende des Fuumlrchtens fuumlhren laumlsst sich auch als gegen ein jeweiliges Zuviel im Einzel-fall gesprochen denken von einem raquoreinen und eindeutigenlaquo Propagieren der Uumlberwindung derLeidenschaften kann jedenfalls keine Rede sein

Doch obwohl er sich in der Entscheidung fuumlr die praemeditatio jetzt konse-quent zeigt ndash oder eben deshalb ndash sorgt Seneca umgehend dafuumlr dass die Bruumlckezum Epikureismus nicht gaumlnzlich abgerissen wird Er wolle sagt er Lucilius zursecuritas fuumlhren im Gegensatz zu Begriffen wie etwa constantia oder gar invulne-rabilitaswaumlhlt er damit einen Ausdruck der das epikureische Ideal der Sorglosig-keit (se+cura) uumlberdeutlich anklingen laumlsstsup3 Und die von Lucilius befuumlrchteten

1 S oben S 1312 Zu Recht skeptisch bereits Maurach Bau 97 Anm 78 ndash Hachmanns Widerlegungsversuch(Leserfuumlhrung 189) gegen diese Deutung von 57 durch Cancik speist sich allein aus dem Um-stand dass sich der 5 Brief noch im raquoEinleitungsteil des Werkeslaquo befinde Das allein halte ich fuumlrwenig schlagkraumlftig entscheidend ist die Stellung zur praemeditatio da diese wirklich ein Un-terscheidungskriterium zwischen Epikureismus und Stoa bietet vgl Abel Bauformen 38 undMaurach Bau 97 mit Anm 803 Das Wort kommt aus metrischen Gruumlnden bei Lukrez nicht vor inhaltlich ist es gleichwohlfast omnipraumlsent vgl zB im Prooumlm des zweiten Buches (216ndash19) nonne videre | nihil aliud sibi

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31 Strategien gegen die Angst | 139

Ereignisse bezeichnet Seneca so wie die breite Bevoumllkerung auch naumlmlich mitmalasup1

Doch es kommt noch besser Denn man duumlrfte nach der Ankuumlndigung diesesrsaquoanderen Weges zur Sorglosigkeitlsaquo erwarten dass Seneca jetzt wenn er jetzt mitden Worten intelleges profecto fortfaumlhrt ganz in stoischem Fahrwasser etwa sa-gen wird raquoDu wirst erkennen dass all diese Bedrohungen und Gefahren nichtigund nicht schwer zu ertragen sind und dass es allein auf unsere innere Haltungankommt Denn das einzige echte Uumlbel ist es sich verwerflich zu verhalten daseinzige Uumlbel ist die turpitudo Alle anderen Ereignisse vor denen du Angst hastsind keine wirklichen mala Das alles sind ἀδιάφορα also indifferente ethischambivalente Dingelaquo Stattdessen sagt er

242 intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis

du wirst ganz sicher erkennen dass es nicht groszlig oder aber nicht langdauernd ist wasdu fuumlrchtest

Das ist ndash worauf ua auch Wachtsup2 zu Recht hinweist ndash nichts anderes als Epikurswohlbekannte Formel gegen die Angst vor dem Schmerzsup3 die Cicero (fin 222) mitfast denselben Worten wie spaumlter Seneca zusammenfasst Si gravis [sc dolor] bre-vis si longus levis⁴

Die geschickte Wendung in der Formulierung laumlsst sich sicherlich wie ge-sagt als raquoRuumlcksicht auf den epikureischen Freundlaquo verstehen⁵ Doch sie ist mehrals das Die epikureische Schmerzformel ist ein nicht nur akutes sondern vonvornherein auch vorausschauendes Trostmittel Sie hat die Funktion die Angstvor einer schmerzhaften Zukunft zu verringern und enthaumllt damit schon von sichaus eine praumlmeditative Komponente Diesen fuumlr den Uumlbergang zur stoischen Leh-re guumlnstigen Umstand hat Seneca geschickt ausgenutzt Die Schmerzformel istein ideales Bindeglied um dem praemeditatio-Gedanken auch von epikureischerWarte aus Ruumlckhalt zu verschaffen

naturam latrare nisi ut qui | corpore seiunctus dolor absit mente fruatur | iucundo sensu curasemota metuque1 Anstelle einer stoisierenden Umschreibung vgl unten Kapitel 512 Angst in Senecas Briefen 528f3 Epic KD 4 GV 44 Vgl Sen epist 2414 Levis es si ferre possum brevis es si ferre non possum sowie ferner epist3014 ( nullum enim dolorem longum esse qui magnus est)5 Wacht Angst in Senecas Briefen 528 freilich darf dabei ndash wie oben (Kapitel 132 ab S 35)ausgefuumlhrt ndash unter rsaquoFreundlsaquo nicht die reale Person Lucilius verstanden werden sondern es gehtum die Integration des epikureisch orientierten Leserpublikums

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140 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Auch ein Stoiker wie Mark Aurel weiszlig uumlbrigens um den praktischen Wert die-ser Formel Und fuumlr die Bestimmung von Senecas Taktik ist es hochinteressant zusehen wie sich die Einbettung dieses Gedankens bei dem Philosophenkaiser imUnterschied zu Seneca darstellt Denn zum einen laumlsst Mark Aurel die stoischeSicht eben nicht fort sondern setzt sie in guter Ordnung an den Anfang

MarkAurel 764 ᾿Επὶ μὲνπαντὸς πόνου πρόχειρον ἔστω ὅτι οὐϰ αἰσχρὸνοὐδὲ τὴνδιάνοιαντὴν ϰυβερνῶσαν χείρω ποιεῖ οὔτε γὰρ ϰαϑὸ λογιϰή ἐστιν οὔτε ϰαϑὸ ϰοινωνιϰὴ διαφϑείρειαὐτήνBei jedem Ungemach sei Dir dieses Argument griffbereit dass es nicht moralisch verwerf-lich ist und die leitende Vernunft nicht schwaumlcht Denn weder insoweit sie vernuumlnftig nochinsoweit sie gemeinschaftsbezogen ist verdirbt es sie

Zum anderen kennzeichnet er den nun folgenden epikureischen Gedanken expli-zit als solchen und schraumlnkt ihn insoweit ein als er sagt dass diese Maxime nichtimmer sondern nur in den meisten Faumlllen anwendbar sei

Mark Aurel 764 Fortssup1 ἐπὶ μέντοι τῶν πλείστων πόνων ϰαὶ τὸ τοῦ ᾿Επιϰούρου σοι βοη-ϑείτω ὅτι οὔτε ἀφόρητον οὔτε αἰώνιον ἐὰν τῶν ὅρων μνημονεύῃς ϰαὶ μὴ προσδοξάζῃςBei den meisten Formen von Ungemach moumlge dir indes schon das Wort Epikurs helfen dasses weder unertraumlglich noch unendlich ist sofern du dich an die Fakten haumlltst und nichtschon im Vorhinein schlimme Erwartungen hegst

Insgesamt koumlnnenwir in Senecas Briefen bezogen auf die Frage der Angsttherapiefolgende Entwicklung feststellen Angefangen von epist 5 (= epikureische Thera-peutik) gibt es eine Entwicklung uumlber epist 13 und 14 (Mischform) epist 24 (vor-wiegend stoische Argumentation mit epikureischer Motivation jedoch vermischtmit epikureischer avocatio) hin zu epist 98 in der eine im Kern rein stoische Ar-gumentation vorliegt die sich jedoch nach wie vor epikureischer Hilfsargumentebedient

Senecas Taktik besteht demnach nicht darin die gegnerische rsaquoFestunglsaquo mitseinen Argumenten rsaquoim Handstreichlsaquo oder uumlberhaupt in der Schlacht zu nehmenVielmehr legt er es ndash um im Bild zu bleiben ndash darauf an sie nach und nach davonzu uumlberzeugen freiwillig ihre Tore zu oumlffnen Er will eine Transformation des Le-sers aber er will sie nicht auf dem Weg der Konfrontation sondern lieber auf demPfad schleichender Integration

Auch der 105 Brief fuumlgt sich in diese Ordnung ein Zwar legt Seneca seinem Freund hiernahezudie gleichenRatschlaumlgevor die er auch schon im13 14 und 24Brief gegebenhatteDoches geht uumlberhaupt nicht um Angstvermeidung sondern um aumluszligere Sicherheit Lucilius hat ndash so

1 = Epicur fr 447 Us

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 141

die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 10: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

31 Strategien gegen die Angst | 129

serer Meinung zu schnell bei wir pruumlfen jene Dinge nicht die uns in Furcht versetzen unduntersuchen sie nicht genau []

Das ist nicht viel mehr als eine Andeutung aber sie hilft die stoische Loumlsungrsaquoim Spiellsaquo zu halten ohne auf die Kasuistik verzichten zu muumlssen Und bei dieserscheut sich Seneca nicht sogleich wieder unter das stoische Niveau zu zufallennochmals therapiert er die Furcht vor dem kommenden Unheil epikureisch undim offenen Widerspruch zur stoischen praemeditatio-Empfehlung

1310f 10 Verisimile est aliquid futurum mali non statim verum est Quam multa nonexspectata venerunt Quam multa exspectata nusquam conparuerunt Etiam si futurum estquid iuvat dolor i suo occurrere Satis cito dolebis cum venerit interim tibi meliorapromitte 11 Quid facies lucri Tempus

10 Es ist sehr wahrscheinlich dass ein Unheil eintreten wird (deshalb) ist es (aber) nichtsogleich (auch schon)wahrWie vieleDinge sind eingetreten obwohl sie nicht erwartetwur-den Wie viele Dinge die erwartet wurden sind nirgendwo erschienen Und wenn es docheintreten wird Was nuumltzt es dann seinem Schmerz zuvorzukommen Du wirst fruumlh genugSchmerz empfinden wenn es eingetreten ist Bis dahin stelle dir bessere Perspektiven vorAugen 11 Was du dadurch gewinnen wirst Zeit

Noch mehr fuumlhrt es von der stoischen Lehre weg wenn Seneca Lucilius fuumlr denFall dass er die Furcht nicht niederhalten kann sogar den Griff zu einem ent-gegengesetzten Laster empfiehlt (1312) si minus vitio vitium repelle spe metumtempera ndash raquowenn (es) weniger (gut moumlglich ist) dann draumlnge eine Fehlhaltungdurch eine andere zuruumlck und maumlszligige die Furcht durch die Hoffnunglaquo

Mit solchen Gedanken und offenkundigen Notloumlsungen mag sich der rsaquoschwa-chelsaquo Patient der noch keine rsaquostaumlrkere Medizinlsaquo vertraumlgt behelfensup1 Doch Senecahat durchdie staumlndige Praumlsenzder stoischenGegensicht dafuumlr gesorgt dass er be-reits ein schlechtes Gewissen dabei haben muss Und falls er es doch noch nichthaben sollte so sorgt der Briefabschluss dafuumlr der mit 1314 eingelaumlutet wird undwieder die Anfangsperspektive uumlbernimmt

1314 Pudet me daggeribidaggersic tecum loqui et tam lenibus te remediis focilare Alius dicat rsaquofortassenon venietlsaquo tu dic rsaquoquid porro si veniet videbimus uter vincat fortasse pro me venit et morsista vitam honestabitlsaquo

Ich schaumlme mich an dieser Stelle so mit dir zu reden und dich mit so sanften Heilmitteln zuhaumltschelnsup2 Ein anderer soll vonmir aus sagen rsaquovielleicht tritt es gar nicht einlsaquo Duaber sollstsagen rsaquoNaundWas ist wenn es kommen wird Wir werden sehen wer siegt vielleicht trittes zu meinen Gunsten ein und jener Tod wird mein Leben adelnlsaquo

1 Vgl zu diesem Gedanken die oben (S 114) angefuumlhrte Stelle aus const sap2 focilare steht eigentlich fuumlr rsaquodurch Waumlrme wieder ins Leben zuruumlckbringenlsaquo

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130 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Seneca laumlsst ndash als peroratio in Kurzform ndash die Standard-exempla Sokrates und Ca-to folgen und schlieszligt einen Appell an damit ist die stoische Perspektive durchzwei rsaquoBruumlckenkoumlpfelsaquo am Anfang und Ende des eigentlichen Briefes gesichert undSeneca kann zum Epikur-dictum uumlbergehen

312 Angsttherapie im Wandel

Der 13 Brief zeigt keine Angstbehandlung aus einheitlicher philosophischer Per-spektive sondern arbeitet mit dem Hilfsmittel des philosophischen Perspektiven-wechsels Dabei wird die stoische Sicht zwar favorisiert die eigentliche Therapiearbeitet aber mit epikureisch gepraumlgten Handreichungen

Aus diesem Mischbefund heraus ergibt sich die Frage ob sich das Kraumlftever-haumlltnis zwischen Epikureismus und Stoizismus im Verlauf der Briefe zugunsteneiner der beidenSeitenverschiebt Amehesten laumlsst sichdas andemgerade schonangesprochenen Themenkomplex des Umganges mit der Angst uumlberpruumlfen weilSeneca diesen ausreichend oft und in breiter Streuung uumlber das Briefcorpus hin-wegwiederkehren laumlsst Eine Entwicklungmuumlsste sichhier besonders gut ablesenlassen

Der ganze Bereich ist inhaltlich und systematisch bereits durch die gruumlnd-liche Untersuchung Wachts erschlossen Leider laumlsst dieser jedoch die Fragenach der philosophischen Entwicklung weitgehend auszliger Betracht Zwar nimmtWacht vor allem im Verhaumlltnis zwischen Brief 13 und 24 eine deutliche Veraumln-derung der Argumentationsweise wahr (527) doch scheint er nicht zu erwaumlgendass dahinter eine kompositorische bzw therapeutische Absicht stecken koumlnntejedenfalls stellt er nirgendwo die Frage inwiefern zB fruumlhe Aumluszligerungen wirk-lich Senecas Meinung wiedergeben Daher kombiniert er in seiner DarstellungArgumentationen aus weit auseinanderliegenden Briefen ohne verschiedenersaquoTherapiestufenlsaquo zu unterscheiden Doch diese unterscheiden sich wie ein Ver-gleich zeigen soll erheblich voneinander

Im letztenBriefabschnitt des fuumlnftenBriefes (57ndash9) entwickelt Seneca imRah-men seiner Auslegung des Briefdictums (Hekaton Desines timere si sperare de-sieris) den Gedanken dass Hoffnung und Furcht wie Waumlchter und Gefangeneraneinander gekettet sind das sei auch ganz logisch weil beide Affekte besorgteProjektionen auf die Zukunft seien (utrumque pendentis animi est utrumque futuriexpectatione solliciti) So weit so gut ndash dieser Gedanke ist was die Zuordnung zuEpikur oder zur Stoa betrifft neutral Doch die Analyse die folgt ist epikureisch

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31 Strategien gegen die Angst | 131

58 Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed cogitationes inlonginqua praemittimus itaque providentia maximum bonum condicionis humanae in ma-lum versa est

Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht auf die ge-genwaumlrtigenDinge konzentrieren sondern unsereUumlberlegungen aufweit Entferntes voraus-senden und so hat sich die Faumlhigkeit zur Voraussicht der groumlszligte Vorzug der menschlichenNatur zum Uumlblen hin verwandelt

Damit seien wir noch schlechter beraten als die Tiere die sich nur durch Gegen-waumlrtiges bedruumlcken lieszligen bei uns fuumlhle sichniemandnicht nur aufgrund gegen-waumlrtiger Uumlbel bedruumlckt (nemo tantum praesentibus miser est)

Mit diesen Worten endet der Brief es gibt ndash anders als in der 13 Epistel ndash keinstoisierendes kein zu einer houmlheren Sicht aufrufendes Finale und keine exem-pla die den Leser auffordern sich zu ermannen und den Gefahren mit Mut entge-genzutreten Und auch vor dem soeben angesprochenen Abschnitt sucht man diestoische Position vergebens Der Gedankengang ist voll und ganz epikureischundsteht in unausgeglichenem Gegensatz zur praemeditatio-Lehre einzig im unauf-faumlllig eingewobenen itaque providentia maximumbonumcondicionis humanae inmalum versa est koumlnnte man bei gutem Willen einen aufglimmenden Funken desin 46 eingefuumlhrten praemeditatio-Gedankens erkennen Doch Seneca huumltet sichauf diesen Widerspruch aufmerksam zu machen Nur fuumlr den der schon fuumlr ihnempfaumlnglich ist ist dieser Schimmer einer stoischen Sicht uumlberhaupt wahrnehm-bar

Wie geht Seneca diese Thematik in spaumlteren Briefen anNehmenwir zunaumlchst einweit entferntes Beispiel Im 98 Briefsup1 lesen wir Saumltze die den epikureisierendenPassagen des 5 aber auch denen des 13 Briefes durchaus aumlhnlich klingen zB(Beruumlhrungen zur epikureischen Lehre hervorgehoben)

986 Calamitosus est animus futuri anxius et ante miser ias misersup2 qui sol l ic i tus estut ea quibus delectatur ad extremum usque permaneant nullo enim tempore conquiescit etexpectat ione ventur i praesentia quibus frui poterat amittet

Schlimm dran ist ein Mensch der um die Zukunft besorgt und (schon) vor dem Ungluumlckungluumlcklich ist der besorgt ist dass das woran er sich freut bis an sein Lebensende erhal-ten bleibt er wird naumlmlich zu keiner Zeit zur Ruhe kommen und wird in der Erwartung derZukunft das Gegenwaumlrtige das er haumltte genieszligen koumlnnen verlieren

1 Die thematische Verwandtschaft der Briefe 5 13 14 24 und 98 ist in der Forschung oft gesehenworden zB Cancik Untersuchungen 72ndash75 (geht auf die ersten vier der genannten Briefe ein)Maurach Bau 73f und 97 mit Anm 78 Hachmann Leserfuumlhrung 130ndash1342 Vgl epist 134 illud tibi praecipio ne sis miser ante tempus

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132 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Oder

987f 7 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est ma-lum suum antecedere 8 [] Plus dolet quam necesse est qui ante dolet quam ne-cesse est

7 Nichts ist erbaumlrmlicher und nichts unsinniger als sich schon vorher zu fuumlrchten Was istdas fuumlr ein Wahnsinn seinem Ungluumlck zuvorzukommen 8 [] Mehr als noumltig leidet werfruumlher als noumltig leidet

Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied Der 98 Brief zeichnet eine vollkom-men andere Situation Waumlhrend im 5 und vor allem im 13 Brief die Ratschlaumlgeeinem (vermuteten) Bedarf auf Seiten des rsaquoLuciliuslsaquo entsprechen er also selbstihr Adressat ist sind sie im 98 Brief Beiprodukt einer anderen Thematik naumlm-lich der allgemeinen Eroumlrterung von Fragen der stoischen Guumlterlehre Aus demEingangssatz raquoMan sollte nie einen fuumlr gluumlcklich halten der vom (aumluszligeren) Gluumlckabhaumlngig istlaquosup1 hatte Seneca die Frage entstehen lassen ob aumluszligere Guumlter dennnicht trotzdem angenehm und nuumltzlich sein koumlnnten (Eine solche auf der stoi-schen ἀδιάφορα-Lehre basierende Frage ist uumlbrigens das sei vorweggenommenvor dem 65 Brief undenkbar) Zwar bejaht Seneca diessup2 doch knuumlpft er das anein entsprechendes mentales Training sich dabei staumlndig der eigentlichen Guumlterbewusst zu sein

984 Sive alios observare volueris (liberius enim inter aliena iudicium est) sive te ipsum fa-vore seposito et senties hoc et confiteberis nihil ex his optabilibus et caris utile esse nisi tecontra levitatem casus rerumque casum sequentium instruxeris nisi illud frequenter et sinequerella inter singula damna dixeris raquodis aliter visum estlaquo [Verg Aen 2428]

Sei es dass du andere (das Urteil ist naumlmlich bei fremden Angelegenheiten unbefangener)oder dass du unter Beiseitelegen von Selbstgefaumllligkeit dich selbst daraufhin ansehenwillstDu wirst dies bemerken und anerkennen dass nichts von diesen wuumlnschenswerten undwertvollen Dingen nuumltzlich ist wenn du dich nicht gegen die Unbestaumlndigkeit des Zufallsund derjenigen Dinge die dem Zufallsgesetz folgen wappnest und wenn du nicht oft undohne Klagen bei einzelnen Ungluumlcksfaumlllen jenen Satz vorbringst rsaquoDie Goumltter wollten es an-derslsaquo

1 Numquam credideris felicem quemquam ex felicitate suspensum2 Uumlbrigens wieder unter reichlicher Beimischung epikureischer Stimulanzien (s oben S 39) andieser Stelle (981f) wird die Verknuumlpfung genuin stoischer Gedanken mit diesen Sekundaumlrmoti-ven besonders deutlich rsaquoQuid ergo non usui ac voluptati esse possuntlsaquoQuis negat sed itasi lla ex nobis pendent non ex illis nos Omnia quae fortuna intuetur ita fruct i fera ac iucundafiunt si qui habet illa se quoque habet nec in rerum suarum potestate est

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31 Strategien gegen die Angst | 133

Die Passage zeigt deutlich dass die Aufforderungen zur praemeditatio (und eben-so zur Schicksalsergebenheit sozusagen einermeditatio in ipso eventu) in diesemBrief weder einen konkreten Anlass haben noch einer konkreten Person geltenEs geht bei diesen Uumlberlegungen nicht um Luciliusrsquo Gemuumltslage sondern um dierichtige Bewertung der Guumlter

Seneca glaubt im 98 Brief auch nicht mehr dass Lucilius hier noch einenNachholebedarf hat Das wird schon daraus ersichtlich dass Seneca anders alsim 5 Brief Lucilius und sich nicht mehr einschlieszligt in die Menge derer die denFehler machen sich durch Vergangenes und Zukuumlnftiges bedruumlcken zu lassenIm 5 Brief hieszlig es noch

58ndash9 8 [] Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed co-gitationes in longinqua praemittimus[] 9 Ferae pericula quae vident fugiunt cum effu-gere securae sunt nos et venturo torquemur et praeterito

8 [] Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht aufdie gegenwaumlrtigen Dinge konzentrieren sondern unsere Uumlberlegungen auf weit Entferntesvoraussenden [] 9 Die wilden Tiere fliehen vor den Gefahren die sie (gerade) sehenwir aber lassen uns von Zukuumlnftigem und Vergangenem peinigen

Auch der 13 Brief formulierte einschlieszligend und die dort bereits erkennbareMissbilligung dieser Haltung war noch in die Form des freundlichen Hinweisesgegossen (zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere) Nun aber im 98 Brief di-stanziert Seneca sich Lucilius und damit den Leser von einer solchen Positionindem er diese (in der dritten Person) mit beiszligendem Hohn uumlberzieht Wenigmitfuumlhlend haumllt er nichts fuumlr raquoerbaumlrmlicher und duumlmmer als sich im Voraus zufuumlrchtenlaquo es sei geradezu ein Zeichen geistiger Umnachtung sich so zu ver-haltensup1 Fuumlr die die sich staumlndig vor der Zukunft fuumlrchten bringt Seneca keinVerstaumlndnis auf er schimpft sie (988) raquoKummerleider die sich selbst im Wegestehenlaquo (satagii ac sibi molestos) und raquoLeute ohne Selbstkontrollelaquo (intemperan-tes) Kurz Was im 13 Brief noch ein unverbindliches Angebot zum Nachdenkenwar das ist hier zur unverhandelbaren Forderung geworden die Angst vor derZukunft ist nicht mehr salonfaumlhig

Konsequenterweise wird das was im 13 Brief lediglich als rsaquohoumlherelsaquo Hand-lungsoption charakterisiert wurde (oben S 129) im 98 Brief als rsaquoalternativloslsaquofuumlr einen guten Charakter dargestellt und dichotomisch vom Unvermoumlgen desschlechten Charakters unterschieden

1 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est malum suum antece-dere (987)

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134 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

982ndash3 2 Valentior enim omni fortuna animus est et in utramque partem ipse res suas du-cit beataeque ac miserae vitae sibi causa est 3 Malus omnia in malum vertit etiam quaecum specie optimi venerant rectus atque integer corrigit prava fortunae et dura atque asperaferendi scientia mollit eqs

2 Der Geist ist naumlmlich staumlrker als alles Schicksal er selbst lenkt seine Geschicke in dieeine oder die andere Richtung und ist fuumlr sich selbst die Ursache eines gluumlcklichen oder un-gluumlcklichen Lebens 3 Der Schlechte verwandelt alles in Schlechtes selbst das was mitdem Schein des Bestmoumlglichen eingetreten war der Aufrechte und Unbeirrte (demgegen-uumlber) berichtigt die Maumlngel des Schicksals und macht durch seine Faumlhigkeit zum Ertragendas Harte und Raue weich usw

Aber noch in einemanderenPunkt tritt der bis zum im98 Brief erreichteTherapie-fortschritt deutlich hervor Waumlhrend im 13 Brief der Gegenpol zur rsaquostarkenlsaquo stoi-schen Sicht nur in der rsaquoschwachenlsaquo epikureischen bestand so warnt der 98 Briefnicht minder vor dem entgegengesetzten Extrem naumlmlich (in einseitiger Ausle-gung der stoischen Guumlterlehre) aumluszligere Guumlter gar nicht mehr zu achten Vielmehrfordert Seneca ausdruumlcklich dazu auf gefaumlhrlichen Situationen aus dem Wegezu gehen Direkt vor der oben erwaumlhnten Verurteilung des Sich-vorher-Fuumlrchtensheiszligt es

987 Nec ideo praecipio tibi neglegentiam Tu vero metuenda decl ina quidquid consilioprospici potest prospice quodcumque laesurum est multo ante quam accidat speculare etaverte In hoc ipsum tibi plurimum conferet fiducia et ad tolerandum omne obfirmata mensPotest fortunam cavere qui potest ferre certe in tranquillo non tumultuatur

Doch ich schreibe dir deshalbnichtNachlaumlssigkeit [ imUmgang mit den ἀδιάφοραndash (Anm UD)

] vor Du sollst durchaus den fuumlrchtenswerten Ereignissen aus dem Wege gehen was auchimmer rational vorausgesehen werden kann das sieh voraus was auch immer verletzenkann das fasse weit fruumlher als es passiert ins Auge und wende es ab Gerade dafuumlr wird dirdein Selbstvertrauen und dein alles zu ertragen gefestigter Sinn sehr zugute kommen Derkann dem Schicksal ausweichen der es tragen kann zumindest gibt es bei einem ruhigenMenschen keinen Aufruhr

Welches Fazit koumlnnen wir hieraus ziehen Seneca empfiehlt zwar sowohl in fruuml-heren Briefen als auch im 98 Brief sich erstens das Leben nicht durch verfruumlhteAngst selbst schwer zu machen und zweitens gefaumlhrlichen Situationen ndash wennmoumlglich ndash aus dem Weg zu gehen Doch erstens treten nur in den fruumlheren Brie-fen dazu Ratschlaumlge die mit der stoischen Lehre in keinster Weise vereinbar sind(zB epist 1310 interim tibi meliora promitte 1312 spe metum tempera)sup1 Zweitens

1 Verschweigen dieses Mittels im 98 Brief richtig gesehen bei Hachmann Leserfuumlhrung 131raquoDie scheinbare Hilfe durch Verdraumlngung [] wird in Brief 98 gar nicht erwaumlhntlaquo Hachmannscheint aber nicht zu bemerken dass der Grund fuumlr dieseAuslassung eben in derUnvereinbarkeit

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31 Strategien gegen die Angst | 135

laumlsst Seneca inden fruumlhenBriefendieseArt vonRatschlaumlgenausderRuumlcksicht aufdie Schwaumlche des Lucilius entstehensup1 oder formuliert sie nach Art einer epikurei-schen Lust-Schmerz-Bilanzsup2 Demgegenuumlber werden die Ratschlaumlge im 98 Briefallein aus der stoischen Guumlterlehre abgeleitet Zwar verwendet Seneca noch im-mer epikureische Argumentationsmuster (989 laumlsst er zudem Metrodor als Kron-zeuge auftreten) jedoch tut er das nicht mehr in mit der stoischen Lehre inkom-patibler sondern ausschlieszliglich in komplementaumlrer und streng untergeordneterWeise Epikur ist kein Konkurrent mehr kein Gegenmodell Er ist zum Helfer her-abgesunken der die Luumlcken ausfuumlllen darf die ihm die stoische Lehre gelassenhat

Der zuletzt zitierte Gedanke (Potest fortunam cavere qui potest ferre) illustriertdieses Selbstverstaumlndnis in hervorragender Weise Wenn Seneca die Erfuumlllungder epikureischen Forderung dem Schicksal auszuweichen (fortunam cavere) aneinen Charakter knuumlpft der dem Schicksal auch standhalten kann (qui potest fer-re) ndash der also die stoische Selbstbeherrschung verinnerlicht hat ndash dann sagt erdamit rsaquoKein Epikureer kann die epikureischen Forderungen so gut erfuumlllen wiewir Stoikerlsaquosup3

Diese Einverleibung Epikurs als eines im praktischen Bereich nuumltzlichenrsaquoKnechtslsaquo fuumlr die Erziehung zur stoischen Lebensweise ist wie ich spaumlter nochdeutlicher zeigen moumlchte (Kapitel 431) ein Hauptcharakteristikum fuumlr Senecas

mit der stoischen Lehre liegt (130 raquoAndererseits wird ein Argument das in den ersten Briefenbenutzt in ep 98 aber nicht verwendet wurde wahrscheinl ich mit Absicht ausgelassenworden seinlaquo [meine Hervorhebung])1 Vgl zB 135 Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes2 zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere Vgl auch 241 Quid enim necesse est [] praesenstempus futuri metu perdere3 Auch an dieser Stelle bringt Hachmann Leserfuumlhrung 132 die Sache zu wenig auf den PunktraquoHier geht der Brief 98 weit uumlber die Anfangsbriefe hinaus wenn er einen ursaumlchlichen Zusam-menhang sieht wo die Anfangsbriefe lediglich ein Nebeneinander sahen Nur der seelisch Star-ke welcher der Gefahr klar ins Auge sehen kann besitzt auch die notwendige Gelassenheit ver-nuumlnftige Gegenmaszlignahmen zu ergreifenlaquo Hachmann sieht im 98 Brief (bis auf die Auslassungder Verdraumlngungstaktik) offenbar wieder nur einen quantitativen Unterschied zu den fruumlherenraquoEinVergleich vonep 986mit ep 138ndash11 zeigt dass indemfruumlhenBrief die zukritisierendeFehl-haltung imVerhaumlltnis zu den echten Versuchender Heilung breiter dargestellt wurde Dagegenuumlberwiegt in ep 98 die Darstellung der Bewaumlltigunglaquo (ebd (Hervorhebung UD) ) MaurachBau 73f erkennt richtig dass im 98 Brief der systematische Zusammenhang erkennbar ist denSeneca in denBriefen 13 und 14 nicht erwaumlhnt der aber der dortigen Gedankenfuumlhrung zugrundeliegt Maurach geht es dabei darum die verdeckten inhaltlichen Beziehungen aufzudecken diedie Briefe 12ndash15 enger zusammenschlieszligen (eine wichtige Funktion kommt dabei der im 14 Briefangesprochenen οἰϰείωσις-Lehre zu) Die Frage nach Epikur- und Stoa-Kompatibilitaumlt der Argu-mente und damit nach Therapiestufen steht auszligerhalb seines Blickwinkels auf den Text

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136 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Briefe Nur hieraus und nicht aus persoumlnlichen Faktoren (vermeintlicher Ek-lektizismus Senecas Beeinflussung durch Luciliusrsquo Epikureismus) erklaumlrt sicheinerseits die Affinitaumlt zu Epikur (wo er zu brauchen ist bedient sich Seneca sei-ner gern) andererseits die scharfe Abgrenzung von ihm (Epikurs Prinzipien sindund bleiben aus Senecas Sicht untragbar)

Um herauszufinden auf welchem Therapieniveau Seneca operiert genuumlgt esalsonicht dieHerkunft bestimmterArgumentationsmuster ausder epikureischenSchule aufzuzeigen Diese verwendet er immersup1 so geniert sich Seneca zB auchim 98 Brief nicht unmittelbar vor einer stoischen exempla-Serie als Trostmittelfuumlr etwaige Verluste die epikureische Ruumlckbesinnung auf die Vergangenheit zuempfehlen (9811) Habere eripitur habuisse numquam Die entscheidende Frageist vielmehr inwiefern Seneca dabei gegen das stoische Wertesystem verstoumlszligt

Ein aufschlussreicher Schritt auf diesemWege ist der 24 Brief Vonunserembishe-rigen Befund aus mag ein kurzer Blick auf ihn genuumlgensup2 Der 13 Brief hatte durchdie Gegenuumlberstellung der rsaquohoumlherenlsaquosup3 stoischen zur rsaquoniedrigerenlsaquo epikureischenSicht zum ersten Mal auf die Abloumlsung der epikureisierenden Ratschlagstopik des5 Briefes hingearbeitet Auch der 14 Brief wirkte zwar ndash mit ersten Anklaumlngen andie Oikeiosislehre ndash auf eine Relativierung der Angstausloumlser hin blieb aber inseinen Methoden unentschieden So klingt beispielsweise gegenuumlber der helden-haften Aufforderung den Koumlrper notfalls auch ins Feuer zu schicken wenn es dieVernunft die Wuumlrde oder die Treue fordere (142) der unmittelbar folgende Satzdoch wieder sehr nach dem epikureischen Ausweichgedanken

143 Nihilominus quantum possumus evitemus incommoda quoque non tantum pericula etin tutum nos reducamus excogitantes subinde quibus possint timenda depelli

Nichtsdestotrotz wollen wir auch Unannehmlichkeiten nicht nur Gefahren nach Kraumlftenaus dem Wege gehen und uns auf sicheres Gebiet zuruumlckziehen indem wir uns immer wie-der ausdenken wodurch angsterregende Situationen entschaumlrft werden koumlnnen

Den endguumlltigen Bruch mit einer von stoischen Prinzipien abgeloumlsten epikurei-schen Behandlung vollzieht erst der 24 Brief indem er erstmals auch bei derFurchtbekaumlmpfung der praemeditatio-Technik den eindeutigen Vorzug vor derepikureischen Verdraumlngungsloumlsung gibt Ein Meisterstuumlck ist dabei wie Senecazum Schein die epikureische Loumlsung vorbringt und zunaumlchst auf sie eingeht so

1 Siehe dazu oben S 392 Als weitere Wegmarken koumlnnte man insbesondere 316 (vgl unten S 203) anfuumlhren3 Zu diesen Kategorien und ihrer Etablierung im philosophischen Denken Ciceros Goumlrler Un-tersuchungen zu Ciceros Philosophie vgl oben Anm 1 auf S 127

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31 Strategien gegen die Angst | 137

dass jeder von seinen Lesern der noch mit Epikurs Lehre liebaumlugelt sich auf demrichtigen Weg waumlhnen darf wie er dann aber diese Ratschlaumlge mit einem Wischzur Seite legt und zwar mit genau dem Argument das auch im 13 Brief schon alsKritik an Epikur anklang Das Verdraumlngen einer schlimmen Zukunft kann nichtjede Sorge nehmen (weil es durchaus Situationen gibt in denen das Eintreten desUumlbels aumluszligerst wahrscheinlich ist)sup1

241ndash2 1 Sollicitum esse te scribis de iudicicirc eventu quod tibi furor inimici denuntiat existi-masme suasurumutmeliora tibi ipse proponas et adquiescas spei blandae Quid enimnecesseest mala accersere satis cito patienda cum venerint praesumere ac praesens tempus futurimetu perdere Est sine dubio stultum quia quandoque sis futurus miser esse iam miserum2 Sed ego alia te ad securitatem via ducam si vis omnem sollicitudinem exuere quidquidvereris ne eveniat eventurum utique propone et quodcumque est illud malum tecum ipse me-tire ac timorem tuum taxa

1 Du schreibst du seist beunruhigt in Betreff des Ausgangs eines Prozesses den dir die Ra-serei deines Widersachers ankuumlndigt du glaubst ich werde dir nun raten dass du dir selbstBesseres vor Augen stellst und bei einer verlockenden Hoffnung zur Ruhe kommst Wozuist es naumlmlich notwendig Ungluumlckssituationen herbeizurufen das vorauszunehmen waswenn es gekommen ist immer noch fruumlh genughinzunehmen ist und die gegenwaumlrtige Zeitdurch die Angst vor der zukuumlnftigen schon zu verderben 2 Es ist ohne Zweifel unsinnigjetzt schon ungluumlcklich zu sein weil du irgendwann einmal ungluumlcklich sein wirst Aber ichwill dich auf einem anderen Weg zur Sicherheit fuumlhren Wenndu alleUnruhe ablegen willstdann stelle dir alles dessen Eintreten du befuumlrchtest erst recht vor Augen und miss wasauch immer es fuumlr ein Ungluumlck ist bei dir selbst nach und schaumltze das Ausmaszligdeiner Furchtein

Es kann kein Zweifel daran bestehen dass dieser Beginn des 24 Briefes als Ge-genstuumlck und Fortentwicklung der Therapie des 13 Briefes gelten musssup2

Unverstaumlndlich ist mir in diesem Punkt die Deutung Canciks Untersuchungen 73f Sie ver-sucht ndash gegen Misch Autobiographie 433 ndash zu beweisen dass weder zwischen dem 13 und dem24 Brief noch zwischen dem5 unddem24 Brief eine Entwicklung des rsaquoLuciliuslsaquo stattfindet raquoVoneinem Ansatz zur Darstellung einer seelischen Entwicklung in Mischs Sinne kann also hier [ dhim 13 Brief ndash (AnmUD) ] nicht die Rede sein Genausowenig bezeichnet ep 24 eine gegenuumlber ep 13fortgeschrittene Stufe in der Entwicklung des Luciliuslaquo (74) Sie folgert das zum einen (a) dar-aus dass auch im 13 Brief beide Sichtweisen vertreten werden zum andern (b) weil sie meintdass auch 57 schon raquodie stoische Vorstellung von der Uumlberwindung der Leidenschaften [] rein

1 Siehe oben S 1282 RichtigMaurach Bau 97 sowieHachmann Leserfuumlhrung 182ndash190 (der zu Recht konstatiertdass die Notmethode der Angstbekaumlmpfung durch einen Gegenaffekt also das vitio vitium repel-lere von 1312 (s oben S 129) von epist 24 an nicht mehr zum Repertoire Senecas gehoumlrt) fernerWacht Angst in Senecas Briefen 527 raquoWas also zunaumlchst grundsaumltzlich vereinbar und als mil-dere Form der Angstbewaumlltigung akzeptiert schien muss hier einer Methode weichen die zumsicheren Erfolg zu fuumlhren versprichtlaquo

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138 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und eindeutiglaquo zum Ausdruck bringe (ebd) Doch wir haben gesehen dass (a) im 13 Brief beideSichtweisen noch miteinander wetteifernd auftreten und die stoische Loumlsung als die edlere dieepikureische aber als die derzeit wirkungsvollere dargestellt wird Die edlere Loumlsung legt sich da-bei wie ein Ring um die primitivere Canciks Deutung des 13 Briefes ist demnach verfehlt wennsie (ebd) behauptet raquoEine Interpretation von ep 13 im Ganzen zeigt dass ihr Gedankengangauf Steigerung angelegt istlaquo Denn der Brief enthaumllt nicht eine kontinuierliche Steigerung derphilosophischen Argumentationshoumlhe sondern beginnt in stoischer Houmlhe wird dann von 133bis 1313 durch eine epikureische Phase abgeloumlst und kehrt dann mit 1314 und den angedeutetenexempla wieder zum Ausgangsniveau zuruumlck Ganz anders ist das im 24 Brief Die epikureischeVerdraumlngungsloumlsung wird nur eingangs erwaumlhnt und zwar nur dazu um desto wirkungsvollerbeiseite gelegt werden zu koumlnnen Sie spielt im uumlbrigenBrief keine Rollemehr und ist vonAnfangan keine ernsthafte Alternative Die praemeditatio-Methode beherrscht von Beginn das Feld underhaumllt spaumltestens durch die lange exempla-Serie ab 243 ein erdruumlckendes Uumlbergewicht Einenfast schon verzweifelt zu nennenden opportunistischen Ratschlag wie 1313 crede quod mavis ndashraquoGlaube was du lieber willst (sc wenn du nur dadurch zur Ruhe kommst)laquo wird man nicht im24 und auch in keinem spaumlteren Brief mehr finden

Was (b) den 5 Brief angeht so muss man klar feststellen dass zwar der Zusammenhangzwischen Furcht und Hoffnung von dem Seneca dort spricht als Vorbereitung fuumlr eine spaumltereἀπάϑεια-Forderung gesehen werden kann Doch in der Hinsicht die wir als Indiz fuumlr eine Ent-wicklung des Lucilius angesehen haben naumlmlich in der Frage ob man zukuumlnftigen Uumlbeln ge-genuumlber eher die epikureische rsaquoKopf-in-den-Sand-Taktiklsaquo oder die kyrenaisch-stoische praemedi-tatio anwenden soll steht der 5 Brief wie wir gesehen habensup1 ganz eindeutig auf epikureischerSeitesup2 Abgesehen davon ist der Zusammenhang zur stoischen ἀπάϑεια auch nur fuumlr ein philo-sophisch bereits geuumlbtes Auge zu erkennen der Ratschlag erst ein Aufhoumlren des Hoffens werdeauch zum Ende des Fuumlrchtens fuumlhren laumlsst sich auch als gegen ein jeweiliges Zuviel im Einzel-fall gesprochen denken von einem raquoreinen und eindeutigenlaquo Propagieren der Uumlberwindung derLeidenschaften kann jedenfalls keine Rede sein

Doch obwohl er sich in der Entscheidung fuumlr die praemeditatio jetzt konse-quent zeigt ndash oder eben deshalb ndash sorgt Seneca umgehend dafuumlr dass die Bruumlckezum Epikureismus nicht gaumlnzlich abgerissen wird Er wolle sagt er Lucilius zursecuritas fuumlhren im Gegensatz zu Begriffen wie etwa constantia oder gar invulne-rabilitaswaumlhlt er damit einen Ausdruck der das epikureische Ideal der Sorglosig-keit (se+cura) uumlberdeutlich anklingen laumlsstsup3 Und die von Lucilius befuumlrchteten

1 S oben S 1312 Zu Recht skeptisch bereits Maurach Bau 97 Anm 78 ndash Hachmanns Widerlegungsversuch(Leserfuumlhrung 189) gegen diese Deutung von 57 durch Cancik speist sich allein aus dem Um-stand dass sich der 5 Brief noch im raquoEinleitungsteil des Werkeslaquo befinde Das allein halte ich fuumlrwenig schlagkraumlftig entscheidend ist die Stellung zur praemeditatio da diese wirklich ein Un-terscheidungskriterium zwischen Epikureismus und Stoa bietet vgl Abel Bauformen 38 undMaurach Bau 97 mit Anm 803 Das Wort kommt aus metrischen Gruumlnden bei Lukrez nicht vor inhaltlich ist es gleichwohlfast omnipraumlsent vgl zB im Prooumlm des zweiten Buches (216ndash19) nonne videre | nihil aliud sibi

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31 Strategien gegen die Angst | 139

Ereignisse bezeichnet Seneca so wie die breite Bevoumllkerung auch naumlmlich mitmalasup1

Doch es kommt noch besser Denn man duumlrfte nach der Ankuumlndigung diesesrsaquoanderen Weges zur Sorglosigkeitlsaquo erwarten dass Seneca jetzt wenn er jetzt mitden Worten intelleges profecto fortfaumlhrt ganz in stoischem Fahrwasser etwa sa-gen wird raquoDu wirst erkennen dass all diese Bedrohungen und Gefahren nichtigund nicht schwer zu ertragen sind und dass es allein auf unsere innere Haltungankommt Denn das einzige echte Uumlbel ist es sich verwerflich zu verhalten daseinzige Uumlbel ist die turpitudo Alle anderen Ereignisse vor denen du Angst hastsind keine wirklichen mala Das alles sind ἀδιάφορα also indifferente ethischambivalente Dingelaquo Stattdessen sagt er

242 intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis

du wirst ganz sicher erkennen dass es nicht groszlig oder aber nicht langdauernd ist wasdu fuumlrchtest

Das ist ndash worauf ua auch Wachtsup2 zu Recht hinweist ndash nichts anderes als Epikurswohlbekannte Formel gegen die Angst vor dem Schmerzsup3 die Cicero (fin 222) mitfast denselben Worten wie spaumlter Seneca zusammenfasst Si gravis [sc dolor] bre-vis si longus levis⁴

Die geschickte Wendung in der Formulierung laumlsst sich sicherlich wie ge-sagt als raquoRuumlcksicht auf den epikureischen Freundlaquo verstehen⁵ Doch sie ist mehrals das Die epikureische Schmerzformel ist ein nicht nur akutes sondern vonvornherein auch vorausschauendes Trostmittel Sie hat die Funktion die Angstvor einer schmerzhaften Zukunft zu verringern und enthaumllt damit schon von sichaus eine praumlmeditative Komponente Diesen fuumlr den Uumlbergang zur stoischen Leh-re guumlnstigen Umstand hat Seneca geschickt ausgenutzt Die Schmerzformel istein ideales Bindeglied um dem praemeditatio-Gedanken auch von epikureischerWarte aus Ruumlckhalt zu verschaffen

naturam latrare nisi ut qui | corpore seiunctus dolor absit mente fruatur | iucundo sensu curasemota metuque1 Anstelle einer stoisierenden Umschreibung vgl unten Kapitel 512 Angst in Senecas Briefen 528f3 Epic KD 4 GV 44 Vgl Sen epist 2414 Levis es si ferre possum brevis es si ferre non possum sowie ferner epist3014 ( nullum enim dolorem longum esse qui magnus est)5 Wacht Angst in Senecas Briefen 528 freilich darf dabei ndash wie oben (Kapitel 132 ab S 35)ausgefuumlhrt ndash unter rsaquoFreundlsaquo nicht die reale Person Lucilius verstanden werden sondern es gehtum die Integration des epikureisch orientierten Leserpublikums

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140 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Auch ein Stoiker wie Mark Aurel weiszlig uumlbrigens um den praktischen Wert die-ser Formel Und fuumlr die Bestimmung von Senecas Taktik ist es hochinteressant zusehen wie sich die Einbettung dieses Gedankens bei dem Philosophenkaiser imUnterschied zu Seneca darstellt Denn zum einen laumlsst Mark Aurel die stoischeSicht eben nicht fort sondern setzt sie in guter Ordnung an den Anfang

MarkAurel 764 ᾿Επὶ μὲνπαντὸς πόνου πρόχειρον ἔστω ὅτι οὐϰ αἰσχρὸνοὐδὲ τὴνδιάνοιαντὴν ϰυβερνῶσαν χείρω ποιεῖ οὔτε γὰρ ϰαϑὸ λογιϰή ἐστιν οὔτε ϰαϑὸ ϰοινωνιϰὴ διαφϑείρειαὐτήνBei jedem Ungemach sei Dir dieses Argument griffbereit dass es nicht moralisch verwerf-lich ist und die leitende Vernunft nicht schwaumlcht Denn weder insoweit sie vernuumlnftig nochinsoweit sie gemeinschaftsbezogen ist verdirbt es sie

Zum anderen kennzeichnet er den nun folgenden epikureischen Gedanken expli-zit als solchen und schraumlnkt ihn insoweit ein als er sagt dass diese Maxime nichtimmer sondern nur in den meisten Faumlllen anwendbar sei

Mark Aurel 764 Fortssup1 ἐπὶ μέντοι τῶν πλείστων πόνων ϰαὶ τὸ τοῦ ᾿Επιϰούρου σοι βοη-ϑείτω ὅτι οὔτε ἀφόρητον οὔτε αἰώνιον ἐὰν τῶν ὅρων μνημονεύῃς ϰαὶ μὴ προσδοξάζῃςBei den meisten Formen von Ungemach moumlge dir indes schon das Wort Epikurs helfen dasses weder unertraumlglich noch unendlich ist sofern du dich an die Fakten haumlltst und nichtschon im Vorhinein schlimme Erwartungen hegst

Insgesamt koumlnnenwir in Senecas Briefen bezogen auf die Frage der Angsttherapiefolgende Entwicklung feststellen Angefangen von epist 5 (= epikureische Thera-peutik) gibt es eine Entwicklung uumlber epist 13 und 14 (Mischform) epist 24 (vor-wiegend stoische Argumentation mit epikureischer Motivation jedoch vermischtmit epikureischer avocatio) hin zu epist 98 in der eine im Kern rein stoische Ar-gumentation vorliegt die sich jedoch nach wie vor epikureischer Hilfsargumentebedient

Senecas Taktik besteht demnach nicht darin die gegnerische rsaquoFestunglsaquo mitseinen Argumenten rsaquoim Handstreichlsaquo oder uumlberhaupt in der Schlacht zu nehmenVielmehr legt er es ndash um im Bild zu bleiben ndash darauf an sie nach und nach davonzu uumlberzeugen freiwillig ihre Tore zu oumlffnen Er will eine Transformation des Le-sers aber er will sie nicht auf dem Weg der Konfrontation sondern lieber auf demPfad schleichender Integration

Auch der 105 Brief fuumlgt sich in diese Ordnung ein Zwar legt Seneca seinem Freund hiernahezudie gleichenRatschlaumlgevor die er auch schon im13 14 und 24Brief gegebenhatteDoches geht uumlberhaupt nicht um Angstvermeidung sondern um aumluszligere Sicherheit Lucilius hat ndash so

1 = Epicur fr 447 Us

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 141

die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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142 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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144 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 145

psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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146 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 11: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

130 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Seneca laumlsst ndash als peroratio in Kurzform ndash die Standard-exempla Sokrates und Ca-to folgen und schlieszligt einen Appell an damit ist die stoische Perspektive durchzwei rsaquoBruumlckenkoumlpfelsaquo am Anfang und Ende des eigentlichen Briefes gesichert undSeneca kann zum Epikur-dictum uumlbergehen

312 Angsttherapie im Wandel

Der 13 Brief zeigt keine Angstbehandlung aus einheitlicher philosophischer Per-spektive sondern arbeitet mit dem Hilfsmittel des philosophischen Perspektiven-wechsels Dabei wird die stoische Sicht zwar favorisiert die eigentliche Therapiearbeitet aber mit epikureisch gepraumlgten Handreichungen

Aus diesem Mischbefund heraus ergibt sich die Frage ob sich das Kraumlftever-haumlltnis zwischen Epikureismus und Stoizismus im Verlauf der Briefe zugunsteneiner der beidenSeitenverschiebt Amehesten laumlsst sichdas andemgerade schonangesprochenen Themenkomplex des Umganges mit der Angst uumlberpruumlfen weilSeneca diesen ausreichend oft und in breiter Streuung uumlber das Briefcorpus hin-wegwiederkehren laumlsst Eine Entwicklungmuumlsste sichhier besonders gut ablesenlassen

Der ganze Bereich ist inhaltlich und systematisch bereits durch die gruumlnd-liche Untersuchung Wachts erschlossen Leider laumlsst dieser jedoch die Fragenach der philosophischen Entwicklung weitgehend auszliger Betracht Zwar nimmtWacht vor allem im Verhaumlltnis zwischen Brief 13 und 24 eine deutliche Veraumln-derung der Argumentationsweise wahr (527) doch scheint er nicht zu erwaumlgendass dahinter eine kompositorische bzw therapeutische Absicht stecken koumlnntejedenfalls stellt er nirgendwo die Frage inwiefern zB fruumlhe Aumluszligerungen wirk-lich Senecas Meinung wiedergeben Daher kombiniert er in seiner DarstellungArgumentationen aus weit auseinanderliegenden Briefen ohne verschiedenersaquoTherapiestufenlsaquo zu unterscheiden Doch diese unterscheiden sich wie ein Ver-gleich zeigen soll erheblich voneinander

Im letztenBriefabschnitt des fuumlnftenBriefes (57ndash9) entwickelt Seneca imRah-men seiner Auslegung des Briefdictums (Hekaton Desines timere si sperare de-sieris) den Gedanken dass Hoffnung und Furcht wie Waumlchter und Gefangeneraneinander gekettet sind das sei auch ganz logisch weil beide Affekte besorgteProjektionen auf die Zukunft seien (utrumque pendentis animi est utrumque futuriexpectatione solliciti) So weit so gut ndash dieser Gedanke ist was die Zuordnung zuEpikur oder zur Stoa betrifft neutral Doch die Analyse die folgt ist epikureisch

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31 Strategien gegen die Angst | 131

58 Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed cogitationes inlonginqua praemittimus itaque providentia maximum bonum condicionis humanae in ma-lum versa est

Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht auf die ge-genwaumlrtigenDinge konzentrieren sondern unsereUumlberlegungen aufweit Entferntes voraus-senden und so hat sich die Faumlhigkeit zur Voraussicht der groumlszligte Vorzug der menschlichenNatur zum Uumlblen hin verwandelt

Damit seien wir noch schlechter beraten als die Tiere die sich nur durch Gegen-waumlrtiges bedruumlcken lieszligen bei uns fuumlhle sichniemandnicht nur aufgrund gegen-waumlrtiger Uumlbel bedruumlckt (nemo tantum praesentibus miser est)

Mit diesen Worten endet der Brief es gibt ndash anders als in der 13 Epistel ndash keinstoisierendes kein zu einer houmlheren Sicht aufrufendes Finale und keine exem-pla die den Leser auffordern sich zu ermannen und den Gefahren mit Mut entge-genzutreten Und auch vor dem soeben angesprochenen Abschnitt sucht man diestoische Position vergebens Der Gedankengang ist voll und ganz epikureischundsteht in unausgeglichenem Gegensatz zur praemeditatio-Lehre einzig im unauf-faumlllig eingewobenen itaque providentia maximumbonumcondicionis humanae inmalum versa est koumlnnte man bei gutem Willen einen aufglimmenden Funken desin 46 eingefuumlhrten praemeditatio-Gedankens erkennen Doch Seneca huumltet sichauf diesen Widerspruch aufmerksam zu machen Nur fuumlr den der schon fuumlr ihnempfaumlnglich ist ist dieser Schimmer einer stoischen Sicht uumlberhaupt wahrnehm-bar

Wie geht Seneca diese Thematik in spaumlteren Briefen anNehmenwir zunaumlchst einweit entferntes Beispiel Im 98 Briefsup1 lesen wir Saumltze die den epikureisierendenPassagen des 5 aber auch denen des 13 Briefes durchaus aumlhnlich klingen zB(Beruumlhrungen zur epikureischen Lehre hervorgehoben)

986 Calamitosus est animus futuri anxius et ante miser ias misersup2 qui sol l ic i tus estut ea quibus delectatur ad extremum usque permaneant nullo enim tempore conquiescit etexpectat ione ventur i praesentia quibus frui poterat amittet

Schlimm dran ist ein Mensch der um die Zukunft besorgt und (schon) vor dem Ungluumlckungluumlcklich ist der besorgt ist dass das woran er sich freut bis an sein Lebensende erhal-ten bleibt er wird naumlmlich zu keiner Zeit zur Ruhe kommen und wird in der Erwartung derZukunft das Gegenwaumlrtige das er haumltte genieszligen koumlnnen verlieren

1 Die thematische Verwandtschaft der Briefe 5 13 14 24 und 98 ist in der Forschung oft gesehenworden zB Cancik Untersuchungen 72ndash75 (geht auf die ersten vier der genannten Briefe ein)Maurach Bau 73f und 97 mit Anm 78 Hachmann Leserfuumlhrung 130ndash1342 Vgl epist 134 illud tibi praecipio ne sis miser ante tempus

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132 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Oder

987f 7 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est ma-lum suum antecedere 8 [] Plus dolet quam necesse est qui ante dolet quam ne-cesse est

7 Nichts ist erbaumlrmlicher und nichts unsinniger als sich schon vorher zu fuumlrchten Was istdas fuumlr ein Wahnsinn seinem Ungluumlck zuvorzukommen 8 [] Mehr als noumltig leidet werfruumlher als noumltig leidet

Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied Der 98 Brief zeichnet eine vollkom-men andere Situation Waumlhrend im 5 und vor allem im 13 Brief die Ratschlaumlgeeinem (vermuteten) Bedarf auf Seiten des rsaquoLuciliuslsaquo entsprechen er also selbstihr Adressat ist sind sie im 98 Brief Beiprodukt einer anderen Thematik naumlm-lich der allgemeinen Eroumlrterung von Fragen der stoischen Guumlterlehre Aus demEingangssatz raquoMan sollte nie einen fuumlr gluumlcklich halten der vom (aumluszligeren) Gluumlckabhaumlngig istlaquosup1 hatte Seneca die Frage entstehen lassen ob aumluszligere Guumlter dennnicht trotzdem angenehm und nuumltzlich sein koumlnnten (Eine solche auf der stoi-schen ἀδιάφορα-Lehre basierende Frage ist uumlbrigens das sei vorweggenommenvor dem 65 Brief undenkbar) Zwar bejaht Seneca diessup2 doch knuumlpft er das anein entsprechendes mentales Training sich dabei staumlndig der eigentlichen Guumlterbewusst zu sein

984 Sive alios observare volueris (liberius enim inter aliena iudicium est) sive te ipsum fa-vore seposito et senties hoc et confiteberis nihil ex his optabilibus et caris utile esse nisi tecontra levitatem casus rerumque casum sequentium instruxeris nisi illud frequenter et sinequerella inter singula damna dixeris raquodis aliter visum estlaquo [Verg Aen 2428]

Sei es dass du andere (das Urteil ist naumlmlich bei fremden Angelegenheiten unbefangener)oder dass du unter Beiseitelegen von Selbstgefaumllligkeit dich selbst daraufhin ansehenwillstDu wirst dies bemerken und anerkennen dass nichts von diesen wuumlnschenswerten undwertvollen Dingen nuumltzlich ist wenn du dich nicht gegen die Unbestaumlndigkeit des Zufallsund derjenigen Dinge die dem Zufallsgesetz folgen wappnest und wenn du nicht oft undohne Klagen bei einzelnen Ungluumlcksfaumlllen jenen Satz vorbringst rsaquoDie Goumltter wollten es an-derslsaquo

1 Numquam credideris felicem quemquam ex felicitate suspensum2 Uumlbrigens wieder unter reichlicher Beimischung epikureischer Stimulanzien (s oben S 39) andieser Stelle (981f) wird die Verknuumlpfung genuin stoischer Gedanken mit diesen Sekundaumlrmoti-ven besonders deutlich rsaquoQuid ergo non usui ac voluptati esse possuntlsaquoQuis negat sed itasi lla ex nobis pendent non ex illis nos Omnia quae fortuna intuetur ita fruct i fera ac iucundafiunt si qui habet illa se quoque habet nec in rerum suarum potestate est

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31 Strategien gegen die Angst | 133

Die Passage zeigt deutlich dass die Aufforderungen zur praemeditatio (und eben-so zur Schicksalsergebenheit sozusagen einermeditatio in ipso eventu) in diesemBrief weder einen konkreten Anlass haben noch einer konkreten Person geltenEs geht bei diesen Uumlberlegungen nicht um Luciliusrsquo Gemuumltslage sondern um dierichtige Bewertung der Guumlter

Seneca glaubt im 98 Brief auch nicht mehr dass Lucilius hier noch einenNachholebedarf hat Das wird schon daraus ersichtlich dass Seneca anders alsim 5 Brief Lucilius und sich nicht mehr einschlieszligt in die Menge derer die denFehler machen sich durch Vergangenes und Zukuumlnftiges bedruumlcken zu lassenIm 5 Brief hieszlig es noch

58ndash9 8 [] Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed co-gitationes in longinqua praemittimus[] 9 Ferae pericula quae vident fugiunt cum effu-gere securae sunt nos et venturo torquemur et praeterito

8 [] Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht aufdie gegenwaumlrtigen Dinge konzentrieren sondern unsere Uumlberlegungen auf weit Entferntesvoraussenden [] 9 Die wilden Tiere fliehen vor den Gefahren die sie (gerade) sehenwir aber lassen uns von Zukuumlnftigem und Vergangenem peinigen

Auch der 13 Brief formulierte einschlieszligend und die dort bereits erkennbareMissbilligung dieser Haltung war noch in die Form des freundlichen Hinweisesgegossen (zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere) Nun aber im 98 Brief di-stanziert Seneca sich Lucilius und damit den Leser von einer solchen Positionindem er diese (in der dritten Person) mit beiszligendem Hohn uumlberzieht Wenigmitfuumlhlend haumllt er nichts fuumlr raquoerbaumlrmlicher und duumlmmer als sich im Voraus zufuumlrchtenlaquo es sei geradezu ein Zeichen geistiger Umnachtung sich so zu ver-haltensup1 Fuumlr die die sich staumlndig vor der Zukunft fuumlrchten bringt Seneca keinVerstaumlndnis auf er schimpft sie (988) raquoKummerleider die sich selbst im Wegestehenlaquo (satagii ac sibi molestos) und raquoLeute ohne Selbstkontrollelaquo (intemperan-tes) Kurz Was im 13 Brief noch ein unverbindliches Angebot zum Nachdenkenwar das ist hier zur unverhandelbaren Forderung geworden die Angst vor derZukunft ist nicht mehr salonfaumlhig

Konsequenterweise wird das was im 13 Brief lediglich als rsaquohoumlherelsaquo Hand-lungsoption charakterisiert wurde (oben S 129) im 98 Brief als rsaquoalternativloslsaquofuumlr einen guten Charakter dargestellt und dichotomisch vom Unvermoumlgen desschlechten Charakters unterschieden

1 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est malum suum antece-dere (987)

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134 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

982ndash3 2 Valentior enim omni fortuna animus est et in utramque partem ipse res suas du-cit beataeque ac miserae vitae sibi causa est 3 Malus omnia in malum vertit etiam quaecum specie optimi venerant rectus atque integer corrigit prava fortunae et dura atque asperaferendi scientia mollit eqs

2 Der Geist ist naumlmlich staumlrker als alles Schicksal er selbst lenkt seine Geschicke in dieeine oder die andere Richtung und ist fuumlr sich selbst die Ursache eines gluumlcklichen oder un-gluumlcklichen Lebens 3 Der Schlechte verwandelt alles in Schlechtes selbst das was mitdem Schein des Bestmoumlglichen eingetreten war der Aufrechte und Unbeirrte (demgegen-uumlber) berichtigt die Maumlngel des Schicksals und macht durch seine Faumlhigkeit zum Ertragendas Harte und Raue weich usw

Aber noch in einemanderenPunkt tritt der bis zum im98 Brief erreichteTherapie-fortschritt deutlich hervor Waumlhrend im 13 Brief der Gegenpol zur rsaquostarkenlsaquo stoi-schen Sicht nur in der rsaquoschwachenlsaquo epikureischen bestand so warnt der 98 Briefnicht minder vor dem entgegengesetzten Extrem naumlmlich (in einseitiger Ausle-gung der stoischen Guumlterlehre) aumluszligere Guumlter gar nicht mehr zu achten Vielmehrfordert Seneca ausdruumlcklich dazu auf gefaumlhrlichen Situationen aus dem Wegezu gehen Direkt vor der oben erwaumlhnten Verurteilung des Sich-vorher-Fuumlrchtensheiszligt es

987 Nec ideo praecipio tibi neglegentiam Tu vero metuenda decl ina quidquid consilioprospici potest prospice quodcumque laesurum est multo ante quam accidat speculare etaverte In hoc ipsum tibi plurimum conferet fiducia et ad tolerandum omne obfirmata mensPotest fortunam cavere qui potest ferre certe in tranquillo non tumultuatur

Doch ich schreibe dir deshalbnichtNachlaumlssigkeit [ imUmgang mit den ἀδιάφοραndash (Anm UD)

] vor Du sollst durchaus den fuumlrchtenswerten Ereignissen aus dem Wege gehen was auchimmer rational vorausgesehen werden kann das sieh voraus was auch immer verletzenkann das fasse weit fruumlher als es passiert ins Auge und wende es ab Gerade dafuumlr wird dirdein Selbstvertrauen und dein alles zu ertragen gefestigter Sinn sehr zugute kommen Derkann dem Schicksal ausweichen der es tragen kann zumindest gibt es bei einem ruhigenMenschen keinen Aufruhr

Welches Fazit koumlnnen wir hieraus ziehen Seneca empfiehlt zwar sowohl in fruuml-heren Briefen als auch im 98 Brief sich erstens das Leben nicht durch verfruumlhteAngst selbst schwer zu machen und zweitens gefaumlhrlichen Situationen ndash wennmoumlglich ndash aus dem Weg zu gehen Doch erstens treten nur in den fruumlheren Brie-fen dazu Ratschlaumlge die mit der stoischen Lehre in keinster Weise vereinbar sind(zB epist 1310 interim tibi meliora promitte 1312 spe metum tempera)sup1 Zweitens

1 Verschweigen dieses Mittels im 98 Brief richtig gesehen bei Hachmann Leserfuumlhrung 131raquoDie scheinbare Hilfe durch Verdraumlngung [] wird in Brief 98 gar nicht erwaumlhntlaquo Hachmannscheint aber nicht zu bemerken dass der Grund fuumlr dieseAuslassung eben in derUnvereinbarkeit

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31 Strategien gegen die Angst | 135

laumlsst Seneca inden fruumlhenBriefendieseArt vonRatschlaumlgenausderRuumlcksicht aufdie Schwaumlche des Lucilius entstehensup1 oder formuliert sie nach Art einer epikurei-schen Lust-Schmerz-Bilanzsup2 Demgegenuumlber werden die Ratschlaumlge im 98 Briefallein aus der stoischen Guumlterlehre abgeleitet Zwar verwendet Seneca noch im-mer epikureische Argumentationsmuster (989 laumlsst er zudem Metrodor als Kron-zeuge auftreten) jedoch tut er das nicht mehr in mit der stoischen Lehre inkom-patibler sondern ausschlieszliglich in komplementaumlrer und streng untergeordneterWeise Epikur ist kein Konkurrent mehr kein Gegenmodell Er ist zum Helfer her-abgesunken der die Luumlcken ausfuumlllen darf die ihm die stoische Lehre gelassenhat

Der zuletzt zitierte Gedanke (Potest fortunam cavere qui potest ferre) illustriertdieses Selbstverstaumlndnis in hervorragender Weise Wenn Seneca die Erfuumlllungder epikureischen Forderung dem Schicksal auszuweichen (fortunam cavere) aneinen Charakter knuumlpft der dem Schicksal auch standhalten kann (qui potest fer-re) ndash der also die stoische Selbstbeherrschung verinnerlicht hat ndash dann sagt erdamit rsaquoKein Epikureer kann die epikureischen Forderungen so gut erfuumlllen wiewir Stoikerlsaquosup3

Diese Einverleibung Epikurs als eines im praktischen Bereich nuumltzlichenrsaquoKnechtslsaquo fuumlr die Erziehung zur stoischen Lebensweise ist wie ich spaumlter nochdeutlicher zeigen moumlchte (Kapitel 431) ein Hauptcharakteristikum fuumlr Senecas

mit der stoischen Lehre liegt (130 raquoAndererseits wird ein Argument das in den ersten Briefenbenutzt in ep 98 aber nicht verwendet wurde wahrscheinl ich mit Absicht ausgelassenworden seinlaquo [meine Hervorhebung])1 Vgl zB 135 Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes2 zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere Vgl auch 241 Quid enim necesse est [] praesenstempus futuri metu perdere3 Auch an dieser Stelle bringt Hachmann Leserfuumlhrung 132 die Sache zu wenig auf den PunktraquoHier geht der Brief 98 weit uumlber die Anfangsbriefe hinaus wenn er einen ursaumlchlichen Zusam-menhang sieht wo die Anfangsbriefe lediglich ein Nebeneinander sahen Nur der seelisch Star-ke welcher der Gefahr klar ins Auge sehen kann besitzt auch die notwendige Gelassenheit ver-nuumlnftige Gegenmaszlignahmen zu ergreifenlaquo Hachmann sieht im 98 Brief (bis auf die Auslassungder Verdraumlngungstaktik) offenbar wieder nur einen quantitativen Unterschied zu den fruumlherenraquoEinVergleich vonep 986mit ep 138ndash11 zeigt dass indemfruumlhenBrief die zukritisierendeFehl-haltung imVerhaumlltnis zu den echten Versuchender Heilung breiter dargestellt wurde Dagegenuumlberwiegt in ep 98 die Darstellung der Bewaumlltigunglaquo (ebd (Hervorhebung UD) ) MaurachBau 73f erkennt richtig dass im 98 Brief der systematische Zusammenhang erkennbar ist denSeneca in denBriefen 13 und 14 nicht erwaumlhnt der aber der dortigen Gedankenfuumlhrung zugrundeliegt Maurach geht es dabei darum die verdeckten inhaltlichen Beziehungen aufzudecken diedie Briefe 12ndash15 enger zusammenschlieszligen (eine wichtige Funktion kommt dabei der im 14 Briefangesprochenen οἰϰείωσις-Lehre zu) Die Frage nach Epikur- und Stoa-Kompatibilitaumlt der Argu-mente und damit nach Therapiestufen steht auszligerhalb seines Blickwinkels auf den Text

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136 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Briefe Nur hieraus und nicht aus persoumlnlichen Faktoren (vermeintlicher Ek-lektizismus Senecas Beeinflussung durch Luciliusrsquo Epikureismus) erklaumlrt sicheinerseits die Affinitaumlt zu Epikur (wo er zu brauchen ist bedient sich Seneca sei-ner gern) andererseits die scharfe Abgrenzung von ihm (Epikurs Prinzipien sindund bleiben aus Senecas Sicht untragbar)

Um herauszufinden auf welchem Therapieniveau Seneca operiert genuumlgt esalsonicht dieHerkunft bestimmterArgumentationsmuster ausder epikureischenSchule aufzuzeigen Diese verwendet er immersup1 so geniert sich Seneca zB auchim 98 Brief nicht unmittelbar vor einer stoischen exempla-Serie als Trostmittelfuumlr etwaige Verluste die epikureische Ruumlckbesinnung auf die Vergangenheit zuempfehlen (9811) Habere eripitur habuisse numquam Die entscheidende Frageist vielmehr inwiefern Seneca dabei gegen das stoische Wertesystem verstoumlszligt

Ein aufschlussreicher Schritt auf diesemWege ist der 24 Brief Vonunserembishe-rigen Befund aus mag ein kurzer Blick auf ihn genuumlgensup2 Der 13 Brief hatte durchdie Gegenuumlberstellung der rsaquohoumlherenlsaquosup3 stoischen zur rsaquoniedrigerenlsaquo epikureischenSicht zum ersten Mal auf die Abloumlsung der epikureisierenden Ratschlagstopik des5 Briefes hingearbeitet Auch der 14 Brief wirkte zwar ndash mit ersten Anklaumlngen andie Oikeiosislehre ndash auf eine Relativierung der Angstausloumlser hin blieb aber inseinen Methoden unentschieden So klingt beispielsweise gegenuumlber der helden-haften Aufforderung den Koumlrper notfalls auch ins Feuer zu schicken wenn es dieVernunft die Wuumlrde oder die Treue fordere (142) der unmittelbar folgende Satzdoch wieder sehr nach dem epikureischen Ausweichgedanken

143 Nihilominus quantum possumus evitemus incommoda quoque non tantum pericula etin tutum nos reducamus excogitantes subinde quibus possint timenda depelli

Nichtsdestotrotz wollen wir auch Unannehmlichkeiten nicht nur Gefahren nach Kraumlftenaus dem Wege gehen und uns auf sicheres Gebiet zuruumlckziehen indem wir uns immer wie-der ausdenken wodurch angsterregende Situationen entschaumlrft werden koumlnnen

Den endguumlltigen Bruch mit einer von stoischen Prinzipien abgeloumlsten epikurei-schen Behandlung vollzieht erst der 24 Brief indem er erstmals auch bei derFurchtbekaumlmpfung der praemeditatio-Technik den eindeutigen Vorzug vor derepikureischen Verdraumlngungsloumlsung gibt Ein Meisterstuumlck ist dabei wie Senecazum Schein die epikureische Loumlsung vorbringt und zunaumlchst auf sie eingeht so

1 Siehe dazu oben S 392 Als weitere Wegmarken koumlnnte man insbesondere 316 (vgl unten S 203) anfuumlhren3 Zu diesen Kategorien und ihrer Etablierung im philosophischen Denken Ciceros Goumlrler Un-tersuchungen zu Ciceros Philosophie vgl oben Anm 1 auf S 127

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31 Strategien gegen die Angst | 137

dass jeder von seinen Lesern der noch mit Epikurs Lehre liebaumlugelt sich auf demrichtigen Weg waumlhnen darf wie er dann aber diese Ratschlaumlge mit einem Wischzur Seite legt und zwar mit genau dem Argument das auch im 13 Brief schon alsKritik an Epikur anklang Das Verdraumlngen einer schlimmen Zukunft kann nichtjede Sorge nehmen (weil es durchaus Situationen gibt in denen das Eintreten desUumlbels aumluszligerst wahrscheinlich ist)sup1

241ndash2 1 Sollicitum esse te scribis de iudicicirc eventu quod tibi furor inimici denuntiat existi-masme suasurumutmeliora tibi ipse proponas et adquiescas spei blandae Quid enimnecesseest mala accersere satis cito patienda cum venerint praesumere ac praesens tempus futurimetu perdere Est sine dubio stultum quia quandoque sis futurus miser esse iam miserum2 Sed ego alia te ad securitatem via ducam si vis omnem sollicitudinem exuere quidquidvereris ne eveniat eventurum utique propone et quodcumque est illud malum tecum ipse me-tire ac timorem tuum taxa

1 Du schreibst du seist beunruhigt in Betreff des Ausgangs eines Prozesses den dir die Ra-serei deines Widersachers ankuumlndigt du glaubst ich werde dir nun raten dass du dir selbstBesseres vor Augen stellst und bei einer verlockenden Hoffnung zur Ruhe kommst Wozuist es naumlmlich notwendig Ungluumlckssituationen herbeizurufen das vorauszunehmen waswenn es gekommen ist immer noch fruumlh genughinzunehmen ist und die gegenwaumlrtige Zeitdurch die Angst vor der zukuumlnftigen schon zu verderben 2 Es ist ohne Zweifel unsinnigjetzt schon ungluumlcklich zu sein weil du irgendwann einmal ungluumlcklich sein wirst Aber ichwill dich auf einem anderen Weg zur Sicherheit fuumlhren Wenndu alleUnruhe ablegen willstdann stelle dir alles dessen Eintreten du befuumlrchtest erst recht vor Augen und miss wasauch immer es fuumlr ein Ungluumlck ist bei dir selbst nach und schaumltze das Ausmaszligdeiner Furchtein

Es kann kein Zweifel daran bestehen dass dieser Beginn des 24 Briefes als Ge-genstuumlck und Fortentwicklung der Therapie des 13 Briefes gelten musssup2

Unverstaumlndlich ist mir in diesem Punkt die Deutung Canciks Untersuchungen 73f Sie ver-sucht ndash gegen Misch Autobiographie 433 ndash zu beweisen dass weder zwischen dem 13 und dem24 Brief noch zwischen dem5 unddem24 Brief eine Entwicklung des rsaquoLuciliuslsaquo stattfindet raquoVoneinem Ansatz zur Darstellung einer seelischen Entwicklung in Mischs Sinne kann also hier [ dhim 13 Brief ndash (AnmUD) ] nicht die Rede sein Genausowenig bezeichnet ep 24 eine gegenuumlber ep 13fortgeschrittene Stufe in der Entwicklung des Luciliuslaquo (74) Sie folgert das zum einen (a) dar-aus dass auch im 13 Brief beide Sichtweisen vertreten werden zum andern (b) weil sie meintdass auch 57 schon raquodie stoische Vorstellung von der Uumlberwindung der Leidenschaften [] rein

1 Siehe oben S 1282 RichtigMaurach Bau 97 sowieHachmann Leserfuumlhrung 182ndash190 (der zu Recht konstatiertdass die Notmethode der Angstbekaumlmpfung durch einen Gegenaffekt also das vitio vitium repel-lere von 1312 (s oben S 129) von epist 24 an nicht mehr zum Repertoire Senecas gehoumlrt) fernerWacht Angst in Senecas Briefen 527 raquoWas also zunaumlchst grundsaumltzlich vereinbar und als mil-dere Form der Angstbewaumlltigung akzeptiert schien muss hier einer Methode weichen die zumsicheren Erfolg zu fuumlhren versprichtlaquo

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und eindeutiglaquo zum Ausdruck bringe (ebd) Doch wir haben gesehen dass (a) im 13 Brief beideSichtweisen noch miteinander wetteifernd auftreten und die stoische Loumlsung als die edlere dieepikureische aber als die derzeit wirkungsvollere dargestellt wird Die edlere Loumlsung legt sich da-bei wie ein Ring um die primitivere Canciks Deutung des 13 Briefes ist demnach verfehlt wennsie (ebd) behauptet raquoEine Interpretation von ep 13 im Ganzen zeigt dass ihr Gedankengangauf Steigerung angelegt istlaquo Denn der Brief enthaumllt nicht eine kontinuierliche Steigerung derphilosophischen Argumentationshoumlhe sondern beginnt in stoischer Houmlhe wird dann von 133bis 1313 durch eine epikureische Phase abgeloumlst und kehrt dann mit 1314 und den angedeutetenexempla wieder zum Ausgangsniveau zuruumlck Ganz anders ist das im 24 Brief Die epikureischeVerdraumlngungsloumlsung wird nur eingangs erwaumlhnt und zwar nur dazu um desto wirkungsvollerbeiseite gelegt werden zu koumlnnen Sie spielt im uumlbrigenBrief keine Rollemehr und ist vonAnfangan keine ernsthafte Alternative Die praemeditatio-Methode beherrscht von Beginn das Feld underhaumllt spaumltestens durch die lange exempla-Serie ab 243 ein erdruumlckendes Uumlbergewicht Einenfast schon verzweifelt zu nennenden opportunistischen Ratschlag wie 1313 crede quod mavis ndashraquoGlaube was du lieber willst (sc wenn du nur dadurch zur Ruhe kommst)laquo wird man nicht im24 und auch in keinem spaumlteren Brief mehr finden

Was (b) den 5 Brief angeht so muss man klar feststellen dass zwar der Zusammenhangzwischen Furcht und Hoffnung von dem Seneca dort spricht als Vorbereitung fuumlr eine spaumltereἀπάϑεια-Forderung gesehen werden kann Doch in der Hinsicht die wir als Indiz fuumlr eine Ent-wicklung des Lucilius angesehen haben naumlmlich in der Frage ob man zukuumlnftigen Uumlbeln ge-genuumlber eher die epikureische rsaquoKopf-in-den-Sand-Taktiklsaquo oder die kyrenaisch-stoische praemedi-tatio anwenden soll steht der 5 Brief wie wir gesehen habensup1 ganz eindeutig auf epikureischerSeitesup2 Abgesehen davon ist der Zusammenhang zur stoischen ἀπάϑεια auch nur fuumlr ein philo-sophisch bereits geuumlbtes Auge zu erkennen der Ratschlag erst ein Aufhoumlren des Hoffens werdeauch zum Ende des Fuumlrchtens fuumlhren laumlsst sich auch als gegen ein jeweiliges Zuviel im Einzel-fall gesprochen denken von einem raquoreinen und eindeutigenlaquo Propagieren der Uumlberwindung derLeidenschaften kann jedenfalls keine Rede sein

Doch obwohl er sich in der Entscheidung fuumlr die praemeditatio jetzt konse-quent zeigt ndash oder eben deshalb ndash sorgt Seneca umgehend dafuumlr dass die Bruumlckezum Epikureismus nicht gaumlnzlich abgerissen wird Er wolle sagt er Lucilius zursecuritas fuumlhren im Gegensatz zu Begriffen wie etwa constantia oder gar invulne-rabilitaswaumlhlt er damit einen Ausdruck der das epikureische Ideal der Sorglosig-keit (se+cura) uumlberdeutlich anklingen laumlsstsup3 Und die von Lucilius befuumlrchteten

1 S oben S 1312 Zu Recht skeptisch bereits Maurach Bau 97 Anm 78 ndash Hachmanns Widerlegungsversuch(Leserfuumlhrung 189) gegen diese Deutung von 57 durch Cancik speist sich allein aus dem Um-stand dass sich der 5 Brief noch im raquoEinleitungsteil des Werkeslaquo befinde Das allein halte ich fuumlrwenig schlagkraumlftig entscheidend ist die Stellung zur praemeditatio da diese wirklich ein Un-terscheidungskriterium zwischen Epikureismus und Stoa bietet vgl Abel Bauformen 38 undMaurach Bau 97 mit Anm 803 Das Wort kommt aus metrischen Gruumlnden bei Lukrez nicht vor inhaltlich ist es gleichwohlfast omnipraumlsent vgl zB im Prooumlm des zweiten Buches (216ndash19) nonne videre | nihil aliud sibi

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31 Strategien gegen die Angst | 139

Ereignisse bezeichnet Seneca so wie die breite Bevoumllkerung auch naumlmlich mitmalasup1

Doch es kommt noch besser Denn man duumlrfte nach der Ankuumlndigung diesesrsaquoanderen Weges zur Sorglosigkeitlsaquo erwarten dass Seneca jetzt wenn er jetzt mitden Worten intelleges profecto fortfaumlhrt ganz in stoischem Fahrwasser etwa sa-gen wird raquoDu wirst erkennen dass all diese Bedrohungen und Gefahren nichtigund nicht schwer zu ertragen sind und dass es allein auf unsere innere Haltungankommt Denn das einzige echte Uumlbel ist es sich verwerflich zu verhalten daseinzige Uumlbel ist die turpitudo Alle anderen Ereignisse vor denen du Angst hastsind keine wirklichen mala Das alles sind ἀδιάφορα also indifferente ethischambivalente Dingelaquo Stattdessen sagt er

242 intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis

du wirst ganz sicher erkennen dass es nicht groszlig oder aber nicht langdauernd ist wasdu fuumlrchtest

Das ist ndash worauf ua auch Wachtsup2 zu Recht hinweist ndash nichts anderes als Epikurswohlbekannte Formel gegen die Angst vor dem Schmerzsup3 die Cicero (fin 222) mitfast denselben Worten wie spaumlter Seneca zusammenfasst Si gravis [sc dolor] bre-vis si longus levis⁴

Die geschickte Wendung in der Formulierung laumlsst sich sicherlich wie ge-sagt als raquoRuumlcksicht auf den epikureischen Freundlaquo verstehen⁵ Doch sie ist mehrals das Die epikureische Schmerzformel ist ein nicht nur akutes sondern vonvornherein auch vorausschauendes Trostmittel Sie hat die Funktion die Angstvor einer schmerzhaften Zukunft zu verringern und enthaumllt damit schon von sichaus eine praumlmeditative Komponente Diesen fuumlr den Uumlbergang zur stoischen Leh-re guumlnstigen Umstand hat Seneca geschickt ausgenutzt Die Schmerzformel istein ideales Bindeglied um dem praemeditatio-Gedanken auch von epikureischerWarte aus Ruumlckhalt zu verschaffen

naturam latrare nisi ut qui | corpore seiunctus dolor absit mente fruatur | iucundo sensu curasemota metuque1 Anstelle einer stoisierenden Umschreibung vgl unten Kapitel 512 Angst in Senecas Briefen 528f3 Epic KD 4 GV 44 Vgl Sen epist 2414 Levis es si ferre possum brevis es si ferre non possum sowie ferner epist3014 ( nullum enim dolorem longum esse qui magnus est)5 Wacht Angst in Senecas Briefen 528 freilich darf dabei ndash wie oben (Kapitel 132 ab S 35)ausgefuumlhrt ndash unter rsaquoFreundlsaquo nicht die reale Person Lucilius verstanden werden sondern es gehtum die Integration des epikureisch orientierten Leserpublikums

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Auch ein Stoiker wie Mark Aurel weiszlig uumlbrigens um den praktischen Wert die-ser Formel Und fuumlr die Bestimmung von Senecas Taktik ist es hochinteressant zusehen wie sich die Einbettung dieses Gedankens bei dem Philosophenkaiser imUnterschied zu Seneca darstellt Denn zum einen laumlsst Mark Aurel die stoischeSicht eben nicht fort sondern setzt sie in guter Ordnung an den Anfang

MarkAurel 764 ᾿Επὶ μὲνπαντὸς πόνου πρόχειρον ἔστω ὅτι οὐϰ αἰσχρὸνοὐδὲ τὴνδιάνοιαντὴν ϰυβερνῶσαν χείρω ποιεῖ οὔτε γὰρ ϰαϑὸ λογιϰή ἐστιν οὔτε ϰαϑὸ ϰοινωνιϰὴ διαφϑείρειαὐτήνBei jedem Ungemach sei Dir dieses Argument griffbereit dass es nicht moralisch verwerf-lich ist und die leitende Vernunft nicht schwaumlcht Denn weder insoweit sie vernuumlnftig nochinsoweit sie gemeinschaftsbezogen ist verdirbt es sie

Zum anderen kennzeichnet er den nun folgenden epikureischen Gedanken expli-zit als solchen und schraumlnkt ihn insoweit ein als er sagt dass diese Maxime nichtimmer sondern nur in den meisten Faumlllen anwendbar sei

Mark Aurel 764 Fortssup1 ἐπὶ μέντοι τῶν πλείστων πόνων ϰαὶ τὸ τοῦ ᾿Επιϰούρου σοι βοη-ϑείτω ὅτι οὔτε ἀφόρητον οὔτε αἰώνιον ἐὰν τῶν ὅρων μνημονεύῃς ϰαὶ μὴ προσδοξάζῃςBei den meisten Formen von Ungemach moumlge dir indes schon das Wort Epikurs helfen dasses weder unertraumlglich noch unendlich ist sofern du dich an die Fakten haumlltst und nichtschon im Vorhinein schlimme Erwartungen hegst

Insgesamt koumlnnenwir in Senecas Briefen bezogen auf die Frage der Angsttherapiefolgende Entwicklung feststellen Angefangen von epist 5 (= epikureische Thera-peutik) gibt es eine Entwicklung uumlber epist 13 und 14 (Mischform) epist 24 (vor-wiegend stoische Argumentation mit epikureischer Motivation jedoch vermischtmit epikureischer avocatio) hin zu epist 98 in der eine im Kern rein stoische Ar-gumentation vorliegt die sich jedoch nach wie vor epikureischer Hilfsargumentebedient

Senecas Taktik besteht demnach nicht darin die gegnerische rsaquoFestunglsaquo mitseinen Argumenten rsaquoim Handstreichlsaquo oder uumlberhaupt in der Schlacht zu nehmenVielmehr legt er es ndash um im Bild zu bleiben ndash darauf an sie nach und nach davonzu uumlberzeugen freiwillig ihre Tore zu oumlffnen Er will eine Transformation des Le-sers aber er will sie nicht auf dem Weg der Konfrontation sondern lieber auf demPfad schleichender Integration

Auch der 105 Brief fuumlgt sich in diese Ordnung ein Zwar legt Seneca seinem Freund hiernahezudie gleichenRatschlaumlgevor die er auch schon im13 14 und 24Brief gegebenhatteDoches geht uumlberhaupt nicht um Angstvermeidung sondern um aumluszligere Sicherheit Lucilius hat ndash so

1 = Epicur fr 447 Us

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 141

die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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142 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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144 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 145

psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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146 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 12: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

31 Strategien gegen die Angst | 131

58 Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed cogitationes inlonginqua praemittimus itaque providentia maximum bonum condicionis humanae in ma-lum versa est

Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht auf die ge-genwaumlrtigenDinge konzentrieren sondern unsereUumlberlegungen aufweit Entferntes voraus-senden und so hat sich die Faumlhigkeit zur Voraussicht der groumlszligte Vorzug der menschlichenNatur zum Uumlblen hin verwandelt

Damit seien wir noch schlechter beraten als die Tiere die sich nur durch Gegen-waumlrtiges bedruumlcken lieszligen bei uns fuumlhle sichniemandnicht nur aufgrund gegen-waumlrtiger Uumlbel bedruumlckt (nemo tantum praesentibus miser est)

Mit diesen Worten endet der Brief es gibt ndash anders als in der 13 Epistel ndash keinstoisierendes kein zu einer houmlheren Sicht aufrufendes Finale und keine exem-pla die den Leser auffordern sich zu ermannen und den Gefahren mit Mut entge-genzutreten Und auch vor dem soeben angesprochenen Abschnitt sucht man diestoische Position vergebens Der Gedankengang ist voll und ganz epikureischundsteht in unausgeglichenem Gegensatz zur praemeditatio-Lehre einzig im unauf-faumlllig eingewobenen itaque providentia maximumbonumcondicionis humanae inmalum versa est koumlnnte man bei gutem Willen einen aufglimmenden Funken desin 46 eingefuumlhrten praemeditatio-Gedankens erkennen Doch Seneca huumltet sichauf diesen Widerspruch aufmerksam zu machen Nur fuumlr den der schon fuumlr ihnempfaumlnglich ist ist dieser Schimmer einer stoischen Sicht uumlberhaupt wahrnehm-bar

Wie geht Seneca diese Thematik in spaumlteren Briefen anNehmenwir zunaumlchst einweit entferntes Beispiel Im 98 Briefsup1 lesen wir Saumltze die den epikureisierendenPassagen des 5 aber auch denen des 13 Briefes durchaus aumlhnlich klingen zB(Beruumlhrungen zur epikureischen Lehre hervorgehoben)

986 Calamitosus est animus futuri anxius et ante miser ias misersup2 qui sol l ic i tus estut ea quibus delectatur ad extremum usque permaneant nullo enim tempore conquiescit etexpectat ione ventur i praesentia quibus frui poterat amittet

Schlimm dran ist ein Mensch der um die Zukunft besorgt und (schon) vor dem Ungluumlckungluumlcklich ist der besorgt ist dass das woran er sich freut bis an sein Lebensende erhal-ten bleibt er wird naumlmlich zu keiner Zeit zur Ruhe kommen und wird in der Erwartung derZukunft das Gegenwaumlrtige das er haumltte genieszligen koumlnnen verlieren

1 Die thematische Verwandtschaft der Briefe 5 13 14 24 und 98 ist in der Forschung oft gesehenworden zB Cancik Untersuchungen 72ndash75 (geht auf die ersten vier der genannten Briefe ein)Maurach Bau 73f und 97 mit Anm 78 Hachmann Leserfuumlhrung 130ndash1342 Vgl epist 134 illud tibi praecipio ne sis miser ante tempus

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Oder

987f 7 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est ma-lum suum antecedere 8 [] Plus dolet quam necesse est qui ante dolet quam ne-cesse est

7 Nichts ist erbaumlrmlicher und nichts unsinniger als sich schon vorher zu fuumlrchten Was istdas fuumlr ein Wahnsinn seinem Ungluumlck zuvorzukommen 8 [] Mehr als noumltig leidet werfruumlher als noumltig leidet

Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied Der 98 Brief zeichnet eine vollkom-men andere Situation Waumlhrend im 5 und vor allem im 13 Brief die Ratschlaumlgeeinem (vermuteten) Bedarf auf Seiten des rsaquoLuciliuslsaquo entsprechen er also selbstihr Adressat ist sind sie im 98 Brief Beiprodukt einer anderen Thematik naumlm-lich der allgemeinen Eroumlrterung von Fragen der stoischen Guumlterlehre Aus demEingangssatz raquoMan sollte nie einen fuumlr gluumlcklich halten der vom (aumluszligeren) Gluumlckabhaumlngig istlaquosup1 hatte Seneca die Frage entstehen lassen ob aumluszligere Guumlter dennnicht trotzdem angenehm und nuumltzlich sein koumlnnten (Eine solche auf der stoi-schen ἀδιάφορα-Lehre basierende Frage ist uumlbrigens das sei vorweggenommenvor dem 65 Brief undenkbar) Zwar bejaht Seneca diessup2 doch knuumlpft er das anein entsprechendes mentales Training sich dabei staumlndig der eigentlichen Guumlterbewusst zu sein

984 Sive alios observare volueris (liberius enim inter aliena iudicium est) sive te ipsum fa-vore seposito et senties hoc et confiteberis nihil ex his optabilibus et caris utile esse nisi tecontra levitatem casus rerumque casum sequentium instruxeris nisi illud frequenter et sinequerella inter singula damna dixeris raquodis aliter visum estlaquo [Verg Aen 2428]

Sei es dass du andere (das Urteil ist naumlmlich bei fremden Angelegenheiten unbefangener)oder dass du unter Beiseitelegen von Selbstgefaumllligkeit dich selbst daraufhin ansehenwillstDu wirst dies bemerken und anerkennen dass nichts von diesen wuumlnschenswerten undwertvollen Dingen nuumltzlich ist wenn du dich nicht gegen die Unbestaumlndigkeit des Zufallsund derjenigen Dinge die dem Zufallsgesetz folgen wappnest und wenn du nicht oft undohne Klagen bei einzelnen Ungluumlcksfaumlllen jenen Satz vorbringst rsaquoDie Goumltter wollten es an-derslsaquo

1 Numquam credideris felicem quemquam ex felicitate suspensum2 Uumlbrigens wieder unter reichlicher Beimischung epikureischer Stimulanzien (s oben S 39) andieser Stelle (981f) wird die Verknuumlpfung genuin stoischer Gedanken mit diesen Sekundaumlrmoti-ven besonders deutlich rsaquoQuid ergo non usui ac voluptati esse possuntlsaquoQuis negat sed itasi lla ex nobis pendent non ex illis nos Omnia quae fortuna intuetur ita fruct i fera ac iucundafiunt si qui habet illa se quoque habet nec in rerum suarum potestate est

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Die Passage zeigt deutlich dass die Aufforderungen zur praemeditatio (und eben-so zur Schicksalsergebenheit sozusagen einermeditatio in ipso eventu) in diesemBrief weder einen konkreten Anlass haben noch einer konkreten Person geltenEs geht bei diesen Uumlberlegungen nicht um Luciliusrsquo Gemuumltslage sondern um dierichtige Bewertung der Guumlter

Seneca glaubt im 98 Brief auch nicht mehr dass Lucilius hier noch einenNachholebedarf hat Das wird schon daraus ersichtlich dass Seneca anders alsim 5 Brief Lucilius und sich nicht mehr einschlieszligt in die Menge derer die denFehler machen sich durch Vergangenes und Zukuumlnftiges bedruumlcken zu lassenIm 5 Brief hieszlig es noch

58ndash9 8 [] Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed co-gitationes in longinqua praemittimus[] 9 Ferae pericula quae vident fugiunt cum effu-gere securae sunt nos et venturo torquemur et praeterito

8 [] Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht aufdie gegenwaumlrtigen Dinge konzentrieren sondern unsere Uumlberlegungen auf weit Entferntesvoraussenden [] 9 Die wilden Tiere fliehen vor den Gefahren die sie (gerade) sehenwir aber lassen uns von Zukuumlnftigem und Vergangenem peinigen

Auch der 13 Brief formulierte einschlieszligend und die dort bereits erkennbareMissbilligung dieser Haltung war noch in die Form des freundlichen Hinweisesgegossen (zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere) Nun aber im 98 Brief di-stanziert Seneca sich Lucilius und damit den Leser von einer solchen Positionindem er diese (in der dritten Person) mit beiszligendem Hohn uumlberzieht Wenigmitfuumlhlend haumllt er nichts fuumlr raquoerbaumlrmlicher und duumlmmer als sich im Voraus zufuumlrchtenlaquo es sei geradezu ein Zeichen geistiger Umnachtung sich so zu ver-haltensup1 Fuumlr die die sich staumlndig vor der Zukunft fuumlrchten bringt Seneca keinVerstaumlndnis auf er schimpft sie (988) raquoKummerleider die sich selbst im Wegestehenlaquo (satagii ac sibi molestos) und raquoLeute ohne Selbstkontrollelaquo (intemperan-tes) Kurz Was im 13 Brief noch ein unverbindliches Angebot zum Nachdenkenwar das ist hier zur unverhandelbaren Forderung geworden die Angst vor derZukunft ist nicht mehr salonfaumlhig

Konsequenterweise wird das was im 13 Brief lediglich als rsaquohoumlherelsaquo Hand-lungsoption charakterisiert wurde (oben S 129) im 98 Brief als rsaquoalternativloslsaquofuumlr einen guten Charakter dargestellt und dichotomisch vom Unvermoumlgen desschlechten Charakters unterschieden

1 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est malum suum antece-dere (987)

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982ndash3 2 Valentior enim omni fortuna animus est et in utramque partem ipse res suas du-cit beataeque ac miserae vitae sibi causa est 3 Malus omnia in malum vertit etiam quaecum specie optimi venerant rectus atque integer corrigit prava fortunae et dura atque asperaferendi scientia mollit eqs

2 Der Geist ist naumlmlich staumlrker als alles Schicksal er selbst lenkt seine Geschicke in dieeine oder die andere Richtung und ist fuumlr sich selbst die Ursache eines gluumlcklichen oder un-gluumlcklichen Lebens 3 Der Schlechte verwandelt alles in Schlechtes selbst das was mitdem Schein des Bestmoumlglichen eingetreten war der Aufrechte und Unbeirrte (demgegen-uumlber) berichtigt die Maumlngel des Schicksals und macht durch seine Faumlhigkeit zum Ertragendas Harte und Raue weich usw

Aber noch in einemanderenPunkt tritt der bis zum im98 Brief erreichteTherapie-fortschritt deutlich hervor Waumlhrend im 13 Brief der Gegenpol zur rsaquostarkenlsaquo stoi-schen Sicht nur in der rsaquoschwachenlsaquo epikureischen bestand so warnt der 98 Briefnicht minder vor dem entgegengesetzten Extrem naumlmlich (in einseitiger Ausle-gung der stoischen Guumlterlehre) aumluszligere Guumlter gar nicht mehr zu achten Vielmehrfordert Seneca ausdruumlcklich dazu auf gefaumlhrlichen Situationen aus dem Wegezu gehen Direkt vor der oben erwaumlhnten Verurteilung des Sich-vorher-Fuumlrchtensheiszligt es

987 Nec ideo praecipio tibi neglegentiam Tu vero metuenda decl ina quidquid consilioprospici potest prospice quodcumque laesurum est multo ante quam accidat speculare etaverte In hoc ipsum tibi plurimum conferet fiducia et ad tolerandum omne obfirmata mensPotest fortunam cavere qui potest ferre certe in tranquillo non tumultuatur

Doch ich schreibe dir deshalbnichtNachlaumlssigkeit [ imUmgang mit den ἀδιάφοραndash (Anm UD)

] vor Du sollst durchaus den fuumlrchtenswerten Ereignissen aus dem Wege gehen was auchimmer rational vorausgesehen werden kann das sieh voraus was auch immer verletzenkann das fasse weit fruumlher als es passiert ins Auge und wende es ab Gerade dafuumlr wird dirdein Selbstvertrauen und dein alles zu ertragen gefestigter Sinn sehr zugute kommen Derkann dem Schicksal ausweichen der es tragen kann zumindest gibt es bei einem ruhigenMenschen keinen Aufruhr

Welches Fazit koumlnnen wir hieraus ziehen Seneca empfiehlt zwar sowohl in fruuml-heren Briefen als auch im 98 Brief sich erstens das Leben nicht durch verfruumlhteAngst selbst schwer zu machen und zweitens gefaumlhrlichen Situationen ndash wennmoumlglich ndash aus dem Weg zu gehen Doch erstens treten nur in den fruumlheren Brie-fen dazu Ratschlaumlge die mit der stoischen Lehre in keinster Weise vereinbar sind(zB epist 1310 interim tibi meliora promitte 1312 spe metum tempera)sup1 Zweitens

1 Verschweigen dieses Mittels im 98 Brief richtig gesehen bei Hachmann Leserfuumlhrung 131raquoDie scheinbare Hilfe durch Verdraumlngung [] wird in Brief 98 gar nicht erwaumlhntlaquo Hachmannscheint aber nicht zu bemerken dass der Grund fuumlr dieseAuslassung eben in derUnvereinbarkeit

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31 Strategien gegen die Angst | 135

laumlsst Seneca inden fruumlhenBriefendieseArt vonRatschlaumlgenausderRuumlcksicht aufdie Schwaumlche des Lucilius entstehensup1 oder formuliert sie nach Art einer epikurei-schen Lust-Schmerz-Bilanzsup2 Demgegenuumlber werden die Ratschlaumlge im 98 Briefallein aus der stoischen Guumlterlehre abgeleitet Zwar verwendet Seneca noch im-mer epikureische Argumentationsmuster (989 laumlsst er zudem Metrodor als Kron-zeuge auftreten) jedoch tut er das nicht mehr in mit der stoischen Lehre inkom-patibler sondern ausschlieszliglich in komplementaumlrer und streng untergeordneterWeise Epikur ist kein Konkurrent mehr kein Gegenmodell Er ist zum Helfer her-abgesunken der die Luumlcken ausfuumlllen darf die ihm die stoische Lehre gelassenhat

Der zuletzt zitierte Gedanke (Potest fortunam cavere qui potest ferre) illustriertdieses Selbstverstaumlndnis in hervorragender Weise Wenn Seneca die Erfuumlllungder epikureischen Forderung dem Schicksal auszuweichen (fortunam cavere) aneinen Charakter knuumlpft der dem Schicksal auch standhalten kann (qui potest fer-re) ndash der also die stoische Selbstbeherrschung verinnerlicht hat ndash dann sagt erdamit rsaquoKein Epikureer kann die epikureischen Forderungen so gut erfuumlllen wiewir Stoikerlsaquosup3

Diese Einverleibung Epikurs als eines im praktischen Bereich nuumltzlichenrsaquoKnechtslsaquo fuumlr die Erziehung zur stoischen Lebensweise ist wie ich spaumlter nochdeutlicher zeigen moumlchte (Kapitel 431) ein Hauptcharakteristikum fuumlr Senecas

mit der stoischen Lehre liegt (130 raquoAndererseits wird ein Argument das in den ersten Briefenbenutzt in ep 98 aber nicht verwendet wurde wahrscheinl ich mit Absicht ausgelassenworden seinlaquo [meine Hervorhebung])1 Vgl zB 135 Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes2 zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere Vgl auch 241 Quid enim necesse est [] praesenstempus futuri metu perdere3 Auch an dieser Stelle bringt Hachmann Leserfuumlhrung 132 die Sache zu wenig auf den PunktraquoHier geht der Brief 98 weit uumlber die Anfangsbriefe hinaus wenn er einen ursaumlchlichen Zusam-menhang sieht wo die Anfangsbriefe lediglich ein Nebeneinander sahen Nur der seelisch Star-ke welcher der Gefahr klar ins Auge sehen kann besitzt auch die notwendige Gelassenheit ver-nuumlnftige Gegenmaszlignahmen zu ergreifenlaquo Hachmann sieht im 98 Brief (bis auf die Auslassungder Verdraumlngungstaktik) offenbar wieder nur einen quantitativen Unterschied zu den fruumlherenraquoEinVergleich vonep 986mit ep 138ndash11 zeigt dass indemfruumlhenBrief die zukritisierendeFehl-haltung imVerhaumlltnis zu den echten Versuchender Heilung breiter dargestellt wurde Dagegenuumlberwiegt in ep 98 die Darstellung der Bewaumlltigunglaquo (ebd (Hervorhebung UD) ) MaurachBau 73f erkennt richtig dass im 98 Brief der systematische Zusammenhang erkennbar ist denSeneca in denBriefen 13 und 14 nicht erwaumlhnt der aber der dortigen Gedankenfuumlhrung zugrundeliegt Maurach geht es dabei darum die verdeckten inhaltlichen Beziehungen aufzudecken diedie Briefe 12ndash15 enger zusammenschlieszligen (eine wichtige Funktion kommt dabei der im 14 Briefangesprochenen οἰϰείωσις-Lehre zu) Die Frage nach Epikur- und Stoa-Kompatibilitaumlt der Argu-mente und damit nach Therapiestufen steht auszligerhalb seines Blickwinkels auf den Text

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Briefe Nur hieraus und nicht aus persoumlnlichen Faktoren (vermeintlicher Ek-lektizismus Senecas Beeinflussung durch Luciliusrsquo Epikureismus) erklaumlrt sicheinerseits die Affinitaumlt zu Epikur (wo er zu brauchen ist bedient sich Seneca sei-ner gern) andererseits die scharfe Abgrenzung von ihm (Epikurs Prinzipien sindund bleiben aus Senecas Sicht untragbar)

Um herauszufinden auf welchem Therapieniveau Seneca operiert genuumlgt esalsonicht dieHerkunft bestimmterArgumentationsmuster ausder epikureischenSchule aufzuzeigen Diese verwendet er immersup1 so geniert sich Seneca zB auchim 98 Brief nicht unmittelbar vor einer stoischen exempla-Serie als Trostmittelfuumlr etwaige Verluste die epikureische Ruumlckbesinnung auf die Vergangenheit zuempfehlen (9811) Habere eripitur habuisse numquam Die entscheidende Frageist vielmehr inwiefern Seneca dabei gegen das stoische Wertesystem verstoumlszligt

Ein aufschlussreicher Schritt auf diesemWege ist der 24 Brief Vonunserembishe-rigen Befund aus mag ein kurzer Blick auf ihn genuumlgensup2 Der 13 Brief hatte durchdie Gegenuumlberstellung der rsaquohoumlherenlsaquosup3 stoischen zur rsaquoniedrigerenlsaquo epikureischenSicht zum ersten Mal auf die Abloumlsung der epikureisierenden Ratschlagstopik des5 Briefes hingearbeitet Auch der 14 Brief wirkte zwar ndash mit ersten Anklaumlngen andie Oikeiosislehre ndash auf eine Relativierung der Angstausloumlser hin blieb aber inseinen Methoden unentschieden So klingt beispielsweise gegenuumlber der helden-haften Aufforderung den Koumlrper notfalls auch ins Feuer zu schicken wenn es dieVernunft die Wuumlrde oder die Treue fordere (142) der unmittelbar folgende Satzdoch wieder sehr nach dem epikureischen Ausweichgedanken

143 Nihilominus quantum possumus evitemus incommoda quoque non tantum pericula etin tutum nos reducamus excogitantes subinde quibus possint timenda depelli

Nichtsdestotrotz wollen wir auch Unannehmlichkeiten nicht nur Gefahren nach Kraumlftenaus dem Wege gehen und uns auf sicheres Gebiet zuruumlckziehen indem wir uns immer wie-der ausdenken wodurch angsterregende Situationen entschaumlrft werden koumlnnen

Den endguumlltigen Bruch mit einer von stoischen Prinzipien abgeloumlsten epikurei-schen Behandlung vollzieht erst der 24 Brief indem er erstmals auch bei derFurchtbekaumlmpfung der praemeditatio-Technik den eindeutigen Vorzug vor derepikureischen Verdraumlngungsloumlsung gibt Ein Meisterstuumlck ist dabei wie Senecazum Schein die epikureische Loumlsung vorbringt und zunaumlchst auf sie eingeht so

1 Siehe dazu oben S 392 Als weitere Wegmarken koumlnnte man insbesondere 316 (vgl unten S 203) anfuumlhren3 Zu diesen Kategorien und ihrer Etablierung im philosophischen Denken Ciceros Goumlrler Un-tersuchungen zu Ciceros Philosophie vgl oben Anm 1 auf S 127

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31 Strategien gegen die Angst | 137

dass jeder von seinen Lesern der noch mit Epikurs Lehre liebaumlugelt sich auf demrichtigen Weg waumlhnen darf wie er dann aber diese Ratschlaumlge mit einem Wischzur Seite legt und zwar mit genau dem Argument das auch im 13 Brief schon alsKritik an Epikur anklang Das Verdraumlngen einer schlimmen Zukunft kann nichtjede Sorge nehmen (weil es durchaus Situationen gibt in denen das Eintreten desUumlbels aumluszligerst wahrscheinlich ist)sup1

241ndash2 1 Sollicitum esse te scribis de iudicicirc eventu quod tibi furor inimici denuntiat existi-masme suasurumutmeliora tibi ipse proponas et adquiescas spei blandae Quid enimnecesseest mala accersere satis cito patienda cum venerint praesumere ac praesens tempus futurimetu perdere Est sine dubio stultum quia quandoque sis futurus miser esse iam miserum2 Sed ego alia te ad securitatem via ducam si vis omnem sollicitudinem exuere quidquidvereris ne eveniat eventurum utique propone et quodcumque est illud malum tecum ipse me-tire ac timorem tuum taxa

1 Du schreibst du seist beunruhigt in Betreff des Ausgangs eines Prozesses den dir die Ra-serei deines Widersachers ankuumlndigt du glaubst ich werde dir nun raten dass du dir selbstBesseres vor Augen stellst und bei einer verlockenden Hoffnung zur Ruhe kommst Wozuist es naumlmlich notwendig Ungluumlckssituationen herbeizurufen das vorauszunehmen waswenn es gekommen ist immer noch fruumlh genughinzunehmen ist und die gegenwaumlrtige Zeitdurch die Angst vor der zukuumlnftigen schon zu verderben 2 Es ist ohne Zweifel unsinnigjetzt schon ungluumlcklich zu sein weil du irgendwann einmal ungluumlcklich sein wirst Aber ichwill dich auf einem anderen Weg zur Sicherheit fuumlhren Wenndu alleUnruhe ablegen willstdann stelle dir alles dessen Eintreten du befuumlrchtest erst recht vor Augen und miss wasauch immer es fuumlr ein Ungluumlck ist bei dir selbst nach und schaumltze das Ausmaszligdeiner Furchtein

Es kann kein Zweifel daran bestehen dass dieser Beginn des 24 Briefes als Ge-genstuumlck und Fortentwicklung der Therapie des 13 Briefes gelten musssup2

Unverstaumlndlich ist mir in diesem Punkt die Deutung Canciks Untersuchungen 73f Sie ver-sucht ndash gegen Misch Autobiographie 433 ndash zu beweisen dass weder zwischen dem 13 und dem24 Brief noch zwischen dem5 unddem24 Brief eine Entwicklung des rsaquoLuciliuslsaquo stattfindet raquoVoneinem Ansatz zur Darstellung einer seelischen Entwicklung in Mischs Sinne kann also hier [ dhim 13 Brief ndash (AnmUD) ] nicht die Rede sein Genausowenig bezeichnet ep 24 eine gegenuumlber ep 13fortgeschrittene Stufe in der Entwicklung des Luciliuslaquo (74) Sie folgert das zum einen (a) dar-aus dass auch im 13 Brief beide Sichtweisen vertreten werden zum andern (b) weil sie meintdass auch 57 schon raquodie stoische Vorstellung von der Uumlberwindung der Leidenschaften [] rein

1 Siehe oben S 1282 RichtigMaurach Bau 97 sowieHachmann Leserfuumlhrung 182ndash190 (der zu Recht konstatiertdass die Notmethode der Angstbekaumlmpfung durch einen Gegenaffekt also das vitio vitium repel-lere von 1312 (s oben S 129) von epist 24 an nicht mehr zum Repertoire Senecas gehoumlrt) fernerWacht Angst in Senecas Briefen 527 raquoWas also zunaumlchst grundsaumltzlich vereinbar und als mil-dere Form der Angstbewaumlltigung akzeptiert schien muss hier einer Methode weichen die zumsicheren Erfolg zu fuumlhren versprichtlaquo

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und eindeutiglaquo zum Ausdruck bringe (ebd) Doch wir haben gesehen dass (a) im 13 Brief beideSichtweisen noch miteinander wetteifernd auftreten und die stoische Loumlsung als die edlere dieepikureische aber als die derzeit wirkungsvollere dargestellt wird Die edlere Loumlsung legt sich da-bei wie ein Ring um die primitivere Canciks Deutung des 13 Briefes ist demnach verfehlt wennsie (ebd) behauptet raquoEine Interpretation von ep 13 im Ganzen zeigt dass ihr Gedankengangauf Steigerung angelegt istlaquo Denn der Brief enthaumllt nicht eine kontinuierliche Steigerung derphilosophischen Argumentationshoumlhe sondern beginnt in stoischer Houmlhe wird dann von 133bis 1313 durch eine epikureische Phase abgeloumlst und kehrt dann mit 1314 und den angedeutetenexempla wieder zum Ausgangsniveau zuruumlck Ganz anders ist das im 24 Brief Die epikureischeVerdraumlngungsloumlsung wird nur eingangs erwaumlhnt und zwar nur dazu um desto wirkungsvollerbeiseite gelegt werden zu koumlnnen Sie spielt im uumlbrigenBrief keine Rollemehr und ist vonAnfangan keine ernsthafte Alternative Die praemeditatio-Methode beherrscht von Beginn das Feld underhaumllt spaumltestens durch die lange exempla-Serie ab 243 ein erdruumlckendes Uumlbergewicht Einenfast schon verzweifelt zu nennenden opportunistischen Ratschlag wie 1313 crede quod mavis ndashraquoGlaube was du lieber willst (sc wenn du nur dadurch zur Ruhe kommst)laquo wird man nicht im24 und auch in keinem spaumlteren Brief mehr finden

Was (b) den 5 Brief angeht so muss man klar feststellen dass zwar der Zusammenhangzwischen Furcht und Hoffnung von dem Seneca dort spricht als Vorbereitung fuumlr eine spaumltereἀπάϑεια-Forderung gesehen werden kann Doch in der Hinsicht die wir als Indiz fuumlr eine Ent-wicklung des Lucilius angesehen haben naumlmlich in der Frage ob man zukuumlnftigen Uumlbeln ge-genuumlber eher die epikureische rsaquoKopf-in-den-Sand-Taktiklsaquo oder die kyrenaisch-stoische praemedi-tatio anwenden soll steht der 5 Brief wie wir gesehen habensup1 ganz eindeutig auf epikureischerSeitesup2 Abgesehen davon ist der Zusammenhang zur stoischen ἀπάϑεια auch nur fuumlr ein philo-sophisch bereits geuumlbtes Auge zu erkennen der Ratschlag erst ein Aufhoumlren des Hoffens werdeauch zum Ende des Fuumlrchtens fuumlhren laumlsst sich auch als gegen ein jeweiliges Zuviel im Einzel-fall gesprochen denken von einem raquoreinen und eindeutigenlaquo Propagieren der Uumlberwindung derLeidenschaften kann jedenfalls keine Rede sein

Doch obwohl er sich in der Entscheidung fuumlr die praemeditatio jetzt konse-quent zeigt ndash oder eben deshalb ndash sorgt Seneca umgehend dafuumlr dass die Bruumlckezum Epikureismus nicht gaumlnzlich abgerissen wird Er wolle sagt er Lucilius zursecuritas fuumlhren im Gegensatz zu Begriffen wie etwa constantia oder gar invulne-rabilitaswaumlhlt er damit einen Ausdruck der das epikureische Ideal der Sorglosig-keit (se+cura) uumlberdeutlich anklingen laumlsstsup3 Und die von Lucilius befuumlrchteten

1 S oben S 1312 Zu Recht skeptisch bereits Maurach Bau 97 Anm 78 ndash Hachmanns Widerlegungsversuch(Leserfuumlhrung 189) gegen diese Deutung von 57 durch Cancik speist sich allein aus dem Um-stand dass sich der 5 Brief noch im raquoEinleitungsteil des Werkeslaquo befinde Das allein halte ich fuumlrwenig schlagkraumlftig entscheidend ist die Stellung zur praemeditatio da diese wirklich ein Un-terscheidungskriterium zwischen Epikureismus und Stoa bietet vgl Abel Bauformen 38 undMaurach Bau 97 mit Anm 803 Das Wort kommt aus metrischen Gruumlnden bei Lukrez nicht vor inhaltlich ist es gleichwohlfast omnipraumlsent vgl zB im Prooumlm des zweiten Buches (216ndash19) nonne videre | nihil aliud sibi

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31 Strategien gegen die Angst | 139

Ereignisse bezeichnet Seneca so wie die breite Bevoumllkerung auch naumlmlich mitmalasup1

Doch es kommt noch besser Denn man duumlrfte nach der Ankuumlndigung diesesrsaquoanderen Weges zur Sorglosigkeitlsaquo erwarten dass Seneca jetzt wenn er jetzt mitden Worten intelleges profecto fortfaumlhrt ganz in stoischem Fahrwasser etwa sa-gen wird raquoDu wirst erkennen dass all diese Bedrohungen und Gefahren nichtigund nicht schwer zu ertragen sind und dass es allein auf unsere innere Haltungankommt Denn das einzige echte Uumlbel ist es sich verwerflich zu verhalten daseinzige Uumlbel ist die turpitudo Alle anderen Ereignisse vor denen du Angst hastsind keine wirklichen mala Das alles sind ἀδιάφορα also indifferente ethischambivalente Dingelaquo Stattdessen sagt er

242 intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis

du wirst ganz sicher erkennen dass es nicht groszlig oder aber nicht langdauernd ist wasdu fuumlrchtest

Das ist ndash worauf ua auch Wachtsup2 zu Recht hinweist ndash nichts anderes als Epikurswohlbekannte Formel gegen die Angst vor dem Schmerzsup3 die Cicero (fin 222) mitfast denselben Worten wie spaumlter Seneca zusammenfasst Si gravis [sc dolor] bre-vis si longus levis⁴

Die geschickte Wendung in der Formulierung laumlsst sich sicherlich wie ge-sagt als raquoRuumlcksicht auf den epikureischen Freundlaquo verstehen⁵ Doch sie ist mehrals das Die epikureische Schmerzformel ist ein nicht nur akutes sondern vonvornherein auch vorausschauendes Trostmittel Sie hat die Funktion die Angstvor einer schmerzhaften Zukunft zu verringern und enthaumllt damit schon von sichaus eine praumlmeditative Komponente Diesen fuumlr den Uumlbergang zur stoischen Leh-re guumlnstigen Umstand hat Seneca geschickt ausgenutzt Die Schmerzformel istein ideales Bindeglied um dem praemeditatio-Gedanken auch von epikureischerWarte aus Ruumlckhalt zu verschaffen

naturam latrare nisi ut qui | corpore seiunctus dolor absit mente fruatur | iucundo sensu curasemota metuque1 Anstelle einer stoisierenden Umschreibung vgl unten Kapitel 512 Angst in Senecas Briefen 528f3 Epic KD 4 GV 44 Vgl Sen epist 2414 Levis es si ferre possum brevis es si ferre non possum sowie ferner epist3014 ( nullum enim dolorem longum esse qui magnus est)5 Wacht Angst in Senecas Briefen 528 freilich darf dabei ndash wie oben (Kapitel 132 ab S 35)ausgefuumlhrt ndash unter rsaquoFreundlsaquo nicht die reale Person Lucilius verstanden werden sondern es gehtum die Integration des epikureisch orientierten Leserpublikums

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140 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Auch ein Stoiker wie Mark Aurel weiszlig uumlbrigens um den praktischen Wert die-ser Formel Und fuumlr die Bestimmung von Senecas Taktik ist es hochinteressant zusehen wie sich die Einbettung dieses Gedankens bei dem Philosophenkaiser imUnterschied zu Seneca darstellt Denn zum einen laumlsst Mark Aurel die stoischeSicht eben nicht fort sondern setzt sie in guter Ordnung an den Anfang

MarkAurel 764 ᾿Επὶ μὲνπαντὸς πόνου πρόχειρον ἔστω ὅτι οὐϰ αἰσχρὸνοὐδὲ τὴνδιάνοιαντὴν ϰυβερνῶσαν χείρω ποιεῖ οὔτε γὰρ ϰαϑὸ λογιϰή ἐστιν οὔτε ϰαϑὸ ϰοινωνιϰὴ διαφϑείρειαὐτήνBei jedem Ungemach sei Dir dieses Argument griffbereit dass es nicht moralisch verwerf-lich ist und die leitende Vernunft nicht schwaumlcht Denn weder insoweit sie vernuumlnftig nochinsoweit sie gemeinschaftsbezogen ist verdirbt es sie

Zum anderen kennzeichnet er den nun folgenden epikureischen Gedanken expli-zit als solchen und schraumlnkt ihn insoweit ein als er sagt dass diese Maxime nichtimmer sondern nur in den meisten Faumlllen anwendbar sei

Mark Aurel 764 Fortssup1 ἐπὶ μέντοι τῶν πλείστων πόνων ϰαὶ τὸ τοῦ ᾿Επιϰούρου σοι βοη-ϑείτω ὅτι οὔτε ἀφόρητον οὔτε αἰώνιον ἐὰν τῶν ὅρων μνημονεύῃς ϰαὶ μὴ προσδοξάζῃςBei den meisten Formen von Ungemach moumlge dir indes schon das Wort Epikurs helfen dasses weder unertraumlglich noch unendlich ist sofern du dich an die Fakten haumlltst und nichtschon im Vorhinein schlimme Erwartungen hegst

Insgesamt koumlnnenwir in Senecas Briefen bezogen auf die Frage der Angsttherapiefolgende Entwicklung feststellen Angefangen von epist 5 (= epikureische Thera-peutik) gibt es eine Entwicklung uumlber epist 13 und 14 (Mischform) epist 24 (vor-wiegend stoische Argumentation mit epikureischer Motivation jedoch vermischtmit epikureischer avocatio) hin zu epist 98 in der eine im Kern rein stoische Ar-gumentation vorliegt die sich jedoch nach wie vor epikureischer Hilfsargumentebedient

Senecas Taktik besteht demnach nicht darin die gegnerische rsaquoFestunglsaquo mitseinen Argumenten rsaquoim Handstreichlsaquo oder uumlberhaupt in der Schlacht zu nehmenVielmehr legt er es ndash um im Bild zu bleiben ndash darauf an sie nach und nach davonzu uumlberzeugen freiwillig ihre Tore zu oumlffnen Er will eine Transformation des Le-sers aber er will sie nicht auf dem Weg der Konfrontation sondern lieber auf demPfad schleichender Integration

Auch der 105 Brief fuumlgt sich in diese Ordnung ein Zwar legt Seneca seinem Freund hiernahezudie gleichenRatschlaumlgevor die er auch schon im13 14 und 24Brief gegebenhatteDoches geht uumlberhaupt nicht um Angstvermeidung sondern um aumluszligere Sicherheit Lucilius hat ndash so

1 = Epicur fr 447 Us

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 141

die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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142 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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144 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 145

psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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146 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 13: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

132 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Oder

987f 7 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est ma-lum suum antecedere 8 [] Plus dolet quam necesse est qui ante dolet quam ne-cesse est

7 Nichts ist erbaumlrmlicher und nichts unsinniger als sich schon vorher zu fuumlrchten Was istdas fuumlr ein Wahnsinn seinem Ungluumlck zuvorzukommen 8 [] Mehr als noumltig leidet werfruumlher als noumltig leidet

Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied Der 98 Brief zeichnet eine vollkom-men andere Situation Waumlhrend im 5 und vor allem im 13 Brief die Ratschlaumlgeeinem (vermuteten) Bedarf auf Seiten des rsaquoLuciliuslsaquo entsprechen er also selbstihr Adressat ist sind sie im 98 Brief Beiprodukt einer anderen Thematik naumlm-lich der allgemeinen Eroumlrterung von Fragen der stoischen Guumlterlehre Aus demEingangssatz raquoMan sollte nie einen fuumlr gluumlcklich halten der vom (aumluszligeren) Gluumlckabhaumlngig istlaquosup1 hatte Seneca die Frage entstehen lassen ob aumluszligere Guumlter dennnicht trotzdem angenehm und nuumltzlich sein koumlnnten (Eine solche auf der stoi-schen ἀδιάφορα-Lehre basierende Frage ist uumlbrigens das sei vorweggenommenvor dem 65 Brief undenkbar) Zwar bejaht Seneca diessup2 doch knuumlpft er das anein entsprechendes mentales Training sich dabei staumlndig der eigentlichen Guumlterbewusst zu sein

984 Sive alios observare volueris (liberius enim inter aliena iudicium est) sive te ipsum fa-vore seposito et senties hoc et confiteberis nihil ex his optabilibus et caris utile esse nisi tecontra levitatem casus rerumque casum sequentium instruxeris nisi illud frequenter et sinequerella inter singula damna dixeris raquodis aliter visum estlaquo [Verg Aen 2428]

Sei es dass du andere (das Urteil ist naumlmlich bei fremden Angelegenheiten unbefangener)oder dass du unter Beiseitelegen von Selbstgefaumllligkeit dich selbst daraufhin ansehenwillstDu wirst dies bemerken und anerkennen dass nichts von diesen wuumlnschenswerten undwertvollen Dingen nuumltzlich ist wenn du dich nicht gegen die Unbestaumlndigkeit des Zufallsund derjenigen Dinge die dem Zufallsgesetz folgen wappnest und wenn du nicht oft undohne Klagen bei einzelnen Ungluumlcksfaumlllen jenen Satz vorbringst rsaquoDie Goumltter wollten es an-derslsaquo

1 Numquam credideris felicem quemquam ex felicitate suspensum2 Uumlbrigens wieder unter reichlicher Beimischung epikureischer Stimulanzien (s oben S 39) andieser Stelle (981f) wird die Verknuumlpfung genuin stoischer Gedanken mit diesen Sekundaumlrmoti-ven besonders deutlich rsaquoQuid ergo non usui ac voluptati esse possuntlsaquoQuis negat sed itasi lla ex nobis pendent non ex illis nos Omnia quae fortuna intuetur ita fruct i fera ac iucundafiunt si qui habet illa se quoque habet nec in rerum suarum potestate est

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31 Strategien gegen die Angst | 133

Die Passage zeigt deutlich dass die Aufforderungen zur praemeditatio (und eben-so zur Schicksalsergebenheit sozusagen einermeditatio in ipso eventu) in diesemBrief weder einen konkreten Anlass haben noch einer konkreten Person geltenEs geht bei diesen Uumlberlegungen nicht um Luciliusrsquo Gemuumltslage sondern um dierichtige Bewertung der Guumlter

Seneca glaubt im 98 Brief auch nicht mehr dass Lucilius hier noch einenNachholebedarf hat Das wird schon daraus ersichtlich dass Seneca anders alsim 5 Brief Lucilius und sich nicht mehr einschlieszligt in die Menge derer die denFehler machen sich durch Vergangenes und Zukuumlnftiges bedruumlcken zu lassenIm 5 Brief hieszlig es noch

58ndash9 8 [] Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed co-gitationes in longinqua praemittimus[] 9 Ferae pericula quae vident fugiunt cum effu-gere securae sunt nos et venturo torquemur et praeterito

8 [] Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht aufdie gegenwaumlrtigen Dinge konzentrieren sondern unsere Uumlberlegungen auf weit Entferntesvoraussenden [] 9 Die wilden Tiere fliehen vor den Gefahren die sie (gerade) sehenwir aber lassen uns von Zukuumlnftigem und Vergangenem peinigen

Auch der 13 Brief formulierte einschlieszligend und die dort bereits erkennbareMissbilligung dieser Haltung war noch in die Form des freundlichen Hinweisesgegossen (zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere) Nun aber im 98 Brief di-stanziert Seneca sich Lucilius und damit den Leser von einer solchen Positionindem er diese (in der dritten Person) mit beiszligendem Hohn uumlberzieht Wenigmitfuumlhlend haumllt er nichts fuumlr raquoerbaumlrmlicher und duumlmmer als sich im Voraus zufuumlrchtenlaquo es sei geradezu ein Zeichen geistiger Umnachtung sich so zu ver-haltensup1 Fuumlr die die sich staumlndig vor der Zukunft fuumlrchten bringt Seneca keinVerstaumlndnis auf er schimpft sie (988) raquoKummerleider die sich selbst im Wegestehenlaquo (satagii ac sibi molestos) und raquoLeute ohne Selbstkontrollelaquo (intemperan-tes) Kurz Was im 13 Brief noch ein unverbindliches Angebot zum Nachdenkenwar das ist hier zur unverhandelbaren Forderung geworden die Angst vor derZukunft ist nicht mehr salonfaumlhig

Konsequenterweise wird das was im 13 Brief lediglich als rsaquohoumlherelsaquo Hand-lungsoption charakterisiert wurde (oben S 129) im 98 Brief als rsaquoalternativloslsaquofuumlr einen guten Charakter dargestellt und dichotomisch vom Unvermoumlgen desschlechten Charakters unterschieden

1 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est malum suum antece-dere (987)

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134 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

982ndash3 2 Valentior enim omni fortuna animus est et in utramque partem ipse res suas du-cit beataeque ac miserae vitae sibi causa est 3 Malus omnia in malum vertit etiam quaecum specie optimi venerant rectus atque integer corrigit prava fortunae et dura atque asperaferendi scientia mollit eqs

2 Der Geist ist naumlmlich staumlrker als alles Schicksal er selbst lenkt seine Geschicke in dieeine oder die andere Richtung und ist fuumlr sich selbst die Ursache eines gluumlcklichen oder un-gluumlcklichen Lebens 3 Der Schlechte verwandelt alles in Schlechtes selbst das was mitdem Schein des Bestmoumlglichen eingetreten war der Aufrechte und Unbeirrte (demgegen-uumlber) berichtigt die Maumlngel des Schicksals und macht durch seine Faumlhigkeit zum Ertragendas Harte und Raue weich usw

Aber noch in einemanderenPunkt tritt der bis zum im98 Brief erreichteTherapie-fortschritt deutlich hervor Waumlhrend im 13 Brief der Gegenpol zur rsaquostarkenlsaquo stoi-schen Sicht nur in der rsaquoschwachenlsaquo epikureischen bestand so warnt der 98 Briefnicht minder vor dem entgegengesetzten Extrem naumlmlich (in einseitiger Ausle-gung der stoischen Guumlterlehre) aumluszligere Guumlter gar nicht mehr zu achten Vielmehrfordert Seneca ausdruumlcklich dazu auf gefaumlhrlichen Situationen aus dem Wegezu gehen Direkt vor der oben erwaumlhnten Verurteilung des Sich-vorher-Fuumlrchtensheiszligt es

987 Nec ideo praecipio tibi neglegentiam Tu vero metuenda decl ina quidquid consilioprospici potest prospice quodcumque laesurum est multo ante quam accidat speculare etaverte In hoc ipsum tibi plurimum conferet fiducia et ad tolerandum omne obfirmata mensPotest fortunam cavere qui potest ferre certe in tranquillo non tumultuatur

Doch ich schreibe dir deshalbnichtNachlaumlssigkeit [ imUmgang mit den ἀδιάφοραndash (Anm UD)

] vor Du sollst durchaus den fuumlrchtenswerten Ereignissen aus dem Wege gehen was auchimmer rational vorausgesehen werden kann das sieh voraus was auch immer verletzenkann das fasse weit fruumlher als es passiert ins Auge und wende es ab Gerade dafuumlr wird dirdein Selbstvertrauen und dein alles zu ertragen gefestigter Sinn sehr zugute kommen Derkann dem Schicksal ausweichen der es tragen kann zumindest gibt es bei einem ruhigenMenschen keinen Aufruhr

Welches Fazit koumlnnen wir hieraus ziehen Seneca empfiehlt zwar sowohl in fruuml-heren Briefen als auch im 98 Brief sich erstens das Leben nicht durch verfruumlhteAngst selbst schwer zu machen und zweitens gefaumlhrlichen Situationen ndash wennmoumlglich ndash aus dem Weg zu gehen Doch erstens treten nur in den fruumlheren Brie-fen dazu Ratschlaumlge die mit der stoischen Lehre in keinster Weise vereinbar sind(zB epist 1310 interim tibi meliora promitte 1312 spe metum tempera)sup1 Zweitens

1 Verschweigen dieses Mittels im 98 Brief richtig gesehen bei Hachmann Leserfuumlhrung 131raquoDie scheinbare Hilfe durch Verdraumlngung [] wird in Brief 98 gar nicht erwaumlhntlaquo Hachmannscheint aber nicht zu bemerken dass der Grund fuumlr dieseAuslassung eben in derUnvereinbarkeit

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31 Strategien gegen die Angst | 135

laumlsst Seneca inden fruumlhenBriefendieseArt vonRatschlaumlgenausderRuumlcksicht aufdie Schwaumlche des Lucilius entstehensup1 oder formuliert sie nach Art einer epikurei-schen Lust-Schmerz-Bilanzsup2 Demgegenuumlber werden die Ratschlaumlge im 98 Briefallein aus der stoischen Guumlterlehre abgeleitet Zwar verwendet Seneca noch im-mer epikureische Argumentationsmuster (989 laumlsst er zudem Metrodor als Kron-zeuge auftreten) jedoch tut er das nicht mehr in mit der stoischen Lehre inkom-patibler sondern ausschlieszliglich in komplementaumlrer und streng untergeordneterWeise Epikur ist kein Konkurrent mehr kein Gegenmodell Er ist zum Helfer her-abgesunken der die Luumlcken ausfuumlllen darf die ihm die stoische Lehre gelassenhat

Der zuletzt zitierte Gedanke (Potest fortunam cavere qui potest ferre) illustriertdieses Selbstverstaumlndnis in hervorragender Weise Wenn Seneca die Erfuumlllungder epikureischen Forderung dem Schicksal auszuweichen (fortunam cavere) aneinen Charakter knuumlpft der dem Schicksal auch standhalten kann (qui potest fer-re) ndash der also die stoische Selbstbeherrschung verinnerlicht hat ndash dann sagt erdamit rsaquoKein Epikureer kann die epikureischen Forderungen so gut erfuumlllen wiewir Stoikerlsaquosup3

Diese Einverleibung Epikurs als eines im praktischen Bereich nuumltzlichenrsaquoKnechtslsaquo fuumlr die Erziehung zur stoischen Lebensweise ist wie ich spaumlter nochdeutlicher zeigen moumlchte (Kapitel 431) ein Hauptcharakteristikum fuumlr Senecas

mit der stoischen Lehre liegt (130 raquoAndererseits wird ein Argument das in den ersten Briefenbenutzt in ep 98 aber nicht verwendet wurde wahrscheinl ich mit Absicht ausgelassenworden seinlaquo [meine Hervorhebung])1 Vgl zB 135 Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes2 zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere Vgl auch 241 Quid enim necesse est [] praesenstempus futuri metu perdere3 Auch an dieser Stelle bringt Hachmann Leserfuumlhrung 132 die Sache zu wenig auf den PunktraquoHier geht der Brief 98 weit uumlber die Anfangsbriefe hinaus wenn er einen ursaumlchlichen Zusam-menhang sieht wo die Anfangsbriefe lediglich ein Nebeneinander sahen Nur der seelisch Star-ke welcher der Gefahr klar ins Auge sehen kann besitzt auch die notwendige Gelassenheit ver-nuumlnftige Gegenmaszlignahmen zu ergreifenlaquo Hachmann sieht im 98 Brief (bis auf die Auslassungder Verdraumlngungstaktik) offenbar wieder nur einen quantitativen Unterschied zu den fruumlherenraquoEinVergleich vonep 986mit ep 138ndash11 zeigt dass indemfruumlhenBrief die zukritisierendeFehl-haltung imVerhaumlltnis zu den echten Versuchender Heilung breiter dargestellt wurde Dagegenuumlberwiegt in ep 98 die Darstellung der Bewaumlltigunglaquo (ebd (Hervorhebung UD) ) MaurachBau 73f erkennt richtig dass im 98 Brief der systematische Zusammenhang erkennbar ist denSeneca in denBriefen 13 und 14 nicht erwaumlhnt der aber der dortigen Gedankenfuumlhrung zugrundeliegt Maurach geht es dabei darum die verdeckten inhaltlichen Beziehungen aufzudecken diedie Briefe 12ndash15 enger zusammenschlieszligen (eine wichtige Funktion kommt dabei der im 14 Briefangesprochenen οἰϰείωσις-Lehre zu) Die Frage nach Epikur- und Stoa-Kompatibilitaumlt der Argu-mente und damit nach Therapiestufen steht auszligerhalb seines Blickwinkels auf den Text

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136 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Briefe Nur hieraus und nicht aus persoumlnlichen Faktoren (vermeintlicher Ek-lektizismus Senecas Beeinflussung durch Luciliusrsquo Epikureismus) erklaumlrt sicheinerseits die Affinitaumlt zu Epikur (wo er zu brauchen ist bedient sich Seneca sei-ner gern) andererseits die scharfe Abgrenzung von ihm (Epikurs Prinzipien sindund bleiben aus Senecas Sicht untragbar)

Um herauszufinden auf welchem Therapieniveau Seneca operiert genuumlgt esalsonicht dieHerkunft bestimmterArgumentationsmuster ausder epikureischenSchule aufzuzeigen Diese verwendet er immersup1 so geniert sich Seneca zB auchim 98 Brief nicht unmittelbar vor einer stoischen exempla-Serie als Trostmittelfuumlr etwaige Verluste die epikureische Ruumlckbesinnung auf die Vergangenheit zuempfehlen (9811) Habere eripitur habuisse numquam Die entscheidende Frageist vielmehr inwiefern Seneca dabei gegen das stoische Wertesystem verstoumlszligt

Ein aufschlussreicher Schritt auf diesemWege ist der 24 Brief Vonunserembishe-rigen Befund aus mag ein kurzer Blick auf ihn genuumlgensup2 Der 13 Brief hatte durchdie Gegenuumlberstellung der rsaquohoumlherenlsaquosup3 stoischen zur rsaquoniedrigerenlsaquo epikureischenSicht zum ersten Mal auf die Abloumlsung der epikureisierenden Ratschlagstopik des5 Briefes hingearbeitet Auch der 14 Brief wirkte zwar ndash mit ersten Anklaumlngen andie Oikeiosislehre ndash auf eine Relativierung der Angstausloumlser hin blieb aber inseinen Methoden unentschieden So klingt beispielsweise gegenuumlber der helden-haften Aufforderung den Koumlrper notfalls auch ins Feuer zu schicken wenn es dieVernunft die Wuumlrde oder die Treue fordere (142) der unmittelbar folgende Satzdoch wieder sehr nach dem epikureischen Ausweichgedanken

143 Nihilominus quantum possumus evitemus incommoda quoque non tantum pericula etin tutum nos reducamus excogitantes subinde quibus possint timenda depelli

Nichtsdestotrotz wollen wir auch Unannehmlichkeiten nicht nur Gefahren nach Kraumlftenaus dem Wege gehen und uns auf sicheres Gebiet zuruumlckziehen indem wir uns immer wie-der ausdenken wodurch angsterregende Situationen entschaumlrft werden koumlnnen

Den endguumlltigen Bruch mit einer von stoischen Prinzipien abgeloumlsten epikurei-schen Behandlung vollzieht erst der 24 Brief indem er erstmals auch bei derFurchtbekaumlmpfung der praemeditatio-Technik den eindeutigen Vorzug vor derepikureischen Verdraumlngungsloumlsung gibt Ein Meisterstuumlck ist dabei wie Senecazum Schein die epikureische Loumlsung vorbringt und zunaumlchst auf sie eingeht so

1 Siehe dazu oben S 392 Als weitere Wegmarken koumlnnte man insbesondere 316 (vgl unten S 203) anfuumlhren3 Zu diesen Kategorien und ihrer Etablierung im philosophischen Denken Ciceros Goumlrler Un-tersuchungen zu Ciceros Philosophie vgl oben Anm 1 auf S 127

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31 Strategien gegen die Angst | 137

dass jeder von seinen Lesern der noch mit Epikurs Lehre liebaumlugelt sich auf demrichtigen Weg waumlhnen darf wie er dann aber diese Ratschlaumlge mit einem Wischzur Seite legt und zwar mit genau dem Argument das auch im 13 Brief schon alsKritik an Epikur anklang Das Verdraumlngen einer schlimmen Zukunft kann nichtjede Sorge nehmen (weil es durchaus Situationen gibt in denen das Eintreten desUumlbels aumluszligerst wahrscheinlich ist)sup1

241ndash2 1 Sollicitum esse te scribis de iudicicirc eventu quod tibi furor inimici denuntiat existi-masme suasurumutmeliora tibi ipse proponas et adquiescas spei blandae Quid enimnecesseest mala accersere satis cito patienda cum venerint praesumere ac praesens tempus futurimetu perdere Est sine dubio stultum quia quandoque sis futurus miser esse iam miserum2 Sed ego alia te ad securitatem via ducam si vis omnem sollicitudinem exuere quidquidvereris ne eveniat eventurum utique propone et quodcumque est illud malum tecum ipse me-tire ac timorem tuum taxa

1 Du schreibst du seist beunruhigt in Betreff des Ausgangs eines Prozesses den dir die Ra-serei deines Widersachers ankuumlndigt du glaubst ich werde dir nun raten dass du dir selbstBesseres vor Augen stellst und bei einer verlockenden Hoffnung zur Ruhe kommst Wozuist es naumlmlich notwendig Ungluumlckssituationen herbeizurufen das vorauszunehmen waswenn es gekommen ist immer noch fruumlh genughinzunehmen ist und die gegenwaumlrtige Zeitdurch die Angst vor der zukuumlnftigen schon zu verderben 2 Es ist ohne Zweifel unsinnigjetzt schon ungluumlcklich zu sein weil du irgendwann einmal ungluumlcklich sein wirst Aber ichwill dich auf einem anderen Weg zur Sicherheit fuumlhren Wenndu alleUnruhe ablegen willstdann stelle dir alles dessen Eintreten du befuumlrchtest erst recht vor Augen und miss wasauch immer es fuumlr ein Ungluumlck ist bei dir selbst nach und schaumltze das Ausmaszligdeiner Furchtein

Es kann kein Zweifel daran bestehen dass dieser Beginn des 24 Briefes als Ge-genstuumlck und Fortentwicklung der Therapie des 13 Briefes gelten musssup2

Unverstaumlndlich ist mir in diesem Punkt die Deutung Canciks Untersuchungen 73f Sie ver-sucht ndash gegen Misch Autobiographie 433 ndash zu beweisen dass weder zwischen dem 13 und dem24 Brief noch zwischen dem5 unddem24 Brief eine Entwicklung des rsaquoLuciliuslsaquo stattfindet raquoVoneinem Ansatz zur Darstellung einer seelischen Entwicklung in Mischs Sinne kann also hier [ dhim 13 Brief ndash (AnmUD) ] nicht die Rede sein Genausowenig bezeichnet ep 24 eine gegenuumlber ep 13fortgeschrittene Stufe in der Entwicklung des Luciliuslaquo (74) Sie folgert das zum einen (a) dar-aus dass auch im 13 Brief beide Sichtweisen vertreten werden zum andern (b) weil sie meintdass auch 57 schon raquodie stoische Vorstellung von der Uumlberwindung der Leidenschaften [] rein

1 Siehe oben S 1282 RichtigMaurach Bau 97 sowieHachmann Leserfuumlhrung 182ndash190 (der zu Recht konstatiertdass die Notmethode der Angstbekaumlmpfung durch einen Gegenaffekt also das vitio vitium repel-lere von 1312 (s oben S 129) von epist 24 an nicht mehr zum Repertoire Senecas gehoumlrt) fernerWacht Angst in Senecas Briefen 527 raquoWas also zunaumlchst grundsaumltzlich vereinbar und als mil-dere Form der Angstbewaumlltigung akzeptiert schien muss hier einer Methode weichen die zumsicheren Erfolg zu fuumlhren versprichtlaquo

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138 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und eindeutiglaquo zum Ausdruck bringe (ebd) Doch wir haben gesehen dass (a) im 13 Brief beideSichtweisen noch miteinander wetteifernd auftreten und die stoische Loumlsung als die edlere dieepikureische aber als die derzeit wirkungsvollere dargestellt wird Die edlere Loumlsung legt sich da-bei wie ein Ring um die primitivere Canciks Deutung des 13 Briefes ist demnach verfehlt wennsie (ebd) behauptet raquoEine Interpretation von ep 13 im Ganzen zeigt dass ihr Gedankengangauf Steigerung angelegt istlaquo Denn der Brief enthaumllt nicht eine kontinuierliche Steigerung derphilosophischen Argumentationshoumlhe sondern beginnt in stoischer Houmlhe wird dann von 133bis 1313 durch eine epikureische Phase abgeloumlst und kehrt dann mit 1314 und den angedeutetenexempla wieder zum Ausgangsniveau zuruumlck Ganz anders ist das im 24 Brief Die epikureischeVerdraumlngungsloumlsung wird nur eingangs erwaumlhnt und zwar nur dazu um desto wirkungsvollerbeiseite gelegt werden zu koumlnnen Sie spielt im uumlbrigenBrief keine Rollemehr und ist vonAnfangan keine ernsthafte Alternative Die praemeditatio-Methode beherrscht von Beginn das Feld underhaumllt spaumltestens durch die lange exempla-Serie ab 243 ein erdruumlckendes Uumlbergewicht Einenfast schon verzweifelt zu nennenden opportunistischen Ratschlag wie 1313 crede quod mavis ndashraquoGlaube was du lieber willst (sc wenn du nur dadurch zur Ruhe kommst)laquo wird man nicht im24 und auch in keinem spaumlteren Brief mehr finden

Was (b) den 5 Brief angeht so muss man klar feststellen dass zwar der Zusammenhangzwischen Furcht und Hoffnung von dem Seneca dort spricht als Vorbereitung fuumlr eine spaumltereἀπάϑεια-Forderung gesehen werden kann Doch in der Hinsicht die wir als Indiz fuumlr eine Ent-wicklung des Lucilius angesehen haben naumlmlich in der Frage ob man zukuumlnftigen Uumlbeln ge-genuumlber eher die epikureische rsaquoKopf-in-den-Sand-Taktiklsaquo oder die kyrenaisch-stoische praemedi-tatio anwenden soll steht der 5 Brief wie wir gesehen habensup1 ganz eindeutig auf epikureischerSeitesup2 Abgesehen davon ist der Zusammenhang zur stoischen ἀπάϑεια auch nur fuumlr ein philo-sophisch bereits geuumlbtes Auge zu erkennen der Ratschlag erst ein Aufhoumlren des Hoffens werdeauch zum Ende des Fuumlrchtens fuumlhren laumlsst sich auch als gegen ein jeweiliges Zuviel im Einzel-fall gesprochen denken von einem raquoreinen und eindeutigenlaquo Propagieren der Uumlberwindung derLeidenschaften kann jedenfalls keine Rede sein

Doch obwohl er sich in der Entscheidung fuumlr die praemeditatio jetzt konse-quent zeigt ndash oder eben deshalb ndash sorgt Seneca umgehend dafuumlr dass die Bruumlckezum Epikureismus nicht gaumlnzlich abgerissen wird Er wolle sagt er Lucilius zursecuritas fuumlhren im Gegensatz zu Begriffen wie etwa constantia oder gar invulne-rabilitaswaumlhlt er damit einen Ausdruck der das epikureische Ideal der Sorglosig-keit (se+cura) uumlberdeutlich anklingen laumlsstsup3 Und die von Lucilius befuumlrchteten

1 S oben S 1312 Zu Recht skeptisch bereits Maurach Bau 97 Anm 78 ndash Hachmanns Widerlegungsversuch(Leserfuumlhrung 189) gegen diese Deutung von 57 durch Cancik speist sich allein aus dem Um-stand dass sich der 5 Brief noch im raquoEinleitungsteil des Werkeslaquo befinde Das allein halte ich fuumlrwenig schlagkraumlftig entscheidend ist die Stellung zur praemeditatio da diese wirklich ein Un-terscheidungskriterium zwischen Epikureismus und Stoa bietet vgl Abel Bauformen 38 undMaurach Bau 97 mit Anm 803 Das Wort kommt aus metrischen Gruumlnden bei Lukrez nicht vor inhaltlich ist es gleichwohlfast omnipraumlsent vgl zB im Prooumlm des zweiten Buches (216ndash19) nonne videre | nihil aliud sibi

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31 Strategien gegen die Angst | 139

Ereignisse bezeichnet Seneca so wie die breite Bevoumllkerung auch naumlmlich mitmalasup1

Doch es kommt noch besser Denn man duumlrfte nach der Ankuumlndigung diesesrsaquoanderen Weges zur Sorglosigkeitlsaquo erwarten dass Seneca jetzt wenn er jetzt mitden Worten intelleges profecto fortfaumlhrt ganz in stoischem Fahrwasser etwa sa-gen wird raquoDu wirst erkennen dass all diese Bedrohungen und Gefahren nichtigund nicht schwer zu ertragen sind und dass es allein auf unsere innere Haltungankommt Denn das einzige echte Uumlbel ist es sich verwerflich zu verhalten daseinzige Uumlbel ist die turpitudo Alle anderen Ereignisse vor denen du Angst hastsind keine wirklichen mala Das alles sind ἀδιάφορα also indifferente ethischambivalente Dingelaquo Stattdessen sagt er

242 intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis

du wirst ganz sicher erkennen dass es nicht groszlig oder aber nicht langdauernd ist wasdu fuumlrchtest

Das ist ndash worauf ua auch Wachtsup2 zu Recht hinweist ndash nichts anderes als Epikurswohlbekannte Formel gegen die Angst vor dem Schmerzsup3 die Cicero (fin 222) mitfast denselben Worten wie spaumlter Seneca zusammenfasst Si gravis [sc dolor] bre-vis si longus levis⁴

Die geschickte Wendung in der Formulierung laumlsst sich sicherlich wie ge-sagt als raquoRuumlcksicht auf den epikureischen Freundlaquo verstehen⁵ Doch sie ist mehrals das Die epikureische Schmerzformel ist ein nicht nur akutes sondern vonvornherein auch vorausschauendes Trostmittel Sie hat die Funktion die Angstvor einer schmerzhaften Zukunft zu verringern und enthaumllt damit schon von sichaus eine praumlmeditative Komponente Diesen fuumlr den Uumlbergang zur stoischen Leh-re guumlnstigen Umstand hat Seneca geschickt ausgenutzt Die Schmerzformel istein ideales Bindeglied um dem praemeditatio-Gedanken auch von epikureischerWarte aus Ruumlckhalt zu verschaffen

naturam latrare nisi ut qui | corpore seiunctus dolor absit mente fruatur | iucundo sensu curasemota metuque1 Anstelle einer stoisierenden Umschreibung vgl unten Kapitel 512 Angst in Senecas Briefen 528f3 Epic KD 4 GV 44 Vgl Sen epist 2414 Levis es si ferre possum brevis es si ferre non possum sowie ferner epist3014 ( nullum enim dolorem longum esse qui magnus est)5 Wacht Angst in Senecas Briefen 528 freilich darf dabei ndash wie oben (Kapitel 132 ab S 35)ausgefuumlhrt ndash unter rsaquoFreundlsaquo nicht die reale Person Lucilius verstanden werden sondern es gehtum die Integration des epikureisch orientierten Leserpublikums

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140 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Auch ein Stoiker wie Mark Aurel weiszlig uumlbrigens um den praktischen Wert die-ser Formel Und fuumlr die Bestimmung von Senecas Taktik ist es hochinteressant zusehen wie sich die Einbettung dieses Gedankens bei dem Philosophenkaiser imUnterschied zu Seneca darstellt Denn zum einen laumlsst Mark Aurel die stoischeSicht eben nicht fort sondern setzt sie in guter Ordnung an den Anfang

MarkAurel 764 ᾿Επὶ μὲνπαντὸς πόνου πρόχειρον ἔστω ὅτι οὐϰ αἰσχρὸνοὐδὲ τὴνδιάνοιαντὴν ϰυβερνῶσαν χείρω ποιεῖ οὔτε γὰρ ϰαϑὸ λογιϰή ἐστιν οὔτε ϰαϑὸ ϰοινωνιϰὴ διαφϑείρειαὐτήνBei jedem Ungemach sei Dir dieses Argument griffbereit dass es nicht moralisch verwerf-lich ist und die leitende Vernunft nicht schwaumlcht Denn weder insoweit sie vernuumlnftig nochinsoweit sie gemeinschaftsbezogen ist verdirbt es sie

Zum anderen kennzeichnet er den nun folgenden epikureischen Gedanken expli-zit als solchen und schraumlnkt ihn insoweit ein als er sagt dass diese Maxime nichtimmer sondern nur in den meisten Faumlllen anwendbar sei

Mark Aurel 764 Fortssup1 ἐπὶ μέντοι τῶν πλείστων πόνων ϰαὶ τὸ τοῦ ᾿Επιϰούρου σοι βοη-ϑείτω ὅτι οὔτε ἀφόρητον οὔτε αἰώνιον ἐὰν τῶν ὅρων μνημονεύῃς ϰαὶ μὴ προσδοξάζῃςBei den meisten Formen von Ungemach moumlge dir indes schon das Wort Epikurs helfen dasses weder unertraumlglich noch unendlich ist sofern du dich an die Fakten haumlltst und nichtschon im Vorhinein schlimme Erwartungen hegst

Insgesamt koumlnnenwir in Senecas Briefen bezogen auf die Frage der Angsttherapiefolgende Entwicklung feststellen Angefangen von epist 5 (= epikureische Thera-peutik) gibt es eine Entwicklung uumlber epist 13 und 14 (Mischform) epist 24 (vor-wiegend stoische Argumentation mit epikureischer Motivation jedoch vermischtmit epikureischer avocatio) hin zu epist 98 in der eine im Kern rein stoische Ar-gumentation vorliegt die sich jedoch nach wie vor epikureischer Hilfsargumentebedient

Senecas Taktik besteht demnach nicht darin die gegnerische rsaquoFestunglsaquo mitseinen Argumenten rsaquoim Handstreichlsaquo oder uumlberhaupt in der Schlacht zu nehmenVielmehr legt er es ndash um im Bild zu bleiben ndash darauf an sie nach und nach davonzu uumlberzeugen freiwillig ihre Tore zu oumlffnen Er will eine Transformation des Le-sers aber er will sie nicht auf dem Weg der Konfrontation sondern lieber auf demPfad schleichender Integration

Auch der 105 Brief fuumlgt sich in diese Ordnung ein Zwar legt Seneca seinem Freund hiernahezudie gleichenRatschlaumlgevor die er auch schon im13 14 und 24Brief gegebenhatteDoches geht uumlberhaupt nicht um Angstvermeidung sondern um aumluszligere Sicherheit Lucilius hat ndash so

1 = Epicur fr 447 Us

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 141

die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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142 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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144 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 145

psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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146 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 14: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

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Die Passage zeigt deutlich dass die Aufforderungen zur praemeditatio (und eben-so zur Schicksalsergebenheit sozusagen einermeditatio in ipso eventu) in diesemBrief weder einen konkreten Anlass haben noch einer konkreten Person geltenEs geht bei diesen Uumlberlegungen nicht um Luciliusrsquo Gemuumltslage sondern um dierichtige Bewertung der Guumlter

Seneca glaubt im 98 Brief auch nicht mehr dass Lucilius hier noch einenNachholebedarf hat Das wird schon daraus ersichtlich dass Seneca anders alsim 5 Brief Lucilius und sich nicht mehr einschlieszligt in die Menge derer die denFehler machen sich durch Vergangenes und Zukuumlnftiges bedruumlcken zu lassenIm 5 Brief hieszlig es noch

58ndash9 8 [] Maxima autem utriusque causa est quod non ad praesentia aptamur sed co-gitationes in longinqua praemittimus[] 9 Ferae pericula quae vident fugiunt cum effu-gere securae sunt nos et venturo torquemur et praeterito

8 [] Die bedeutendste Ursache fuumlr beide (Stimmungen) ist aber dass wir uns nicht aufdie gegenwaumlrtigen Dinge konzentrieren sondern unsere Uumlberlegungen auf weit Entferntesvoraussenden [] 9 Die wilden Tiere fliehen vor den Gefahren die sie (gerade) sehenwir aber lassen uns von Zukuumlnftigem und Vergangenem peinigen

Auch der 13 Brief formulierte einschlieszligend und die dort bereits erkennbareMissbilligung dieser Haltung war noch in die Form des freundlichen Hinweisesgegossen (zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere) Nun aber im 98 Brief di-stanziert Seneca sich Lucilius und damit den Leser von einer solchen Positionindem er diese (in der dritten Person) mit beiszligendem Hohn uumlberzieht Wenigmitfuumlhlend haumllt er nichts fuumlr raquoerbaumlrmlicher und duumlmmer als sich im Voraus zufuumlrchtenlaquo es sei geradezu ein Zeichen geistiger Umnachtung sich so zu ver-haltensup1 Fuumlr die die sich staumlndig vor der Zukunft fuumlrchten bringt Seneca keinVerstaumlndnis auf er schimpft sie (988) raquoKummerleider die sich selbst im Wegestehenlaquo (satagii ac sibi molestos) und raquoLeute ohne Selbstkontrollelaquo (intemperan-tes) Kurz Was im 13 Brief noch ein unverbindliches Angebot zum Nachdenkenwar das ist hier zur unverhandelbaren Forderung geworden die Angst vor derZukunft ist nicht mehr salonfaumlhig

Konsequenterweise wird das was im 13 Brief lediglich als rsaquohoumlherelsaquo Hand-lungsoption charakterisiert wurde (oben S 129) im 98 Brief als rsaquoalternativloslsaquofuumlr einen guten Charakter dargestellt und dichotomisch vom Unvermoumlgen desschlechten Charakters unterschieden

1 Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere quae ista dementia est malum suum antece-dere (987)

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982ndash3 2 Valentior enim omni fortuna animus est et in utramque partem ipse res suas du-cit beataeque ac miserae vitae sibi causa est 3 Malus omnia in malum vertit etiam quaecum specie optimi venerant rectus atque integer corrigit prava fortunae et dura atque asperaferendi scientia mollit eqs

2 Der Geist ist naumlmlich staumlrker als alles Schicksal er selbst lenkt seine Geschicke in dieeine oder die andere Richtung und ist fuumlr sich selbst die Ursache eines gluumlcklichen oder un-gluumlcklichen Lebens 3 Der Schlechte verwandelt alles in Schlechtes selbst das was mitdem Schein des Bestmoumlglichen eingetreten war der Aufrechte und Unbeirrte (demgegen-uumlber) berichtigt die Maumlngel des Schicksals und macht durch seine Faumlhigkeit zum Ertragendas Harte und Raue weich usw

Aber noch in einemanderenPunkt tritt der bis zum im98 Brief erreichteTherapie-fortschritt deutlich hervor Waumlhrend im 13 Brief der Gegenpol zur rsaquostarkenlsaquo stoi-schen Sicht nur in der rsaquoschwachenlsaquo epikureischen bestand so warnt der 98 Briefnicht minder vor dem entgegengesetzten Extrem naumlmlich (in einseitiger Ausle-gung der stoischen Guumlterlehre) aumluszligere Guumlter gar nicht mehr zu achten Vielmehrfordert Seneca ausdruumlcklich dazu auf gefaumlhrlichen Situationen aus dem Wegezu gehen Direkt vor der oben erwaumlhnten Verurteilung des Sich-vorher-Fuumlrchtensheiszligt es

987 Nec ideo praecipio tibi neglegentiam Tu vero metuenda decl ina quidquid consilioprospici potest prospice quodcumque laesurum est multo ante quam accidat speculare etaverte In hoc ipsum tibi plurimum conferet fiducia et ad tolerandum omne obfirmata mensPotest fortunam cavere qui potest ferre certe in tranquillo non tumultuatur

Doch ich schreibe dir deshalbnichtNachlaumlssigkeit [ imUmgang mit den ἀδιάφοραndash (Anm UD)

] vor Du sollst durchaus den fuumlrchtenswerten Ereignissen aus dem Wege gehen was auchimmer rational vorausgesehen werden kann das sieh voraus was auch immer verletzenkann das fasse weit fruumlher als es passiert ins Auge und wende es ab Gerade dafuumlr wird dirdein Selbstvertrauen und dein alles zu ertragen gefestigter Sinn sehr zugute kommen Derkann dem Schicksal ausweichen der es tragen kann zumindest gibt es bei einem ruhigenMenschen keinen Aufruhr

Welches Fazit koumlnnen wir hieraus ziehen Seneca empfiehlt zwar sowohl in fruuml-heren Briefen als auch im 98 Brief sich erstens das Leben nicht durch verfruumlhteAngst selbst schwer zu machen und zweitens gefaumlhrlichen Situationen ndash wennmoumlglich ndash aus dem Weg zu gehen Doch erstens treten nur in den fruumlheren Brie-fen dazu Ratschlaumlge die mit der stoischen Lehre in keinster Weise vereinbar sind(zB epist 1310 interim tibi meliora promitte 1312 spe metum tempera)sup1 Zweitens

1 Verschweigen dieses Mittels im 98 Brief richtig gesehen bei Hachmann Leserfuumlhrung 131raquoDie scheinbare Hilfe durch Verdraumlngung [] wird in Brief 98 gar nicht erwaumlhntlaquo Hachmannscheint aber nicht zu bemerken dass der Grund fuumlr dieseAuslassung eben in derUnvereinbarkeit

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laumlsst Seneca inden fruumlhenBriefendieseArt vonRatschlaumlgenausderRuumlcksicht aufdie Schwaumlche des Lucilius entstehensup1 oder formuliert sie nach Art einer epikurei-schen Lust-Schmerz-Bilanzsup2 Demgegenuumlber werden die Ratschlaumlge im 98 Briefallein aus der stoischen Guumlterlehre abgeleitet Zwar verwendet Seneca noch im-mer epikureische Argumentationsmuster (989 laumlsst er zudem Metrodor als Kron-zeuge auftreten) jedoch tut er das nicht mehr in mit der stoischen Lehre inkom-patibler sondern ausschlieszliglich in komplementaumlrer und streng untergeordneterWeise Epikur ist kein Konkurrent mehr kein Gegenmodell Er ist zum Helfer her-abgesunken der die Luumlcken ausfuumlllen darf die ihm die stoische Lehre gelassenhat

Der zuletzt zitierte Gedanke (Potest fortunam cavere qui potest ferre) illustriertdieses Selbstverstaumlndnis in hervorragender Weise Wenn Seneca die Erfuumlllungder epikureischen Forderung dem Schicksal auszuweichen (fortunam cavere) aneinen Charakter knuumlpft der dem Schicksal auch standhalten kann (qui potest fer-re) ndash der also die stoische Selbstbeherrschung verinnerlicht hat ndash dann sagt erdamit rsaquoKein Epikureer kann die epikureischen Forderungen so gut erfuumlllen wiewir Stoikerlsaquosup3

Diese Einverleibung Epikurs als eines im praktischen Bereich nuumltzlichenrsaquoKnechtslsaquo fuumlr die Erziehung zur stoischen Lebensweise ist wie ich spaumlter nochdeutlicher zeigen moumlchte (Kapitel 431) ein Hauptcharakteristikum fuumlr Senecas

mit der stoischen Lehre liegt (130 raquoAndererseits wird ein Argument das in den ersten Briefenbenutzt in ep 98 aber nicht verwendet wurde wahrscheinl ich mit Absicht ausgelassenworden seinlaquo [meine Hervorhebung])1 Vgl zB 135 Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes2 zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere Vgl auch 241 Quid enim necesse est [] praesenstempus futuri metu perdere3 Auch an dieser Stelle bringt Hachmann Leserfuumlhrung 132 die Sache zu wenig auf den PunktraquoHier geht der Brief 98 weit uumlber die Anfangsbriefe hinaus wenn er einen ursaumlchlichen Zusam-menhang sieht wo die Anfangsbriefe lediglich ein Nebeneinander sahen Nur der seelisch Star-ke welcher der Gefahr klar ins Auge sehen kann besitzt auch die notwendige Gelassenheit ver-nuumlnftige Gegenmaszlignahmen zu ergreifenlaquo Hachmann sieht im 98 Brief (bis auf die Auslassungder Verdraumlngungstaktik) offenbar wieder nur einen quantitativen Unterschied zu den fruumlherenraquoEinVergleich vonep 986mit ep 138ndash11 zeigt dass indemfruumlhenBrief die zukritisierendeFehl-haltung imVerhaumlltnis zu den echten Versuchender Heilung breiter dargestellt wurde Dagegenuumlberwiegt in ep 98 die Darstellung der Bewaumlltigunglaquo (ebd (Hervorhebung UD) ) MaurachBau 73f erkennt richtig dass im 98 Brief der systematische Zusammenhang erkennbar ist denSeneca in denBriefen 13 und 14 nicht erwaumlhnt der aber der dortigen Gedankenfuumlhrung zugrundeliegt Maurach geht es dabei darum die verdeckten inhaltlichen Beziehungen aufzudecken diedie Briefe 12ndash15 enger zusammenschlieszligen (eine wichtige Funktion kommt dabei der im 14 Briefangesprochenen οἰϰείωσις-Lehre zu) Die Frage nach Epikur- und Stoa-Kompatibilitaumlt der Argu-mente und damit nach Therapiestufen steht auszligerhalb seines Blickwinkels auf den Text

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Briefe Nur hieraus und nicht aus persoumlnlichen Faktoren (vermeintlicher Ek-lektizismus Senecas Beeinflussung durch Luciliusrsquo Epikureismus) erklaumlrt sicheinerseits die Affinitaumlt zu Epikur (wo er zu brauchen ist bedient sich Seneca sei-ner gern) andererseits die scharfe Abgrenzung von ihm (Epikurs Prinzipien sindund bleiben aus Senecas Sicht untragbar)

Um herauszufinden auf welchem Therapieniveau Seneca operiert genuumlgt esalsonicht dieHerkunft bestimmterArgumentationsmuster ausder epikureischenSchule aufzuzeigen Diese verwendet er immersup1 so geniert sich Seneca zB auchim 98 Brief nicht unmittelbar vor einer stoischen exempla-Serie als Trostmittelfuumlr etwaige Verluste die epikureische Ruumlckbesinnung auf die Vergangenheit zuempfehlen (9811) Habere eripitur habuisse numquam Die entscheidende Frageist vielmehr inwiefern Seneca dabei gegen das stoische Wertesystem verstoumlszligt

Ein aufschlussreicher Schritt auf diesemWege ist der 24 Brief Vonunserembishe-rigen Befund aus mag ein kurzer Blick auf ihn genuumlgensup2 Der 13 Brief hatte durchdie Gegenuumlberstellung der rsaquohoumlherenlsaquosup3 stoischen zur rsaquoniedrigerenlsaquo epikureischenSicht zum ersten Mal auf die Abloumlsung der epikureisierenden Ratschlagstopik des5 Briefes hingearbeitet Auch der 14 Brief wirkte zwar ndash mit ersten Anklaumlngen andie Oikeiosislehre ndash auf eine Relativierung der Angstausloumlser hin blieb aber inseinen Methoden unentschieden So klingt beispielsweise gegenuumlber der helden-haften Aufforderung den Koumlrper notfalls auch ins Feuer zu schicken wenn es dieVernunft die Wuumlrde oder die Treue fordere (142) der unmittelbar folgende Satzdoch wieder sehr nach dem epikureischen Ausweichgedanken

143 Nihilominus quantum possumus evitemus incommoda quoque non tantum pericula etin tutum nos reducamus excogitantes subinde quibus possint timenda depelli

Nichtsdestotrotz wollen wir auch Unannehmlichkeiten nicht nur Gefahren nach Kraumlftenaus dem Wege gehen und uns auf sicheres Gebiet zuruumlckziehen indem wir uns immer wie-der ausdenken wodurch angsterregende Situationen entschaumlrft werden koumlnnen

Den endguumlltigen Bruch mit einer von stoischen Prinzipien abgeloumlsten epikurei-schen Behandlung vollzieht erst der 24 Brief indem er erstmals auch bei derFurchtbekaumlmpfung der praemeditatio-Technik den eindeutigen Vorzug vor derepikureischen Verdraumlngungsloumlsung gibt Ein Meisterstuumlck ist dabei wie Senecazum Schein die epikureische Loumlsung vorbringt und zunaumlchst auf sie eingeht so

1 Siehe dazu oben S 392 Als weitere Wegmarken koumlnnte man insbesondere 316 (vgl unten S 203) anfuumlhren3 Zu diesen Kategorien und ihrer Etablierung im philosophischen Denken Ciceros Goumlrler Un-tersuchungen zu Ciceros Philosophie vgl oben Anm 1 auf S 127

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dass jeder von seinen Lesern der noch mit Epikurs Lehre liebaumlugelt sich auf demrichtigen Weg waumlhnen darf wie er dann aber diese Ratschlaumlge mit einem Wischzur Seite legt und zwar mit genau dem Argument das auch im 13 Brief schon alsKritik an Epikur anklang Das Verdraumlngen einer schlimmen Zukunft kann nichtjede Sorge nehmen (weil es durchaus Situationen gibt in denen das Eintreten desUumlbels aumluszligerst wahrscheinlich ist)sup1

241ndash2 1 Sollicitum esse te scribis de iudicicirc eventu quod tibi furor inimici denuntiat existi-masme suasurumutmeliora tibi ipse proponas et adquiescas spei blandae Quid enimnecesseest mala accersere satis cito patienda cum venerint praesumere ac praesens tempus futurimetu perdere Est sine dubio stultum quia quandoque sis futurus miser esse iam miserum2 Sed ego alia te ad securitatem via ducam si vis omnem sollicitudinem exuere quidquidvereris ne eveniat eventurum utique propone et quodcumque est illud malum tecum ipse me-tire ac timorem tuum taxa

1 Du schreibst du seist beunruhigt in Betreff des Ausgangs eines Prozesses den dir die Ra-serei deines Widersachers ankuumlndigt du glaubst ich werde dir nun raten dass du dir selbstBesseres vor Augen stellst und bei einer verlockenden Hoffnung zur Ruhe kommst Wozuist es naumlmlich notwendig Ungluumlckssituationen herbeizurufen das vorauszunehmen waswenn es gekommen ist immer noch fruumlh genughinzunehmen ist und die gegenwaumlrtige Zeitdurch die Angst vor der zukuumlnftigen schon zu verderben 2 Es ist ohne Zweifel unsinnigjetzt schon ungluumlcklich zu sein weil du irgendwann einmal ungluumlcklich sein wirst Aber ichwill dich auf einem anderen Weg zur Sicherheit fuumlhren Wenndu alleUnruhe ablegen willstdann stelle dir alles dessen Eintreten du befuumlrchtest erst recht vor Augen und miss wasauch immer es fuumlr ein Ungluumlck ist bei dir selbst nach und schaumltze das Ausmaszligdeiner Furchtein

Es kann kein Zweifel daran bestehen dass dieser Beginn des 24 Briefes als Ge-genstuumlck und Fortentwicklung der Therapie des 13 Briefes gelten musssup2

Unverstaumlndlich ist mir in diesem Punkt die Deutung Canciks Untersuchungen 73f Sie ver-sucht ndash gegen Misch Autobiographie 433 ndash zu beweisen dass weder zwischen dem 13 und dem24 Brief noch zwischen dem5 unddem24 Brief eine Entwicklung des rsaquoLuciliuslsaquo stattfindet raquoVoneinem Ansatz zur Darstellung einer seelischen Entwicklung in Mischs Sinne kann also hier [ dhim 13 Brief ndash (AnmUD) ] nicht die Rede sein Genausowenig bezeichnet ep 24 eine gegenuumlber ep 13fortgeschrittene Stufe in der Entwicklung des Luciliuslaquo (74) Sie folgert das zum einen (a) dar-aus dass auch im 13 Brief beide Sichtweisen vertreten werden zum andern (b) weil sie meintdass auch 57 schon raquodie stoische Vorstellung von der Uumlberwindung der Leidenschaften [] rein

1 Siehe oben S 1282 RichtigMaurach Bau 97 sowieHachmann Leserfuumlhrung 182ndash190 (der zu Recht konstatiertdass die Notmethode der Angstbekaumlmpfung durch einen Gegenaffekt also das vitio vitium repel-lere von 1312 (s oben S 129) von epist 24 an nicht mehr zum Repertoire Senecas gehoumlrt) fernerWacht Angst in Senecas Briefen 527 raquoWas also zunaumlchst grundsaumltzlich vereinbar und als mil-dere Form der Angstbewaumlltigung akzeptiert schien muss hier einer Methode weichen die zumsicheren Erfolg zu fuumlhren versprichtlaquo

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und eindeutiglaquo zum Ausdruck bringe (ebd) Doch wir haben gesehen dass (a) im 13 Brief beideSichtweisen noch miteinander wetteifernd auftreten und die stoische Loumlsung als die edlere dieepikureische aber als die derzeit wirkungsvollere dargestellt wird Die edlere Loumlsung legt sich da-bei wie ein Ring um die primitivere Canciks Deutung des 13 Briefes ist demnach verfehlt wennsie (ebd) behauptet raquoEine Interpretation von ep 13 im Ganzen zeigt dass ihr Gedankengangauf Steigerung angelegt istlaquo Denn der Brief enthaumllt nicht eine kontinuierliche Steigerung derphilosophischen Argumentationshoumlhe sondern beginnt in stoischer Houmlhe wird dann von 133bis 1313 durch eine epikureische Phase abgeloumlst und kehrt dann mit 1314 und den angedeutetenexempla wieder zum Ausgangsniveau zuruumlck Ganz anders ist das im 24 Brief Die epikureischeVerdraumlngungsloumlsung wird nur eingangs erwaumlhnt und zwar nur dazu um desto wirkungsvollerbeiseite gelegt werden zu koumlnnen Sie spielt im uumlbrigenBrief keine Rollemehr und ist vonAnfangan keine ernsthafte Alternative Die praemeditatio-Methode beherrscht von Beginn das Feld underhaumllt spaumltestens durch die lange exempla-Serie ab 243 ein erdruumlckendes Uumlbergewicht Einenfast schon verzweifelt zu nennenden opportunistischen Ratschlag wie 1313 crede quod mavis ndashraquoGlaube was du lieber willst (sc wenn du nur dadurch zur Ruhe kommst)laquo wird man nicht im24 und auch in keinem spaumlteren Brief mehr finden

Was (b) den 5 Brief angeht so muss man klar feststellen dass zwar der Zusammenhangzwischen Furcht und Hoffnung von dem Seneca dort spricht als Vorbereitung fuumlr eine spaumltereἀπάϑεια-Forderung gesehen werden kann Doch in der Hinsicht die wir als Indiz fuumlr eine Ent-wicklung des Lucilius angesehen haben naumlmlich in der Frage ob man zukuumlnftigen Uumlbeln ge-genuumlber eher die epikureische rsaquoKopf-in-den-Sand-Taktiklsaquo oder die kyrenaisch-stoische praemedi-tatio anwenden soll steht der 5 Brief wie wir gesehen habensup1 ganz eindeutig auf epikureischerSeitesup2 Abgesehen davon ist der Zusammenhang zur stoischen ἀπάϑεια auch nur fuumlr ein philo-sophisch bereits geuumlbtes Auge zu erkennen der Ratschlag erst ein Aufhoumlren des Hoffens werdeauch zum Ende des Fuumlrchtens fuumlhren laumlsst sich auch als gegen ein jeweiliges Zuviel im Einzel-fall gesprochen denken von einem raquoreinen und eindeutigenlaquo Propagieren der Uumlberwindung derLeidenschaften kann jedenfalls keine Rede sein

Doch obwohl er sich in der Entscheidung fuumlr die praemeditatio jetzt konse-quent zeigt ndash oder eben deshalb ndash sorgt Seneca umgehend dafuumlr dass die Bruumlckezum Epikureismus nicht gaumlnzlich abgerissen wird Er wolle sagt er Lucilius zursecuritas fuumlhren im Gegensatz zu Begriffen wie etwa constantia oder gar invulne-rabilitaswaumlhlt er damit einen Ausdruck der das epikureische Ideal der Sorglosig-keit (se+cura) uumlberdeutlich anklingen laumlsstsup3 Und die von Lucilius befuumlrchteten

1 S oben S 1312 Zu Recht skeptisch bereits Maurach Bau 97 Anm 78 ndash Hachmanns Widerlegungsversuch(Leserfuumlhrung 189) gegen diese Deutung von 57 durch Cancik speist sich allein aus dem Um-stand dass sich der 5 Brief noch im raquoEinleitungsteil des Werkeslaquo befinde Das allein halte ich fuumlrwenig schlagkraumlftig entscheidend ist die Stellung zur praemeditatio da diese wirklich ein Un-terscheidungskriterium zwischen Epikureismus und Stoa bietet vgl Abel Bauformen 38 undMaurach Bau 97 mit Anm 803 Das Wort kommt aus metrischen Gruumlnden bei Lukrez nicht vor inhaltlich ist es gleichwohlfast omnipraumlsent vgl zB im Prooumlm des zweiten Buches (216ndash19) nonne videre | nihil aliud sibi

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31 Strategien gegen die Angst | 139

Ereignisse bezeichnet Seneca so wie die breite Bevoumllkerung auch naumlmlich mitmalasup1

Doch es kommt noch besser Denn man duumlrfte nach der Ankuumlndigung diesesrsaquoanderen Weges zur Sorglosigkeitlsaquo erwarten dass Seneca jetzt wenn er jetzt mitden Worten intelleges profecto fortfaumlhrt ganz in stoischem Fahrwasser etwa sa-gen wird raquoDu wirst erkennen dass all diese Bedrohungen und Gefahren nichtigund nicht schwer zu ertragen sind und dass es allein auf unsere innere Haltungankommt Denn das einzige echte Uumlbel ist es sich verwerflich zu verhalten daseinzige Uumlbel ist die turpitudo Alle anderen Ereignisse vor denen du Angst hastsind keine wirklichen mala Das alles sind ἀδιάφορα also indifferente ethischambivalente Dingelaquo Stattdessen sagt er

242 intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis

du wirst ganz sicher erkennen dass es nicht groszlig oder aber nicht langdauernd ist wasdu fuumlrchtest

Das ist ndash worauf ua auch Wachtsup2 zu Recht hinweist ndash nichts anderes als Epikurswohlbekannte Formel gegen die Angst vor dem Schmerzsup3 die Cicero (fin 222) mitfast denselben Worten wie spaumlter Seneca zusammenfasst Si gravis [sc dolor] bre-vis si longus levis⁴

Die geschickte Wendung in der Formulierung laumlsst sich sicherlich wie ge-sagt als raquoRuumlcksicht auf den epikureischen Freundlaquo verstehen⁵ Doch sie ist mehrals das Die epikureische Schmerzformel ist ein nicht nur akutes sondern vonvornherein auch vorausschauendes Trostmittel Sie hat die Funktion die Angstvor einer schmerzhaften Zukunft zu verringern und enthaumllt damit schon von sichaus eine praumlmeditative Komponente Diesen fuumlr den Uumlbergang zur stoischen Leh-re guumlnstigen Umstand hat Seneca geschickt ausgenutzt Die Schmerzformel istein ideales Bindeglied um dem praemeditatio-Gedanken auch von epikureischerWarte aus Ruumlckhalt zu verschaffen

naturam latrare nisi ut qui | corpore seiunctus dolor absit mente fruatur | iucundo sensu curasemota metuque1 Anstelle einer stoisierenden Umschreibung vgl unten Kapitel 512 Angst in Senecas Briefen 528f3 Epic KD 4 GV 44 Vgl Sen epist 2414 Levis es si ferre possum brevis es si ferre non possum sowie ferner epist3014 ( nullum enim dolorem longum esse qui magnus est)5 Wacht Angst in Senecas Briefen 528 freilich darf dabei ndash wie oben (Kapitel 132 ab S 35)ausgefuumlhrt ndash unter rsaquoFreundlsaquo nicht die reale Person Lucilius verstanden werden sondern es gehtum die Integration des epikureisch orientierten Leserpublikums

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140 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Auch ein Stoiker wie Mark Aurel weiszlig uumlbrigens um den praktischen Wert die-ser Formel Und fuumlr die Bestimmung von Senecas Taktik ist es hochinteressant zusehen wie sich die Einbettung dieses Gedankens bei dem Philosophenkaiser imUnterschied zu Seneca darstellt Denn zum einen laumlsst Mark Aurel die stoischeSicht eben nicht fort sondern setzt sie in guter Ordnung an den Anfang

MarkAurel 764 ᾿Επὶ μὲνπαντὸς πόνου πρόχειρον ἔστω ὅτι οὐϰ αἰσχρὸνοὐδὲ τὴνδιάνοιαντὴν ϰυβερνῶσαν χείρω ποιεῖ οὔτε γὰρ ϰαϑὸ λογιϰή ἐστιν οὔτε ϰαϑὸ ϰοινωνιϰὴ διαφϑείρειαὐτήνBei jedem Ungemach sei Dir dieses Argument griffbereit dass es nicht moralisch verwerf-lich ist und die leitende Vernunft nicht schwaumlcht Denn weder insoweit sie vernuumlnftig nochinsoweit sie gemeinschaftsbezogen ist verdirbt es sie

Zum anderen kennzeichnet er den nun folgenden epikureischen Gedanken expli-zit als solchen und schraumlnkt ihn insoweit ein als er sagt dass diese Maxime nichtimmer sondern nur in den meisten Faumlllen anwendbar sei

Mark Aurel 764 Fortssup1 ἐπὶ μέντοι τῶν πλείστων πόνων ϰαὶ τὸ τοῦ ᾿Επιϰούρου σοι βοη-ϑείτω ὅτι οὔτε ἀφόρητον οὔτε αἰώνιον ἐὰν τῶν ὅρων μνημονεύῃς ϰαὶ μὴ προσδοξάζῃςBei den meisten Formen von Ungemach moumlge dir indes schon das Wort Epikurs helfen dasses weder unertraumlglich noch unendlich ist sofern du dich an die Fakten haumlltst und nichtschon im Vorhinein schlimme Erwartungen hegst

Insgesamt koumlnnenwir in Senecas Briefen bezogen auf die Frage der Angsttherapiefolgende Entwicklung feststellen Angefangen von epist 5 (= epikureische Thera-peutik) gibt es eine Entwicklung uumlber epist 13 und 14 (Mischform) epist 24 (vor-wiegend stoische Argumentation mit epikureischer Motivation jedoch vermischtmit epikureischer avocatio) hin zu epist 98 in der eine im Kern rein stoische Ar-gumentation vorliegt die sich jedoch nach wie vor epikureischer Hilfsargumentebedient

Senecas Taktik besteht demnach nicht darin die gegnerische rsaquoFestunglsaquo mitseinen Argumenten rsaquoim Handstreichlsaquo oder uumlberhaupt in der Schlacht zu nehmenVielmehr legt er es ndash um im Bild zu bleiben ndash darauf an sie nach und nach davonzu uumlberzeugen freiwillig ihre Tore zu oumlffnen Er will eine Transformation des Le-sers aber er will sie nicht auf dem Weg der Konfrontation sondern lieber auf demPfad schleichender Integration

Auch der 105 Brief fuumlgt sich in diese Ordnung ein Zwar legt Seneca seinem Freund hiernahezudie gleichenRatschlaumlgevor die er auch schon im13 14 und 24Brief gegebenhatteDoches geht uumlberhaupt nicht um Angstvermeidung sondern um aumluszligere Sicherheit Lucilius hat ndash so

1 = Epicur fr 447 Us

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 141

die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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142 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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144 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 145

psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 15: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

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982ndash3 2 Valentior enim omni fortuna animus est et in utramque partem ipse res suas du-cit beataeque ac miserae vitae sibi causa est 3 Malus omnia in malum vertit etiam quaecum specie optimi venerant rectus atque integer corrigit prava fortunae et dura atque asperaferendi scientia mollit eqs

2 Der Geist ist naumlmlich staumlrker als alles Schicksal er selbst lenkt seine Geschicke in dieeine oder die andere Richtung und ist fuumlr sich selbst die Ursache eines gluumlcklichen oder un-gluumlcklichen Lebens 3 Der Schlechte verwandelt alles in Schlechtes selbst das was mitdem Schein des Bestmoumlglichen eingetreten war der Aufrechte und Unbeirrte (demgegen-uumlber) berichtigt die Maumlngel des Schicksals und macht durch seine Faumlhigkeit zum Ertragendas Harte und Raue weich usw

Aber noch in einemanderenPunkt tritt der bis zum im98 Brief erreichteTherapie-fortschritt deutlich hervor Waumlhrend im 13 Brief der Gegenpol zur rsaquostarkenlsaquo stoi-schen Sicht nur in der rsaquoschwachenlsaquo epikureischen bestand so warnt der 98 Briefnicht minder vor dem entgegengesetzten Extrem naumlmlich (in einseitiger Ausle-gung der stoischen Guumlterlehre) aumluszligere Guumlter gar nicht mehr zu achten Vielmehrfordert Seneca ausdruumlcklich dazu auf gefaumlhrlichen Situationen aus dem Wegezu gehen Direkt vor der oben erwaumlhnten Verurteilung des Sich-vorher-Fuumlrchtensheiszligt es

987 Nec ideo praecipio tibi neglegentiam Tu vero metuenda decl ina quidquid consilioprospici potest prospice quodcumque laesurum est multo ante quam accidat speculare etaverte In hoc ipsum tibi plurimum conferet fiducia et ad tolerandum omne obfirmata mensPotest fortunam cavere qui potest ferre certe in tranquillo non tumultuatur

Doch ich schreibe dir deshalbnichtNachlaumlssigkeit [ imUmgang mit den ἀδιάφοραndash (Anm UD)

] vor Du sollst durchaus den fuumlrchtenswerten Ereignissen aus dem Wege gehen was auchimmer rational vorausgesehen werden kann das sieh voraus was auch immer verletzenkann das fasse weit fruumlher als es passiert ins Auge und wende es ab Gerade dafuumlr wird dirdein Selbstvertrauen und dein alles zu ertragen gefestigter Sinn sehr zugute kommen Derkann dem Schicksal ausweichen der es tragen kann zumindest gibt es bei einem ruhigenMenschen keinen Aufruhr

Welches Fazit koumlnnen wir hieraus ziehen Seneca empfiehlt zwar sowohl in fruuml-heren Briefen als auch im 98 Brief sich erstens das Leben nicht durch verfruumlhteAngst selbst schwer zu machen und zweitens gefaumlhrlichen Situationen ndash wennmoumlglich ndash aus dem Weg zu gehen Doch erstens treten nur in den fruumlheren Brie-fen dazu Ratschlaumlge die mit der stoischen Lehre in keinster Weise vereinbar sind(zB epist 1310 interim tibi meliora promitte 1312 spe metum tempera)sup1 Zweitens

1 Verschweigen dieses Mittels im 98 Brief richtig gesehen bei Hachmann Leserfuumlhrung 131raquoDie scheinbare Hilfe durch Verdraumlngung [] wird in Brief 98 gar nicht erwaumlhntlaquo Hachmannscheint aber nicht zu bemerken dass der Grund fuumlr dieseAuslassung eben in derUnvereinbarkeit

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31 Strategien gegen die Angst | 135

laumlsst Seneca inden fruumlhenBriefendieseArt vonRatschlaumlgenausderRuumlcksicht aufdie Schwaumlche des Lucilius entstehensup1 oder formuliert sie nach Art einer epikurei-schen Lust-Schmerz-Bilanzsup2 Demgegenuumlber werden die Ratschlaumlge im 98 Briefallein aus der stoischen Guumlterlehre abgeleitet Zwar verwendet Seneca noch im-mer epikureische Argumentationsmuster (989 laumlsst er zudem Metrodor als Kron-zeuge auftreten) jedoch tut er das nicht mehr in mit der stoischen Lehre inkom-patibler sondern ausschlieszliglich in komplementaumlrer und streng untergeordneterWeise Epikur ist kein Konkurrent mehr kein Gegenmodell Er ist zum Helfer her-abgesunken der die Luumlcken ausfuumlllen darf die ihm die stoische Lehre gelassenhat

Der zuletzt zitierte Gedanke (Potest fortunam cavere qui potest ferre) illustriertdieses Selbstverstaumlndnis in hervorragender Weise Wenn Seneca die Erfuumlllungder epikureischen Forderung dem Schicksal auszuweichen (fortunam cavere) aneinen Charakter knuumlpft der dem Schicksal auch standhalten kann (qui potest fer-re) ndash der also die stoische Selbstbeherrschung verinnerlicht hat ndash dann sagt erdamit rsaquoKein Epikureer kann die epikureischen Forderungen so gut erfuumlllen wiewir Stoikerlsaquosup3

Diese Einverleibung Epikurs als eines im praktischen Bereich nuumltzlichenrsaquoKnechtslsaquo fuumlr die Erziehung zur stoischen Lebensweise ist wie ich spaumlter nochdeutlicher zeigen moumlchte (Kapitel 431) ein Hauptcharakteristikum fuumlr Senecas

mit der stoischen Lehre liegt (130 raquoAndererseits wird ein Argument das in den ersten Briefenbenutzt in ep 98 aber nicht verwendet wurde wahrscheinl ich mit Absicht ausgelassenworden seinlaquo [meine Hervorhebung])1 Vgl zB 135 Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes2 zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere Vgl auch 241 Quid enim necesse est [] praesenstempus futuri metu perdere3 Auch an dieser Stelle bringt Hachmann Leserfuumlhrung 132 die Sache zu wenig auf den PunktraquoHier geht der Brief 98 weit uumlber die Anfangsbriefe hinaus wenn er einen ursaumlchlichen Zusam-menhang sieht wo die Anfangsbriefe lediglich ein Nebeneinander sahen Nur der seelisch Star-ke welcher der Gefahr klar ins Auge sehen kann besitzt auch die notwendige Gelassenheit ver-nuumlnftige Gegenmaszlignahmen zu ergreifenlaquo Hachmann sieht im 98 Brief (bis auf die Auslassungder Verdraumlngungstaktik) offenbar wieder nur einen quantitativen Unterschied zu den fruumlherenraquoEinVergleich vonep 986mit ep 138ndash11 zeigt dass indemfruumlhenBrief die zukritisierendeFehl-haltung imVerhaumlltnis zu den echten Versuchender Heilung breiter dargestellt wurde Dagegenuumlberwiegt in ep 98 die Darstellung der Bewaumlltigunglaquo (ebd (Hervorhebung UD) ) MaurachBau 73f erkennt richtig dass im 98 Brief der systematische Zusammenhang erkennbar ist denSeneca in denBriefen 13 und 14 nicht erwaumlhnt der aber der dortigen Gedankenfuumlhrung zugrundeliegt Maurach geht es dabei darum die verdeckten inhaltlichen Beziehungen aufzudecken diedie Briefe 12ndash15 enger zusammenschlieszligen (eine wichtige Funktion kommt dabei der im 14 Briefangesprochenen οἰϰείωσις-Lehre zu) Die Frage nach Epikur- und Stoa-Kompatibilitaumlt der Argu-mente und damit nach Therapiestufen steht auszligerhalb seines Blickwinkels auf den Text

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136 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Briefe Nur hieraus und nicht aus persoumlnlichen Faktoren (vermeintlicher Ek-lektizismus Senecas Beeinflussung durch Luciliusrsquo Epikureismus) erklaumlrt sicheinerseits die Affinitaumlt zu Epikur (wo er zu brauchen ist bedient sich Seneca sei-ner gern) andererseits die scharfe Abgrenzung von ihm (Epikurs Prinzipien sindund bleiben aus Senecas Sicht untragbar)

Um herauszufinden auf welchem Therapieniveau Seneca operiert genuumlgt esalsonicht dieHerkunft bestimmterArgumentationsmuster ausder epikureischenSchule aufzuzeigen Diese verwendet er immersup1 so geniert sich Seneca zB auchim 98 Brief nicht unmittelbar vor einer stoischen exempla-Serie als Trostmittelfuumlr etwaige Verluste die epikureische Ruumlckbesinnung auf die Vergangenheit zuempfehlen (9811) Habere eripitur habuisse numquam Die entscheidende Frageist vielmehr inwiefern Seneca dabei gegen das stoische Wertesystem verstoumlszligt

Ein aufschlussreicher Schritt auf diesemWege ist der 24 Brief Vonunserembishe-rigen Befund aus mag ein kurzer Blick auf ihn genuumlgensup2 Der 13 Brief hatte durchdie Gegenuumlberstellung der rsaquohoumlherenlsaquosup3 stoischen zur rsaquoniedrigerenlsaquo epikureischenSicht zum ersten Mal auf die Abloumlsung der epikureisierenden Ratschlagstopik des5 Briefes hingearbeitet Auch der 14 Brief wirkte zwar ndash mit ersten Anklaumlngen andie Oikeiosislehre ndash auf eine Relativierung der Angstausloumlser hin blieb aber inseinen Methoden unentschieden So klingt beispielsweise gegenuumlber der helden-haften Aufforderung den Koumlrper notfalls auch ins Feuer zu schicken wenn es dieVernunft die Wuumlrde oder die Treue fordere (142) der unmittelbar folgende Satzdoch wieder sehr nach dem epikureischen Ausweichgedanken

143 Nihilominus quantum possumus evitemus incommoda quoque non tantum pericula etin tutum nos reducamus excogitantes subinde quibus possint timenda depelli

Nichtsdestotrotz wollen wir auch Unannehmlichkeiten nicht nur Gefahren nach Kraumlftenaus dem Wege gehen und uns auf sicheres Gebiet zuruumlckziehen indem wir uns immer wie-der ausdenken wodurch angsterregende Situationen entschaumlrft werden koumlnnen

Den endguumlltigen Bruch mit einer von stoischen Prinzipien abgeloumlsten epikurei-schen Behandlung vollzieht erst der 24 Brief indem er erstmals auch bei derFurchtbekaumlmpfung der praemeditatio-Technik den eindeutigen Vorzug vor derepikureischen Verdraumlngungsloumlsung gibt Ein Meisterstuumlck ist dabei wie Senecazum Schein die epikureische Loumlsung vorbringt und zunaumlchst auf sie eingeht so

1 Siehe dazu oben S 392 Als weitere Wegmarken koumlnnte man insbesondere 316 (vgl unten S 203) anfuumlhren3 Zu diesen Kategorien und ihrer Etablierung im philosophischen Denken Ciceros Goumlrler Un-tersuchungen zu Ciceros Philosophie vgl oben Anm 1 auf S 127

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31 Strategien gegen die Angst | 137

dass jeder von seinen Lesern der noch mit Epikurs Lehre liebaumlugelt sich auf demrichtigen Weg waumlhnen darf wie er dann aber diese Ratschlaumlge mit einem Wischzur Seite legt und zwar mit genau dem Argument das auch im 13 Brief schon alsKritik an Epikur anklang Das Verdraumlngen einer schlimmen Zukunft kann nichtjede Sorge nehmen (weil es durchaus Situationen gibt in denen das Eintreten desUumlbels aumluszligerst wahrscheinlich ist)sup1

241ndash2 1 Sollicitum esse te scribis de iudicicirc eventu quod tibi furor inimici denuntiat existi-masme suasurumutmeliora tibi ipse proponas et adquiescas spei blandae Quid enimnecesseest mala accersere satis cito patienda cum venerint praesumere ac praesens tempus futurimetu perdere Est sine dubio stultum quia quandoque sis futurus miser esse iam miserum2 Sed ego alia te ad securitatem via ducam si vis omnem sollicitudinem exuere quidquidvereris ne eveniat eventurum utique propone et quodcumque est illud malum tecum ipse me-tire ac timorem tuum taxa

1 Du schreibst du seist beunruhigt in Betreff des Ausgangs eines Prozesses den dir die Ra-serei deines Widersachers ankuumlndigt du glaubst ich werde dir nun raten dass du dir selbstBesseres vor Augen stellst und bei einer verlockenden Hoffnung zur Ruhe kommst Wozuist es naumlmlich notwendig Ungluumlckssituationen herbeizurufen das vorauszunehmen waswenn es gekommen ist immer noch fruumlh genughinzunehmen ist und die gegenwaumlrtige Zeitdurch die Angst vor der zukuumlnftigen schon zu verderben 2 Es ist ohne Zweifel unsinnigjetzt schon ungluumlcklich zu sein weil du irgendwann einmal ungluumlcklich sein wirst Aber ichwill dich auf einem anderen Weg zur Sicherheit fuumlhren Wenndu alleUnruhe ablegen willstdann stelle dir alles dessen Eintreten du befuumlrchtest erst recht vor Augen und miss wasauch immer es fuumlr ein Ungluumlck ist bei dir selbst nach und schaumltze das Ausmaszligdeiner Furchtein

Es kann kein Zweifel daran bestehen dass dieser Beginn des 24 Briefes als Ge-genstuumlck und Fortentwicklung der Therapie des 13 Briefes gelten musssup2

Unverstaumlndlich ist mir in diesem Punkt die Deutung Canciks Untersuchungen 73f Sie ver-sucht ndash gegen Misch Autobiographie 433 ndash zu beweisen dass weder zwischen dem 13 und dem24 Brief noch zwischen dem5 unddem24 Brief eine Entwicklung des rsaquoLuciliuslsaquo stattfindet raquoVoneinem Ansatz zur Darstellung einer seelischen Entwicklung in Mischs Sinne kann also hier [ dhim 13 Brief ndash (AnmUD) ] nicht die Rede sein Genausowenig bezeichnet ep 24 eine gegenuumlber ep 13fortgeschrittene Stufe in der Entwicklung des Luciliuslaquo (74) Sie folgert das zum einen (a) dar-aus dass auch im 13 Brief beide Sichtweisen vertreten werden zum andern (b) weil sie meintdass auch 57 schon raquodie stoische Vorstellung von der Uumlberwindung der Leidenschaften [] rein

1 Siehe oben S 1282 RichtigMaurach Bau 97 sowieHachmann Leserfuumlhrung 182ndash190 (der zu Recht konstatiertdass die Notmethode der Angstbekaumlmpfung durch einen Gegenaffekt also das vitio vitium repel-lere von 1312 (s oben S 129) von epist 24 an nicht mehr zum Repertoire Senecas gehoumlrt) fernerWacht Angst in Senecas Briefen 527 raquoWas also zunaumlchst grundsaumltzlich vereinbar und als mil-dere Form der Angstbewaumlltigung akzeptiert schien muss hier einer Methode weichen die zumsicheren Erfolg zu fuumlhren versprichtlaquo

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und eindeutiglaquo zum Ausdruck bringe (ebd) Doch wir haben gesehen dass (a) im 13 Brief beideSichtweisen noch miteinander wetteifernd auftreten und die stoische Loumlsung als die edlere dieepikureische aber als die derzeit wirkungsvollere dargestellt wird Die edlere Loumlsung legt sich da-bei wie ein Ring um die primitivere Canciks Deutung des 13 Briefes ist demnach verfehlt wennsie (ebd) behauptet raquoEine Interpretation von ep 13 im Ganzen zeigt dass ihr Gedankengangauf Steigerung angelegt istlaquo Denn der Brief enthaumllt nicht eine kontinuierliche Steigerung derphilosophischen Argumentationshoumlhe sondern beginnt in stoischer Houmlhe wird dann von 133bis 1313 durch eine epikureische Phase abgeloumlst und kehrt dann mit 1314 und den angedeutetenexempla wieder zum Ausgangsniveau zuruumlck Ganz anders ist das im 24 Brief Die epikureischeVerdraumlngungsloumlsung wird nur eingangs erwaumlhnt und zwar nur dazu um desto wirkungsvollerbeiseite gelegt werden zu koumlnnen Sie spielt im uumlbrigenBrief keine Rollemehr und ist vonAnfangan keine ernsthafte Alternative Die praemeditatio-Methode beherrscht von Beginn das Feld underhaumllt spaumltestens durch die lange exempla-Serie ab 243 ein erdruumlckendes Uumlbergewicht Einenfast schon verzweifelt zu nennenden opportunistischen Ratschlag wie 1313 crede quod mavis ndashraquoGlaube was du lieber willst (sc wenn du nur dadurch zur Ruhe kommst)laquo wird man nicht im24 und auch in keinem spaumlteren Brief mehr finden

Was (b) den 5 Brief angeht so muss man klar feststellen dass zwar der Zusammenhangzwischen Furcht und Hoffnung von dem Seneca dort spricht als Vorbereitung fuumlr eine spaumltereἀπάϑεια-Forderung gesehen werden kann Doch in der Hinsicht die wir als Indiz fuumlr eine Ent-wicklung des Lucilius angesehen haben naumlmlich in der Frage ob man zukuumlnftigen Uumlbeln ge-genuumlber eher die epikureische rsaquoKopf-in-den-Sand-Taktiklsaquo oder die kyrenaisch-stoische praemedi-tatio anwenden soll steht der 5 Brief wie wir gesehen habensup1 ganz eindeutig auf epikureischerSeitesup2 Abgesehen davon ist der Zusammenhang zur stoischen ἀπάϑεια auch nur fuumlr ein philo-sophisch bereits geuumlbtes Auge zu erkennen der Ratschlag erst ein Aufhoumlren des Hoffens werdeauch zum Ende des Fuumlrchtens fuumlhren laumlsst sich auch als gegen ein jeweiliges Zuviel im Einzel-fall gesprochen denken von einem raquoreinen und eindeutigenlaquo Propagieren der Uumlberwindung derLeidenschaften kann jedenfalls keine Rede sein

Doch obwohl er sich in der Entscheidung fuumlr die praemeditatio jetzt konse-quent zeigt ndash oder eben deshalb ndash sorgt Seneca umgehend dafuumlr dass die Bruumlckezum Epikureismus nicht gaumlnzlich abgerissen wird Er wolle sagt er Lucilius zursecuritas fuumlhren im Gegensatz zu Begriffen wie etwa constantia oder gar invulne-rabilitaswaumlhlt er damit einen Ausdruck der das epikureische Ideal der Sorglosig-keit (se+cura) uumlberdeutlich anklingen laumlsstsup3 Und die von Lucilius befuumlrchteten

1 S oben S 1312 Zu Recht skeptisch bereits Maurach Bau 97 Anm 78 ndash Hachmanns Widerlegungsversuch(Leserfuumlhrung 189) gegen diese Deutung von 57 durch Cancik speist sich allein aus dem Um-stand dass sich der 5 Brief noch im raquoEinleitungsteil des Werkeslaquo befinde Das allein halte ich fuumlrwenig schlagkraumlftig entscheidend ist die Stellung zur praemeditatio da diese wirklich ein Un-terscheidungskriterium zwischen Epikureismus und Stoa bietet vgl Abel Bauformen 38 undMaurach Bau 97 mit Anm 803 Das Wort kommt aus metrischen Gruumlnden bei Lukrez nicht vor inhaltlich ist es gleichwohlfast omnipraumlsent vgl zB im Prooumlm des zweiten Buches (216ndash19) nonne videre | nihil aliud sibi

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31 Strategien gegen die Angst | 139

Ereignisse bezeichnet Seneca so wie die breite Bevoumllkerung auch naumlmlich mitmalasup1

Doch es kommt noch besser Denn man duumlrfte nach der Ankuumlndigung diesesrsaquoanderen Weges zur Sorglosigkeitlsaquo erwarten dass Seneca jetzt wenn er jetzt mitden Worten intelleges profecto fortfaumlhrt ganz in stoischem Fahrwasser etwa sa-gen wird raquoDu wirst erkennen dass all diese Bedrohungen und Gefahren nichtigund nicht schwer zu ertragen sind und dass es allein auf unsere innere Haltungankommt Denn das einzige echte Uumlbel ist es sich verwerflich zu verhalten daseinzige Uumlbel ist die turpitudo Alle anderen Ereignisse vor denen du Angst hastsind keine wirklichen mala Das alles sind ἀδιάφορα also indifferente ethischambivalente Dingelaquo Stattdessen sagt er

242 intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis

du wirst ganz sicher erkennen dass es nicht groszlig oder aber nicht langdauernd ist wasdu fuumlrchtest

Das ist ndash worauf ua auch Wachtsup2 zu Recht hinweist ndash nichts anderes als Epikurswohlbekannte Formel gegen die Angst vor dem Schmerzsup3 die Cicero (fin 222) mitfast denselben Worten wie spaumlter Seneca zusammenfasst Si gravis [sc dolor] bre-vis si longus levis⁴

Die geschickte Wendung in der Formulierung laumlsst sich sicherlich wie ge-sagt als raquoRuumlcksicht auf den epikureischen Freundlaquo verstehen⁵ Doch sie ist mehrals das Die epikureische Schmerzformel ist ein nicht nur akutes sondern vonvornherein auch vorausschauendes Trostmittel Sie hat die Funktion die Angstvor einer schmerzhaften Zukunft zu verringern und enthaumllt damit schon von sichaus eine praumlmeditative Komponente Diesen fuumlr den Uumlbergang zur stoischen Leh-re guumlnstigen Umstand hat Seneca geschickt ausgenutzt Die Schmerzformel istein ideales Bindeglied um dem praemeditatio-Gedanken auch von epikureischerWarte aus Ruumlckhalt zu verschaffen

naturam latrare nisi ut qui | corpore seiunctus dolor absit mente fruatur | iucundo sensu curasemota metuque1 Anstelle einer stoisierenden Umschreibung vgl unten Kapitel 512 Angst in Senecas Briefen 528f3 Epic KD 4 GV 44 Vgl Sen epist 2414 Levis es si ferre possum brevis es si ferre non possum sowie ferner epist3014 ( nullum enim dolorem longum esse qui magnus est)5 Wacht Angst in Senecas Briefen 528 freilich darf dabei ndash wie oben (Kapitel 132 ab S 35)ausgefuumlhrt ndash unter rsaquoFreundlsaquo nicht die reale Person Lucilius verstanden werden sondern es gehtum die Integration des epikureisch orientierten Leserpublikums

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Auch ein Stoiker wie Mark Aurel weiszlig uumlbrigens um den praktischen Wert die-ser Formel Und fuumlr die Bestimmung von Senecas Taktik ist es hochinteressant zusehen wie sich die Einbettung dieses Gedankens bei dem Philosophenkaiser imUnterschied zu Seneca darstellt Denn zum einen laumlsst Mark Aurel die stoischeSicht eben nicht fort sondern setzt sie in guter Ordnung an den Anfang

MarkAurel 764 ᾿Επὶ μὲνπαντὸς πόνου πρόχειρον ἔστω ὅτι οὐϰ αἰσχρὸνοὐδὲ τὴνδιάνοιαντὴν ϰυβερνῶσαν χείρω ποιεῖ οὔτε γὰρ ϰαϑὸ λογιϰή ἐστιν οὔτε ϰαϑὸ ϰοινωνιϰὴ διαφϑείρειαὐτήνBei jedem Ungemach sei Dir dieses Argument griffbereit dass es nicht moralisch verwerf-lich ist und die leitende Vernunft nicht schwaumlcht Denn weder insoweit sie vernuumlnftig nochinsoweit sie gemeinschaftsbezogen ist verdirbt es sie

Zum anderen kennzeichnet er den nun folgenden epikureischen Gedanken expli-zit als solchen und schraumlnkt ihn insoweit ein als er sagt dass diese Maxime nichtimmer sondern nur in den meisten Faumlllen anwendbar sei

Mark Aurel 764 Fortssup1 ἐπὶ μέντοι τῶν πλείστων πόνων ϰαὶ τὸ τοῦ ᾿Επιϰούρου σοι βοη-ϑείτω ὅτι οὔτε ἀφόρητον οὔτε αἰώνιον ἐὰν τῶν ὅρων μνημονεύῃς ϰαὶ μὴ προσδοξάζῃςBei den meisten Formen von Ungemach moumlge dir indes schon das Wort Epikurs helfen dasses weder unertraumlglich noch unendlich ist sofern du dich an die Fakten haumlltst und nichtschon im Vorhinein schlimme Erwartungen hegst

Insgesamt koumlnnenwir in Senecas Briefen bezogen auf die Frage der Angsttherapiefolgende Entwicklung feststellen Angefangen von epist 5 (= epikureische Thera-peutik) gibt es eine Entwicklung uumlber epist 13 und 14 (Mischform) epist 24 (vor-wiegend stoische Argumentation mit epikureischer Motivation jedoch vermischtmit epikureischer avocatio) hin zu epist 98 in der eine im Kern rein stoische Ar-gumentation vorliegt die sich jedoch nach wie vor epikureischer Hilfsargumentebedient

Senecas Taktik besteht demnach nicht darin die gegnerische rsaquoFestunglsaquo mitseinen Argumenten rsaquoim Handstreichlsaquo oder uumlberhaupt in der Schlacht zu nehmenVielmehr legt er es ndash um im Bild zu bleiben ndash darauf an sie nach und nach davonzu uumlberzeugen freiwillig ihre Tore zu oumlffnen Er will eine Transformation des Le-sers aber er will sie nicht auf dem Weg der Konfrontation sondern lieber auf demPfad schleichender Integration

Auch der 105 Brief fuumlgt sich in diese Ordnung ein Zwar legt Seneca seinem Freund hiernahezudie gleichenRatschlaumlgevor die er auch schon im13 14 und 24Brief gegebenhatteDoches geht uumlberhaupt nicht um Angstvermeidung sondern um aumluszligere Sicherheit Lucilius hat ndash so

1 = Epicur fr 447 Us

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 141

die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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142 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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144 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 145

psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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146 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 16: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

31 Strategien gegen die Angst | 135

laumlsst Seneca inden fruumlhenBriefendieseArt vonRatschlaumlgenausderRuumlcksicht aufdie Schwaumlche des Lucilius entstehensup1 oder formuliert sie nach Art einer epikurei-schen Lust-Schmerz-Bilanzsup2 Demgegenuumlber werden die Ratschlaumlge im 98 Briefallein aus der stoischen Guumlterlehre abgeleitet Zwar verwendet Seneca noch im-mer epikureische Argumentationsmuster (989 laumlsst er zudem Metrodor als Kron-zeuge auftreten) jedoch tut er das nicht mehr in mit der stoischen Lehre inkom-patibler sondern ausschlieszliglich in komplementaumlrer und streng untergeordneterWeise Epikur ist kein Konkurrent mehr kein Gegenmodell Er ist zum Helfer her-abgesunken der die Luumlcken ausfuumlllen darf die ihm die stoische Lehre gelassenhat

Der zuletzt zitierte Gedanke (Potest fortunam cavere qui potest ferre) illustriertdieses Selbstverstaumlndnis in hervorragender Weise Wenn Seneca die Erfuumlllungder epikureischen Forderung dem Schicksal auszuweichen (fortunam cavere) aneinen Charakter knuumlpft der dem Schicksal auch standhalten kann (qui potest fer-re) ndash der also die stoische Selbstbeherrschung verinnerlicht hat ndash dann sagt erdamit rsaquoKein Epikureer kann die epikureischen Forderungen so gut erfuumlllen wiewir Stoikerlsaquosup3

Diese Einverleibung Epikurs als eines im praktischen Bereich nuumltzlichenrsaquoKnechtslsaquo fuumlr die Erziehung zur stoischen Lebensweise ist wie ich spaumlter nochdeutlicher zeigen moumlchte (Kapitel 431) ein Hauptcharakteristikum fuumlr Senecas

mit der stoischen Lehre liegt (130 raquoAndererseits wird ein Argument das in den ersten Briefenbenutzt in ep 98 aber nicht verwendet wurde wahrscheinl ich mit Absicht ausgelassenworden seinlaquo [meine Hervorhebung])1 Vgl zB 135 Quod ego leve dixero tu gravissimum esse contendes2 zB 1310 quid iuvat dolori suo occurrere Vgl auch 241 Quid enim necesse est [] praesenstempus futuri metu perdere3 Auch an dieser Stelle bringt Hachmann Leserfuumlhrung 132 die Sache zu wenig auf den PunktraquoHier geht der Brief 98 weit uumlber die Anfangsbriefe hinaus wenn er einen ursaumlchlichen Zusam-menhang sieht wo die Anfangsbriefe lediglich ein Nebeneinander sahen Nur der seelisch Star-ke welcher der Gefahr klar ins Auge sehen kann besitzt auch die notwendige Gelassenheit ver-nuumlnftige Gegenmaszlignahmen zu ergreifenlaquo Hachmann sieht im 98 Brief (bis auf die Auslassungder Verdraumlngungstaktik) offenbar wieder nur einen quantitativen Unterschied zu den fruumlherenraquoEinVergleich vonep 986mit ep 138ndash11 zeigt dass indemfruumlhenBrief die zukritisierendeFehl-haltung imVerhaumlltnis zu den echten Versuchender Heilung breiter dargestellt wurde Dagegenuumlberwiegt in ep 98 die Darstellung der Bewaumlltigunglaquo (ebd (Hervorhebung UD) ) MaurachBau 73f erkennt richtig dass im 98 Brief der systematische Zusammenhang erkennbar ist denSeneca in denBriefen 13 und 14 nicht erwaumlhnt der aber der dortigen Gedankenfuumlhrung zugrundeliegt Maurach geht es dabei darum die verdeckten inhaltlichen Beziehungen aufzudecken diedie Briefe 12ndash15 enger zusammenschlieszligen (eine wichtige Funktion kommt dabei der im 14 Briefangesprochenen οἰϰείωσις-Lehre zu) Die Frage nach Epikur- und Stoa-Kompatibilitaumlt der Argu-mente und damit nach Therapiestufen steht auszligerhalb seines Blickwinkels auf den Text

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Briefe Nur hieraus und nicht aus persoumlnlichen Faktoren (vermeintlicher Ek-lektizismus Senecas Beeinflussung durch Luciliusrsquo Epikureismus) erklaumlrt sicheinerseits die Affinitaumlt zu Epikur (wo er zu brauchen ist bedient sich Seneca sei-ner gern) andererseits die scharfe Abgrenzung von ihm (Epikurs Prinzipien sindund bleiben aus Senecas Sicht untragbar)

Um herauszufinden auf welchem Therapieniveau Seneca operiert genuumlgt esalsonicht dieHerkunft bestimmterArgumentationsmuster ausder epikureischenSchule aufzuzeigen Diese verwendet er immersup1 so geniert sich Seneca zB auchim 98 Brief nicht unmittelbar vor einer stoischen exempla-Serie als Trostmittelfuumlr etwaige Verluste die epikureische Ruumlckbesinnung auf die Vergangenheit zuempfehlen (9811) Habere eripitur habuisse numquam Die entscheidende Frageist vielmehr inwiefern Seneca dabei gegen das stoische Wertesystem verstoumlszligt

Ein aufschlussreicher Schritt auf diesemWege ist der 24 Brief Vonunserembishe-rigen Befund aus mag ein kurzer Blick auf ihn genuumlgensup2 Der 13 Brief hatte durchdie Gegenuumlberstellung der rsaquohoumlherenlsaquosup3 stoischen zur rsaquoniedrigerenlsaquo epikureischenSicht zum ersten Mal auf die Abloumlsung der epikureisierenden Ratschlagstopik des5 Briefes hingearbeitet Auch der 14 Brief wirkte zwar ndash mit ersten Anklaumlngen andie Oikeiosislehre ndash auf eine Relativierung der Angstausloumlser hin blieb aber inseinen Methoden unentschieden So klingt beispielsweise gegenuumlber der helden-haften Aufforderung den Koumlrper notfalls auch ins Feuer zu schicken wenn es dieVernunft die Wuumlrde oder die Treue fordere (142) der unmittelbar folgende Satzdoch wieder sehr nach dem epikureischen Ausweichgedanken

143 Nihilominus quantum possumus evitemus incommoda quoque non tantum pericula etin tutum nos reducamus excogitantes subinde quibus possint timenda depelli

Nichtsdestotrotz wollen wir auch Unannehmlichkeiten nicht nur Gefahren nach Kraumlftenaus dem Wege gehen und uns auf sicheres Gebiet zuruumlckziehen indem wir uns immer wie-der ausdenken wodurch angsterregende Situationen entschaumlrft werden koumlnnen

Den endguumlltigen Bruch mit einer von stoischen Prinzipien abgeloumlsten epikurei-schen Behandlung vollzieht erst der 24 Brief indem er erstmals auch bei derFurchtbekaumlmpfung der praemeditatio-Technik den eindeutigen Vorzug vor derepikureischen Verdraumlngungsloumlsung gibt Ein Meisterstuumlck ist dabei wie Senecazum Schein die epikureische Loumlsung vorbringt und zunaumlchst auf sie eingeht so

1 Siehe dazu oben S 392 Als weitere Wegmarken koumlnnte man insbesondere 316 (vgl unten S 203) anfuumlhren3 Zu diesen Kategorien und ihrer Etablierung im philosophischen Denken Ciceros Goumlrler Un-tersuchungen zu Ciceros Philosophie vgl oben Anm 1 auf S 127

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dass jeder von seinen Lesern der noch mit Epikurs Lehre liebaumlugelt sich auf demrichtigen Weg waumlhnen darf wie er dann aber diese Ratschlaumlge mit einem Wischzur Seite legt und zwar mit genau dem Argument das auch im 13 Brief schon alsKritik an Epikur anklang Das Verdraumlngen einer schlimmen Zukunft kann nichtjede Sorge nehmen (weil es durchaus Situationen gibt in denen das Eintreten desUumlbels aumluszligerst wahrscheinlich ist)sup1

241ndash2 1 Sollicitum esse te scribis de iudicicirc eventu quod tibi furor inimici denuntiat existi-masme suasurumutmeliora tibi ipse proponas et adquiescas spei blandae Quid enimnecesseest mala accersere satis cito patienda cum venerint praesumere ac praesens tempus futurimetu perdere Est sine dubio stultum quia quandoque sis futurus miser esse iam miserum2 Sed ego alia te ad securitatem via ducam si vis omnem sollicitudinem exuere quidquidvereris ne eveniat eventurum utique propone et quodcumque est illud malum tecum ipse me-tire ac timorem tuum taxa

1 Du schreibst du seist beunruhigt in Betreff des Ausgangs eines Prozesses den dir die Ra-serei deines Widersachers ankuumlndigt du glaubst ich werde dir nun raten dass du dir selbstBesseres vor Augen stellst und bei einer verlockenden Hoffnung zur Ruhe kommst Wozuist es naumlmlich notwendig Ungluumlckssituationen herbeizurufen das vorauszunehmen waswenn es gekommen ist immer noch fruumlh genughinzunehmen ist und die gegenwaumlrtige Zeitdurch die Angst vor der zukuumlnftigen schon zu verderben 2 Es ist ohne Zweifel unsinnigjetzt schon ungluumlcklich zu sein weil du irgendwann einmal ungluumlcklich sein wirst Aber ichwill dich auf einem anderen Weg zur Sicherheit fuumlhren Wenndu alleUnruhe ablegen willstdann stelle dir alles dessen Eintreten du befuumlrchtest erst recht vor Augen und miss wasauch immer es fuumlr ein Ungluumlck ist bei dir selbst nach und schaumltze das Ausmaszligdeiner Furchtein

Es kann kein Zweifel daran bestehen dass dieser Beginn des 24 Briefes als Ge-genstuumlck und Fortentwicklung der Therapie des 13 Briefes gelten musssup2

Unverstaumlndlich ist mir in diesem Punkt die Deutung Canciks Untersuchungen 73f Sie ver-sucht ndash gegen Misch Autobiographie 433 ndash zu beweisen dass weder zwischen dem 13 und dem24 Brief noch zwischen dem5 unddem24 Brief eine Entwicklung des rsaquoLuciliuslsaquo stattfindet raquoVoneinem Ansatz zur Darstellung einer seelischen Entwicklung in Mischs Sinne kann also hier [ dhim 13 Brief ndash (AnmUD) ] nicht die Rede sein Genausowenig bezeichnet ep 24 eine gegenuumlber ep 13fortgeschrittene Stufe in der Entwicklung des Luciliuslaquo (74) Sie folgert das zum einen (a) dar-aus dass auch im 13 Brief beide Sichtweisen vertreten werden zum andern (b) weil sie meintdass auch 57 schon raquodie stoische Vorstellung von der Uumlberwindung der Leidenschaften [] rein

1 Siehe oben S 1282 RichtigMaurach Bau 97 sowieHachmann Leserfuumlhrung 182ndash190 (der zu Recht konstatiertdass die Notmethode der Angstbekaumlmpfung durch einen Gegenaffekt also das vitio vitium repel-lere von 1312 (s oben S 129) von epist 24 an nicht mehr zum Repertoire Senecas gehoumlrt) fernerWacht Angst in Senecas Briefen 527 raquoWas also zunaumlchst grundsaumltzlich vereinbar und als mil-dere Form der Angstbewaumlltigung akzeptiert schien muss hier einer Methode weichen die zumsicheren Erfolg zu fuumlhren versprichtlaquo

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138 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und eindeutiglaquo zum Ausdruck bringe (ebd) Doch wir haben gesehen dass (a) im 13 Brief beideSichtweisen noch miteinander wetteifernd auftreten und die stoische Loumlsung als die edlere dieepikureische aber als die derzeit wirkungsvollere dargestellt wird Die edlere Loumlsung legt sich da-bei wie ein Ring um die primitivere Canciks Deutung des 13 Briefes ist demnach verfehlt wennsie (ebd) behauptet raquoEine Interpretation von ep 13 im Ganzen zeigt dass ihr Gedankengangauf Steigerung angelegt istlaquo Denn der Brief enthaumllt nicht eine kontinuierliche Steigerung derphilosophischen Argumentationshoumlhe sondern beginnt in stoischer Houmlhe wird dann von 133bis 1313 durch eine epikureische Phase abgeloumlst und kehrt dann mit 1314 und den angedeutetenexempla wieder zum Ausgangsniveau zuruumlck Ganz anders ist das im 24 Brief Die epikureischeVerdraumlngungsloumlsung wird nur eingangs erwaumlhnt und zwar nur dazu um desto wirkungsvollerbeiseite gelegt werden zu koumlnnen Sie spielt im uumlbrigenBrief keine Rollemehr und ist vonAnfangan keine ernsthafte Alternative Die praemeditatio-Methode beherrscht von Beginn das Feld underhaumllt spaumltestens durch die lange exempla-Serie ab 243 ein erdruumlckendes Uumlbergewicht Einenfast schon verzweifelt zu nennenden opportunistischen Ratschlag wie 1313 crede quod mavis ndashraquoGlaube was du lieber willst (sc wenn du nur dadurch zur Ruhe kommst)laquo wird man nicht im24 und auch in keinem spaumlteren Brief mehr finden

Was (b) den 5 Brief angeht so muss man klar feststellen dass zwar der Zusammenhangzwischen Furcht und Hoffnung von dem Seneca dort spricht als Vorbereitung fuumlr eine spaumltereἀπάϑεια-Forderung gesehen werden kann Doch in der Hinsicht die wir als Indiz fuumlr eine Ent-wicklung des Lucilius angesehen haben naumlmlich in der Frage ob man zukuumlnftigen Uumlbeln ge-genuumlber eher die epikureische rsaquoKopf-in-den-Sand-Taktiklsaquo oder die kyrenaisch-stoische praemedi-tatio anwenden soll steht der 5 Brief wie wir gesehen habensup1 ganz eindeutig auf epikureischerSeitesup2 Abgesehen davon ist der Zusammenhang zur stoischen ἀπάϑεια auch nur fuumlr ein philo-sophisch bereits geuumlbtes Auge zu erkennen der Ratschlag erst ein Aufhoumlren des Hoffens werdeauch zum Ende des Fuumlrchtens fuumlhren laumlsst sich auch als gegen ein jeweiliges Zuviel im Einzel-fall gesprochen denken von einem raquoreinen und eindeutigenlaquo Propagieren der Uumlberwindung derLeidenschaften kann jedenfalls keine Rede sein

Doch obwohl er sich in der Entscheidung fuumlr die praemeditatio jetzt konse-quent zeigt ndash oder eben deshalb ndash sorgt Seneca umgehend dafuumlr dass die Bruumlckezum Epikureismus nicht gaumlnzlich abgerissen wird Er wolle sagt er Lucilius zursecuritas fuumlhren im Gegensatz zu Begriffen wie etwa constantia oder gar invulne-rabilitaswaumlhlt er damit einen Ausdruck der das epikureische Ideal der Sorglosig-keit (se+cura) uumlberdeutlich anklingen laumlsstsup3 Und die von Lucilius befuumlrchteten

1 S oben S 1312 Zu Recht skeptisch bereits Maurach Bau 97 Anm 78 ndash Hachmanns Widerlegungsversuch(Leserfuumlhrung 189) gegen diese Deutung von 57 durch Cancik speist sich allein aus dem Um-stand dass sich der 5 Brief noch im raquoEinleitungsteil des Werkeslaquo befinde Das allein halte ich fuumlrwenig schlagkraumlftig entscheidend ist die Stellung zur praemeditatio da diese wirklich ein Un-terscheidungskriterium zwischen Epikureismus und Stoa bietet vgl Abel Bauformen 38 undMaurach Bau 97 mit Anm 803 Das Wort kommt aus metrischen Gruumlnden bei Lukrez nicht vor inhaltlich ist es gleichwohlfast omnipraumlsent vgl zB im Prooumlm des zweiten Buches (216ndash19) nonne videre | nihil aliud sibi

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31 Strategien gegen die Angst | 139

Ereignisse bezeichnet Seneca so wie die breite Bevoumllkerung auch naumlmlich mitmalasup1

Doch es kommt noch besser Denn man duumlrfte nach der Ankuumlndigung diesesrsaquoanderen Weges zur Sorglosigkeitlsaquo erwarten dass Seneca jetzt wenn er jetzt mitden Worten intelleges profecto fortfaumlhrt ganz in stoischem Fahrwasser etwa sa-gen wird raquoDu wirst erkennen dass all diese Bedrohungen und Gefahren nichtigund nicht schwer zu ertragen sind und dass es allein auf unsere innere Haltungankommt Denn das einzige echte Uumlbel ist es sich verwerflich zu verhalten daseinzige Uumlbel ist die turpitudo Alle anderen Ereignisse vor denen du Angst hastsind keine wirklichen mala Das alles sind ἀδιάφορα also indifferente ethischambivalente Dingelaquo Stattdessen sagt er

242 intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis

du wirst ganz sicher erkennen dass es nicht groszlig oder aber nicht langdauernd ist wasdu fuumlrchtest

Das ist ndash worauf ua auch Wachtsup2 zu Recht hinweist ndash nichts anderes als Epikurswohlbekannte Formel gegen die Angst vor dem Schmerzsup3 die Cicero (fin 222) mitfast denselben Worten wie spaumlter Seneca zusammenfasst Si gravis [sc dolor] bre-vis si longus levis⁴

Die geschickte Wendung in der Formulierung laumlsst sich sicherlich wie ge-sagt als raquoRuumlcksicht auf den epikureischen Freundlaquo verstehen⁵ Doch sie ist mehrals das Die epikureische Schmerzformel ist ein nicht nur akutes sondern vonvornherein auch vorausschauendes Trostmittel Sie hat die Funktion die Angstvor einer schmerzhaften Zukunft zu verringern und enthaumllt damit schon von sichaus eine praumlmeditative Komponente Diesen fuumlr den Uumlbergang zur stoischen Leh-re guumlnstigen Umstand hat Seneca geschickt ausgenutzt Die Schmerzformel istein ideales Bindeglied um dem praemeditatio-Gedanken auch von epikureischerWarte aus Ruumlckhalt zu verschaffen

naturam latrare nisi ut qui | corpore seiunctus dolor absit mente fruatur | iucundo sensu curasemota metuque1 Anstelle einer stoisierenden Umschreibung vgl unten Kapitel 512 Angst in Senecas Briefen 528f3 Epic KD 4 GV 44 Vgl Sen epist 2414 Levis es si ferre possum brevis es si ferre non possum sowie ferner epist3014 ( nullum enim dolorem longum esse qui magnus est)5 Wacht Angst in Senecas Briefen 528 freilich darf dabei ndash wie oben (Kapitel 132 ab S 35)ausgefuumlhrt ndash unter rsaquoFreundlsaquo nicht die reale Person Lucilius verstanden werden sondern es gehtum die Integration des epikureisch orientierten Leserpublikums

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140 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Auch ein Stoiker wie Mark Aurel weiszlig uumlbrigens um den praktischen Wert die-ser Formel Und fuumlr die Bestimmung von Senecas Taktik ist es hochinteressant zusehen wie sich die Einbettung dieses Gedankens bei dem Philosophenkaiser imUnterschied zu Seneca darstellt Denn zum einen laumlsst Mark Aurel die stoischeSicht eben nicht fort sondern setzt sie in guter Ordnung an den Anfang

MarkAurel 764 ᾿Επὶ μὲνπαντὸς πόνου πρόχειρον ἔστω ὅτι οὐϰ αἰσχρὸνοὐδὲ τὴνδιάνοιαντὴν ϰυβερνῶσαν χείρω ποιεῖ οὔτε γὰρ ϰαϑὸ λογιϰή ἐστιν οὔτε ϰαϑὸ ϰοινωνιϰὴ διαφϑείρειαὐτήνBei jedem Ungemach sei Dir dieses Argument griffbereit dass es nicht moralisch verwerf-lich ist und die leitende Vernunft nicht schwaumlcht Denn weder insoweit sie vernuumlnftig nochinsoweit sie gemeinschaftsbezogen ist verdirbt es sie

Zum anderen kennzeichnet er den nun folgenden epikureischen Gedanken expli-zit als solchen und schraumlnkt ihn insoweit ein als er sagt dass diese Maxime nichtimmer sondern nur in den meisten Faumlllen anwendbar sei

Mark Aurel 764 Fortssup1 ἐπὶ μέντοι τῶν πλείστων πόνων ϰαὶ τὸ τοῦ ᾿Επιϰούρου σοι βοη-ϑείτω ὅτι οὔτε ἀφόρητον οὔτε αἰώνιον ἐὰν τῶν ὅρων μνημονεύῃς ϰαὶ μὴ προσδοξάζῃςBei den meisten Formen von Ungemach moumlge dir indes schon das Wort Epikurs helfen dasses weder unertraumlglich noch unendlich ist sofern du dich an die Fakten haumlltst und nichtschon im Vorhinein schlimme Erwartungen hegst

Insgesamt koumlnnenwir in Senecas Briefen bezogen auf die Frage der Angsttherapiefolgende Entwicklung feststellen Angefangen von epist 5 (= epikureische Thera-peutik) gibt es eine Entwicklung uumlber epist 13 und 14 (Mischform) epist 24 (vor-wiegend stoische Argumentation mit epikureischer Motivation jedoch vermischtmit epikureischer avocatio) hin zu epist 98 in der eine im Kern rein stoische Ar-gumentation vorliegt die sich jedoch nach wie vor epikureischer Hilfsargumentebedient

Senecas Taktik besteht demnach nicht darin die gegnerische rsaquoFestunglsaquo mitseinen Argumenten rsaquoim Handstreichlsaquo oder uumlberhaupt in der Schlacht zu nehmenVielmehr legt er es ndash um im Bild zu bleiben ndash darauf an sie nach und nach davonzu uumlberzeugen freiwillig ihre Tore zu oumlffnen Er will eine Transformation des Le-sers aber er will sie nicht auf dem Weg der Konfrontation sondern lieber auf demPfad schleichender Integration

Auch der 105 Brief fuumlgt sich in diese Ordnung ein Zwar legt Seneca seinem Freund hiernahezudie gleichenRatschlaumlgevor die er auch schon im13 14 und 24Brief gegebenhatteDoches geht uumlberhaupt nicht um Angstvermeidung sondern um aumluszligere Sicherheit Lucilius hat ndash so

1 = Epicur fr 447 Us

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 141

die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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142 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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144 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 145

psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 17: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

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Briefe Nur hieraus und nicht aus persoumlnlichen Faktoren (vermeintlicher Ek-lektizismus Senecas Beeinflussung durch Luciliusrsquo Epikureismus) erklaumlrt sicheinerseits die Affinitaumlt zu Epikur (wo er zu brauchen ist bedient sich Seneca sei-ner gern) andererseits die scharfe Abgrenzung von ihm (Epikurs Prinzipien sindund bleiben aus Senecas Sicht untragbar)

Um herauszufinden auf welchem Therapieniveau Seneca operiert genuumlgt esalsonicht dieHerkunft bestimmterArgumentationsmuster ausder epikureischenSchule aufzuzeigen Diese verwendet er immersup1 so geniert sich Seneca zB auchim 98 Brief nicht unmittelbar vor einer stoischen exempla-Serie als Trostmittelfuumlr etwaige Verluste die epikureische Ruumlckbesinnung auf die Vergangenheit zuempfehlen (9811) Habere eripitur habuisse numquam Die entscheidende Frageist vielmehr inwiefern Seneca dabei gegen das stoische Wertesystem verstoumlszligt

Ein aufschlussreicher Schritt auf diesemWege ist der 24 Brief Vonunserembishe-rigen Befund aus mag ein kurzer Blick auf ihn genuumlgensup2 Der 13 Brief hatte durchdie Gegenuumlberstellung der rsaquohoumlherenlsaquosup3 stoischen zur rsaquoniedrigerenlsaquo epikureischenSicht zum ersten Mal auf die Abloumlsung der epikureisierenden Ratschlagstopik des5 Briefes hingearbeitet Auch der 14 Brief wirkte zwar ndash mit ersten Anklaumlngen andie Oikeiosislehre ndash auf eine Relativierung der Angstausloumlser hin blieb aber inseinen Methoden unentschieden So klingt beispielsweise gegenuumlber der helden-haften Aufforderung den Koumlrper notfalls auch ins Feuer zu schicken wenn es dieVernunft die Wuumlrde oder die Treue fordere (142) der unmittelbar folgende Satzdoch wieder sehr nach dem epikureischen Ausweichgedanken

143 Nihilominus quantum possumus evitemus incommoda quoque non tantum pericula etin tutum nos reducamus excogitantes subinde quibus possint timenda depelli

Nichtsdestotrotz wollen wir auch Unannehmlichkeiten nicht nur Gefahren nach Kraumlftenaus dem Wege gehen und uns auf sicheres Gebiet zuruumlckziehen indem wir uns immer wie-der ausdenken wodurch angsterregende Situationen entschaumlrft werden koumlnnen

Den endguumlltigen Bruch mit einer von stoischen Prinzipien abgeloumlsten epikurei-schen Behandlung vollzieht erst der 24 Brief indem er erstmals auch bei derFurchtbekaumlmpfung der praemeditatio-Technik den eindeutigen Vorzug vor derepikureischen Verdraumlngungsloumlsung gibt Ein Meisterstuumlck ist dabei wie Senecazum Schein die epikureische Loumlsung vorbringt und zunaumlchst auf sie eingeht so

1 Siehe dazu oben S 392 Als weitere Wegmarken koumlnnte man insbesondere 316 (vgl unten S 203) anfuumlhren3 Zu diesen Kategorien und ihrer Etablierung im philosophischen Denken Ciceros Goumlrler Un-tersuchungen zu Ciceros Philosophie vgl oben Anm 1 auf S 127

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31 Strategien gegen die Angst | 137

dass jeder von seinen Lesern der noch mit Epikurs Lehre liebaumlugelt sich auf demrichtigen Weg waumlhnen darf wie er dann aber diese Ratschlaumlge mit einem Wischzur Seite legt und zwar mit genau dem Argument das auch im 13 Brief schon alsKritik an Epikur anklang Das Verdraumlngen einer schlimmen Zukunft kann nichtjede Sorge nehmen (weil es durchaus Situationen gibt in denen das Eintreten desUumlbels aumluszligerst wahrscheinlich ist)sup1

241ndash2 1 Sollicitum esse te scribis de iudicicirc eventu quod tibi furor inimici denuntiat existi-masme suasurumutmeliora tibi ipse proponas et adquiescas spei blandae Quid enimnecesseest mala accersere satis cito patienda cum venerint praesumere ac praesens tempus futurimetu perdere Est sine dubio stultum quia quandoque sis futurus miser esse iam miserum2 Sed ego alia te ad securitatem via ducam si vis omnem sollicitudinem exuere quidquidvereris ne eveniat eventurum utique propone et quodcumque est illud malum tecum ipse me-tire ac timorem tuum taxa

1 Du schreibst du seist beunruhigt in Betreff des Ausgangs eines Prozesses den dir die Ra-serei deines Widersachers ankuumlndigt du glaubst ich werde dir nun raten dass du dir selbstBesseres vor Augen stellst und bei einer verlockenden Hoffnung zur Ruhe kommst Wozuist es naumlmlich notwendig Ungluumlckssituationen herbeizurufen das vorauszunehmen waswenn es gekommen ist immer noch fruumlh genughinzunehmen ist und die gegenwaumlrtige Zeitdurch die Angst vor der zukuumlnftigen schon zu verderben 2 Es ist ohne Zweifel unsinnigjetzt schon ungluumlcklich zu sein weil du irgendwann einmal ungluumlcklich sein wirst Aber ichwill dich auf einem anderen Weg zur Sicherheit fuumlhren Wenndu alleUnruhe ablegen willstdann stelle dir alles dessen Eintreten du befuumlrchtest erst recht vor Augen und miss wasauch immer es fuumlr ein Ungluumlck ist bei dir selbst nach und schaumltze das Ausmaszligdeiner Furchtein

Es kann kein Zweifel daran bestehen dass dieser Beginn des 24 Briefes als Ge-genstuumlck und Fortentwicklung der Therapie des 13 Briefes gelten musssup2

Unverstaumlndlich ist mir in diesem Punkt die Deutung Canciks Untersuchungen 73f Sie ver-sucht ndash gegen Misch Autobiographie 433 ndash zu beweisen dass weder zwischen dem 13 und dem24 Brief noch zwischen dem5 unddem24 Brief eine Entwicklung des rsaquoLuciliuslsaquo stattfindet raquoVoneinem Ansatz zur Darstellung einer seelischen Entwicklung in Mischs Sinne kann also hier [ dhim 13 Brief ndash (AnmUD) ] nicht die Rede sein Genausowenig bezeichnet ep 24 eine gegenuumlber ep 13fortgeschrittene Stufe in der Entwicklung des Luciliuslaquo (74) Sie folgert das zum einen (a) dar-aus dass auch im 13 Brief beide Sichtweisen vertreten werden zum andern (b) weil sie meintdass auch 57 schon raquodie stoische Vorstellung von der Uumlberwindung der Leidenschaften [] rein

1 Siehe oben S 1282 RichtigMaurach Bau 97 sowieHachmann Leserfuumlhrung 182ndash190 (der zu Recht konstatiertdass die Notmethode der Angstbekaumlmpfung durch einen Gegenaffekt also das vitio vitium repel-lere von 1312 (s oben S 129) von epist 24 an nicht mehr zum Repertoire Senecas gehoumlrt) fernerWacht Angst in Senecas Briefen 527 raquoWas also zunaumlchst grundsaumltzlich vereinbar und als mil-dere Form der Angstbewaumlltigung akzeptiert schien muss hier einer Methode weichen die zumsicheren Erfolg zu fuumlhren versprichtlaquo

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und eindeutiglaquo zum Ausdruck bringe (ebd) Doch wir haben gesehen dass (a) im 13 Brief beideSichtweisen noch miteinander wetteifernd auftreten und die stoische Loumlsung als die edlere dieepikureische aber als die derzeit wirkungsvollere dargestellt wird Die edlere Loumlsung legt sich da-bei wie ein Ring um die primitivere Canciks Deutung des 13 Briefes ist demnach verfehlt wennsie (ebd) behauptet raquoEine Interpretation von ep 13 im Ganzen zeigt dass ihr Gedankengangauf Steigerung angelegt istlaquo Denn der Brief enthaumllt nicht eine kontinuierliche Steigerung derphilosophischen Argumentationshoumlhe sondern beginnt in stoischer Houmlhe wird dann von 133bis 1313 durch eine epikureische Phase abgeloumlst und kehrt dann mit 1314 und den angedeutetenexempla wieder zum Ausgangsniveau zuruumlck Ganz anders ist das im 24 Brief Die epikureischeVerdraumlngungsloumlsung wird nur eingangs erwaumlhnt und zwar nur dazu um desto wirkungsvollerbeiseite gelegt werden zu koumlnnen Sie spielt im uumlbrigenBrief keine Rollemehr und ist vonAnfangan keine ernsthafte Alternative Die praemeditatio-Methode beherrscht von Beginn das Feld underhaumllt spaumltestens durch die lange exempla-Serie ab 243 ein erdruumlckendes Uumlbergewicht Einenfast schon verzweifelt zu nennenden opportunistischen Ratschlag wie 1313 crede quod mavis ndashraquoGlaube was du lieber willst (sc wenn du nur dadurch zur Ruhe kommst)laquo wird man nicht im24 und auch in keinem spaumlteren Brief mehr finden

Was (b) den 5 Brief angeht so muss man klar feststellen dass zwar der Zusammenhangzwischen Furcht und Hoffnung von dem Seneca dort spricht als Vorbereitung fuumlr eine spaumltereἀπάϑεια-Forderung gesehen werden kann Doch in der Hinsicht die wir als Indiz fuumlr eine Ent-wicklung des Lucilius angesehen haben naumlmlich in der Frage ob man zukuumlnftigen Uumlbeln ge-genuumlber eher die epikureische rsaquoKopf-in-den-Sand-Taktiklsaquo oder die kyrenaisch-stoische praemedi-tatio anwenden soll steht der 5 Brief wie wir gesehen habensup1 ganz eindeutig auf epikureischerSeitesup2 Abgesehen davon ist der Zusammenhang zur stoischen ἀπάϑεια auch nur fuumlr ein philo-sophisch bereits geuumlbtes Auge zu erkennen der Ratschlag erst ein Aufhoumlren des Hoffens werdeauch zum Ende des Fuumlrchtens fuumlhren laumlsst sich auch als gegen ein jeweiliges Zuviel im Einzel-fall gesprochen denken von einem raquoreinen und eindeutigenlaquo Propagieren der Uumlberwindung derLeidenschaften kann jedenfalls keine Rede sein

Doch obwohl er sich in der Entscheidung fuumlr die praemeditatio jetzt konse-quent zeigt ndash oder eben deshalb ndash sorgt Seneca umgehend dafuumlr dass die Bruumlckezum Epikureismus nicht gaumlnzlich abgerissen wird Er wolle sagt er Lucilius zursecuritas fuumlhren im Gegensatz zu Begriffen wie etwa constantia oder gar invulne-rabilitaswaumlhlt er damit einen Ausdruck der das epikureische Ideal der Sorglosig-keit (se+cura) uumlberdeutlich anklingen laumlsstsup3 Und die von Lucilius befuumlrchteten

1 S oben S 1312 Zu Recht skeptisch bereits Maurach Bau 97 Anm 78 ndash Hachmanns Widerlegungsversuch(Leserfuumlhrung 189) gegen diese Deutung von 57 durch Cancik speist sich allein aus dem Um-stand dass sich der 5 Brief noch im raquoEinleitungsteil des Werkeslaquo befinde Das allein halte ich fuumlrwenig schlagkraumlftig entscheidend ist die Stellung zur praemeditatio da diese wirklich ein Un-terscheidungskriterium zwischen Epikureismus und Stoa bietet vgl Abel Bauformen 38 undMaurach Bau 97 mit Anm 803 Das Wort kommt aus metrischen Gruumlnden bei Lukrez nicht vor inhaltlich ist es gleichwohlfast omnipraumlsent vgl zB im Prooumlm des zweiten Buches (216ndash19) nonne videre | nihil aliud sibi

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31 Strategien gegen die Angst | 139

Ereignisse bezeichnet Seneca so wie die breite Bevoumllkerung auch naumlmlich mitmalasup1

Doch es kommt noch besser Denn man duumlrfte nach der Ankuumlndigung diesesrsaquoanderen Weges zur Sorglosigkeitlsaquo erwarten dass Seneca jetzt wenn er jetzt mitden Worten intelleges profecto fortfaumlhrt ganz in stoischem Fahrwasser etwa sa-gen wird raquoDu wirst erkennen dass all diese Bedrohungen und Gefahren nichtigund nicht schwer zu ertragen sind und dass es allein auf unsere innere Haltungankommt Denn das einzige echte Uumlbel ist es sich verwerflich zu verhalten daseinzige Uumlbel ist die turpitudo Alle anderen Ereignisse vor denen du Angst hastsind keine wirklichen mala Das alles sind ἀδιάφορα also indifferente ethischambivalente Dingelaquo Stattdessen sagt er

242 intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis

du wirst ganz sicher erkennen dass es nicht groszlig oder aber nicht langdauernd ist wasdu fuumlrchtest

Das ist ndash worauf ua auch Wachtsup2 zu Recht hinweist ndash nichts anderes als Epikurswohlbekannte Formel gegen die Angst vor dem Schmerzsup3 die Cicero (fin 222) mitfast denselben Worten wie spaumlter Seneca zusammenfasst Si gravis [sc dolor] bre-vis si longus levis⁴

Die geschickte Wendung in der Formulierung laumlsst sich sicherlich wie ge-sagt als raquoRuumlcksicht auf den epikureischen Freundlaquo verstehen⁵ Doch sie ist mehrals das Die epikureische Schmerzformel ist ein nicht nur akutes sondern vonvornherein auch vorausschauendes Trostmittel Sie hat die Funktion die Angstvor einer schmerzhaften Zukunft zu verringern und enthaumllt damit schon von sichaus eine praumlmeditative Komponente Diesen fuumlr den Uumlbergang zur stoischen Leh-re guumlnstigen Umstand hat Seneca geschickt ausgenutzt Die Schmerzformel istein ideales Bindeglied um dem praemeditatio-Gedanken auch von epikureischerWarte aus Ruumlckhalt zu verschaffen

naturam latrare nisi ut qui | corpore seiunctus dolor absit mente fruatur | iucundo sensu curasemota metuque1 Anstelle einer stoisierenden Umschreibung vgl unten Kapitel 512 Angst in Senecas Briefen 528f3 Epic KD 4 GV 44 Vgl Sen epist 2414 Levis es si ferre possum brevis es si ferre non possum sowie ferner epist3014 ( nullum enim dolorem longum esse qui magnus est)5 Wacht Angst in Senecas Briefen 528 freilich darf dabei ndash wie oben (Kapitel 132 ab S 35)ausgefuumlhrt ndash unter rsaquoFreundlsaquo nicht die reale Person Lucilius verstanden werden sondern es gehtum die Integration des epikureisch orientierten Leserpublikums

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140 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Auch ein Stoiker wie Mark Aurel weiszlig uumlbrigens um den praktischen Wert die-ser Formel Und fuumlr die Bestimmung von Senecas Taktik ist es hochinteressant zusehen wie sich die Einbettung dieses Gedankens bei dem Philosophenkaiser imUnterschied zu Seneca darstellt Denn zum einen laumlsst Mark Aurel die stoischeSicht eben nicht fort sondern setzt sie in guter Ordnung an den Anfang

MarkAurel 764 ᾿Επὶ μὲνπαντὸς πόνου πρόχειρον ἔστω ὅτι οὐϰ αἰσχρὸνοὐδὲ τὴνδιάνοιαντὴν ϰυβερνῶσαν χείρω ποιεῖ οὔτε γὰρ ϰαϑὸ λογιϰή ἐστιν οὔτε ϰαϑὸ ϰοινωνιϰὴ διαφϑείρειαὐτήνBei jedem Ungemach sei Dir dieses Argument griffbereit dass es nicht moralisch verwerf-lich ist und die leitende Vernunft nicht schwaumlcht Denn weder insoweit sie vernuumlnftig nochinsoweit sie gemeinschaftsbezogen ist verdirbt es sie

Zum anderen kennzeichnet er den nun folgenden epikureischen Gedanken expli-zit als solchen und schraumlnkt ihn insoweit ein als er sagt dass diese Maxime nichtimmer sondern nur in den meisten Faumlllen anwendbar sei

Mark Aurel 764 Fortssup1 ἐπὶ μέντοι τῶν πλείστων πόνων ϰαὶ τὸ τοῦ ᾿Επιϰούρου σοι βοη-ϑείτω ὅτι οὔτε ἀφόρητον οὔτε αἰώνιον ἐὰν τῶν ὅρων μνημονεύῃς ϰαὶ μὴ προσδοξάζῃςBei den meisten Formen von Ungemach moumlge dir indes schon das Wort Epikurs helfen dasses weder unertraumlglich noch unendlich ist sofern du dich an die Fakten haumlltst und nichtschon im Vorhinein schlimme Erwartungen hegst

Insgesamt koumlnnenwir in Senecas Briefen bezogen auf die Frage der Angsttherapiefolgende Entwicklung feststellen Angefangen von epist 5 (= epikureische Thera-peutik) gibt es eine Entwicklung uumlber epist 13 und 14 (Mischform) epist 24 (vor-wiegend stoische Argumentation mit epikureischer Motivation jedoch vermischtmit epikureischer avocatio) hin zu epist 98 in der eine im Kern rein stoische Ar-gumentation vorliegt die sich jedoch nach wie vor epikureischer Hilfsargumentebedient

Senecas Taktik besteht demnach nicht darin die gegnerische rsaquoFestunglsaquo mitseinen Argumenten rsaquoim Handstreichlsaquo oder uumlberhaupt in der Schlacht zu nehmenVielmehr legt er es ndash um im Bild zu bleiben ndash darauf an sie nach und nach davonzu uumlberzeugen freiwillig ihre Tore zu oumlffnen Er will eine Transformation des Le-sers aber er will sie nicht auf dem Weg der Konfrontation sondern lieber auf demPfad schleichender Integration

Auch der 105 Brief fuumlgt sich in diese Ordnung ein Zwar legt Seneca seinem Freund hiernahezudie gleichenRatschlaumlgevor die er auch schon im13 14 und 24Brief gegebenhatteDoches geht uumlberhaupt nicht um Angstvermeidung sondern um aumluszligere Sicherheit Lucilius hat ndash so

1 = Epicur fr 447 Us

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 141

die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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142 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 145

psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 18: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

31 Strategien gegen die Angst | 137

dass jeder von seinen Lesern der noch mit Epikurs Lehre liebaumlugelt sich auf demrichtigen Weg waumlhnen darf wie er dann aber diese Ratschlaumlge mit einem Wischzur Seite legt und zwar mit genau dem Argument das auch im 13 Brief schon alsKritik an Epikur anklang Das Verdraumlngen einer schlimmen Zukunft kann nichtjede Sorge nehmen (weil es durchaus Situationen gibt in denen das Eintreten desUumlbels aumluszligerst wahrscheinlich ist)sup1

241ndash2 1 Sollicitum esse te scribis de iudicicirc eventu quod tibi furor inimici denuntiat existi-masme suasurumutmeliora tibi ipse proponas et adquiescas spei blandae Quid enimnecesseest mala accersere satis cito patienda cum venerint praesumere ac praesens tempus futurimetu perdere Est sine dubio stultum quia quandoque sis futurus miser esse iam miserum2 Sed ego alia te ad securitatem via ducam si vis omnem sollicitudinem exuere quidquidvereris ne eveniat eventurum utique propone et quodcumque est illud malum tecum ipse me-tire ac timorem tuum taxa

1 Du schreibst du seist beunruhigt in Betreff des Ausgangs eines Prozesses den dir die Ra-serei deines Widersachers ankuumlndigt du glaubst ich werde dir nun raten dass du dir selbstBesseres vor Augen stellst und bei einer verlockenden Hoffnung zur Ruhe kommst Wozuist es naumlmlich notwendig Ungluumlckssituationen herbeizurufen das vorauszunehmen waswenn es gekommen ist immer noch fruumlh genughinzunehmen ist und die gegenwaumlrtige Zeitdurch die Angst vor der zukuumlnftigen schon zu verderben 2 Es ist ohne Zweifel unsinnigjetzt schon ungluumlcklich zu sein weil du irgendwann einmal ungluumlcklich sein wirst Aber ichwill dich auf einem anderen Weg zur Sicherheit fuumlhren Wenndu alleUnruhe ablegen willstdann stelle dir alles dessen Eintreten du befuumlrchtest erst recht vor Augen und miss wasauch immer es fuumlr ein Ungluumlck ist bei dir selbst nach und schaumltze das Ausmaszligdeiner Furchtein

Es kann kein Zweifel daran bestehen dass dieser Beginn des 24 Briefes als Ge-genstuumlck und Fortentwicklung der Therapie des 13 Briefes gelten musssup2

Unverstaumlndlich ist mir in diesem Punkt die Deutung Canciks Untersuchungen 73f Sie ver-sucht ndash gegen Misch Autobiographie 433 ndash zu beweisen dass weder zwischen dem 13 und dem24 Brief noch zwischen dem5 unddem24 Brief eine Entwicklung des rsaquoLuciliuslsaquo stattfindet raquoVoneinem Ansatz zur Darstellung einer seelischen Entwicklung in Mischs Sinne kann also hier [ dhim 13 Brief ndash (AnmUD) ] nicht die Rede sein Genausowenig bezeichnet ep 24 eine gegenuumlber ep 13fortgeschrittene Stufe in der Entwicklung des Luciliuslaquo (74) Sie folgert das zum einen (a) dar-aus dass auch im 13 Brief beide Sichtweisen vertreten werden zum andern (b) weil sie meintdass auch 57 schon raquodie stoische Vorstellung von der Uumlberwindung der Leidenschaften [] rein

1 Siehe oben S 1282 RichtigMaurach Bau 97 sowieHachmann Leserfuumlhrung 182ndash190 (der zu Recht konstatiertdass die Notmethode der Angstbekaumlmpfung durch einen Gegenaffekt also das vitio vitium repel-lere von 1312 (s oben S 129) von epist 24 an nicht mehr zum Repertoire Senecas gehoumlrt) fernerWacht Angst in Senecas Briefen 527 raquoWas also zunaumlchst grundsaumltzlich vereinbar und als mil-dere Form der Angstbewaumlltigung akzeptiert schien muss hier einer Methode weichen die zumsicheren Erfolg zu fuumlhren versprichtlaquo

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138 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und eindeutiglaquo zum Ausdruck bringe (ebd) Doch wir haben gesehen dass (a) im 13 Brief beideSichtweisen noch miteinander wetteifernd auftreten und die stoische Loumlsung als die edlere dieepikureische aber als die derzeit wirkungsvollere dargestellt wird Die edlere Loumlsung legt sich da-bei wie ein Ring um die primitivere Canciks Deutung des 13 Briefes ist demnach verfehlt wennsie (ebd) behauptet raquoEine Interpretation von ep 13 im Ganzen zeigt dass ihr Gedankengangauf Steigerung angelegt istlaquo Denn der Brief enthaumllt nicht eine kontinuierliche Steigerung derphilosophischen Argumentationshoumlhe sondern beginnt in stoischer Houmlhe wird dann von 133bis 1313 durch eine epikureische Phase abgeloumlst und kehrt dann mit 1314 und den angedeutetenexempla wieder zum Ausgangsniveau zuruumlck Ganz anders ist das im 24 Brief Die epikureischeVerdraumlngungsloumlsung wird nur eingangs erwaumlhnt und zwar nur dazu um desto wirkungsvollerbeiseite gelegt werden zu koumlnnen Sie spielt im uumlbrigenBrief keine Rollemehr und ist vonAnfangan keine ernsthafte Alternative Die praemeditatio-Methode beherrscht von Beginn das Feld underhaumllt spaumltestens durch die lange exempla-Serie ab 243 ein erdruumlckendes Uumlbergewicht Einenfast schon verzweifelt zu nennenden opportunistischen Ratschlag wie 1313 crede quod mavis ndashraquoGlaube was du lieber willst (sc wenn du nur dadurch zur Ruhe kommst)laquo wird man nicht im24 und auch in keinem spaumlteren Brief mehr finden

Was (b) den 5 Brief angeht so muss man klar feststellen dass zwar der Zusammenhangzwischen Furcht und Hoffnung von dem Seneca dort spricht als Vorbereitung fuumlr eine spaumltereἀπάϑεια-Forderung gesehen werden kann Doch in der Hinsicht die wir als Indiz fuumlr eine Ent-wicklung des Lucilius angesehen haben naumlmlich in der Frage ob man zukuumlnftigen Uumlbeln ge-genuumlber eher die epikureische rsaquoKopf-in-den-Sand-Taktiklsaquo oder die kyrenaisch-stoische praemedi-tatio anwenden soll steht der 5 Brief wie wir gesehen habensup1 ganz eindeutig auf epikureischerSeitesup2 Abgesehen davon ist der Zusammenhang zur stoischen ἀπάϑεια auch nur fuumlr ein philo-sophisch bereits geuumlbtes Auge zu erkennen der Ratschlag erst ein Aufhoumlren des Hoffens werdeauch zum Ende des Fuumlrchtens fuumlhren laumlsst sich auch als gegen ein jeweiliges Zuviel im Einzel-fall gesprochen denken von einem raquoreinen und eindeutigenlaquo Propagieren der Uumlberwindung derLeidenschaften kann jedenfalls keine Rede sein

Doch obwohl er sich in der Entscheidung fuumlr die praemeditatio jetzt konse-quent zeigt ndash oder eben deshalb ndash sorgt Seneca umgehend dafuumlr dass die Bruumlckezum Epikureismus nicht gaumlnzlich abgerissen wird Er wolle sagt er Lucilius zursecuritas fuumlhren im Gegensatz zu Begriffen wie etwa constantia oder gar invulne-rabilitaswaumlhlt er damit einen Ausdruck der das epikureische Ideal der Sorglosig-keit (se+cura) uumlberdeutlich anklingen laumlsstsup3 Und die von Lucilius befuumlrchteten

1 S oben S 1312 Zu Recht skeptisch bereits Maurach Bau 97 Anm 78 ndash Hachmanns Widerlegungsversuch(Leserfuumlhrung 189) gegen diese Deutung von 57 durch Cancik speist sich allein aus dem Um-stand dass sich der 5 Brief noch im raquoEinleitungsteil des Werkeslaquo befinde Das allein halte ich fuumlrwenig schlagkraumlftig entscheidend ist die Stellung zur praemeditatio da diese wirklich ein Un-terscheidungskriterium zwischen Epikureismus und Stoa bietet vgl Abel Bauformen 38 undMaurach Bau 97 mit Anm 803 Das Wort kommt aus metrischen Gruumlnden bei Lukrez nicht vor inhaltlich ist es gleichwohlfast omnipraumlsent vgl zB im Prooumlm des zweiten Buches (216ndash19) nonne videre | nihil aliud sibi

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31 Strategien gegen die Angst | 139

Ereignisse bezeichnet Seneca so wie die breite Bevoumllkerung auch naumlmlich mitmalasup1

Doch es kommt noch besser Denn man duumlrfte nach der Ankuumlndigung diesesrsaquoanderen Weges zur Sorglosigkeitlsaquo erwarten dass Seneca jetzt wenn er jetzt mitden Worten intelleges profecto fortfaumlhrt ganz in stoischem Fahrwasser etwa sa-gen wird raquoDu wirst erkennen dass all diese Bedrohungen und Gefahren nichtigund nicht schwer zu ertragen sind und dass es allein auf unsere innere Haltungankommt Denn das einzige echte Uumlbel ist es sich verwerflich zu verhalten daseinzige Uumlbel ist die turpitudo Alle anderen Ereignisse vor denen du Angst hastsind keine wirklichen mala Das alles sind ἀδιάφορα also indifferente ethischambivalente Dingelaquo Stattdessen sagt er

242 intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis

du wirst ganz sicher erkennen dass es nicht groszlig oder aber nicht langdauernd ist wasdu fuumlrchtest

Das ist ndash worauf ua auch Wachtsup2 zu Recht hinweist ndash nichts anderes als Epikurswohlbekannte Formel gegen die Angst vor dem Schmerzsup3 die Cicero (fin 222) mitfast denselben Worten wie spaumlter Seneca zusammenfasst Si gravis [sc dolor] bre-vis si longus levis⁴

Die geschickte Wendung in der Formulierung laumlsst sich sicherlich wie ge-sagt als raquoRuumlcksicht auf den epikureischen Freundlaquo verstehen⁵ Doch sie ist mehrals das Die epikureische Schmerzformel ist ein nicht nur akutes sondern vonvornherein auch vorausschauendes Trostmittel Sie hat die Funktion die Angstvor einer schmerzhaften Zukunft zu verringern und enthaumllt damit schon von sichaus eine praumlmeditative Komponente Diesen fuumlr den Uumlbergang zur stoischen Leh-re guumlnstigen Umstand hat Seneca geschickt ausgenutzt Die Schmerzformel istein ideales Bindeglied um dem praemeditatio-Gedanken auch von epikureischerWarte aus Ruumlckhalt zu verschaffen

naturam latrare nisi ut qui | corpore seiunctus dolor absit mente fruatur | iucundo sensu curasemota metuque1 Anstelle einer stoisierenden Umschreibung vgl unten Kapitel 512 Angst in Senecas Briefen 528f3 Epic KD 4 GV 44 Vgl Sen epist 2414 Levis es si ferre possum brevis es si ferre non possum sowie ferner epist3014 ( nullum enim dolorem longum esse qui magnus est)5 Wacht Angst in Senecas Briefen 528 freilich darf dabei ndash wie oben (Kapitel 132 ab S 35)ausgefuumlhrt ndash unter rsaquoFreundlsaquo nicht die reale Person Lucilius verstanden werden sondern es gehtum die Integration des epikureisch orientierten Leserpublikums

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140 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Auch ein Stoiker wie Mark Aurel weiszlig uumlbrigens um den praktischen Wert die-ser Formel Und fuumlr die Bestimmung von Senecas Taktik ist es hochinteressant zusehen wie sich die Einbettung dieses Gedankens bei dem Philosophenkaiser imUnterschied zu Seneca darstellt Denn zum einen laumlsst Mark Aurel die stoischeSicht eben nicht fort sondern setzt sie in guter Ordnung an den Anfang

MarkAurel 764 ᾿Επὶ μὲνπαντὸς πόνου πρόχειρον ἔστω ὅτι οὐϰ αἰσχρὸνοὐδὲ τὴνδιάνοιαντὴν ϰυβερνῶσαν χείρω ποιεῖ οὔτε γὰρ ϰαϑὸ λογιϰή ἐστιν οὔτε ϰαϑὸ ϰοινωνιϰὴ διαφϑείρειαὐτήνBei jedem Ungemach sei Dir dieses Argument griffbereit dass es nicht moralisch verwerf-lich ist und die leitende Vernunft nicht schwaumlcht Denn weder insoweit sie vernuumlnftig nochinsoweit sie gemeinschaftsbezogen ist verdirbt es sie

Zum anderen kennzeichnet er den nun folgenden epikureischen Gedanken expli-zit als solchen und schraumlnkt ihn insoweit ein als er sagt dass diese Maxime nichtimmer sondern nur in den meisten Faumlllen anwendbar sei

Mark Aurel 764 Fortssup1 ἐπὶ μέντοι τῶν πλείστων πόνων ϰαὶ τὸ τοῦ ᾿Επιϰούρου σοι βοη-ϑείτω ὅτι οὔτε ἀφόρητον οὔτε αἰώνιον ἐὰν τῶν ὅρων μνημονεύῃς ϰαὶ μὴ προσδοξάζῃςBei den meisten Formen von Ungemach moumlge dir indes schon das Wort Epikurs helfen dasses weder unertraumlglich noch unendlich ist sofern du dich an die Fakten haumlltst und nichtschon im Vorhinein schlimme Erwartungen hegst

Insgesamt koumlnnenwir in Senecas Briefen bezogen auf die Frage der Angsttherapiefolgende Entwicklung feststellen Angefangen von epist 5 (= epikureische Thera-peutik) gibt es eine Entwicklung uumlber epist 13 und 14 (Mischform) epist 24 (vor-wiegend stoische Argumentation mit epikureischer Motivation jedoch vermischtmit epikureischer avocatio) hin zu epist 98 in der eine im Kern rein stoische Ar-gumentation vorliegt die sich jedoch nach wie vor epikureischer Hilfsargumentebedient

Senecas Taktik besteht demnach nicht darin die gegnerische rsaquoFestunglsaquo mitseinen Argumenten rsaquoim Handstreichlsaquo oder uumlberhaupt in der Schlacht zu nehmenVielmehr legt er es ndash um im Bild zu bleiben ndash darauf an sie nach und nach davonzu uumlberzeugen freiwillig ihre Tore zu oumlffnen Er will eine Transformation des Le-sers aber er will sie nicht auf dem Weg der Konfrontation sondern lieber auf demPfad schleichender Integration

Auch der 105 Brief fuumlgt sich in diese Ordnung ein Zwar legt Seneca seinem Freund hiernahezudie gleichenRatschlaumlgevor die er auch schon im13 14 und 24Brief gegebenhatteDoches geht uumlberhaupt nicht um Angstvermeidung sondern um aumluszligere Sicherheit Lucilius hat ndash so

1 = Epicur fr 447 Us

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 141

die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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142 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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144 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 145

psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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146 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 19: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

138 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und eindeutiglaquo zum Ausdruck bringe (ebd) Doch wir haben gesehen dass (a) im 13 Brief beideSichtweisen noch miteinander wetteifernd auftreten und die stoische Loumlsung als die edlere dieepikureische aber als die derzeit wirkungsvollere dargestellt wird Die edlere Loumlsung legt sich da-bei wie ein Ring um die primitivere Canciks Deutung des 13 Briefes ist demnach verfehlt wennsie (ebd) behauptet raquoEine Interpretation von ep 13 im Ganzen zeigt dass ihr Gedankengangauf Steigerung angelegt istlaquo Denn der Brief enthaumllt nicht eine kontinuierliche Steigerung derphilosophischen Argumentationshoumlhe sondern beginnt in stoischer Houmlhe wird dann von 133bis 1313 durch eine epikureische Phase abgeloumlst und kehrt dann mit 1314 und den angedeutetenexempla wieder zum Ausgangsniveau zuruumlck Ganz anders ist das im 24 Brief Die epikureischeVerdraumlngungsloumlsung wird nur eingangs erwaumlhnt und zwar nur dazu um desto wirkungsvollerbeiseite gelegt werden zu koumlnnen Sie spielt im uumlbrigenBrief keine Rollemehr und ist vonAnfangan keine ernsthafte Alternative Die praemeditatio-Methode beherrscht von Beginn das Feld underhaumllt spaumltestens durch die lange exempla-Serie ab 243 ein erdruumlckendes Uumlbergewicht Einenfast schon verzweifelt zu nennenden opportunistischen Ratschlag wie 1313 crede quod mavis ndashraquoGlaube was du lieber willst (sc wenn du nur dadurch zur Ruhe kommst)laquo wird man nicht im24 und auch in keinem spaumlteren Brief mehr finden

Was (b) den 5 Brief angeht so muss man klar feststellen dass zwar der Zusammenhangzwischen Furcht und Hoffnung von dem Seneca dort spricht als Vorbereitung fuumlr eine spaumltereἀπάϑεια-Forderung gesehen werden kann Doch in der Hinsicht die wir als Indiz fuumlr eine Ent-wicklung des Lucilius angesehen haben naumlmlich in der Frage ob man zukuumlnftigen Uumlbeln ge-genuumlber eher die epikureische rsaquoKopf-in-den-Sand-Taktiklsaquo oder die kyrenaisch-stoische praemedi-tatio anwenden soll steht der 5 Brief wie wir gesehen habensup1 ganz eindeutig auf epikureischerSeitesup2 Abgesehen davon ist der Zusammenhang zur stoischen ἀπάϑεια auch nur fuumlr ein philo-sophisch bereits geuumlbtes Auge zu erkennen der Ratschlag erst ein Aufhoumlren des Hoffens werdeauch zum Ende des Fuumlrchtens fuumlhren laumlsst sich auch als gegen ein jeweiliges Zuviel im Einzel-fall gesprochen denken von einem raquoreinen und eindeutigenlaquo Propagieren der Uumlberwindung derLeidenschaften kann jedenfalls keine Rede sein

Doch obwohl er sich in der Entscheidung fuumlr die praemeditatio jetzt konse-quent zeigt ndash oder eben deshalb ndash sorgt Seneca umgehend dafuumlr dass die Bruumlckezum Epikureismus nicht gaumlnzlich abgerissen wird Er wolle sagt er Lucilius zursecuritas fuumlhren im Gegensatz zu Begriffen wie etwa constantia oder gar invulne-rabilitaswaumlhlt er damit einen Ausdruck der das epikureische Ideal der Sorglosig-keit (se+cura) uumlberdeutlich anklingen laumlsstsup3 Und die von Lucilius befuumlrchteten

1 S oben S 1312 Zu Recht skeptisch bereits Maurach Bau 97 Anm 78 ndash Hachmanns Widerlegungsversuch(Leserfuumlhrung 189) gegen diese Deutung von 57 durch Cancik speist sich allein aus dem Um-stand dass sich der 5 Brief noch im raquoEinleitungsteil des Werkeslaquo befinde Das allein halte ich fuumlrwenig schlagkraumlftig entscheidend ist die Stellung zur praemeditatio da diese wirklich ein Un-terscheidungskriterium zwischen Epikureismus und Stoa bietet vgl Abel Bauformen 38 undMaurach Bau 97 mit Anm 803 Das Wort kommt aus metrischen Gruumlnden bei Lukrez nicht vor inhaltlich ist es gleichwohlfast omnipraumlsent vgl zB im Prooumlm des zweiten Buches (216ndash19) nonne videre | nihil aliud sibi

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31 Strategien gegen die Angst | 139

Ereignisse bezeichnet Seneca so wie die breite Bevoumllkerung auch naumlmlich mitmalasup1

Doch es kommt noch besser Denn man duumlrfte nach der Ankuumlndigung diesesrsaquoanderen Weges zur Sorglosigkeitlsaquo erwarten dass Seneca jetzt wenn er jetzt mitden Worten intelleges profecto fortfaumlhrt ganz in stoischem Fahrwasser etwa sa-gen wird raquoDu wirst erkennen dass all diese Bedrohungen und Gefahren nichtigund nicht schwer zu ertragen sind und dass es allein auf unsere innere Haltungankommt Denn das einzige echte Uumlbel ist es sich verwerflich zu verhalten daseinzige Uumlbel ist die turpitudo Alle anderen Ereignisse vor denen du Angst hastsind keine wirklichen mala Das alles sind ἀδιάφορα also indifferente ethischambivalente Dingelaquo Stattdessen sagt er

242 intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis

du wirst ganz sicher erkennen dass es nicht groszlig oder aber nicht langdauernd ist wasdu fuumlrchtest

Das ist ndash worauf ua auch Wachtsup2 zu Recht hinweist ndash nichts anderes als Epikurswohlbekannte Formel gegen die Angst vor dem Schmerzsup3 die Cicero (fin 222) mitfast denselben Worten wie spaumlter Seneca zusammenfasst Si gravis [sc dolor] bre-vis si longus levis⁴

Die geschickte Wendung in der Formulierung laumlsst sich sicherlich wie ge-sagt als raquoRuumlcksicht auf den epikureischen Freundlaquo verstehen⁵ Doch sie ist mehrals das Die epikureische Schmerzformel ist ein nicht nur akutes sondern vonvornherein auch vorausschauendes Trostmittel Sie hat die Funktion die Angstvor einer schmerzhaften Zukunft zu verringern und enthaumllt damit schon von sichaus eine praumlmeditative Komponente Diesen fuumlr den Uumlbergang zur stoischen Leh-re guumlnstigen Umstand hat Seneca geschickt ausgenutzt Die Schmerzformel istein ideales Bindeglied um dem praemeditatio-Gedanken auch von epikureischerWarte aus Ruumlckhalt zu verschaffen

naturam latrare nisi ut qui | corpore seiunctus dolor absit mente fruatur | iucundo sensu curasemota metuque1 Anstelle einer stoisierenden Umschreibung vgl unten Kapitel 512 Angst in Senecas Briefen 528f3 Epic KD 4 GV 44 Vgl Sen epist 2414 Levis es si ferre possum brevis es si ferre non possum sowie ferner epist3014 ( nullum enim dolorem longum esse qui magnus est)5 Wacht Angst in Senecas Briefen 528 freilich darf dabei ndash wie oben (Kapitel 132 ab S 35)ausgefuumlhrt ndash unter rsaquoFreundlsaquo nicht die reale Person Lucilius verstanden werden sondern es gehtum die Integration des epikureisch orientierten Leserpublikums

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140 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Auch ein Stoiker wie Mark Aurel weiszlig uumlbrigens um den praktischen Wert die-ser Formel Und fuumlr die Bestimmung von Senecas Taktik ist es hochinteressant zusehen wie sich die Einbettung dieses Gedankens bei dem Philosophenkaiser imUnterschied zu Seneca darstellt Denn zum einen laumlsst Mark Aurel die stoischeSicht eben nicht fort sondern setzt sie in guter Ordnung an den Anfang

MarkAurel 764 ᾿Επὶ μὲνπαντὸς πόνου πρόχειρον ἔστω ὅτι οὐϰ αἰσχρὸνοὐδὲ τὴνδιάνοιαντὴν ϰυβερνῶσαν χείρω ποιεῖ οὔτε γὰρ ϰαϑὸ λογιϰή ἐστιν οὔτε ϰαϑὸ ϰοινωνιϰὴ διαφϑείρειαὐτήνBei jedem Ungemach sei Dir dieses Argument griffbereit dass es nicht moralisch verwerf-lich ist und die leitende Vernunft nicht schwaumlcht Denn weder insoweit sie vernuumlnftig nochinsoweit sie gemeinschaftsbezogen ist verdirbt es sie

Zum anderen kennzeichnet er den nun folgenden epikureischen Gedanken expli-zit als solchen und schraumlnkt ihn insoweit ein als er sagt dass diese Maxime nichtimmer sondern nur in den meisten Faumlllen anwendbar sei

Mark Aurel 764 Fortssup1 ἐπὶ μέντοι τῶν πλείστων πόνων ϰαὶ τὸ τοῦ ᾿Επιϰούρου σοι βοη-ϑείτω ὅτι οὔτε ἀφόρητον οὔτε αἰώνιον ἐὰν τῶν ὅρων μνημονεύῃς ϰαὶ μὴ προσδοξάζῃςBei den meisten Formen von Ungemach moumlge dir indes schon das Wort Epikurs helfen dasses weder unertraumlglich noch unendlich ist sofern du dich an die Fakten haumlltst und nichtschon im Vorhinein schlimme Erwartungen hegst

Insgesamt koumlnnenwir in Senecas Briefen bezogen auf die Frage der Angsttherapiefolgende Entwicklung feststellen Angefangen von epist 5 (= epikureische Thera-peutik) gibt es eine Entwicklung uumlber epist 13 und 14 (Mischform) epist 24 (vor-wiegend stoische Argumentation mit epikureischer Motivation jedoch vermischtmit epikureischer avocatio) hin zu epist 98 in der eine im Kern rein stoische Ar-gumentation vorliegt die sich jedoch nach wie vor epikureischer Hilfsargumentebedient

Senecas Taktik besteht demnach nicht darin die gegnerische rsaquoFestunglsaquo mitseinen Argumenten rsaquoim Handstreichlsaquo oder uumlberhaupt in der Schlacht zu nehmenVielmehr legt er es ndash um im Bild zu bleiben ndash darauf an sie nach und nach davonzu uumlberzeugen freiwillig ihre Tore zu oumlffnen Er will eine Transformation des Le-sers aber er will sie nicht auf dem Weg der Konfrontation sondern lieber auf demPfad schleichender Integration

Auch der 105 Brief fuumlgt sich in diese Ordnung ein Zwar legt Seneca seinem Freund hiernahezudie gleichenRatschlaumlgevor die er auch schon im13 14 und 24Brief gegebenhatteDoches geht uumlberhaupt nicht um Angstvermeidung sondern um aumluszligere Sicherheit Lucilius hat ndash so

1 = Epicur fr 447 Us

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 141

die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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142 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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144 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 145

psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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146 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 20: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

31 Strategien gegen die Angst | 139

Ereignisse bezeichnet Seneca so wie die breite Bevoumllkerung auch naumlmlich mitmalasup1

Doch es kommt noch besser Denn man duumlrfte nach der Ankuumlndigung diesesrsaquoanderen Weges zur Sorglosigkeitlsaquo erwarten dass Seneca jetzt wenn er jetzt mitden Worten intelleges profecto fortfaumlhrt ganz in stoischem Fahrwasser etwa sa-gen wird raquoDu wirst erkennen dass all diese Bedrohungen und Gefahren nichtigund nicht schwer zu ertragen sind und dass es allein auf unsere innere Haltungankommt Denn das einzige echte Uumlbel ist es sich verwerflich zu verhalten daseinzige Uumlbel ist die turpitudo Alle anderen Ereignisse vor denen du Angst hastsind keine wirklichen mala Das alles sind ἀδιάφορα also indifferente ethischambivalente Dingelaquo Stattdessen sagt er

242 intelleges profecto aut non magnum aut non longum esse quod metuis

du wirst ganz sicher erkennen dass es nicht groszlig oder aber nicht langdauernd ist wasdu fuumlrchtest

Das ist ndash worauf ua auch Wachtsup2 zu Recht hinweist ndash nichts anderes als Epikurswohlbekannte Formel gegen die Angst vor dem Schmerzsup3 die Cicero (fin 222) mitfast denselben Worten wie spaumlter Seneca zusammenfasst Si gravis [sc dolor] bre-vis si longus levis⁴

Die geschickte Wendung in der Formulierung laumlsst sich sicherlich wie ge-sagt als raquoRuumlcksicht auf den epikureischen Freundlaquo verstehen⁵ Doch sie ist mehrals das Die epikureische Schmerzformel ist ein nicht nur akutes sondern vonvornherein auch vorausschauendes Trostmittel Sie hat die Funktion die Angstvor einer schmerzhaften Zukunft zu verringern und enthaumllt damit schon von sichaus eine praumlmeditative Komponente Diesen fuumlr den Uumlbergang zur stoischen Leh-re guumlnstigen Umstand hat Seneca geschickt ausgenutzt Die Schmerzformel istein ideales Bindeglied um dem praemeditatio-Gedanken auch von epikureischerWarte aus Ruumlckhalt zu verschaffen

naturam latrare nisi ut qui | corpore seiunctus dolor absit mente fruatur | iucundo sensu curasemota metuque1 Anstelle einer stoisierenden Umschreibung vgl unten Kapitel 512 Angst in Senecas Briefen 528f3 Epic KD 4 GV 44 Vgl Sen epist 2414 Levis es si ferre possum brevis es si ferre non possum sowie ferner epist3014 ( nullum enim dolorem longum esse qui magnus est)5 Wacht Angst in Senecas Briefen 528 freilich darf dabei ndash wie oben (Kapitel 132 ab S 35)ausgefuumlhrt ndash unter rsaquoFreundlsaquo nicht die reale Person Lucilius verstanden werden sondern es gehtum die Integration des epikureisch orientierten Leserpublikums

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140 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Auch ein Stoiker wie Mark Aurel weiszlig uumlbrigens um den praktischen Wert die-ser Formel Und fuumlr die Bestimmung von Senecas Taktik ist es hochinteressant zusehen wie sich die Einbettung dieses Gedankens bei dem Philosophenkaiser imUnterschied zu Seneca darstellt Denn zum einen laumlsst Mark Aurel die stoischeSicht eben nicht fort sondern setzt sie in guter Ordnung an den Anfang

MarkAurel 764 ᾿Επὶ μὲνπαντὸς πόνου πρόχειρον ἔστω ὅτι οὐϰ αἰσχρὸνοὐδὲ τὴνδιάνοιαντὴν ϰυβερνῶσαν χείρω ποιεῖ οὔτε γὰρ ϰαϑὸ λογιϰή ἐστιν οὔτε ϰαϑὸ ϰοινωνιϰὴ διαφϑείρειαὐτήνBei jedem Ungemach sei Dir dieses Argument griffbereit dass es nicht moralisch verwerf-lich ist und die leitende Vernunft nicht schwaumlcht Denn weder insoweit sie vernuumlnftig nochinsoweit sie gemeinschaftsbezogen ist verdirbt es sie

Zum anderen kennzeichnet er den nun folgenden epikureischen Gedanken expli-zit als solchen und schraumlnkt ihn insoweit ein als er sagt dass diese Maxime nichtimmer sondern nur in den meisten Faumlllen anwendbar sei

Mark Aurel 764 Fortssup1 ἐπὶ μέντοι τῶν πλείστων πόνων ϰαὶ τὸ τοῦ ᾿Επιϰούρου σοι βοη-ϑείτω ὅτι οὔτε ἀφόρητον οὔτε αἰώνιον ἐὰν τῶν ὅρων μνημονεύῃς ϰαὶ μὴ προσδοξάζῃςBei den meisten Formen von Ungemach moumlge dir indes schon das Wort Epikurs helfen dasses weder unertraumlglich noch unendlich ist sofern du dich an die Fakten haumlltst und nichtschon im Vorhinein schlimme Erwartungen hegst

Insgesamt koumlnnenwir in Senecas Briefen bezogen auf die Frage der Angsttherapiefolgende Entwicklung feststellen Angefangen von epist 5 (= epikureische Thera-peutik) gibt es eine Entwicklung uumlber epist 13 und 14 (Mischform) epist 24 (vor-wiegend stoische Argumentation mit epikureischer Motivation jedoch vermischtmit epikureischer avocatio) hin zu epist 98 in der eine im Kern rein stoische Ar-gumentation vorliegt die sich jedoch nach wie vor epikureischer Hilfsargumentebedient

Senecas Taktik besteht demnach nicht darin die gegnerische rsaquoFestunglsaquo mitseinen Argumenten rsaquoim Handstreichlsaquo oder uumlberhaupt in der Schlacht zu nehmenVielmehr legt er es ndash um im Bild zu bleiben ndash darauf an sie nach und nach davonzu uumlberzeugen freiwillig ihre Tore zu oumlffnen Er will eine Transformation des Le-sers aber er will sie nicht auf dem Weg der Konfrontation sondern lieber auf demPfad schleichender Integration

Auch der 105 Brief fuumlgt sich in diese Ordnung ein Zwar legt Seneca seinem Freund hiernahezudie gleichenRatschlaumlgevor die er auch schon im13 14 und 24Brief gegebenhatteDoches geht uumlberhaupt nicht um Angstvermeidung sondern um aumluszligere Sicherheit Lucilius hat ndash so

1 = Epicur fr 447 Us

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 141

die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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142 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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144 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 145

psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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146 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 21: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

140 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Auch ein Stoiker wie Mark Aurel weiszlig uumlbrigens um den praktischen Wert die-ser Formel Und fuumlr die Bestimmung von Senecas Taktik ist es hochinteressant zusehen wie sich die Einbettung dieses Gedankens bei dem Philosophenkaiser imUnterschied zu Seneca darstellt Denn zum einen laumlsst Mark Aurel die stoischeSicht eben nicht fort sondern setzt sie in guter Ordnung an den Anfang

MarkAurel 764 ᾿Επὶ μὲνπαντὸς πόνου πρόχειρον ἔστω ὅτι οὐϰ αἰσχρὸνοὐδὲ τὴνδιάνοιαντὴν ϰυβερνῶσαν χείρω ποιεῖ οὔτε γὰρ ϰαϑὸ λογιϰή ἐστιν οὔτε ϰαϑὸ ϰοινωνιϰὴ διαφϑείρειαὐτήνBei jedem Ungemach sei Dir dieses Argument griffbereit dass es nicht moralisch verwerf-lich ist und die leitende Vernunft nicht schwaumlcht Denn weder insoweit sie vernuumlnftig nochinsoweit sie gemeinschaftsbezogen ist verdirbt es sie

Zum anderen kennzeichnet er den nun folgenden epikureischen Gedanken expli-zit als solchen und schraumlnkt ihn insoweit ein als er sagt dass diese Maxime nichtimmer sondern nur in den meisten Faumlllen anwendbar sei

Mark Aurel 764 Fortssup1 ἐπὶ μέντοι τῶν πλείστων πόνων ϰαὶ τὸ τοῦ ᾿Επιϰούρου σοι βοη-ϑείτω ὅτι οὔτε ἀφόρητον οὔτε αἰώνιον ἐὰν τῶν ὅρων μνημονεύῃς ϰαὶ μὴ προσδοξάζῃςBei den meisten Formen von Ungemach moumlge dir indes schon das Wort Epikurs helfen dasses weder unertraumlglich noch unendlich ist sofern du dich an die Fakten haumlltst und nichtschon im Vorhinein schlimme Erwartungen hegst

Insgesamt koumlnnenwir in Senecas Briefen bezogen auf die Frage der Angsttherapiefolgende Entwicklung feststellen Angefangen von epist 5 (= epikureische Thera-peutik) gibt es eine Entwicklung uumlber epist 13 und 14 (Mischform) epist 24 (vor-wiegend stoische Argumentation mit epikureischer Motivation jedoch vermischtmit epikureischer avocatio) hin zu epist 98 in der eine im Kern rein stoische Ar-gumentation vorliegt die sich jedoch nach wie vor epikureischer Hilfsargumentebedient

Senecas Taktik besteht demnach nicht darin die gegnerische rsaquoFestunglsaquo mitseinen Argumenten rsaquoim Handstreichlsaquo oder uumlberhaupt in der Schlacht zu nehmenVielmehr legt er es ndash um im Bild zu bleiben ndash darauf an sie nach und nach davonzu uumlberzeugen freiwillig ihre Tore zu oumlffnen Er will eine Transformation des Le-sers aber er will sie nicht auf dem Weg der Konfrontation sondern lieber auf demPfad schleichender Integration

Auch der 105 Brief fuumlgt sich in diese Ordnung ein Zwar legt Seneca seinem Freund hiernahezudie gleichenRatschlaumlgevor die er auch schon im13 14 und 24Brief gegebenhatteDoches geht uumlberhaupt nicht um Angstvermeidung sondern um aumluszligere Sicherheit Lucilius hat ndash so

1 = Epicur fr 447 Us

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 141

die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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142 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 145

psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 22: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 141

die literarische Konstellation ndash keinen vom Affekt diktierten rsaquoHilferuflsaquo geschickt sondern sicheinzig erkundigt Quae mihi observanda sunt ut tutior vivamsup1

Das ist eine legitime Frage Fuumlr einen gefestigten Stoiker ist es durchaus erlaubt ndash und so-gar erwuumlnscht ndash sich auch um seine aumluszligere Sicherheit zu kuumlmmern ein Sicherheitsstreben ausdem Affekt der Angst hingegen ist moralisch verwerflich weil es eben nicht in der Lage ist zuerkennen wann houmlhere Werte dem Streben nach Unversehrtheit entgegenstehen

Der Brief enthaumllt darum auch keinerlei Mahnungen zu seelischer Gelassenheit Lucilius istbereits gelassen Statt dessen fasst Seneca in aller Kuumlrze (und systematischer als in den fruumlherenBriefen) die einzelnen Ratschlaumlge zusammen Lucilius darf sich in stoischer Ruhe an sie halten

Den Mitteln der Angstbekaumlmpfung nahe steht der 78 Brief ein Trostbrief fuumlr den krankenLucilius Er bietet dort (786ndash24) zunaumlchst eine lange Folge systematisch gegliederter Trostgruumlndegegen die Furcht vor dem Tod und dem Schmerz sowie gegen das Ungemach der Lusteinbuszlige (in-termissio voluptatum 786) DieArgumentation erfolgtweitgehend auf epikureischemBoden DerSchmerz ist entweder kurz oder zu ertragen (787ndash9 uouml) es ist falsch vergangene Schmerzen inder Erinnerung lebendig zu halten (praeteritos dolores retractare 7814) nuumltzlichhingegen ist dieavocatio-revocatio-Technik (7818 Illud quoque proderit ad alias cogitationes avertere animumet a dolore discedere) Doch fuumlr Letzteres verwendet Seneca ein ganz und gar unepikureischesBeispiel statt der Zuwendung zu fruumlheren oder kommenden Lustzustaumlnden schlaumlgt er naumlmlichvor Cogita quid honeste quid fortiter feceris eqs Auch durch das Briefende sichert Seneca diestoische Position und relativiert die Bedeutung der vielen gut gemeinten Ratschlaumlge durch denVerweis auf das (durch die vorigen Briefe als stoisch erwiesene) τέλος (7825) Sed omnia ista fa-cile perferemus [] tantum mortem desinamus horrere Desinemus autem si fines bonorumac malorum cognover imus

Entscheidend fuumlr die Leserlenkung ist demnach nicht wieviel epikureischesGedankengut in manchen Briefen noch enthalten ist fuumlr therapeutische Zweckesind Anleihen beim rsaquoFeindlsaquo voumllig legitim zumal es in der Praxis durchaus Uumlber-schneidungen gibt Den Ausschlag gibt vielmehr dass in den spaumlteren Briefen diestoische Sicht stets praumlsent ist ndash und zwar im Sinne ihrer Oberherrschaftsup2 Helfenaber darf Epikur gern

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez

Mit diesem Vorgehen nimmt Seneca eine Sonderstellung innerhalb der latei-nischsprachigen Philosophie ein Nicht einmal Lukrez greift in seiner epikurei-schen Therapeutik zu einer grundsaumltzlich aumlhnlichen Form der Angsttherapie wieSeneca

Die schon bei oberflaumlchlicher Lektuumlre auffallende Diskrepanz zwischen derLeserlenkung beider Autoren entsteht allerdings nicht etwa aus einer grundsaumltz-

1 Vgl 10512 Es waumlre sicher ein lohnendes Unterfangen auch die Konsolationsbriefe (63 91 99) daraufhinzu untersuchen inwieweit hier eine aumlhnliche Entwicklung stattfindet

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142 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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144 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 145

psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 23: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

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lichen Abweichung im therapeutischen Ziel Denn Keiner der roumlmischen Philo-sophen bekennt sich offener zum therapeutischen Philosophieren als Lukrez Inseinem beruumlhmten Honigbecherbild (1936ndash950)sup1 gibt er freimuumltig zu der rsaquotro-ckenen Materielsaquo (ratio tristior 943f) seines Werkes also der Darstellung der epi-kureischen Lehre den rsaquosuumlszligen Musenhoniglsaquo der Dichtung (945ndash947) beimischenzu wollen Er hofft Memmius der Adressat seines Lehrgedichtes werde ihm aufdiese Weise bereitwilliger seiner Darstellung folgen

Mit geradezu entwaffnender Offenheit gibt Lukrez seine Befuumlrchtung zu er-kennen seine Erklaumlrungen koumlnnten ohne dichterische Einkleidung seinen Adres-saten nicht genug fesseln

Lucr 1936ndash950sup2sed veluti pueris absinthia taetra medentes936cum dare conantur prius oras pocula circumcontingunt mellis dulci flavoque liquoreut puerorum aetas inprovida ludificetur939labrorum tenus interea perpotet amarumabsinthi laticem deceptaque non capiatursed potius tali facto recreata valescat942sic ego nunc quoniam haec ratio plerumque videturtristior esse quibus non est tractata retroquevolgus abhorret ab hac volui tibi suaviloquenti945carmine Pierio rationem exponere nostramet quasi musaeo dulci contingere mellesi tibi forte animum tali ratione tenere948versibus in nostris possem dum perspicis omnemnaturam rerum qua constet compta figura

Aber wie die Aumlrzte wenn sie versuchen Kindern scheuszligliche Wermuttropfen936zu verabreichen zuerst die Becher am Randmit suumlszligem gelbem Honigseim bestreichendamit das Kind in seinem unerfahrenen Alter getaumluscht werde939bis zu den Lippen und dabei die bittere Fluumlssigkeitdes Wermuts austrinkt aber nicht um so hintergangen gefangen zu werdensondern um vielmehr dadurch neu zu Kraumlften zu kommen942so wollte ich dir nun ndash weil diese Materie meist weniger ansprechendzu sein scheint fuumlr die die sich noch nicht mit ihr befasst haben und das gemeine

Volkvor ihr zuruumlckschreckt ndash mit einem lieblich klingenden945Musengedicht unsere Lehre darlegenund sie gleichsam mit suumlszligem Musenhonig bestreichenum zu sehen ob ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise948

1 Dublette in 411ndash252 Text nach der kommentierten Ausgabe von Bailey 1947

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 145

psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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146 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 24: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 143

bei unseren Versen halten koumlnnte bis du zu Ende verstanden hastmit welcher Struktur zusammengesetzt die Welt aufgebaut ist

Bemerkenswert ist an diesem Bild zweierlei Erstens unterscheidet Lukrez ganzmarkant zwischen dem Wermut als dem Traumlger der Heilkraft und dem Honig alseinemnur oberflaumlchlichenGeschmacksgeber Beide gehen keinerlei Synthese einbilden keinenneuenGeschmack DieWirkungendesHonigs undderMedizin sindstrikt getrennt Und zweitens wird der Honig der bitteren Medizin nicht einmalwirklich beigemischt sondern hat eine klar definierte und raumlumlich begrenzteKoumlderfunktion Nur an den Lippen (labrorum tenus) bekommt das Kind den suuml-szligen Geschmack zu spuumlren wirklich schlucken wird es aber ndash so hofft man ndash nurden bitteren Trank (ut [] perpotet amarum absinthi laticem)

Was bedeutet das wennmandasBild zuruumlckuumlbersetzt Fuumlr den erstenAspektgibt Lukrez bereits Hinweise zur Deutung an die Hand Denn an beiden Stellenwo im Auslegungsteil (ab 943) das Bild der Suumlszlige wieder aufscheint ist es verbun-den mit Begriffen die die Sphaumlre der Dichtung bezeichnen (945f suaviloquenticarmine 947 musaeo dulci melle) Das heiszligt Der Honig steht allein fuumlr die Ein-kleidung des philosophischen Inhalts (ratio)sup1 inGedichtform verbundenmit demdazugehoumlrigen poetischen Schmuck Nirgends aber ist die Rede davon etwa diesuumlszligen Seiten des Inhalts herauszuarbeiten Wermut bleibt Wermut ndash und der isteben bitter

Nicht ganz so einfach verhaumllt es sichmit der zweiten Beobachtung Genau ge-nommen scheint Lukrezrsquo Bild eine zeitliche Abfolge zu intendieren Erst schmecktdas Kind den Honig dann schluckt es die Medizin Doch Lukrez verwendet denpoetischen Schmuck nicht nur zu Beginn oder beschraumlnkt etwa seinen Gebrauchim Laufe der Zeit Der poetische Honig versuumlszligt fortwaumlhrend ndash mal in staumlrkerermal in schwaumlcherer Konzentration ndash die philosophische Lektuumlre schlieszliglich hater die Funktion den Leser rsaquobei der Stange zu haltenlsaquo (948 animum tenere)

Ist die Honigmetapher demnach ein schiefes Bild Ich glaube nicht Jeden-falls zeigt sich bei naumlherem Hinsehen dass Lukrez gar keine zeitliche Abfolge ab-bildenwollte Vielmehr beschreibt er sowohl imBild (940f interea perpotet) alsauch in der Deutung (949 dum perspicis) parallel ablaufende Prozesse solangeder Wermut geschluckt werden muss soll der Honiggeschmack seine Bitterkeitabmildern Doch zugleich gilt auch nur solange der Wermut noumltig ist ist auchder Honig erlaubt Darauf weist die gemeinsame Vorsilbe der Taumltigkeiten in Bildund Deutung (per-potare per-spicere) Ist einmal die Therapie durch raquoDoctorLucretiuslaquosup2 abgeschlossen bedarf es keines Honigs mehr

1 943 und 9462 Gale Lucretius and the Didactic Epic 26

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144 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 145

psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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146 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 25: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

144 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Eine zeitliche Abfolge waumlre demnach mehr in der Abfolge von Buchlektuumlreund ihrem Ende zu sehen Will man den klugen Beobachtungen Gales folgendann ist Lukrezrsquo Memmius (genau wie Senecas Lucilius) eine Figur die von ih-rer gesellschaftlichen Stellung und den spaumlrlichen Zeugnissen ihrer Biographieaus nur wenig praumldestiniert scheint zur rechten philosophischen Lehre bekehrtwerden zu wollen die aber in houmlchstem Grade geeignet ist

to mediate between us and the praeceptor to give the teacher a pupil with whom we canidentify whose errors we can be warned to avoid and whose progress we can be invited toemulatesup1

Offensichtlich hat nun Lukrez sein Werk darauf angelegt den Leser im Laufeder Lektuumlre zu befaumlhigen beunruhigende Naturerscheinungen aus eigener Kraftaufzuklaumlrensup2 Gale verweist auf Passagen wie 6535ndash542 in denen Lukrez seinenAdressaten zusehends ermuntert selbst nach Loumlsungen fuumlr ungeklaumlrte physi-kalische Phaumlnomene zu suchen Das bedeutet Sowohl Medizinbecher als auchHonigrand haumltten sich am Ende des Werks uumlberfluumlssig gemacht der Patient istgesund

Wie manifestiert sich nun das was Lukrez als Programm verkuumlndet in seinemWerk Schon der Venushymnus zu Beginn des Werks darf als Konzession an denund als Werbung um den literarisch gebildeten Leser aufgefasst werdensup3

Auch in der Vielzahl der poetischen Bilder und Digressionen kann man pro-blemlos literarischen rsaquoHoniglsaquo sehen Mit der Gestalt des Memmius hat Lukrez zu-saumltzlich einen Kristallisationskern fuumlr die sich entwickelnde Meinung des Lesersgeschaffen Denn er gestaltet seine Ansprachen an Memmius so dass diese sichimmer als Surrogat fuumlr den internen Leser anbieten Im Laufe der ersten beidenBuumlcher des Lehrgedichts werden beispielsweise die skeptischen Einwaumlnde im Na-men des Memmius immer seltener bis sie ganz und gar durch anonyme Stim-men von rsaquoirgendwelchen Leutenlsaquo ersetzt werden⁴ Mit anderen Worten Der Wi-derspruch gegen die Lehre Epikurs verlagert sich in der Person desMemmius (Du-Anrede) weg von der Sphaumlre des Lesers und hin zur Sphaumlre aumluszligerer Gegner Die

1 Gale Lucretius and the Didactic Epic 232 Vgl ebd 23f raquoA careful reading shows that the pupil (both Memmius and the reader-in-general if we are ready and willing to accept the role in which the poem casts us) does makegradual progress over the course of the six books and by the end of the poem should ideally beready for further study on his or her ownlaquo3 Vgl ebd 34 raquoTo use Lucretiusrsquo own image the opening invocation is the rsaquohoney on the cuplsaquowhich seduces us into swallowing the bitter medicine of Epicurean truthlaquo4 Auch hierzu ebd 23f

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 145

psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 26: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 145

psychagogische Zielsetzung dieser Taktik liegt auf der Hand Durch die allmaumlhli-che Externalisierung von Einwaumlnden die der Leser fruumlher vielleicht selbst einmalgehegt hat soll er sich allmaumlhlich von ihnen distanzieren und sich zugleich zuminneren Kreis also zur Lehre Epikurs zugehoumlrig fuumlhlen

Ob daswirklichgelingt ist eine andere Frage Dochweder mit dieser nochmitanderen Technikensup1 schlaumlgt Lukrez den Weg ein die eigentliche (also in diesemFalle epikureische) Wahrheit zuruumlckzuhalten oder zu verunklaren

Hierin liegt der Hauptunterschied zu Seneca Lukrez schert sich herzlich we-nig um die Vormeinungen des Lesers Dabei haumltte er ndash taktisch gesehen ndash allenGrund ihn bei Laune zu halten Denn aus rsaquoMarktforscherperspektivelsaquo betrachtethat der Epikureismus in der Guumlterfrage auf jeden Fall eine groumlszligere Affinitaumlt zu derMeinungderMenge zumindest behauptet das die Polemik dermit ihmkonkurrie-renden philosophischen Richtungen die offenbar eine Erklaumlrung fuumlr seine Anzie-hungskraft auf die Massen suchten und ihn deshalb gern in die Ecke der unreflek-tierten Volksmeinungsup2 mit anderen Worten in die Naumlhe der Nicht-Philosophieund der einfachen Alltagsauffassung ruumlcktensup3

Auch wenn der Epikureismus verstaumlndlicherweise eine andere Meinung da-zu hat Aus taktischer Perspektive haumltte es nahe gelegen dass sich seine Vertreterebendiese (und sei es nur scheinbare)Naumlhe zunutzemachten DochdasGegenteilist der Fall Wie Epikur selbst⁴ sieht sich auch sein roumlmischer Bewunderer Lukrezeher als Aufklaumlrer der verblendeten Welt und sucht von Beginn an die Konfronta-tion mit dem common sense Unmittelbar schon nach dem Venus-Prooumlmium gehter ndash verknuumlpft mit einem uumlberschwaumlnglichen Lob Epikurs ndash scharf auf Distanzzum traditionellen Goumltterglauben

1 Aufgefuumlhrt ebd 24ndash272 Zum Beispiel bei Cic fin 249 Philosophus nobilis a quo non solum Graecia et Italia sed etiamomnis barbaria commota est honestum quid sit si id non sit in voluptate negat se intellegere n i -s i for te i l lud quod mult i tudinis rumore laudetur vgl auch Cic Tusc 45 (die Mengersaquofliegelsaquo auf Epikurs durch Amafiniusrsquo verbreitete Lehre vielleicht weil sie so leicht zu verstehensei) und bereits oben S 54 ferner die einschlaumlgigen Passagen aus De vita beata oben S 553 Mit diesem Argument erlaubt sich Cicero in De finibus (113) die Darstellung der epikureischenLehre an den Anfang zu setzen Ut autem a faci l l imis ordiamur prima veniat in mediumEpicuri ratio quae pler isque notiss ima est4 DerMenoikeusbrief eroumlffnet nachder Einleitungmit eben diesemThema undEpikur geht dortso weit die Volksreligion als rsaquofrevelhaftlsaquo (ἀσεβής) zu bezeichnen (DiogLaert 10123) [] ϑεοὶμὲν γὰρ εἰσίν ἐναργὴςγὰρ αὐτῶνἐστινἡ γνῶσις οἵουςδrsquo αὐτοὺς langοἱrang πολλοὶ νομίζουσιν οὐϰ εἰσίνοὐ γὰρ φυλάττουσιν αὐτοὺς οἵους νομίζουσιν ἀσεβὴς δὲ οὐχ ὁ τοὺς τῶν πολλῶν ϑεούς ἀναιρῶνἀλλrsquo ὁ τὰς τῶν πολλῶν δόξας ϑεοῖς προσάπτων

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Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 27: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

146 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Lucr 150ndash5154ndash55Humana ante oculos foede cum vita iaceret50in terris oppressa gravi sub rel ig ione[]primum Graius homo mortalis tollere contra54est oculos ausus primusque obsistere contra eqs

Als das Leben der Menschen weit umhinsup1 schmachvol l50zu Boden gestreckt darnieder lag unterjocht vom schwer lastenden Goumltter-

glauben[]wagte erstmals ein griechischer Sterblicher die Augen dagegen54zu erheben und als erster dagegen Widerstand zu leisten usw

Ganz gleich ob Lukrez mit dieser Problemstellung noch den Nerv seiner Zeittrifftsup2 es steckt in jedem Falle nicht der Wunsch nach Integration dahinter nichtder Versuch den Leser behutsam bei dessen Positionen abzuholen Ganz imGegenteil Lukrez blaumlst von Beginn an zum Angriff

Indem er dann im Anschluss an die Passage mit dem Lob Epikurs die im Na-men der Religion begangenen Verbrechen schildert ndash er beruft sich hierbei exem-plarisch auf das Beispiel der Opferung Iphigenies (184ff) ndash gieszligt er zusaumltzlich Oumllins Feuer Doch das tut er wie ich meine nicht ohne Bedacht Denn er nutzt daserzeugte Pathos sogleich aus um die Argumentation auf ein generalisierendesNiveau zu hebensup3 und den Leser daruumlber zu belehren was der Grund fuumlr den Irr-

1 Bailey ad loc rsaquoso that all might seelsaquo das mag auch hier die Bedeutung von ante oculos seinAllerdings legt gerade das von ihm als engste Parallelstelle angefuumlhrte Beispiel 3995 (Sisyphusin vita quoque nobis ante oculos est) nahe dass erst der Kontext explizit oder implizit festlegtvor wessen Augen man sich das jeweilige Geschehen zu denken hat Es waumlre an dieser Stel-le denkbar dass ante oculos praumlgnant nicht die Augen aller bezeichnet (zumal es nach LukrezrsquoWeltsicht kaum so gewesen sein kann dass die Mehrheit der Menschheit gemerkt haumltte in wasfuumlr einem hoffnungslosen Zustand sie sich befand) sondern die Epikurs ndash so dass dieser sich umdas gekuumlmmert haumltte was ihm vor Augen lag2 Zumindest in der roumlmischen Oberschicht hatte laumlngst ein Entfremdungsprozess von der tradi-tionellen Religion eingesetzt Inwieweit Lukrez das bewusst war oder ob er in seinem Impetuseinfach Epikur folgte auf dessen Zeit ein solcher Angriff wesentlich besser passt koumlnnen wirheute nicht mehr ermessen Seneca jedenfalls findet gute 100 Jahre spaumlter solche rsaquoAngstbefrei-ungsversuchelsaquo laumlcherlich (epist 2418) Non sum tam ineptus ut Epicuream cantilenam hoc locopersequar et dicam vanos esse inferorum metus [] nemo tam puer est ut Cerberum timeat ettenebras et larvalem habitum nudis ossibus cohaerentium3 Sehr deutlich zieht Lukrez aus dem speziellen Iphigenie-Fall die allgemeine Lehre (1101) tan-tum religio potuit suadere malorum ab dort verbleibt er auf dem erreichten Abstraktionsnniveau

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 28: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 147

glauben der gewoumlhnlichen Menschen ist naumlmlich die Unkenntnis uumlber die wahreBeschaffenheit der Seele

Lucr 1112ndash115ignoratur enim quae sit natura animai112nata sit an contra nascentibus insinueturet simul intereat nobiscummorte diremptaan tenebras Orci visat eqs

Man verkennt naumlmlich die Beschaffenheit der Seele112ob sie geboren ist oder aber ob sie sich unter der Geburt bei uns einnistetund zugleich mit uns durch den Tod getrennt zugrunde gehtoder ob sie in die Dunkelheit des Orcus geht usw

Lukrez hat damit noch nicht gesagt dass die Beschaffenheit der Seele atomar istdoch genau auf diesen Punkt steuert er zu die Frage der Seelenbeschaffenheit istnur der Ausgangspunkt fuumlr die Notwendigkeit den Weltaufbau zu klaumlren In ei-ner Passage deren urspruumlngliche Anordnung im Text zwar strittig deren Inhaltjedoch spaumltestens mit den copora genitalia in 1167 vorausgesetzt ist uumlberfaumlllt Lu-krez seinen Leser geradezu ndash herausgehoben durch die Beschwoumlrung jetzt nichtdurch Unaufmerksamkeit das Wichtigste zu verpassensup1 ndash mit der apriorischenFeststellung dass alles aus den rsaquoAnfangsteilchenlsaquo entstehe

Lucr 1 [54ndash61]nam tibi de summa caeli ratione deumque54disserere incipiam et rerum primordia pandamunde omnis natura creet res auctet alatquequove eadem rursum natura perempta resolvat57quae nos mater iem et geni tal ia corpora rebusreddunda in ratione vocare et semina rerumappellare suemus et haec eadem usurpare60corpora prima quod ex illis sunt omnia primis

Denn ich will beginnen dich uumlber die letzte Ursache des Himmels und der Goumltteraufzuklaumlren54

und will die Ausgangstei lchen der Dinge aufdeckenaus denen die Natur alle Dinge schafft wachsen laumlsst und naumlhrt

Es liegt also nicht nur ein Triumph in dieser Aussage (gegen Mewaldt Der Kampf gegen die Re-ligion 8) vielmehr moumlchte Lukrez nachhaltig Kapital aus dem abscheulichen Fall schlagen1 150ndash53 die Einbettung dieser Verse in den Text ist umstritten Bailey The Mind of Lucretiusnimmt mit Lachmann eine Luumlcke vor ihnen an Martin versetzt die Verse in seiner Ausgabe (mitVerweis auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Lukrez und Cicero) nicht unbedingt uumlberzeu-gend hinter 135

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148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 29: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

148 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

und in sie dieselbe Natur im Zersetzungsprozess wieder aufloumlst57und welche wir als Urstoff erzeugende Teilchen fuumlr die Dingesowie als Samen der Dinge zu bezeichnen pflegen in unserer Beschreibungund von denen wir sagen dass die ersten Tei lchen diese Formen einnehmen60weil aus ihnen als den Grundlegendsten alle Dinge gemacht sind

Weicht schon das unverbluumlmte Zugehen auf die zentralen Grundfesten der eige-nenLehreganzundgar vonder bei SenecabeobachtetenLinie ab so ist bei Lukreznoch etwas anderes bemerkenswert die ungewoumlhnliche Dichte der Begriffe dieTraumlger seiner Lehre sind (Auszeichnungen im Text) Waumlhrend Seneca regelrechteinen Bogen darum macht die Dinge ndash aus stoischer Sicht ndash beim rechten Na-men zu nennen scheut sich Lukrez nicht nur nicht davor sondern waumlhlt genauden umgekehrten Weg Er rsaquotrichtertlsaquo seinem Leser die Botschaft foumlrmlich ein dieArgumentation wird zur Agitation

Diese Methode der Leserbeeinflussung laumlsst sich permanent bei Lukrez be-obachten Und sie ereignet sich nicht nur auf Wortebene sondern spiegelt sichauch im Aufbau seiner Beweisreihen Es ist laumlngst darauf hingewiesen wordendass Lukrez einen gewissen Hang hat seine Argumentationen mit langen Kettenvon Bildern und Beispielen abzuschlieszligensup1 In diesen wiederum wendet er eineVielzahl von suggestiven Techniken an wie die Argumenthaumlufung (zB bei den 29Beweisen fuumlr die Vergaumlnglichkeit der Seele im 3 Buch)sup2

Dafuumlr mag gewiss auch die persoumlnliche Affinitaumlt des Autors verantwortlichsein Doch die Vorliebe fuumlr einen solchen Kompositionsstil erklaumlrt sich weit weni-ger aus dessen ornamentaler Wirkung als aus seiner funktionalen BestimmungEs geht darum auf einer auszliger-rationalen Ebenen allein schon durch die Massezu uumlberzeugen Neben einem technischen KO strebt Lukrez wenn man so willeinen Sieg uumlber die gegnerischen Meinungen auch nach Punkten an

Dass er jedenfalls den Adressaten im Kampf zu uumlberzeugen sucht ist mehrals offensichtlich Beispielsweise schiebt er nachdem er das erste physikalischeHauptprinzip in beiden Fassungen (nihil e nihilosup3 und nihil ad nihilum⁴) mit insge-samt 10 Beweisen eingefuumlhrt hat vor dem Nachweis der Existenz des Leeren (ab1265 Nunc age) einen Gedanken ein der ndash ungeachtet des gerade erst beendetenArgumentationsfeuerwerks ndash nur zu deutlich verraumlt dass Lukrez befuumlrchtet sein

1 Vgl bereits Bailey The Mind of Lucretius2 Die beste Uumlbersicht zu Lukrez bei Erler Lukrez (Ueberweg) zu seinen Uumlberzeugungsmittelnebd 410ndash414 sowie 441ndash4483 Vgl 1149ff4 Vgl 215ff

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32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 30: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

32 Epikureische Therapie der Angst bei Lukrez | 149

Adressat koumlnne aufgrund fehlender Evidenz derWahrnehmung immer nochnichtan die Existenz der Atome glauben

Lucr 1265ndash270Nunc age res quoniam docui non posse creari265de nihilo neque item genitas ad nil revocarine qua forte tamen coeptes di ffidere dict isquod nequeunt oculis rerum primordia cerni268accipe praeterea quae corpora tute necessestconfiteare esse in rebus nec posse videri

Wohlan da ich gezeigt habe dass keine Dinge aus dem Nichts entstehen265und ebensowenig wenn sie einmal da sind ins Nichts zuruumlckgerufen werden koumln-

nenvernimm ndash damit du nicht doch irgendwie anfaumlngst meinen Worten

keinen Glauben zu schenkenweil die Ausgangsteilchen fuumlr die Dinge nicht mit den Augen gesehen werden koumln-

nen ndash268welche Koumlrper noch auszligerdemsup1 existieren und doch nicht gesehen werden koumlnnen

Bezeichnend ist die Formulierung rsaquowie du zugeben musstlsaquo (necessest confiteare)offenbart sie dochworauf es Lukrez anlegt ndash er will seinen Gegenuumlber in die Engetreiben Es geht ihm nicht um behutsames Uumlberzeugen Er will die schnelle Kapi-tulation Groumlszliger koumlnnte die Differenz zu Seneca kaum sein

Lukrezrsquo Siegeswunsch ist so fix und starr dass er bisweilen in autoritaumlren For-mulierungen kulminiert In der folgenden ndash dem Abschluss des soeben angespro-chenen Wind-Atom-Beweises entstammenden ndash Stelle ist das raquoBastalaquo des Autorsfast nicht mehr zu uumlberhoumlren

Lucr 1295ndash297quare et iam atque et iam sunt venti corpora caeca295quandoquidem factis et moribus aemula magnisamnibus inveniuntur aperto corpore qui sunt

Deshalb sind ndash ein fuumlr al lemal ndash die Winde unsichtbare Koumlrper295da sie doch in nach ihren Wirkungen und ihrem Verhalten den groszligenStroumlmen nacheifern die ganz offenbar koumlrperlich sind

Angstbekaumlmpfungfindet bei Lukrez also nicht statt indemdie BefuumlrchtungendesGegenuumlbers zunaumlchst ernstgenommen und erst spaumlter ndash in einem zweiten und

1 praeterea gehoumlrt nicht zu accipe sondern zu esse ich habe das auch im lat Text durch dieKommasetzung versucht anzuzeigen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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150 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

dritten Schritt ndash entkraumlftet werden sondern indem die der Angst zugrundeliegen-de falsche Meinung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird Diesem Kurs bleibt Lu-krez im ganzen Verlauf von De rerum natura treu

33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo

331 Die Lehre von der Zustimmung zum Affekt (assensio)

Seneca unterscheidet sich nicht nur darin diametral von Lukrez dass er die offe-ne Konfrontation mit dem Leser weitestgehend vermeidet Im Gegensatz zu demEpikurjuumlnger hat er auch nicht den Anspruch das eigene philosophische Systemwenigstens in denGrundzuumlgen vollstaumlndig darzustellen Ichmoumlchte das an einemKernsatz der stoischen Lehre belegen

Die im eigentlichen Sinne stoische Therapie der Affekte steht und faumlllt mitder Anerkennung des stoischen Affektmodells In dessen Zentrum steht dieLehre von der Zustimmung (συγϰατάϑεσις assensio) des vernuumlnftigen Seelen-prinzips (ἡγεμονιϰόν) zu den Wertungen durch die primaumlren Affektregungen(προπάϑειαι) Diese ersten Affektregungen entstehen rein rezeptiv und ohne un-ser Zutun Stimmt man ihnen aber zu dann koumlnnen die nun zugelassenen Affektedie Herrschaft uumlber den leitenden Seelenteil uumlbernehmen und zu irrationalenHandlungen fuumlhren

Wenn nun Lucilius einen Leser repraumlsentiert der diese Voraussetzungen zuBeginn der Briefe noch nicht teilt dann stellt sich die Frage wann in welchenEtappen und in welcher Form Seneca ihn mit dieser Lehre konfrontiert Wir wer-den sehen dass er auch hier sehr geschickt und unverbindlich vorgeht

Zum allerersten Mal laumlsst Seneca im bereits besprochenen 13 Brief die assen-sio-Lehre anklingen Er waumlhlt aber Formulierungen die nicht zwingend stoischsondern auch in ganz alltaumlglichem Sinne aufgefasst werden koumlnnen nur ein be-reits vorgebildeter Leser wird merken wie Seneca nach und nach Elemente undtypische Formulierungen der stoischen Affektenlehre rsaquoeinschmuggeltlsaquo

1) 135 Postea videbimus utrum istasup1 suis viribus valeant an inbecillitate nostraSpaumlter werden wir sehen ob diese Dingesup1 aus eigener Qualitaumlt heraus Machthaben oder nur aufgrund unserer eigenen Schwaumlche

2) 138 Ita est mi Lucili cito accedimus opinioni non coarguimus illa quaenos in metum adducunt nec excutimus

1 Gemeint sind alle Verursacher von Angst

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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154 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 151

So ist es mein lieber Lucilius Wir pfl ichten unserer Meinung (allzu)schnell bei wir unterziehen das was uns Angst macht keiner gruumlndlichenPruumlfung

3) 1313Nemo enim resistit sibi cum coepit inpel l i nec timorem suum redigitad verum nemo dicit rsaquovanus auctor est vanus [est]sup1 aut finxit aut crediditlsaquoDenn keiner schreitet gegen sich selbst ein wenn er vom Affektimpulserfasst wird und misst seine Furcht an den wahren Umstaumlnden niemandsagt raquoSie ist ein unzuverlaumlssiger Ratgeber vollkommen unzuverlaumlssig Ent-weder hat sie ihren Gegenstand erfunden oder (leichtfertig) an ihn geglaubtlaquo

Das hier verwendete Vokabular scheint zum Teil wie eine woumlrtliche Uumlbersetzungder griechischen Fachtermini und enthaumllt spuumlrbare Anklaumlnge an die Erklaumlrungder Zornentstehung zu Beginn des zweiten Buches vonDe ira (opinio = φαντασίαopinioni accedere = opinioni assentiri = συγϰατατίϑεσϑαιsup2 impelli bzw impulsus =ϰινεῖσϑαι bzw ϰίνησις)sup3 doch insgesamt haumllt Seneca das Thema an dieser Stelleinhaltlich und begrifflich auf recht niedrigem Niveau Die Frage nach der assen-sio beispielsweise bezieht Seneca an dieser Stelle nur konkret auf die Angst vorkuumlnftigem Unheil und bringt sie nicht grundsaumltzlich ins Spiel Die grundsaumltzlicheEntstehung eines Affekts kommt gar nicht ins Blickfeld Auch das rsaquoEinschleusenlsaquovon Woumlrtern die in anderen Texten Teil der philosophischen Terminologie sinddarf nicht daruumlber hinwegtaumluschen dass alle diese Aumluszligerungen in diesem Kon-text zwar fachphilosophisch gelesen werden koumlnnen ndash nicht abermuumlssen

1 Berechtigte Tilgung von Reynolds2 ira 213 Iram quin species oblata iniuriae moveat non est dubium sed utrum speciem ipsam sta-tim sequatur et non accedente animo excurrat an i l lo adsentiente moveatur quaerimusNobis placet nihil illam per se audere sed animo adprobante vgl auch ira 233 numquamautem impetus sine adsensu mentis est Uumlbrigens ist auch hier zu merken wie sehr Senecadurch Abwechslung der Vokabeln bemuumlht ist den Anschein von Schulmeistertum und Termi-nologiepedanterie zu vermeiden Es waumlre lohnenswert zu untersuchen inwiefern die Eigenartvon Senecas Ausdruck und Stil in allen seinen Schriften eben auch aus seinem Bestreben erklaumlrtwerden muss die urspruumlnglich recht trocken und eintoumlnig-terminologisch gefasste stoische Leh-re aus ihrem Elfenbeinturm herab in die alltaumlgliche Lebenswelt der Leser zu holen3 ira 231Nihil ex his quae animum fortuito inpel lunt adfectus vocari debet Seneca verwendetin der genannten Passage (ira 21ndash4) zahlreiche Umschreibungen fuumlr die Erregung eines Affektes(wobei Seneca die selben Vokabeln sowohl fuumlr die erste nicht rational kontrollierte Regung dieπροπάϑεια verwendet als auch fuumlr den spaumlteren Impuls nach der Zustimmung durch die ratio)naumlmlich (in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens) movere und motus (mehr als 10x) impetus(6x) concitare und concitatio (3x) tangere (1x) ictus (2x) subire (1x) instigare (1x) suscitare (1x)impellere (1x) pulsus (1x) agitatio (1x) incutere (1x)

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152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Page 33: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 3. Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektüre

152 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber spaumlter im 113 Brief sowohl in sprachli-cher als auch inhaltlicher Hinsicht Seneca ist dabei Argumente gegen die Thesezusammenzustellen die virtus sei einanimal Ein Beweis unter vielen bedient sichder assensio-Lehre

11318 Omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est deindeadsensio confirmavit hunc impetum ( ) Haec adsensio in virtute non est

Jedes vernunftbegabte Wesen tut erst dann etwas wenn es zunaumlchst durch den Eindruckeines Sachverhaltes dazu angeregt worden ist und wenn zweitens die innere Zustimmungdiese Regung bestaumltigt hat ( ) Diese Zustimmung gibt es bei der virtus nicht

Die Beweisfuumlhrung ist nicht komplex aber voraussetzungsreich Seneca argu-mentiert auf deutlich houmlherem terminologischen Niveau einige Wendungen las-sen sich nicht ohne theoretische Vorkenntnisse (wie sie etwa die oben genanntePassage aus De ira vermittelt) verstehen Ohne Erlaumluterung spricht Seneca vonspecies alicuius rei inritari adsensio und impetum confirmare) Alles was hinterdiesen Begriffen steckt muss Lucilius an dieser Stelle bereits wissen dass derAusgangspunkt jedes Affektes ein (rezeptiv erlangter) Eindruck (species) ist ausdem ndash immer noch rezeptiv ndash eine erste Handlungsregung entsteht (inritari im-petus) und dass die Zustimmung (adsensio) zu dieser Regung zu einem ndash nunwillentlich herbeigefuumlhrten ndash zweiten Handlungsimpuls fuumlhrt (hunc impetumconfirmare) Nur wenn er mit diesen Theorieelementen vertraut ist kann er derBeweisfuumlhrung folgen

Daraus ergibt sich aber die Frage Wann und wodurch hat rsaquoLuciliuslsaquo dieseKenntnisse erworbenWie fuumlhrt Seneca in denBriefen dieAffekt- und Handlungs-theorie ein Die Antwort ist erstaunlich Seneca fuumlhrt sie gar nicht ein es existiertin den Briefen keine weitere Erwaumlhnung oder auch nur Andeutung der assensio-Lehre

Wie ist das zu erklaumlren Sicher sind nicht verlorene Briefe fuumlr diesen Befundverantwortlich zu machen Es ist vielmehr verfehlt wenn wir von Seneca Voll-staumlndigkeit erwarten Seneca wollte in den Briefen gar keinen philosophischenrsaquoLehrganglsaquo kein rsaquoCurriculumlsaquo oAumlsup1 anbieten Das war offenbar nicht das Ziel derEpistulae morales Sie sind von vornherein als nicht systematisch darstellendes

1 Gegen Hachmann Leserfuumlhrung zB 14 raquocursus philosophicuslaquo 118 raquoverdeckte Systema-tiklaquo raquoHauptcurriculumlaquo vgl Wildberger Theory of Cognition 82 (raquoOrganonlaquo) Auch HadotSeelenleitung scheint die Briefe als Lehrwerk zu verstehen Zwar weist sie deutlich darauf hindass es einen raquophilosophischen auszligerhalb des Briefwechsels stattfindenden Lehrgang[ ]laquo ge-geben haben muss (54) doch spricht sie andererseits ohne weiteres vom raquoLehrplan der Briefelaquo(54) oder davon dass Seneca anhand der Epikursentenzen in den ersten Briefen raquodie stoischenGrunddogmen entwickeltlaquo (55)

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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156 | 3 Die Epistulae morales als therapeutisch angelegte Lektuumlre

Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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33 Die Briefe sind kein rsaquoPhilosophiekurslsaquo | 153

oder gar Vollstaumlndigkeit beanspruchendes Werk konzipiert (dafuumlr koumlnnte Sene-ca dieMoralis philosophia geschrieben haben)sup1 Ganz im Gegenteil duumlrfen wir dieBriefform als Kunstmittel begreifen die es Seneca ermoumlglicht viele Dinge nichterklaumlren zu muumlssen weil sie sich rsaquoLuciliuslsaquo waumlhrend der Zeit des rsaquoBriefwechselslsaquosup2selbst aneignete und selbst aneignen konnte Das ist die natuumlrlichste Erklaumlrung

Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich ob man wirklich sagen kannSenecas Briefe seien ndash parallel etwa zur Praxis in der Schule Epikurs oder in derUnterweisung Epiktets ndash deduktiv angelegtsup3

332 Weitere Gesichtspunkte

Es gaumlbe viele weitere Elemente der stoischen Lehre an denen sich dieser Befundbestaumltigen lieszlige⁴ Ich will nur noch ein Beispiel herausgreifen Im 45 Brief gei-szligelt Seneca zum ersten Mal die Sinnlosigkeit der stoischen cavillationes (455)⁵In seiner refutatio legt er Lucilius ua auch diesen Gedanken vor

458 Ceterum qui interrogatur an cornua habeat non est tam stultus ut frontem suam temp-tet nec rursus tam ineptus aut hebes ut nesciat langsirang⁶ tu illi subtilissima collectione persuaseris

Ferner ist der der gefragt wird ob er Houmlrner habe nicht so dumm dass er seine Stirn be-fuumlhlt und andererseits auch nicht derart toumlricht und stumpfsinnig dass er es nicht weiszligwenn du ihm das mit deiner uumlberaus spitzfindigen Beweiskette weismachen willst

1 Vgl epist 1062 1082 10917 Auf den deutlichen Unterschied in der Zielsetzung beider Schrif-ten weist auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 140 hin2 Nach dem was ich oben (Kapitel 132 ab S 35) dargelegt habe ist hierin eingeschlossen dassdie Briefe fuumlr eine breite Leserschaft verfasst worden sind und dass daher der rsaquoBriefwechsellsaquo inder Realitaumlt auch eine einfache rsaquoBettlektuumlrelsaquo sein konnte3 Hadot Seelenleitung 56 raquo koumlnnen wir nicht mit Sicherheit feststellen ob Epiktet in derArt Epikurs und Senecas den Unterricht von den Grunddogmen zum Detai lwissen fort-schreiten lieszliglaquo meine Hervorhebung) vgl auch ebd 54 raquoDiese [ deduktive ndash (Anm UD) ] Methode[ ebd 54Anm 83 verweist sogar auf DeWittsHerleitung derMethodeEpikurs aus dermathema-tischenMethodeEuklids ndash (AnmUD) ] ist keineswegs auf die SchuleEpikurs beschraumlnkt gebliebenSie liegt dem Lehrplan der Briefe des Stoikers Seneca ebenso zugrunde wie der Lehrpraxis desEpiktet laquo4 ZB die Vorkenntnis zur οἰϰείωσις-Lehre die der 121 Brief offenbar voraussetzt oder die Be-handlung des providentia-Themas (vgl zB epist 1646 gegen 10157 und 11619)5 S bereits oben Kapitel 1426 Ich folge hier der auf Schweighaumluser zuruumlckgehenden Lesart Preacutechacs Reynolds folgtstattdessen Lindes Ergaumlnzung nisi

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Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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34 Zusammenfassung | 155

Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Der Hintergrund dieser Aussage ist der so genannte Houmlrnerschluss der auf denMegariker Eubulides zuruumlckgeht (DiogLaert 2108)sup1 Er lautet in der vollstaumlndi-gen Version raquoWas du nicht verloren hast das hast du Houmlrner hast du aber nichtverloren also hast du Houmlrnerlaquosup2 Diesen Syllogismus zitiert Seneca im 49 Brief(498) und damit immerhin erst vier Briefe nach der ersten Anspielung auf ihn Dienebuloumlse Andeutung im 45 Brief muss jedoch fuumlr denjenigen der davon noch niegehoumlrt hat ziemlich raumltselhaft erscheinensup3

Das bedeutet Der Sinn der Erwaumlhnung im 45 Brief erschlieszligt sich nicht vonselbst Lucilius braucht eigene Vorkenntnisse um sie zu verstehen und dem Ge-danken des Briefes folgen zu koumlnnen Wenn das aber so ist dann heiszligt das dassSeneca zwar einerseits rsaquoLuciliuslsaquo vordergruumlndig von der Beschaumlftigung mit derstoischenDialektik abraumlt ihnaber auf der anderenSeite indirektndashdurchdieBrief-konstellation ndash dazu animiert sich mit dieser Materie zu befassen

In dieselbe Richtung weist die Beobachtung dass sich sehr viele spaumlte Brie-fe als Antwortschreiben auf Fragen von Lucilius ausgeben und zwar in der Artdass sie auf Stoffe und Themen Bezug nehmen die Seneca nie selbst vorgestellt(geschweige denn rsaquobeigebrachtlsaquo) hat Besonders deutlich wird das in den Brie-fen die dem Typ der rsaquowissenschaftlichen Abhandlunglsaquo folgen (unten Kapitel 521ab S 263) Indirekt geht von diesen Spiegelungen der Fragen die Lucilius ndash derBrieffiktion nach ndash gestellt hat eine Aufforderung an den Leser aus sich philo-sophisch weiterzubilden ndash wenn er nicht in Kauf nehmen moumlchte hinter seinerIdentifikationsfigur Lucilius zuruumlckzubleiben

Auch im Niveau auf dem Seneca philosophische Themen anschneidet koumln-nen wir ein Einfordern von Fortschritten in der philosophischen Kompetenz desLesers sehen In beiden Faumlllen aumlhnelt Senecas Vorgehen weniger einer Unterwei-sung als einer Reflexion uumlber solche Unterweisungen Haumlufig erfuumlllen SenecasBriefe also weniger die Funktion des Lehrens als die einer indirekten rsaquoLernziel-kontrollelsaquo Die Briefe sind demnach kein philosophisches Curriculum Ihnen fehltdas Bestreben wichtige stoische Lehrinhalte halbwegs vollstaumlndig zu vermitteln

1 An anderer Stelle (7187 = SVF 2279) schreibt ihn Diogenes Laertius Chrysipp zu2 rsaquoQuod non perdidisti habes cornua autem non perdidisti cornua ergo habeslsaquo (epist 498)die Chrysipp zugeschriebene Fassung (s vorige Anm) lautete Εἴ τι οὐϰ ἀπέβαλες τοῦτο ἔχειςϰέρατα δὲ οὐϰ ἀπέβαλες ϰέρατrsquo ἄρα ἔχεις3 Vgl bereits oben S 61 mit Anm 2 man darf wohl davon ausgehen dass die Widerlegung desrsaquoGehoumlrntenlsaquo nichtzu den Elementen der stoischen Lehre zaumlhlte die ndash wie etwa die VorstellungvomWeltenbrand (ἐϰπύρωσις) (s oben S 44) ndash aufgrund ihres hohen allgemeinen Bekanntheits-grades ohne Einarbeitung in die Lehre verfuumlgbar waren Das wird auch dadurch gestuumltzt dassSeneca nicht irgendwann sondern erst im Rahmen dieser Dialektikkritik auf ihn anspielt alsozu einem Zeitpunkt da sich sein Leser offenbar schon mit der Materie befasst hat

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Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Sie greifen aber zu fortgeschrittener Zeit auf diese Inhalte zuruumlck und helfen sieethisch einzuordnen mit anderen Worten Die Briefe betreuen ein philosophi-sches Curriculum Sie sind Begleitung gewissermaszligen ein Tutorium nicht aberdas Medium des philosophischen Lernens

34 Zusammenfassung

Im Umgang Senecas mit dem Thema der Furchtbekaumlmpfung (31) zeigte sich er-neut dass Seneca nicht als primaumlrer sondern allenfalls als sekundaumlrer rsaquotakti-scherlsaquo Eklektiker zu bezeichnen ist Er greift nicht einfach nach Lust und LauneMotive des Epikureismus (undKynismus Platonismus Aristotelismus ) herausweil sie ihm an manchen Stellen besser gefielen als die Erklaumlrungen der Stoa oderweil er gar die Unvereinbarkeit der Konzepte gar nicht bemerkte Alle diese An-leihen muumlssen vielmehr aus ihrer beabsichtigten kommunikativen Wirkung ver-standen werden dh in ihrer Botschaft fuumlr den intendierten Leser Seneca selbstist und bleibt Stoikersup1 Indem Seneca die stoische Sicht vor allem in den fruumlhenBriefen nur andeutet oder sie als eine Moumlglichkeit neben anderen auffuumlhrt er-laubt er dem Leser seine Aumlngste anzuerkennen und sie zunaumlchst ergebnisorien-tiert zu bekaumlmpfen Dabei kommen durchaus auch epikureische Argumente zumEinsatz Zugleich vermeidet Seneca auf diese Weise durch eine vorschnelle Fest-legung auf die sprichwoumlrtliche stoische Ruhe (ἀπάϑεια) seine Leser zu verprellenDennoch wird die stoische Sicht nach und nach zur erhabeneren Perspektive aus-gebaut bis sie zur allein bestimmenden Regel geworden ist Noch immer koumlnnenzwar bestimmte praktikable epikureische Argumente verwendet werden ndash dochnur dann wenn sie sich der stoischen Sicht unterordnen

Es hat also nicht nur einen humanen Grund wenn das Thema der Angstbe-kaumlmpfung einen so breiten Raum zumal in den fruumlheren Briefen einnimmtsup2 Viel-mehr ist die Auseinandersetzung mit diesem Gebiet ein hervorragendes Mittelum wie bereits Schottlaender erkannt hatsup3 Zug um Zug die groumlszligere raquoWerbe-kraftlaquo der Stoa zu erweisen

1 Richtig Inwood Selected philosophical letters xix raquoOn the internal evidence of the lettersalone we can be sure that these interlocutors included Epicureans as well as Platonists and Ari-stotelians Yet he never presents himself as anything other than a Stoiclaquo2 So zB Wacht Angst in Senecas Briefen 509 der glaubt es ginge bei der Angstbekaumlmpfungprimaumlr um raquoLebenshilfe und Beistand in der Daseinsbewaumlltigunglaquo3 Epikureisches bei Seneca 141=WdF 177

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Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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Das Thema der Furchtbekaumlmpfung haben die Stoiker und die Epikureer miteinander ge-mein wir duumlrfen sogar annehmen dass die Erfolgserfahrung in dieser Frage oft ausschlag-gebend fuumlr die individuelle Entscheidung zur Zugehoumlrigkeit zu einer der beiden Schulenwar Wer durch stoische Argumentation und Praxis frei von Furcht wurde bekannte sichdaraufhin zur Stoa wer durch epikureische zu Epikur

Interessanterweise wird der Fortschritt zur stoischen Sicht nicht aktiv von Senecabewerkstelligt Es gibt keinen argumentativen Uumlberzeugungsversuch die Uumlberle-genheit der stoischen Methode der Angstbewaumlltigung gegenuumlber der Epikurs zubeweisen Der Wechsel in den Vorzeichen der Therapie ist nicht Ergebnis einer di-rekten Auseinandersetzung sondern spiegelt sich lediglich in der Art und Weisewie Seneca Lucilius (dh den Leser) behandelt

Genau das Gleiche zeigt sich auch auf anderen Gebieten der stoischen LehreSeneca rsaquounterrichtetlsaquo nicht (bzw nur in sehr kurzen Abschnitten) auf keinen Fallist jedoch in Senecas Briefen etwa ein rsaquoLehrbuch der stoischen Lehrelsaquo oder dgl zusehen (33) Zentrale Elemente des stoischen Systemsndashwir habendas ander Lehrevon der Zustimmung (συγϰατάϑεσιςassensio) nachgezeichnet ndash werden nirgend-wo eingefuumlhrt jedoch ab einem gewissen Punkt einfach vorausgesetzt Der Lesermuss sich auszligerhalb der Briefe in die stoische Philosophie einarbeiten Vor allemdie erste Haumllfte des Briefcorpus erfuumlllt nur gelegentlich und beilaumlufig die Funkti-on des Unterweisens doch auch in den spaumlteren Briefen in denen mitunter echtequaestiones abgehandelt werden (siehe unten 521) ist dieAufmerksamkeit Sene-cas nicht auf das rsaquoBeibringenlsaquo als solches gerichtet nicht auf den Wissenserwerbsondern auf dasmoralphilosophischeBegleiten dieses Lernprozesses In gewisserWeise haben die Briefe den Charakter eines Tutoriums

Die Beschaumlftigung mit Senecas wechselnder Methode der Furchtbekaumlmpfunghat gezeigt dass epikureische Argumente va in therapeutischer Absicht ndash unddas heiszligt in taktischer Funktion und mit zeitlich begrenztem Auftrag ndash das Ver-halten von rsaquoLuciliuslsaquo steuern duumlrfen Ihre Guumlltigkeit wird im zunehmenden Ver-lauf der Briefe mehr und mehr beschnitten und eingeschraumlnkt Im folgenden Ka-pitel moumlchte ich mich nun der Frage zuwenden inwiefern Senecas Umgang mitEpikur insgesamt dieser Linie folgt welche Stationen wir hierbei unterscheidenund welche Motive wir jeweils dafuumlr erschlieszligen koumlnnen

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